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Noise Break

[Demonic Reverie]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ausnahmsweise ein Upload am Freitag, weil ein besonderer Tag ist. ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ursprünglich sollte dieses Kapitel in einer etwas kürzeren Version Teil des vorangehenden Kapitels sein. Aber meine Beta und ich waren der Meinung, dass es dort nur die Atmosphäre zerrütten würde. Also habe ich es ein wenig weiter ausgearbeitet, da ich nun keine Rücksicht mehr auf die Atmosphäre der anderen Teile nehmen musste.
Es hat immer noch nicht die "übliche" Kapitellänge, aber es soll auch nur als kleines Zwischenkapitel zwischen dem letzten und dem nächsten dienen.
... Und warum schreib ich eigentlich diese ganze Rechtfertigung? :,D Komplett anzeigen

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Prolog: Das Mädchen

Das Mädchen, das zur Hälfte ein Dämon war, liebte sein Leben.

Es wuchs in ungewöhnlichen, aber schönen Umständen auf, umgeben von außergewöhnlichen Menschen, die großartige Dinge schufen.

Es kannte Helden, die für die Rettung der Welt verantwortlich waren, musste nicht nur zu ihnen aufsehen, sondern konnte sie sogar als Freunde bezeichnen.

Es hatte eine liebende Familie und viele andere harmlose Dämonen, die als Haustiere durchgehen könnten. Sie lebten im Labor seiner Mutter, ebenfalls einer Dämonin, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, diese Art zu erforschen.
 

Das Mädchen, das zur Hälfte ein Albtraum war, hasste sein Leben.

Es wuchs unter Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten auf, die allesamt dazu dienten, seine Art auszulöschen.

Es wurde von anderen Albträumen gehasst und manchmal nachts von ihnen heimgesucht, in nie endenden Labyrinthen, dunkler als das Nichts.

Es liebte seinen Vater, der ein Arzt war, und wollte ihm nacheifern, in der sicheren Erwartung ohnehin zu versagen und alle zu enttäuschen.
 

Das Mädchen, das halb Dämon und halb Albtraum war, liebte sein Leben.

Es war außergewöhnlich, eine vorher nie dagewesene Art und abgesehen von seinen Brüdern einzigartig.

Es war der Beweis dafür, dass der einst herrschende Krieg zwischen den Schulen vorüber und Liebe im Endeffekt stärker war als Hass.
 

Das Mädchen, das halb Dämon und halb Albtraum war, hasste sein Leben.

Es hatte einen Zwillingsbruder, der vollkommen anders war, besser, beliebter, mit dem es sich nicht verbinden konnte.

Es wurde von Menschen, die nichts über seine Einzigartigkeit wussten, gehasst, ausgegrenzt, verspottet.
 

Das Mädchen, das halb Dämon und halb Albtraum war, liebte und hasste sein Leben.

Es wusste noch nicht, wie weit es gehen würde, um es zu ändern.

Kapitel 1: Dann wärst du sie für immer los.

»... und ich denke, das hat etwas mit dem kommenden Winter zu tun.«

Nerida hörte Ronan nur mit einem Ohr zu, während sie neben ihm in Richtung ihrer Schule lief. Und dieses eine musste sich noch dazu Mühe geben, ihn über den Lärm des Straßenverkehrs zu verstehen. Das war sie noch von der Zeit gewöhnt, als ihr Zwillingsbruder Darien gemeinsam mit ihnen diesen Weg gegangen war. Er liebte es, zu reden, selbst – oder gerade wenn – es dabei immer nur um Amy gegangen war. Es musste schön sein, verliebt zu sein. Aber das bedeutete nicht, dass Nerida ihm dabei immer aktiv zuhören wollte. In Ronans Fall war sie überzeugt, dass er ohnehin nur etwas aus einem Buch erzählte, das sie bereits gelesen hatte, deswegen betrachtete sie es auch nicht als sonderlich schlimm. Dennoch schalt sie sich selbst, und sah dann in seine Richtung. Mit einer Hand hatte er seinen Schal, den er stets um den Hals und die untere Partie seines Gesichts wickelte, ein wenig nach unten gezogen, um deutlicher zu sprechen, in der anderen hielt er ein geöffnetes Buch. Seine braunen Augen blickten gebannt auf die Seite, das Ausweichen überließ er lieber allen anderen Passanten. Allerdings hatte Nerida ihn auch schon dabei erlebt, wie er selbst vollkommen sicher allen Hindernissen auswich, selbst wenn er scheinbar ins Lesen vertieft war.

»Kommender Winter?«, hakte sie nach.

