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Glücksverfluchte

Die Champions von Asteria
von

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Fremder Zauber

Severa richtete sich im Bett auf und warf ihr Haar über die Schulter, kämmte es einmal gut durch. Ihr Unterleib pulsierte noch vom Stelldichein und sie fühlte sich, wie so oft nach dem Höhepunkt, ein wenig schläfrig. Am liebsten wäre sie liegengeblieben, aber sie wusste, dass sie aufstehen musste. Es würde nicht mehr lang dauern, bis das Bankett anfing und sie war noch nicht einmal angezogen – sah man mal von dem weißen Bustier ab, den Cirdan ihr in der Eile nicht mehr ausgezogen hatte. Aber das würde wohl kaum für diesen Anlass reichen, auch wenn ihr Herr sicherlich mit dem Gedanken spielte.

Cirdan stand bereits vor dem überdimensionalen Spiegel seines Kleiderschranks und richtete das umgebundene weiße Seidentuch mit akribischer Genauigkeit, achtete darauf, dass die Falten symmetrisch zueinander lagen und den Stickereien die richtige Perspektive verliehen.

Sein blanker Hintern begrüßte sie in voller Pracht, auch wenn an diesem dürren Gestell nur wenig sehenswert war. Außerdem machte es einen recht lächerlichen Eindruck, wenn er obenrum bereits die volle Montur aufgefahren hatte, dann aber nicht einmal eine Unterhose trug. Dennoch kam sie nicht umhin, länger draufzustarren. Unbewusst biss sie auf ihre Unterlippe.

Sie liebte Cirdan nicht, beim Himmlischen, nichts wäre ferner von der Wahrheit entfernt und sie bezweifelte auch, dass er so etwas wie wahre Liebe für sie empfand. Diese Beziehung rauschte nicht auf ein glückliches Happy End zu; sie würden niemals heiraten und eine Familie gründen, wie man es von manchen Märchen las – und das lag nicht nur daran, dass Severa wahrscheinlich gar nicht schwanger werden konnte.

Wenn er sie irgendwann nicht mehr attraktiv genug fand, war sie abgesetzt. Mit etwas Glück konnte sie danach noch den Haushalt schmeißen oder ihm weiter als Beraterin dienen, wahrscheinlicher aber würde ihr Leben dann beendet werden. Doch sie konnte nicht verleugnen, dass es eine gewisse Anziehung zwischen ihnen gab. Nicht zuletzt, da Cirdan bis heute sich dazu geweigert hatte, sie zu verkaufen.

Sie warf sich noch einmal in die weichen, dunkelblauen Samtkissen seines großen Bettes und nahm den Duft seines herben Parfums auf, das in jede Faser gekrochen war, was ihr einen lieblichen Seufzer entlockte. Cirdan hatte es gehört und drehte sich halb zu ihr um. Sie lächelte ihn verschlafen an und hauchte einen Kuss in seine Richtung. Seine Mundwinkel zuckten kurz nach oben, bevor er sich wieder seinem Spiegelbild widmete.
 

„Welchen Anzug willst du heute Abend tragen?“, fragte sie und machte sich auf, aus dem Bett zu steigen. Von selbst würde sie nicht eingekleidet werden.

„Ich dachte an den Karmesinroten. Du weißt schon, den im Admiralsstil. Es sind einige Mitglieder des Militärs anwesend.“

„Sehr gut. Das Jackett gibt dir immer eine besonders stattliche Figur. Allerdings ist er mit seinen Kettchen und Manschetten schon etwas über vor Dekorationen, vielleicht solltest du dann eher nicht das Rüschenhemd tragen, sondern etwas Schlichteres.“

Severa schlüpfte in ihr auf dem Boden liegendes Höschen, ging zum Kleiderschrank und fühlte über den antiken Holzstich, der über die Entdeckung der Kristalle und den daraus entstandenen Aufstieg der Magie erzählte. Es war in einer Art Bildergeschichte verfasst. Sie erkannte den Himmlischen und die heilige Lyn, zwei der ersten Magieanwender des Landes, die rechts oben und links unten in doppelter Größe aus den Bilderreihen herausfielen. Für Religion hatte die Zwergin nie viel übrig gehabt, aber sie mochte die Geschichten dennoch.

Als Kind hatte sie oft vor dem Schrank gesessen und Cirdan über diesen Holzstich ausgefragt, auch wenn er nur selten bis gar nicht eine Antwort gab und das nicht nur, weil er ihre Neugier als Last empfand. Der alte Elf wusste selbst nicht viel über die Figuren in dem Werk. Es war auch etwas seltsam, denn der Stich hatte ungewöhnlich scharfe Kanten, die Charaktere blieben allesamt recht eckig, mit großen Gesichtern und leicht überzogenen Posen. Eine Darstellungsweise, die es so in Lyn'a'Tischal eigentlich nicht gab. Mehr noch gab es einige Figuren, die sie auch in all den Jahren nie zuordnen konnte. Drachen mit langen, aber dennoch hundeähnlichen Körpern ohne Flügel, Menschen und Elfen mit seltsam gebogenen Schwertern und in der Mitte eine Art Mischwesen aus Frau und Seeschlange mit großen Flügeln statt Armen.

Sie packte den großen Griff und suchte aus der Vielzahl unterschiedlicher Hemden ein einfaches altweißes raus, dass eng anliegend und in die Länge geschnitten war und den Träger so optisch um ein paar Zoll vergrößerte – ohne, dass man hierbei auf irgendetwas anspielen wollte.

Cirdans Blick ging auf das hingehaltene Kleidungsstück und wanderte dann hoch zum Comfort Girl, das er ohne Worte fragte, ob das ihr verdammter Ernst wäre.

„Sevvi, ich habe gerade das Tuch anständig gerichtet. Wenn ich jetzt das Hemd wechsle, kann ich wieder von vorne anfangen.“

Mit ihrer freien Hand griff die Zwergin wortlos in ein Fach in der Seite und hielt einen dunklen Matrosenknoten an die Brust ihres Herrn. Eine Sekunde starrte sie nur drauf, dann nickte sie ihre Entscheidung ab. Etwas genervt griff der Elf nach den Sachen murmelte noch etwas davon, was dieser Sklavin denn bitte einfiele, doch Severa wusste, dass er ihre Entscheidung respektieren würde. Anders als seine Artgenossen, die zu solchen Anlässen oftmals in traditionellen Roben aus zartester Seide, verziert mit goldenen und silbernen Stickereien herumliefen, war Cirdan ein begeisterter Anhänger der schlichteren, aber bedeutend moderneren Garderobe der Menschen.

„Du solltest dich nun auch fertig machen. Ich möchte, dass alle Männer und mindestens die Hälfte der Frauen sich zu dir umdrehen.“

„Eine Herausforderung. Aber wie könnte ich Euch nur einen solchen Wunsch abschlagen, Master“, säuselte sie, zog sich Mandaniels Kleid wieder über und drehte ihren Rücken zu Cirdan, präsentierte den offenen Bund des Korsetts.

