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Zwei Seiten einer Medaille

von

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Die Zeit vergeht wie im Flug. Wir haben Spaß. Sind viel draußen im Park gewesen oder haben bei ihm einen Film gesehen. Wir haben es einfach genossen wieder zusammen zu sein. Den anderen in unserem Leben zu haben und somit wieder komplett zu sein.
 

Ich weiß, dass sich das alles so komplett bescheuert anhört. Wie die Worte eines Teenagers – der ich ja doch noch irgendwie bin – aber definitiv eher von einer Frau als von einem Mann, doch es ist so. So hat es sich angefühlt. In den drei Jahren ist es mir nicht aufgefallen, doch jetzt ist es mir umso bewusster.
 

Wir schweigen, als wir uns auf den Weg zum Bahnhof machen. Mein Rucksack scheint unendlich schwer zu sein, doch ich weiß, dass ich jetzt zurück muss. Dort wartet mein Leben auf mich und auch wenn es vielleicht nicht schön ist. So bin ich an es gebunden. Ruhig drehe ich mich zu Luzifer und lächle ihn sanft an.
 

Ich sehe, wie er auf seiner Unterlippe herum beißt und meinem Blick ausweicht. Auch er will diesen Weg nicht gehen. Schließlich haben wir das die letzten zwei Stunden ausführlich diskutiert.
 

„Bleib einfach hier! Bis du volljährig bist können wir dich schon vor der Polizei verstecken!“

„Ach, komm. Das ist doch Schwachsinn. Ich muss zurück. Was ist mit der Schule? Mit meinen Freunden? Es dauert ja nicht mehr lange.“

„Zu lange! Dein Alter wird dich doch wieder vermöbeln, kaum dass du durch die Tür gehst! Warum wehrst du dich nicht?“
 

„Hab ich. Hat es nur schlimmer gemacht. Es ist gut, okay? Bald ist es vorbei.“

„Du klingst wie ein Süchtiger! Morgen hör ich damit auf! Das ist aber jetzt wirklich das letzte Mal! Du glaubst die Worte doch selbst nicht mehr!“

„Doch, ich muss sie glauben. Nur so kann ich es ertragen ohne durchzudrehen.“

„Dann lass mich mitkommen!“

„Nein. Das ist Schwachsinn. Es würde die Situation nur schlimmer machen.“

„Wieso? Ich würde verhindern -“
 

„Nein, würdest du nicht! So kann ich behaupten, dass es irgendein Freund war, aber wenn er dich sieht, dann wird er eins und eins zusammen zählen. Und glaub mir, dann willst du nicht mehr dort sein.“

„Ich habe keine Angst vor deinem Alten.“

„Hah. Noch nicht.“

„Er ist nicht so mächtig, wie du ihn gerne darstellst. Du gibst ihm diese Macht. Hättest du keine Angst mehr vor ihm, dann würde er das nicht mehr mit dir machen können. Darum, lass mich mitkommen.“
 

„Nochmal: Nein. Es ist besser so.“

„Das sagst du immer. Es ist aber nicht so. Du belügst dich. Immer.“

„Vielleicht. Aber es ist egal. Es hält mich über Wasser und das ist das Einzige, was zählt.“

„Nein, ist es nicht.“

„Doch.“

„Nathy, du bist nicht auf dieser Welt, um zu überleben, sondern um zu leben. Und das ist ein gewaltiger Unterschied. Glaub mir.“
 

„Ich kann ja bald leben.“

„Wie oft sagst du dir das?“

„Weiß nicht. Zähl nicht mit.“

„Doch tust du. Unbewusst tust du das und es ist zu oft.“

„Du kannst trotzdem nicht mit. Er wird mich nicht brechen.“

„Stimmt, wird er nicht. Er hat es nämlich schon.“
 

Seit diesem letzten Satz liegt ein bedrücktes Schweigen zwischen uns. Aber die Nähe bleibt. Immer wieder berühren wir uns sanft. Tauschen Küsse aus, doch wir wissen beide nicht mehr was wir sagen sollen. Diese Wahrheit traf mich wie ein Schwall eiskaltes Wasser mitten ins Gesicht. Er stieß eine Tür auf, die ich nun mit aller Kraft versuche wieder zu schließen.
 