Es war Herbst, aber noch spürte sie nicht sonderlich viel von der nächsten Jahreszeit. Die Luft war meist feucht, aber nicht sonderlich kalt. Dabei sehnte sie sich diese Kälte bereits herbei. Die Erleichterung, dass der Sommer vorüber war, hatte nicht lange gehalten. Genau genommen war das Gefühl bereits wieder abgeflaut, als die Schule angefangen hatte.

»Dass die Leute sich so seltsam benehmen«, antwortete er, »das hat etwas damit zu tun.«

Hatte er doch über etwas ganz anderes gesprochen?

Nerida sah sich um. Die anderen Passanten wirkten, ihrer Meinung nach, nicht anders als sonst. Schon früh am Morgen liefen sie eilig die Straßen hinunter, warfen ihnen beiden irritierte Blicke zu und verschwanden dann im Gewimmel der Stadt. Vor einem Jahr, als die Springer noch Besitz von Menschen ergriffen hatten, da waren sie seltsam gewesen. Hatten mitten auf der Straße gestanden, regungslos, immer nur vor sich hin starrend. Dadurch war es auch unheimlich still gewesen, denn es hatte sich niemand unterhalten und es waren kaum noch Autos gefahren. Aber das jetzt? Das war normal.

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

Ronan löste den Blick von seinem Buch, um sie anzusehen. »Sie sind hektischer als früher. Gereizter. Unsere Englisch-Lehrerin, Mrs. Byrne, ist ständig angespannt, dabei war sie früher so nett.«

Nerida kannte diese Lehrerin nicht. Sie gingen auf dieselbe Schule, aber in unterschiedliche Klassen, deswegen unterschieden sich ihre Lehrer drastisch voneinander. Ronan vergab allerdings nicht leichtfertig die Bezeichnung so nett, deswegen vertraute sie ihm darin.

»Und du denkst, der Winter könnte das ändern? Etwa wegen des mangelnden Sonnenlichts?«

Ronan sah nach oben; an diesem Tag gab es nicht viele Wolken. »Vielleicht. Aber ich frage mich, warum sie dann erst in diesem Jahr damit anfangen. Und auch noch so früh.«

Vielleicht lag es am Polsprung, sagte sie sich. Oder es waren Nachwirkungen der Springer. Möglicherweise stimmte aber auch nur etwas mit Mrs. Byrne nicht.

Da sie nichts mehr sagte, vertiefte Ronan sich wieder in sein Buch. Nach wie vor ohne irgendjemanden dabei umzurennen.

An der Schule angekommen, spürte Nerida sofort wieder, wie ihr Innerstes zu gefrieren schien. Der Schulhof war hinter dem traditionellen Sandsteingebäude, aber dennoch versammelten sich vor und nach dem Unterricht alle möglichen Schüler direkt vor dem Haupteingang. Manche unterhielten sich lediglich, andere, vor allem ältere, rauchten noch die letzten Zigaretten vor der Mittagspause. Sie konnte keinerlei Gespräch mitverfolgen, hörte aber immer wieder ein amüsiertes Lachen, das hoffentlich nicht ihr galt.

Hier trennten sich die Wege der beiden Geschwister. Ronan war einige Jahrgänge unter ihr, deswegen waren seine Klassenräume in einem moderneren Seitengebäude, während ihre sich im Hauptgebäude befanden. Sie sah ihrem Bruder nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte; er war ohne Probleme hineingekommen.

Sie erklomm die wenigen Stufen bis zu den schweren hölzernen Türen. Die eingekerbten Efeuranken darauf waren Zeugen unzähliger Schüler geworden, die in all den Jahren gekommen und gegangen waren. Entsprechend standen diese Türen mit ihren Symbolen in Neridas Augen für Leid in einem nicht mehr messbaren Ausmaß. Es hätte sie nicht überrascht, wären nachts öfter Hexen vorbeigekommen, um hier lokalisierte Flüche zu brechen. Aber sie fragte nie.

Kaum öffnete sie die Tür, wurde sie von Geräuschen und Gerüchen überflutet. Der Steinboden gab jeden Schritt der Schüler wieder, während sie die Gänge hinauf- und hinabliefen und sich dabei mit ihren Freunden unterhielten, die Wände und die hohe Decke der Haupthalle schienen jeden einzelnen Ton verstärken zu wollen. Dadurch wurde alles zu einem einheitlichen Dröhnen, das Nerida auszublenden versuchte, während sie sich der Masse anschloss, um zu ihrem Spind (geradeaus, bis zum Ende des Ganges, dann links) zu kommen. Aus der Cafeteria (links vom Eingang, den Gang hinunter) waberten bereits die ersten Düfte des bevorstehenden Mittagessens in ihre Richtung, der Kiosk in der Nähe der Spinde (am Ende des Ganges) verbreitete dagegen den Geruch von Kaffee und frischen Brötchen. Eine Schlange hatte sich bereits davor gebildet, wohl hauptsächlich für die morgendliche Dosis Koffein. Etwas, das sie nicht nachvollziehen konnte, obwohl ihre Eltern das Getränk auch liebten. Aber vielleicht kam das noch.