„Allerdings... wenn Ihr mir kurz behilflich sein würdet?“

Ohne zu zögern zog der Elf die breiten Schnüre stramm und verknotete sie zu einer dekorativen Schleife die nur knapp über dem Hintern lag. Dann gab er eben jenem einen festen Klaps als Zeichen, dass sie nun gehen sollte. Dankend gab sie ihm dafür einen zarten Kuss auf die Wange, nahm ihre verbleibenden Sachen und verließ sein Zimmer.
 

Das Schlafgemach befand sich in einem offenen Dachgeschoss, das hieß, wenn man Cirdans Zimmer verließ, stand man auf einer Art Balkon mit Blick auf den darunter liegenden Salon, in dem auch die Feierlichkeit stattfinden sollte. Aus den Räumlichkeiten drangen Geräusche der Vorbereitungen für das Fest. Es war angenehm kühl im Flur, was ihr eine willkommene Abwechslung zum aufgewärmten Bett ihres Herrn war. Auf der gleichen Seite lagen noch das Hauptbüro, ein Musikzimmer, das jedoch nie benutzt wurde, und eine kleine Bibliothek.

Severas Gemach lag auf der anderen Seite des Raumes und konnte über eine kleine Brücke in der Mitte erreicht werden. Das Geländer ging wellenförmig auf und ab und formte eine Spirale an den jeweiligen Enden, wodurch der Eindruck von schäumender See entstand, was durch die eingeritzten Meerestiere nur verstärkt wurde.

Langsam schlich sie über den Steg und fuhr mit dem Finger über das knochige Holz. Jede Kerbe, jeder Riss waren dabei Zeugen des Alters jener Architektur – immerhin steht sie hier schon einige Jahrhunderte, auch wenn durch gute Pflege das Holz noch immer in einem ausgezeichneten Zustand war.

Sie war noch auf die Schnitzerei fixiert, da bemerkte sie jemanden vor ihr. Ihr entgegen kam eine der wenigen Hauszwerginnen; eine alte Dame, deren strehniges Haar und der dünne Flaum an der Oberlippe bereits grau waren, die aber dennoch ein Paar kräftige Arme besaß und ohne Mühe die beiden mehr als ausreichend gefüllten Wassereimer durch die Gegend trug. Severa versuchte ihrem Blick auszuweichen, doch die braunen Augen fixierten sie so fest, dass sie nicht anders konnte, als sie anzusehen. Das Augenpaar musterte ihr Gegenüber von unten nach oben und zeigte ohne Worte ihre tiefsitzende Abneigung, die Severa wie ein Dutzend feiner Nadeln stach.

Sie zuckte leicht zusammen, als sie aneinander vorbeigingen und machte sich auf, über die Brücke zu kommen und die Tür von ihrem Zimmer hinter sich zu schließen, damit sie niemandem mehr begegnen musste.
 

Sie fühlte sich – trotz ihrer überdurchschnittlichen Größe – eingeschüchtert, wann immer sie ihresgleichen begegnete und es war wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass sie Zwerge ein Stück weit hasste. Severa spürte ihre Blicke in ihrem Rücken, wann immer sie an ihnen vorbeiging – Missgunst warfen ihr die Frauen entgegen, sexuelle Gier hingegen die Männer. Nicht, dass es jemand jemals wagen würde, eine Hand an das Mädchen des Masters zu legen, doch sie wollte ihr Glück nicht ausreizen. Wer wusste schon, was passieren würde, wenn er nicht in ihrer Nähe war.

Auch wenn sie gerne etwas anderes behauptete: Am Ende fühlte sich Severa mit ihren Elfenherren mehr verbunden, als mit ihrer eigenen Rasse. Und erstaunlicherweise respektierten auch die Elfen sie nach all den Jahren unter Cirdans Obhut zu einem gewissen Grad – vielleicht waren es wirklich die Gene.
 

Den Rücken gegen die Tür gedrückt lies sie sich einige Atemzüge lang Zeit, bevor sie weitermachte. Dann löste sie sich vom Holz und ging zu ihrem alten Spiegel um sich um ihr Aussehen zu kümmern. Ihr Zimmer selbst war kaum größer als die Besenkammer direkt daneben und nur mit dem nötigsten ausgestattet.

Sie besaß ein kleines, einfaches Bett mit einer einer recht bequemen Matratze und genug Decken für kalte Nächte, denn das große, kreisrunde Fenster war nicht mehr ganz dicht und ließ einen konstanten Luftzug hindurch. Am Nachttisch war ein dreizänkiger silberner Kerzenständer aufgestellt, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte und dessen halb zerlaufene Kerzen sich bereits in die Halterungen eingefressen zu haben schienen, sodass es wohl einen Steinmetz brauchen würde, um sie bei Bedarf voneinander zu trennen. Der Kleiderschrank stand dem Rest in Zweckmäßigkeit in nichts nach: Ein einfach gezimmertes Stück, deren Türen mit abgefressenen Ecken genauso kämpften wie mit dem Halt an den Scharnieren. Immerhin war er schön groß, denn die Zwergin besaß mehr als genug Kleider für jeden erdenklichen Anlass, von der Auswahl an Reizwäsche ganz zu schweigen.

Ihr Spiegel war ähnlichen Alters wie das restliche Mobiliar und hatte einen unschönen Sprung im oberen Bereich, wies aber eine erstaunlich schöne Schnitzerei am Rahmen in Form zweier sich ineinander windender Drachen auf. Wenn das Holz nicht von Rissen zerfurcht gewesen wäre, hätte man wohl fast von einem Sammlerstück sprechen können.

Kurzum: Die Einrichtung erinnerte mehr an eine Abstellkammer, aber sie hatte es dennoch um einiges geräumiger und auch bedeutend luxuriöser als jeder andere Zwerg in der Miene – und wahrscheinlich auch in jeder anderen Miene von Lyn'a'Tischal.
 

Langsam und gleichmäßig kämmte Severa ihr Haar über die linke Schulter und drehte die Bürste ein, sodass die Spitzen wie eine ausgeleierte Feder auf Brusthöhe sprangen. Mit einer kleinen Spange zwang sie die letzten widerspenstigen Strähnen hinter ihr rechtes Ohr, verzierte dieses vorsichtig mit einem aufwendigen, silbernen Anstecker in Form einer kleinen Fee, und machte sich zuletzt daran, ein wenig Schminke aufzusetzen.

Dezent, denn man war ja keine gewöhnliche Gossenhure, doch gerade die Elfen mochten es, wenn man den Augen besondere Aufmerksamkeit schenkte und dafür die Lippen in ihrer Form minderte.

Auch das Dekolleté wurde gepudert und mit einem sündhaft teuren Collier geschmückt, das Severa nur zu solchen Anlässen aus der Schatulle holen durfte, dazu noch ein paar passende Seidenhandschuhe und das mit Gold verzierte Schuhwerk.