Nein, ich will darüber nicht nachdenken. Ich will dieser Tatsache nicht ins Gesicht sehen. Es ist nicht möglich. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Sie soll wieder zugehen. Bald... bald würde ich doch frei sein.
 

Sanft schließen sich seine Finger um meine Hand, als wir den Bahnhof betreten. Unsere Blicke treffen sich und wir gehen ruhig zum Gleis. Ich kann meinen Zug schon sehen und spüre, wie mein Herz schwerer wird. Noch einmal sehen wir uns an.
 

Ich will nicht gehen. Wie gerne würde ich einfach hier bleiben. Hier bei ihm, doch es ist nicht so einfach. Zwar sind es nur noch sechs Wochen, doch... da kann so viel passieren. So viel oder eben auch nichts. Außerdem will ich keinen Ärger mehr. Ich will es nur noch irgendwie hinter mich bringen und dann frei sein.
 

Plötzlich berührt er mich sanft an der Wange. Er legt seine Stirn auf meine und wir bleiben so stehen. Die Zeit scheint still zu stehen und für mich gibt es nur ihn. In diesem Moment ist mir alles andere egal. Ich lausche seinem Atem, spüre seine Nähe und nehme seinen Duft in mir auf. Wir werden uns wiedersehen.
 

Schüchtern legen sich unsere Lippen aufeinander. Berühren sich flüchtig, bevor sie sich zu einem wilden Kuss noch einmal treffen. Seine Hand ziehen mich näher zu sich und ich komme ihn ohne zu zögern entgegen. Ich will ihn schmecken. Ihn bei mir wissen. So viel von ihm mitnehmen, wie es in diesem Moment möglich ist.
 

„Ich... ich muss jetzt los.“ Mein Atem geht stoßweise und immer wieder küsst mich Luzifer unter den Worten. Macht mir das Reden so noch schwerer, bevor er den Kopf schüttelt. „Nein, bleib einfach hier. Dort will dich doch eh keiner.“
 

„Ja, vielleicht. Aber es ist dennoch meine Familie, die sich um mich sorgt. Außerdem habe ich versprochen heute zurück zu kommen und ich halte mein Wort.“ Ich streiche ihm sanft über die Wange und muss noch einmal lächeln. Versuche die Traurigkeit hinunter zu schlucken, doch der Abschiedsschmerz blieb, als ich weiter in diese wunderschönen grauen Augen sah.
 

„Ja, das tust du. Danke“, flüstert er und ich spüre, wie unter diesen Worten mein Herz wärmer wird. Ja, ich hab es ihm versprochen und wir haben beide unser Wort irgendwie gehalten. Weil dieses unsichtbare Band es von uns verlangt hat.
 

„Ich... ich muss jetzt wirklich los.“ Ich nippe an seinen Lippen und spüre, wie der Drang zu bleiben immer stärker wird, doch mein Zug wird bald los fahren. Wenn ich da nicht einsteige, dann werde ich nicht rechtzeitig zurückkommen.
 

„Ich weiß.“ Erneut liegt seine Stirn auf meiner und ich lass es geschehen. Genieße diesen letzten Moment, bevor er sich mit einem Nippen von mir trennt. Solch ein Verhalten habe ich niemals von ihm erwartet, doch es berührt mich innerlich und versorgt Wunden, die seit Jahren leise vor sich hin bluten. Er ist endlich bei mir.
 

Unsere Finger trennen sich erst im letzten Moment voneinander, bevor ich mich von ihm abwende und in den Zug steige. Alles in mir schreit hier zu bleiben, doch ich kann nicht. Meine Pflicht treibt mich weiter und verlangt von mir, dass ich mich auf einen Platz niederlasse. Als ich aus dem Fenster sehe, ist Luzifer verschwunden und mein Herz wird schwerer.
 

Hier gehöre ich hin. Das weiß ich und dennoch muss ich gehen, denn mein Leben verlangt nach mir. Das letzte Stück meines Leidensweges steht vor mir und ich habe mir geschworen, dass ich ihn zu Ende gehen werde. Ich werde es überleben und dann... Dann werde ich endlich frei sein...



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