Als sie in den Gang zu ihrem Spind einbog, erstarrte sie. Nur wenige Schritte von dem einfachen grauen Schrank aus billigem Metall entfernt, standen drei ihrer Mitschülerinnen. Und das waren auch noch ausgerechnet die drei, denen sie eigentlich nicht hatte begegnen wollen. Allerdings konnte sie nicht warten, bis die drei irgendwann einmal weitergingen.

Sie atmete mehrmals durch, dann lief sie los. Früher hatte sie sich quasi hinter Darien versteckt, da sein Spind neben ihrem gewesen war. Außerdem hatte er den Vorteil besessen, beliebt zu sein. Sie konnte das durchaus nachvollziehen. Aber es half ihr nun nichts mehr, denn Darien besuchte inzwischen Abteracht, wo er bei Amy sein konnte und lernte, Dämonen zu bekämpfen. Sie war stolz auf ihn, sowohl was seinen Mut als auch seinen Ehrgeiz anging, dennoch vermisste sie ihn hier als ihren Schutzschild.

Mit ein wenig Geschick und einem eingezogenen Kopf zwischen den gehobenen Schultern, gelang es ihr, andere Schüler als Schilde zu gebrauchen. Damit kam sie unbemerkt an den Mädchen vorbei bis zu ihrem Spind. Noch war sie aber nicht sicher. Geübt gab sie im Kombinationsschloss die passende Nummer ein, worauf die Tür leicht aufschwang. Da auch andere Schüler im Gang mit ihren Spinden beschäftigt waren, fiel das metallische Klacken gar nicht weiter auf. Genausowenig wie das rostige Quietschen, als sie die Tür ganz öffnete – nur um wieder zu erstarren.

Im Inneren ihres Spindes bewahrte sie lediglich einige Bücher auf, die sie für ihren Unterricht, aber nicht für Hausaufgaben benötigte. Außerdem war im Moment alles verklebt, mit Honig, wie der Geruch ihr verriet. Ihr Blick ging von den beschmierten Blättern zu den drei Schlitzen, dort fand sie ebenfalls Überreste des Honigs. Es war nicht weiter schlimm, nur eine unangenehme Störung ihres Tagesablaufs. Hinter sich hörte sie das gehässige Lachen der drei Mädchen. Statt sich umzusehen, kniete Nerida sich hin und sammelte die Blätter zusammen, sowie die Bücher, die sie für die nächsten Stunde brauchte. Um die verklebten Schlitze müsste sie sich ein andermal kümmern.

Der Unterricht verlief dann wie gewöhnlich. Sie machte sich Notizen und konzentrierte sich auf die Themen, so dass sie ihren Spind bald wieder vergaß. Derartige Dinge geschahen ihr schließlich fast täglich, es half nichts, sich daran aufzuhängen.

Die Lehrer warfen immer nur kurze Blicke in ihre Richtung, ignorierten sie sonst aber soweit es ihnen möglich war. Jeder von ihnen schien glücklich darüber zu sein, dass sie keine großartigen Probleme mit dem Stoff hatte, die es erforderlich machten, dass sie sich näher mit ihr befassen müssten. Vielleicht wirkte sie aber auch nur derart abweisend.

In der kurzen Mittagspause entfernte sie so gut wie es ihr möglich war den Honig, der zwischen den Schlitzen klebte. Dafür erntete sie einige neugierige Blicke des Hausmeisters. Als sie diese erwiderte, nickte er ihr zu, setzte aber sonst seinen Weg fort. Sie wusste nicht viel über diesen groß gewachsenen Mann, der bereits vollkommen ergraut war, obwohl sein glattes Gesicht noch nicht sonderlich alt wirkte. Auch in seinen hellblauen Augen glaubte sie immer, Wissen entdecken zu können, das jenes eines normalen Menschen überstieg. Aber sie sprach ihn nie an.