An jeder Stelle ihres Körpers blitzte und glänzte es nun. Ihre Garderobe entsprach wahrscheinlich gerade dem mehrfachen Jahreslohn des Durchschnittsbürgers, doch sie fuhr in diesem Fall wirklich alle Geschütze auf. Cirdans Anforderung, allen im Raum den Kopf zu verdrehen, meinte er ernst, auch wenn es nicht im sexuellen Sinne gemeint war – außer ihrem zu kurz geratenen Herrn gab es keinen Elf, der sie wirklich begehrte, dafür war sie zu sehr Zwergin. Hier ging es um etwas ganz anderes: sie war sein Aushängeschild. Wenn man seine Sklavin so reich schmückte, dann zeigte das eine derartige Dekadenz, dass jeder Anwesende zwangsläufig glauben musste, ihr Herr würde von seinem Reichtum ertränkt werden – auch wenn die meisten wussten, dass die Wahrheit ganz anders aussah.

Mit einem tiefen Seufzer trat Severa einen Schritt zurück und betrachtete ihr komplettes Spiegelbild. Was ein wenig Schminke und Schmuck doch bewirkten: aus der Distanz konnte man sie wirklich für eine Elfin halten. Eine blasse, etwas dickliche, kleinwüchsige, rothaarige Elfin zwar, aber nichtsdestotrotz.

Nur... würde das reichen? Sie wollte eigentlich nicht daran denken, aber... was war, wenn Cirdan versagte und die Firma unterging? Was wurde dann aus ihr? Sie konnte schon von Glück reden, wenn sie nicht an jemanden verkauft wurde, der sie sofort zu Tode folterte. Die Anzahl derer, die ihre Geburt allein als Verbrechen ansahen, war nach wie vor sehr hoch. Aber selbst wenn sie an einen gnädigeren Herrn ging, würde sie niemals ihre alte Position behalten. Und in einer Miene, zwischen anderen Zwergen, würde sie nicht lange überleben.
 

Die Zwergin setzte sich auf die runde Fensterbank, welche fast mit dem Boden abschloss und schaute nach draußen. Die Herbstsonne verschwand langsam hinterm Horizont und die letzten Strahlen brachen sich im Metall der stählernen Zechengebäude und in den Kristallen, verwandelten so das Kesseltal in ein glitzerndes Meer aus purem Gold. So schön der Anblick auch war, sie konnte ihn gerade in keinster Weise genießen. Die Stirn kraftlos gegen die kühle Scheibe gedrückt, starrte Severa in die Ferne, bis sie sich dazu entschloss, das Fenster aufzumachen und sich komplett in den Rahmen zu setzen, wie sie es öfter tat, wenn ihr Herz schwer wurde.

Sie sah in der Ferne einen kleine Ansammlung von Zwergen um ein Lagerfeuer vor ihren Baracken sitzen und ihr Abendmahl zu sich nehmen, einige andere wurden gerade noch mit Säcken auf den Rücken von ihren Elfenvorstehern durch die Gegend gehetzt. Einige der Männer schienen sie bemerkt zu haben und schauten interessiert zu ihr, also senkte sie ihren Blick ein wenig, um sie nicht ansehen zu müssen.

Zwei Elfen in zeremonieller Kleidung schritten am Haus vorbei und unterhielten sich angeregt. Vieles davon war normal und sie erwartete auch nicht wirklich, unter den Passanten eine Lösung für ihren Kummer zu finden. Zumindest nicht, bis ihr eine Person auffiel, die zwischen allen anderen herausstach:

An den Zaun am Wegesrand, der direkt am Grundstück verlief, lehnte rauchend ein großer Mann – vermutlich ein Mensch – mit dunkelblondem zurückgekämmten Haar und betrachtete interessiert die gigantischen Fördertürme, die aus den Mienen herausragten. Sein langer Mantel bestand aus grau melierter Wolle und machte mit seinen abstrakten, aber faszinierend schönen Stickereien am Rücken einen mehr als nur wohlhabenden Eindruck. Er hatte ihr den Rücken zugedreht, dennoch war sie sich ziemlich sicher, dass sie ihn hier noch nie zuvor gesehen hatte – und man kannte irgendwann die Herren und Damen, die im Kesseltal ein und aus gingen, insbesondere die wenigen Menschen.

Sie lehnte sich weiter vor, um ihn genauer zu erkennen. Etwas zog sie fast schon magisch an - so sehr, dass sie auch nicht bemerkte, dass es für ihre Hand keine Haltemöglichkeit mehr gab und sie das Gleichgewicht verlor. Für einen Moment drehte sich die Welt vertikal vor ihren Augen, bevor sich ihre andere Hand in dem Fensterrahmen festkrallte und die Position stabilisierte. Sie drohte nicht wirklich zu stürzen, dennoch entfuhr ihr ein kurzer Schrei, den so ziemlich jeder in der Umgebung mitbekommen haben sollte.

Von ihrer eigenen Dummheit peinlich berührt, rutschte sie sofort von der Fensterbank und schlug die Scheibe zu, atmete tief durch, die Hände noch gegen das kalte Glas gedrückt. Es war ihr grundsätzlich verboten, auf der Fensterbank zu sitzen und Cirdan würde sie sicherlich links und rechts ohrfeigen, wenn er davon erfuhr. Sie nahm noch einige tiefe Züge der von draußen hereingezogenen Luft, dann öffnete sie die Augen und sah wieder dorthin, wo ihr Blick zuletzt noch lag, bevor sie sich zum Affen gemacht hatte.

Der Mann hatte sich umgewandt und schaute direkt zu ihrem Fenster hoch, in ihre Augen. Das leicht schmierige Glas und die darauf scheinende Sonne konnten unmöglich ihr Gesicht verraten, dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, als hätte der Fremde sie mit seinen azurblauen Augen genau anvisiert. Ein ruhiges Lächeln umspielte seine Lippen und er nickte kurz zur Begrüßung, was ihr das Blut in die Wangen schießen ließ.

Er war relativ jung, obgleich sein Gesicht einige Falten besaß. Insbesondere die Krähenfüße an den Augen und die dünnen Lachfalten am Mund waren selbst aus der Distanz nicht zu übersehen. Doch es war sein Blick, der nur so vor kaltblütigen Tatendrang strotzte, und sein frisches und zugleich wölfisches Lachen, die jede Spur von potentieller Altersmüdigkeit wegbliesen. Das war kein einfacher Kaufmann, so viel war sicher. Gehörte er etwa auch zu den Besuchern heute Abend?

Langsam schritt der Herr fort, vorbei an den beiden Elfen, die sich gerade auf Severas Kosten amüsierten. Sie spürte, wie bei diesem Anblick ihr die Scham nur noch weiter zu Kopf stieg. Und zugleich merkte sie, dass der Anblick dieses Fremden ihr ein Stück weit ihre Hoffnung zurückgab. Vielleicht sollte sie später Ausschau nach ihm halten...
 