Schließlich war dieser Schultag wieder vorbei, deswegen führte ihr Weg sie zu ihrem Spind zurück. Bislang hatte es keinen weiteren Angriff gegen sie gegeben. Vielleicht war heute ein guter Tag für sie, aber sie wagte nicht zu hoffen.

An ihrem Ziel angekommen, warf sie erst einmal einen Blick umher. Sie entdeckte keinen Schüler, den sie kannte. Jeder lief desinteressiert an ihr vorbei, nur in die eigenen Gedanken versunken. Sie dankte dem Weltenwächter dafür. Zufrieden darüber öffnete sie den Spind. Zahlreiche abgebrannte Streichhölzer fielen ihr entgegen, erst dann bemerkte sie den noch in der Luft liegenden Feuergeruch. Einen kurzen, schrecklichen Augenblick lang, fürchtete sie, in Flammen aufzugehen. Die Kälte in ihrem Inneren strömte nach außen, bildete erste kleine Flocken, die sofort in der Wärme schmolzen. Hinter ihr lachte jemand. Sie drehte sich nicht danach um, sondern stellte sicher, dass das Innere ihres Spinds unbeschädigt geblieben war. Zu ihrem Glück mussten die Streichhölzer sofort wieder ausgegangen sein, als sie durch die Schlitze geworfen worden waren. Sie tauschte die Sachen aus, wofür sie überhaupt gekommen war, dann räumte sie die abgebrannten Streichhölzer zusammen und warf diese schließlich weg. Dabei achtete sie nicht darauf, ob jemand sie beobachtete oder sich an diesem Anblick erfreute. Wer genau sich das ausgedacht hatte, musste sie schließlich nicht wissen.

Vor der Schule entdeckte sie hauptsächlich wieder andere Schüler, die sich wie schon mehrere Stunden zuvor, trafen, um weitere gemeinsame Aktivitäten zu besprechen. Niemand hielt sie auf. So strebte sie in Richtung ihres Zuhauses, das im Inneren einer gänzlich anderen Schule lag. Athamos war allerdings keine gewöhnliche Schule, deswegen besuchte sie auch nicht diese, obwohl es einige Dinge für sie erleichtern würde. In Athamos, wo auch ihre Eltern arbeiteten, wurden Traumbrecher ausgebildet. Sie kämpften gegen Albträume, die für Menschen eine Bedrohung waren. Ihre Eltern waren allerdings nicht für die Jagd zuständig. Ihr Vater war ein Arzt, ihre Mutter eine Forscherin. Sie trugen beide einen großen Teil dazu bei, dass Athamos funktionierte. Nerida war stolz auf die beiden – aber gleichzeitig wurde ihr dadurch nur noch mehr bewusst, wie unbedeutend sie eigentlich war.

»Belfond!« Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als jemand plötzlich nach ihr rief. »Warte mal!«

Sie erkannte die Stimme als jene von Orabela Breen wieder. Nur eine Sekunde später spürte sie bereits einen heftigen Schmerz, als jemand an einem ihrer Zöpfe zog. Mit einem leisen Schrei hielt sie inne, das Ziehen ließ sofort nach.

»Was denkst du eigentlich, was du gerade tust?!«

Vor Nerida standen die drei Mädchen von heute morgen. Nicht nur Orabela, sondern auch Charity Connolly und Bernice Dempsey. Setzte man einen Maßstab an Mädchen an, so wäre wohl jeder überein gekommen, dass Nerida ganz am anderen Ende der Skala stand, so weit von diesen drei entfernt, wie nur möglich. Nerida galt als Nerd und Streberin, die drei wussten vermutlich nicht einmal, wie man einen anständigen Brief schrieb; Nerida trug meist eine unscheinbare Kombination aus Rock, Hemd und Pullunder, die drei waren selbsternannte Fashionistas, die am Puls der Zeit lebten; Nerida hatte keine Freunde auf der Schule, die drei waren, zumindest im Internet, mit quasi jedem Mitschüler befreundet.

Kein Wunder, dachte Nerida bitter. Zu allen anderen sind sie auch nett.

»Ich gehe nach Hause«, antwortete sie. »Ist das nicht normal, wenn die Schule aus ist?«

Es hätte sie nicht gewundert, wenn das der Fall gewesen wäre. Aber Orabela verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse, ihr großzügig aufgelegter silbriger Lidschatten bröckelte dabei ein wenig. Es passte nicht so recht zu den hellblonden, ins rosa gehenden Haaren in den Spitzen, eine Farbe, die als Einhorn galt.