„Hast du Angst?“

Cirdan hielt ihr seinen linken Arm hin. Severa betrachtete ihn für eine Weile, dann atmete sie tief durch und hakte sich ein und lehnte sich einen Moment an seine Schulter, bevor ihr ein schelmisches Lächeln entfuhr.

„Wieso ich? Du solltest Schiss haben, hier geht es um dein Geld.“

Sie spürte den kurzen Impuls des Schnippsers gegen ihre Stirn, den Cirdan ihr gab. Doch das war keine scherzhafte Geste, wie sie an seinem Gesicht erkennen musste.

„Ich habe im Allgemeinen nichts gegen deine sarkastischen Bemerkungen, Sevvi, ich finde sie amüsant. Aber wage es ja nicht, mich heute Abend bloßzustellen. Du bist meine Begleitung. Du unterhältst die Gäste und angelst mir jeden an Land, der nach einem interessanten Geschäftspartner aussieht. Haben wir uns verstanden?“

„Ja, Herr... bitte verzeiht meine Arroganz...“, flüsterte die Zwergin und senkte ihren Blick. Cirdan zog sie kurz und bedeutete ihr, ihm aufrecht zu folgen, doch es war bei aller Strenge schon fast ein freundliches Ziehen.

„So ganz nebenbei: du siehst bezaubernd aus, meine süße Lieblingssklavin.“ Das konnte Cirdan äußerst gut: Er musste nicht großartig ausfallend werden, es reichten kleine Zeichen um zu zeigen, ob er einem wohlwollend oder zurechtweisend gesinnt war. Für einen Elfen war er winzig, aber ganz sicher keine Witzfigur.

Aus dem unteren Saal hörte man bereits amüsiertes Gelächter und angeregte Gespräche. Die Gäste waren zahlreich und offensichtlich mit guter Laune erschienen. Die vei Briths waren für ihre außergewöhnlich guten Feste bekannt. Ob er auch dort unten war? Sie würde es gleich erkennen.

Langsam und würdevoll schritten die beiden die Wendeltreppe hinunter und wurden, als sie in das Blickfeld der Gäste gerieten, mit tosendem Applaus begrüßt. Cirdan genoss den Augenblick sichtlich, trennte sich ohne Umschweife von seinem Comfort Girl und gab einem Schwall reicher Elfen nacheinander die Hand. Um Severa kümmerte sich niemand – aber das kannte sie schon. Sie hob ihren Rock und schritt etwas schneller hinab, schaute sich im Saal um.

Der Salon war von unnötigen Möbeln befreit und mit roten Bannern geschmückt worden, die das Familienwappen zeigten. Tische gedeckt mit unzähligen Leckereien waren aufgestellt worden und versorgten die Gäste, nebst Wein und Säften, mit kleinen Sauerrahmpasteten, Süßtomaten, diversen Obststücken und gebackenen Kräuterkartoffeln. Leichte, fleischlose Kost, denn mit Steinen im Magen ließ es sich nur schwer verhandeln. Es roch nach unzähligen würzigen Parfums, die sich Herren und Damen gleichermaßen zusammenmischten, gepaart mit dem Geruch vom Pfeifentabak der Plantagen aus Süd-Elblessa.

Einige der Hauszwerginnen in Dienstmädchenkostümen gingen mit Silbertabletts herum und reichten den Elfenherren Gläser gefüllt mit stärkeren Spirituosen. Als sie Severa in ihrer Montur erblickten, verdunkelten sich ihre Gesichtsausdrücke. Doch sie ignorierte dies, konzentrierte sich stattdessen auf die Gäste. Der Großteil waren Elfen, gekleidet in den typischen weiten Roben der Clans, die mit unzähligen, verzierten Schals festgeschnürt waren. Die wenigen Menschen im Raum waren ähnlich zu Cirdan gekleidet - oder anders herum, je nach Betrachtungsweise. Obwohl sie in Sachen Wohlstand sicherlich den Elfen in nichts nachstanden, blieben sie dennoch bedeutend zurückhaltender als die Herrenrasse. Sicherlich nicht nur, weil sie in der Unterzahl waren. Im Kesseltal hatten die Elfen das Sagen.

Severa konnte Cirdans Anforderung gut erfüllen. Jeder Gast der sie erblickte, hatte mindestens ein zweites Mal hingesehen und viele fingen an zu tuscheln. Sicherlich gab es einige, die mit gespaltener Zunge über sie sprachen, doch sie konnte ganz genau hören, wie viele ihr Kleid beneideten. Aber der seltsame Fremde war nicht zu finden. Vielleicht war er doch nur ein einfacher Passant gewesen. Sie wusste nicht wieso, aber sie war etwas enttäuscht über diesen Umstand. Aber selbst wenn er hier gewesen wäre: hatte sie sich wirklich ausgemalt mit ihm sprechen zu können?
 

„Na wenn das nicht die kleine Severa ist“, meldete sich da plötzlich eine ihr bekannte Stimme von der Seite. Sie gehörte einer stattlichen Elfin mit langem honigblonden Haar, welche die Angesprochene mit einem eindeutig überheblichen, aber keinesfalls feindseligen Lächeln begrüßte. Sie war von sich aus schon größer als einige der anwesenden Männer, doch ihr grasgrünes, bodenlanges Abendkleid verstärkte den Effekt durch seine goldenen, senkrechten Schlangenmuster und den tiefen V-förmigen Ausschnitt nur noch mehr. Schmuck und Edelsteine rundeten das Gesamtbild ab und ließ so ihren männlichen Begleiter fast schon unsichtbar wirken, so einnehmend war ihr Auftreten. Dabei hatte auch dieser nicht mit Reizen gegeizt – wenn auch auf andere Art und Weise.

„Dein Kleid ist ja ein richtiger Hingucker, meine Liebe. Ein echter Mandaniel, nicht wahr?“

„Euer Sinn für Mode lässt Euch wie immer nicht im Stich, Lady Atani. Ja, Meister Mandaniel hat es erst heute Vormittag zur Verfügung gestellt. Und Oberst Tirila, es lässt mein Herz vor Freude tanzen, euch zu sehen. Dem Himmlischen zum Gruß“, gab Severa untertänigst zurück und rundete ihre Begrüßung mit einem einstudierten Knicks ab, der ihre Unterwürfigkeit noch weiter präsentieren sollte.

„Dem Himmlischen zum Gruß“, sprach der Oberst und richtete sein Monokel, um Severa genauer zu betrachten. Der pensionierte Feldherr und Kriegsmagier hatte für den heutigen Tage anscheinend seine alte, königsblaue Militäruniform rausgesucht und präsentierte stolz und für jeden erkennbar den Rang an seiner Schulterklappe und in bester patriotischer Manier das Wappen des Heers von Elblessa – eine blaue Blume hinter zwei gekreuzten Schwertern – auf dem daran befestigten Umhang. Abgerundet wurde der Aufzug mit seinem uralten, hölzernen Stab, der stetig vom Inneren her gelblich leuchtete.

„Da hat mein alter Freund sich aber nicht lumpen lassen, wenn es um deine Ausstattung geht“, bemerkte er anerkennend und die Zwergin nahm das Lob dankend an, auch wenn sie nicht ganz wusste, ob es hierbei um ihre Garderobe oder ihren Vorbau ging. Wahrscheinlich ein bisschen von beiden, immerhin war letzterer für die meisten Elfen aufgrund ihrer Kleinheit sowieso unübersehbar und außerdem sagte man dem Oberst eine gewissen Drang nach.

„Meinem Herrn ist die Schönheit dieser Welt keinen Copper zu teuer und Feste in den besten Kreisen sind da keine Ausnahme. Ich hoffe, der werte Herr und Mylady amüsieren sich gut.“

„Wir warten gerade auf den Ersten, der sich genug Mut für die da angetrunken hat“, erzählte Lady Atani lachend und zeigte in Richtung Bar.

Eine Violine, eine Harfe, ein Cembalo und eine Gitarre waren dort platziert, blieben aber bisher noch unbenutzt. Es gab keinen angeheuerten Musiker, denn adlige Elfen lernten sowieso in der Regel bereits in frühester Kindheit zu musizieren und hielten sich in dieser Disziplin grundsätzlich für die Größten. Wozu Geld für einen Barden zum Fenster rauswerfen, wenn jeder im Saal ihn umgehend als unfähigen Kretin abstempeln würde?

Allerdings waren es nicht nur freie Künstler, die sich der Kritik – eine vorsichtige Umschreibung für den zu erwartenden Spott – stellen mussten, sondern jeder im Saal, der es wagen würde, ein Instrument anzurühren. Dementsprechend war für Elfen das Musizieren auf Festen zu einer Mutprobe verkommen und es wurde bisweilen um stattliche Summen gewettet, ob und vor allem wer zuerst in die Saiten hauen würde. Aber wenn es denn nur dabei blieb: Böse Zungen behaupteten, dass schon so mancher als Rezension eine gehörige Tracht Prügel oder gar einen Schuss ins Knie bekommen hat – ein Spaß für die ganze Familie.

Heute blieb die musikalische Untermalung noch aus, doch das war wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Alkohol die Hemmungen gesenkt hatte.
 

„Wie wäre es mit dir, Sevvi?“, schlug Lady Atani vor und sah die Zwergin erwartungsvoll an. Severas Herz setzte für einen Moment aus. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand sie wirklich vorschlagen wollen würde, aber es gab ein paar Dinge, vor denen sie sich wirklich sträubte. Für Elfen Musik zu machen gehörte ganz oben dazu, auch wenn sie den düstereren Gerüchten keinen Glauben schenkte – aber sie hatte kein Interesse, ihren Wahrheitsgehalt auf eigene Faust zu prüfen. Aber vor Allem wollte sie sich nicht zum Gespött machen lassen und im schlimmsten Falle Cirdan damit beschämen. Das würde er sicher als Boykott verstehen und nur der Abschwörer wusste, was ihr dann blühen würde.

„L-Lady Atani, ich habe eine gar schreckliche Singstimme...“

„Na umso besser. Dann haben wir ja was zum Lachen.“

„E-ein unkultiviertes, kleines Wesen wie meine Wenigkeit wird doch nicht-“

„Das war kein Vorschlag, Severa... das war ein Befehl...“ Lady Atanis grünblaue Augen schienen schon fast vor giftiger Boshaftigkeit zu glühen, während sie sich mit einem gehässigen Grinsen über die junge Sklavin beugte.

Langsam wanderte das Herz aus ihrer Brust und rutschte ihr gemächlich bis in den linken Fuß hinab. Ein dünner Film Angstschweiß entsprang ihrer Stirn. Sie durfte sich dem Befehl der Elfin nicht widersetzen, aber die Konsequenzen des Gehorsams waren sicherlich kaum weniger erträglich.

„I-ich...“, fing sie an, da bemerkte sie das entzückte Lachen des Oberst in Lady Atanis Schatten.

„Kommt schon, meine Hübsche, Ihr habt Severa wohl genug Angst eingejagt.“

Sofort erhellte sich die Miene der Adligen und voller Schadenfreude lachte sie aus, während sie Severa durch das Haar wuschelte, wie einem Kind, dem man gerade einen Streich gespielt hatte.

„Das war nur ein Scherz, Sevvi. Aber dein Ausdruck war zu köstlich, um es nicht auszunutzen. Keine Sorge, so grausam bin ich nicht.“

Severa ließ es sich nicht anmerken, aber die Furcht, die sich in ihr aufgebaut hatte, war nicht zu unterschätzen gewesen. Sie rang sich ein gequältes Lächeln ab und dankte der Elfin für ihre "Gnade".

„Naja... offensichtlich floss bisher noch nicht genug Alkohol, als dass hier jemand anfangen würde zu spielen“, meinte der Oberst, doch verstummte umgehend, nachdem er dies ausgesprochen hatte, während er in Richtung Bar schaute. Der gesamte Saal tat es ihm gleich. Auch Lady Atani drehte sich um und Severa linste an ihr vorbei.

Jemand hatte sich tatsächlich zu den Instrumenten bewegt, die Gitarre gegriffen und sich auf die Bar gesetzt. Wo solch ein Verhalten normalerweise für erheitertes Getuschel unter den Anwesenden geführt hätte, wurde es nun unter den Gästen totenstill und die wenigen Wortwechsel waren Ausdrücke des Entsetzens. Kein Wunder, denn der, der sich hier anschickte die heiligen Instrumente in die Hand zu nehmen, war ein Mensch und dabei auch nicht irgendeiner: Es war der Fremde von vorhin. Seinen Mantel hatte wohl er bei der Garderobe gelassen und zeigte das darunterliegende zerknitterte und ausgefranste Hemd, das so überhaupt nicht in die feinen Stoffe der restlichen Gesellschaft passte.

Aber darum ging es gar nicht. Auf einer Elfenfeier hatte es noch nie einen Menschen gegeben, der es gewagt hätte, ein Musikinstrument in die Hand zu nehmen. Und vielleicht war das auch der Grund, dass diesem sonst ach so gefassten Volk aus spitzohrigen Besserwissern die Worte fehlten.

„Hey! Was glaubt Ihr, da zu tun?!“, rief jemand von der Seite erzürnt und kämpfte sich durch die Menge. Es war Cirdan, der sich dem Fremden mit hochrotem Kopf entgegenstellte. Der Mann sah ihn verdutzt an – sicherlich hatte er noch nie einen Elfen von solch mickriger Größe gesehen – blieb aber ruhig und machte keinerlei Anstalten, sich von seinem Platz zu entfernen.

„Seid Ihr der Hausherr?“, fragte er mit einer rauen Stimme durch seine Zähne, die die halbschiefe Zigarette in seinem Mund festhielten. Anders als der sanfte Geruch des elfischen Tabaks, der eine leichte Pfefferminznote mittrug, roch sein Gemisch mindestens so rau wie seine Stimme und drängte sich in die Mitte wie ein unerwünschter Gast, womit er seinem Konsumenten alle Ehre machte.

„Das geht euch eigentlich nichts an, aber ja, der bin ich“, gab Cirdan zurück und drückte den Rücken durch, um größer zu wirken, was aber nicht ganz gelang, wenn ihn selbst dann sein Gegenüber noch immer um zwei Köpfe überragte. „Und aus diesem Grund solltet ihr mir schnell erklären, was Eure Absichten sind, ungeladen in mein Haus zu kommen, bevor ich die Stadtwache rufe und Euch in den Kerker werfen lasse! Ich dulde keine Schmarotzer auf meinem Bankett!“

„Das ist auch nicht meine Intention, wie Ihr seht.“

„Ich sehe Eure Intention, klar und deutlich, aber es gefällt mir mindestens genauso wenig, wie wenn Ihr Euch an Speis' und Trank laben würdet. Ihr verärgert meine Gäste. Stellt die Gitarre ab und geht Eurer Wege, Mister...“

„Sterlinson. Ezra Sterlinson“, sprach der Fremde und nickte zur Begrüßung.

„Nun denn, Mister Sterlinson. Ich denke, Ihr wisst wo der Ausgang ist.“

„Das wäre aber sehr schade.“

„W-wie bitte?“, fragte Cirdan empört und bog sein Ohr zu seinem Gegenüber, als hätte er ihn tatsächlich nur akustisch nicht verstanden.

„Ich sagte, dass das sehr schade wäre. Ich wollte Euch gerade von meinem Talent überzeugen.“

„Nun, ich bin mir sicher, dass das nicht nötig sein wir-“

Cirdan kam nicht mehr dazu weiterzusprechen, oder sich auf den Mann zuzubewegen, denn dieser schlug in diesem Moment eine Saite an. Und mit dem ersten Ton schwang eine Ruhe durch den Raum mit, die kaum zu beschreiben war. An die Ohren der Anwesenden traten die wenigen Akkorde, die er anspielte, wie das Zwitschern einer Nachtigall und umklammerte eines jeden Gemüts mit festem Griff. Es befiel jeden, das Fieber dieser dunklen, ausgeleierten Klänge und zwang die volle Aufmerksamkeit zum Spielenden, der mit seiner rauchigen Stimme zu singen begann:
 


 

„Jeden Tag, oh jeden Tag,

jeden Tag werd' ich von einem Knall geweckt,

Blut klebt an der Mauer, welch Teufel ist wohl heute dort verreckt?

Recht und Ordnung wollen wir,

doch Diebstahl lockt zu sehr, das mancher nicht erkennt,

dass wer zu viel vom Öl schluckt, alsbald lichterloh verbrennt.

Jeden Tag, oh jeden Tag,

jeden Tag sieht man die Gauner nah und fern,

blitzendes Metall, ein Schuss, im Kopf ein roter Stern.

Sag, hast du's nicht gewusst? Die Welt hat einen rabenschwarzen Kern.

Sag, hast du's nicht gewusst? Die Welt hat einen rabenschwarzen Kern.

Von oben Hass von unten Gier,

das Leben wird kaum besser hier,

so jagen wir für's Leben gern,

die Sucht nach Fleisch wird uns verzehr'n.

Sag, hast du's nicht gewusst? Die Welt hat einen rabenschwarzen Kern.

Sag, hast du's nicht gewusst? Die Welt hat einen rabenschwarzen Kern.“
 

Wie in Trance hoben die Gäste ihre Hände und schlugen im Takt der Musik ein. Dabei war das Lied nicht einmal besonders anspruchsvoll oder lebhaft. Es war eine solide Komposition, die man auf Volksfesten wohl gerne hörte, aber für elfische Ohren eigentlich eine Beleidigung sein sollte. Doch auch Severa konnte sich der Melodie nicht erwehren und schon bald sang jeder im Saal den Refrain mit.

Als der Mann, der sich Ezra Sterlinson nannte, den letzten Ton verstummen ließ, wurde er mit einem Applaus belohnt, den wohl noch niemand auf so einem Fest gehört hatte. Lady Atani, die sonst nie viel auf die menschliche Rasse gab, warf ihm einen schmachtenden Blick zu und Oberst Tirilas Lippen umspielte ein begeistertes Lächeln.

Severas Blut kochte vor Leidenschaft und sie konnte die Augen von dem blonden Mann nicht lassen, dem gerade alle Aufmerksamkeit zugute kam. Sie drängte sich an den anderen vorbei nach vorn. Ezra verneigte sich vor der Menge, dann wandte er sich zu Cirdan, der ihm etwas zuflüsterte. Mit seinem Zeigefinger bedeutete der Elfenherr seiner Sklavin ihm zu folgen, während er sich mit seinem neuen Gast zusammen in Richtung Obergeschoss aufmachte.
 

„Schließ' die Tür hinter dir“, befahl Cirdan seiner Zwergin, als diese zuletzt das angestaubte Büro betrat. Der Elf setzte sich in seinen alten, rotbraunen Lederstuhl und faltete die Hände auf dem Tisch. Er deutete auf einen der kleineren, aber nicht minder bequemen Holzstühle ihm gegenüber.

„Bitte, Mister Sterlinson, setzt Euch doch. Darf ich Euch etwas zu trinken anbieten?“

„Danke, aber ich bevorzuge es, nüchtern zu bleiben.“

„Selbstverständlich, wie Ihr wünscht.“ Cirdan lehnte sich im Stuhl zurück und zündete sich seine Pfeife an. Severa blieb unterdessen bei der Tür stehen und wartete auf ihr Zeichen.

„Jetzt steh da nicht rum wie bestellt und nicht abgeholt! Komm her!“, keifte ihr Herr sie an. Das war ihr Zeichen. Sie setzte sich auf den freien Platz neben Ezra, behielt aber einen guten Abstand zu ihm. Sie konnte ihn noch nicht einschätzen, fühlte sich aber dennoch zu ihm hingezogen. Gerade hier aus der Nähe, strahlte er eine noch stärkere Faszination aus, als am Fenster zuvor. Sie musste sich zwingen, nicht zu sehr zu starren, doch kam nicht umhin zu bemerken, dass etwas an ihm seltsam wirkte. Sie konnte aber nicht erkennen, was...

„Nun denn, Mister Sterlinson. Aus Eurem extravaganten Auftritt schließe ich, dass Ihr wisst wer ich bin?“

„Lord Cirdan vei Brith. Herrscher über die hiesigen Stollen und findiger Geschäftsmann. Es ist mir eine Freude, Euch persönlich kennenzulernen.“

Schmeicheleien wie diese funktionierten bei Cirdan fast schon zu gut, aber darin unterschied er sich nur wenig von seinen Artgenossen. Dann wandte sich Sterlinsons Blick zu Severa.

„Allerdings interessiert es mich auch, wer Eure reizende Begleiterin ist...“

Sein linker Mundwinkel zog sich leicht hoch und seine blauen Augen glänzten im Schein der Öllampen. Die Zwergin nickte stumm zur Begrüßung.

„Das ist Severa, meine Lieblingssklavin. Und als Lieblingssklavin habe ich sie gerne so oft und so lang wie möglich in meiner Nähe. Ich hoffe doch, sie stört Euch nicht.“

„Keineswegs. Von guter Gesellschaft kann man nie genug haben.“

„Gut... aber kommen wir nun zum Geschäftlichen.“

Cirdan blies einen Schwall des Tabaks aus, der im flackernden Licht zu tanzen begann.

„Nennt mich einen Zyniker, aber ich hege doch rechte Zweifel, dass die Reaktion auf Euren Auftritt einzig und allein auf Eurem Talent fußte. Nichts für ungut, aber so toll spielt Ihr nun auch wieder nicht.“

„Da habt ihr völlig Recht, Lord vei Brith. Ich bin kein Meister der Musik und besonders Euresgleichen würde mein Gossengeklimper sicher nicht beeindrucken.“

„Dann gehe ich doch recht in der Annahme, dass hier eine höhere Macht im Spiel war? Vielleicht... Magie? Allerdings hatte man keine magischen Einflüsse an Euch ausmachen können...“

Severa dachte darüber nach und kam zu dem gleichen Schluss. Jemand, der beispielsweise einen gelben Kristall zur Verbesserung seiner geistigen Fähigkeiten geschluckt hätte, hätte davon einen gelblichen Schimmer in seinen Augen bekommen. Ezra blieb hingegen völlig normal.

Der blonde Mann lehnte sich gelassen zurück und griff in die Brusttasche seines Hemds.

„Nun, Ihr lagt schon grundsätzlich richtig, aber die Magie, von der wir sprechen, funktioniert etwas anders. Nicht ich wurde verzaubert, sondern die Gitarre.“

Er legte auf den Tisch einen kleinen, recht stabilen Zettel und holte aus seiner Tasche noch einen Pinsel und eine dunkle Tinktur, die jedoch nicht so tiefschwarz wie richtige Tinte war. Ezra tunkte den Pinsel ein und zeichnete auf das Papier eine Reihe abstrakter Formen – Kreise, Vierecke, aber auch einzelne Striche – die aber scheinbar einem System folgten. Handelte es sich hierbei vielleicht um eine Schrift?

Severa beugte sich etwas vor, um in den Formen vielleicht doch etwas zu erkennen, da fingen die Zeichen an, bläulich zu glühen, als würde Mondlicht daraus strahlen. Aus dem hellen Schein krauchten erst ein paar Blätter, dann ein Stiel und zuletzt eine wunderschöne, glühende blaue Blüte. Und dann noch eine und noch eine, bis aus dem kleinen Zettel ein ganzer Strauß wuchs und den Raum in blaues Licht hüllte.

„Mondlichtenzian. Lädt sich über den Tag mit Sonnenlicht auf und leuchtet dann in der Nacht“, erklärte Ezra, pflückte eine Blume und steckte sie in Severas Haare. Ihr Herz schlug schneller, ob der Schönheit dieser fremden Pflanze.

„Was für eine Magie war das?“, sprach Cirdan aus, was sowohl er als auch sie dachten.

„Das nennt man Papiermagie. Eine fast verlorene Kunst vom fernen Kontinent Asteria. Mit einer magischen Tinte werden auf speziellem Papier bestimmte Begriffe, oder Sätze in einer alten Sprache aufgeschrieben. Das Ergebnis erfolgt, sobald es der Benutzer wünscht. In diesem Fall habe ich auf den Zettel 'Lun-saihana' geschrieben. Das alte asterische Wort für Mondlichtenzian. Mit der Gitarre war es ganz ähnlich. Aber ihr habe ich 'Wohlklang' verliehen, was ihre Wirkung zum positiven verstärkte.“

„Also ein netter Zaubertrick?“, bemerkte Cirdan sarkastisch.

„Mehr als das: Papiermagie kann Gegenstände mit Elementarmagie verzaubern und mit ausreichend Siegeln ganze Orte verfluchen. Außerdem kann sie von jedem erlernt werden. Es gibt, anders als bei der Kristallmagie, keine körperlichen Beschränkungen. Lasst es mich vorführen. Miss Severa, darf ich bitten?“

Ezra reichte der Zwergin den Pinsel, den sie zitternd annahm.

„Alles okay. Ich zeige es euch.“ Sanft umfasste der Mann ihre Hand und führte sie über das Papier eines zweiten Zettels, den Ezra rausholte. Er ließ sie die gleichen Zeichen aufs Papier schreiben, wie zuvor.

„So... und nun befehlt dem Zettel mit euren Gedanken, dass eine Blume aus ihm sprießen soll.“

Wie sollte sie das machen? Sie zögerte einen Moment und schaute unsicher zu Cirdan, der ihr wortlos befiel, der Anleitung des Fremden Folge zu leisten. Sie dachte daran, wie es beim ersten Mal spross. Und tatsächlich: Die Schrift begann zu leuchten und eine kleine einzelne Blume kam langsam aus dem Zettel. Severas Herz – vorher eindeutig aufgeregt – schien nun aus ihrer Brust springen zu wollen. Auch Cirdan war beeindruckt.

„So etwas habe ich noch nie gesehen...“, flüsterte er.

„Das Geheimnis ist die Tinte. Oder besser: ein bestimmter Bestandteil. Eine Art Kristall, der aber denen von Lyn'a'Tischal meilenweit überlegen ist. Ein kleiner Stein bewegt Züge, größere können ganze Städte erleuchten.“

„...Du kannst viel erzählen“, knurrte Cirdan, aber jeder konnte sehen, dass er mehr als nur neugierig war.

„Mein Schiff liegt im Süden an. Wenn Ihr wollt, brechen wir gleich morgen früh nach Asteria auf. Eine kurze Reise von einem halben Monat. Wenn Euch mein Wort nicht reicht, dann lasst Euch davon persönlich überzeugen.“

Ezra lehnte sich grinsend vor. Der blaue Schein verlängerte die Schatten in seinem Gesicht und verlieh ihm einen unheimlichen Eindruck.

„Oder... wollt Ihr mir erzählen, dass die Feier nicht dafür da ist, Euren bevorstehenden Bankrott abzuwenden?“

Cirdan tat es seinem Gegenüber gleich und fixierte Sterlinson mit festem Blick.

„Wir fahren noch heute.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Phinxie
2018-03-07T12:43:17+00:00 07.03.2018 13:43
Es ist obeeeeeeeen <3

Ich hab's heute Morgen beim Frühstück gelesen, weil ich es bis heute Mittag nicht abwarten konnte... Nur der Kommentar folgt erst jetzt, da ich mit dem Handy ja dazu präferiere, peinliche Schreib- und Wortfehler reinzuhauen xD

Eine Sache, die mir persönlich ein bisschen negativ aufstößt, ist, dass du den Begriff "Comfort Girl" verwendet - nicht falsch verstehen, ich weiß, was das ist und verstehe auch, warum die diesen Begriff für Severa gewählt hast. Ich habe ein Problem damit, Anglizismen in einer Fantasy-Geschichte zu benutzen - egal, zu welcher Zeit diese spielt. Ich finde, es passt einfach nicht. In einem Moment kommt man mit Magie und wundervollem, viktorianischen Begriffen daher und im nächsten Satz steht dann Comfort Girl... Das nimmt mir persönlich den Zauber aus der Geschichte heraus und innerlich lege ich unzufrieden die Ohren an. Anglizismen haben meiner Meinung nach nichts in solchen Welten zu suchen, dazu gehört auch das allgegenwärtige "Okay". Wenn ich das in einem Fantasybuch lese, das in einer mittelalterlich angehauchten Zeit spielt, kann ich nur mit den Augen rollen (und ich bin glücklich, dass ich es bei dir noch nicht entdeckt habe).
Es ist nur ein Rat, aber vielleicht solltest du den Begriff Comfort Girl noch einmal überdenken und etwas zeitgängerisches dafür einsetzten.

Jetzt aber weiter, genug gemeckert xD

Dein Schriftbild ist wieder einmal große klasse. Aber ich habe an deinem Schreibstil prinzipiell nichts auszusetzen. Deine Beschreibungen sind detailreich, lassen sich leicht und flüssig lesen und zudem sehr gut im Geiste vorstellen. Du nimmst dir auch schön viel Zeit zum Beschreiben und man merkt, wie wichtig es dir ist, deine Welt so detailreich wie möglich darzustellen, damit sie viel lebendiger wirkt. Ich mag es und das solltest du beibehalten.

Die Charaktere sind wie immer sehr schön gestaltet. Mir gefällt Severa immer mehr, auch wenn sie mir für eine Sklavin recht... eigensinnig und selbstbewusst wirkt xD Aber wahrscheinlich kann man sich auch etwas darauf einbilden, dass man die Lieblingssklavin des Herren ist, von daher... Auch Cirdan mag ich. Ich finde, er ist eine der interessantesten Personen der Geschichte. Ich meine, alleine schon sein Hintergrund ist weltklasse, aber seine Art, wie er sich benimmt... Ich weiß nicht, Cirdan ist auf seine Art und Weise verlucht faszinierend. Zu dem Fremden - Ezra - kann ich noch nicht viel sagen, außer, dass seine Charakterentwicklung ins Positive sowie ins Negative gehen kann. Ich hege gegen ihn keine große Abneigung, aber auch keine große Sympathie. Aber wahrscheinlich wird das noch besser - sein Lied zumindest hat mir gefallen ;)

Das Setting ist mein Liebling <3 Du weißt, ich liebe Bälle und solche Veranstaltungen heiß und innig und ich fand, dass die den Empfang mit dem ganzen, adeligen Getue sehr gut rübergebracht hast x) Man hat auf gewisse Weise sogar ein gewisses Unwohlsein verspürt, trotz der Magie und des Zaubers, die die adelige Welt so mit sich bringt, und ich konnte mich gerade in Severa sehr gut hineinversetzen ^^
Ich frage mich nur, warum Ezra so willens ist, sämtliches Wissen preiszugeben, welche Beweggründe er hat, einfach so mir nichts, dir nichts, diese Geheimnisse der Magie preiszugeben, warum er sich dazu an Cirdan wendet und ihn sogar anbietet, mit in sein Land - Asteria - zu kommen. Cirdans Beweggründe, da mitzumachen und die Gelegenheit am Schopf zu packen, sind klar, aber ist es nicht ein verflucht toller Zufall, dass plötzlich Ezra mit eigenartiger Magie daherkommt und von weitaus tolleren und besseren Kristallen als die von Lyn'A'Tishal spricht?
Vielleicht stoße ich noch auf dieses Geheimnis, aber mir fehlte die Antwort auf das große WARUM?

Alles in allem hat mir das Kapitel sehr gut gefallen. Und ich hoffe, dass demnächst ein paar Fragen beantwortet werden, zudem bin ich neugierig auf den Kontinent Asteria <3
Also, schön fleißig weiterschreiben :D
Antwort von:  Lazoo
07.03.2018 22:02
Meine Liebe Phinxie... Ich habe gerade mal 3 Kapitel fertig gemacht. Du erwartest nicht wirklich, dass ich jetzt schon mit dem entpuzzeln anfange xD
Ich finde es interessant, dass du das kapite beim Frühstück liest. Andere lesen Zeitung am morgen, aber jedem das seine ^^ich wäre ja für so was vor einer bestimmten uhrzeit nicht ansprechbar. Aber ich muss gestehen, dass ich mich auch schon sehr auf deinen Kommentar gefreut habe. Ich sag ja, es gibt nicht viele Leute, deren Meinung mir so wichtig ist wie die deine. Ich glaube sogar, dass sie mir fast am wichtigsten ist, weil du dich so sehr für das kreative Schreiben faszinierst und es selbst so toll beherrschst. Aber auch davon abgesehen bin ich etwas, naja "feedback-geil"... Wie wir alle wahrscheinlich xD
Wie schnell das nächste kommt weiß ich aber nicht. Es kommt, wenn es kommt.

Zu deiner Kritik: Ich kann deine Bauchschmerzen schon verstehen, auch wenn ich den begriff weniger schlimm finde, zumal ja lyn'a'tischal eh viktorianisch angehaucht ist. Ich bin am überlegen, stattdessen einen erfundenen euphemismus wie Freudenmädchen zu benutzen. Mal sehen, vielleicht finde ich noch einen ^^"

Es freut mich dass die Charaktere dir so gut gefallen, denn ich mag sie auch gern. Ezra und Severa wäre tatsächlich zwei der Urcharaktere dieser Welt und haben daher einen besonderen Platz bei mir.
Das pacing wird aktuell erstmal wie angestammt bleiben, ich will in aller ruhe die Welt aufbauen und Charaktere einführen. Daher werden auch fragen erstmal unbeantwortet bleiben. Hoffe das ist okay ^^

Ich freue mich - so sehr wie du dich auf das nächste Kapitel freust - auf deinen kommenden Kommentar :)

Nichts motiviert besser zum fortsetzen!
Antwort von:  Phinxie
08.03.2018 13:23
Ich warte einfach auf die nächsten Kapitel und jammere nicht mehr wegen deiner Geheimniskrämerei rum :P
Ich warte.
Ungeduldig, aber ich warte :P


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