»Willst du mich verarschen, Belfond? Hast du schon vergessen, dass heute die Hausaufgaben bewertet wurden?«

Nerida überschlug ihre eigenen Unterrichtsstunden. Darin waren heute keine Bewertungen verteilt worden. Also musste es um einen Kurs der anderen gehen. Ihr Blick verweilte auf Charity, die gelangweilt einen rosa Kaugummi kaute, der zu ihrem Lippenstift passte – aber Nerida empfand es im Zusammenspiel mit dem gelockten braunen Haar als unpassend. Für Charity hatte sie vor einiger Zeit eine Hausaufgabe im Grundkurs für Englische Literatur angefertigt. Nicht freiwillig, verstand sich. Es war für sie die einzige Möglichkeit gewesen, ihr Lieblingsbuch zu retten, damit es nicht in der Kanalisation landete. Allerdings war die Hausaufgabe glücklicherweise für ein anderes Buch gewesen, das Nerida bereits gelesen hatte.

»Welche Note hat sie bekommen?«

Das dürfte der Knackpunkt sein, wie sie an Charitys gerunzelter Stirn feststellte. Orabela übernahm aber weiterhin das Reden: »Sie hat nur eine 2- bekommen! Wie erklärst du dir das, Belfond?!«

»Ich dachte, das wäre realistisch.« Das war die falsche Antwort gewesen.

Charity trat plötzlich vor, packte sie am Kragen und stieß sie gegen die nächste Wand. Die um sie herumlaufenden Passanten kümmerten sich dabei nicht weiter um sie. Selbst wenn sie zu ihr sahen, blickten sie sofort direkt wieder weg, als wäre ihnen ihre Untätigkeit peinlich. Inzwischen registrierte Nerida das aber kaum noch.

»Willst du damit sagen, dass ich dumm bin?!«

Der eigentliche Grund war eher die fehlende Zeit gewesen. Schließlich hatte sie neben diesen auch noch ihre eigenen Aufgaben erledigen müssen. Und ein Abfall ihrer schulischen Ergebnisse hätte auch zu Fragen bei ihren Eltern geführt, etwas, das unbedingt zu vermeiden war. Sie hatten schon genug Probleme, da müssten sie sich nicht auch noch mit denen von Nerida herumschlagen.

»Das sage ich nicht«, erwiderte Nerida. »Aber es wäre aufgefallen, wenn ihre Note sich so schnell verbessert hätte.«

Diesem Argument wusste offenbar keine etwas entgegenzusetzen. Bernice spielte mit einer Locke ihres dunklen Haares. Ihr Blick war auf die gegenüberliegende Straßenseite gerichtet. Dort waren inzwischen einige Passanten stehengeblieben, die neugierig zu ihnen sahen. Die Entfernung war sicher genug, um nicht eingreifen zu müssen, aber auch geeignet, um alles zu beobachten. Für Charity waren das aber wohl zu viele Zeugen. Sie ließ Nerida wieder los und trat zurück. »Mach solche Fehler in Zukunft nicht nochmal, verstanden?!«

»Ja«, stimmte Orabela zu, »sonst kommen deine Sachen nächstes Mal nicht so gut davon.«

Sie knurrte noch einmal in Neridas Richtung, ehe sie mit ihren beiden Freundinnen um die nächste Ecke verschwand. Nerida wartete noch einen Moment, ehe sie sich erlaubte, auszuatmen. Ihr war klar gewesen, dass es nicht lange dauern konnte, bis sie bemerkten, wie wenig Mühe sie sich gegeben hatte, aber da war immer die Hoffnung gewesen, dass die Note dennoch ausreichte.

»Offenbar aber doch nicht«, murmelte sie für sich.

Sie müsste sich fortan etwas ausdenken, um die anderen von ihren Gemeinheiten abzuhalten. Auch wenn bislang noch nichts funktioniert hatte.

Du könntest, flüsterte eine Stimme tief in ihrem Inneren, sie auch einfach in Eisstatuen verwandeln. Dann wärst du sie für immer los.

Diesen Gedanken verscheuchte sie rasch wieder. Wenn er sich zu sehr in ihrem Inneren manifestierte, war sie sich nicht sicher, was dann passieren könnte. Aber sie wollte es auch nicht herausfinden.

Um nicht weiter darüber nachzudenken, richtete sie ihren Kragen und setzte dann ihren Heimweg fort, hoffend, dass man ihr diesen kleinen Schock nicht doch noch ansehen könnte.

Kapitel 2: Das mache ich nicht freiwillig.


 

Obwohl sie halb Dämon, halb Albtraum war, gelang es Nerida nicht, zu träumen. Sie wusste nicht, woran es lag, hatte aber auch nie mit jemandem darüber gesprochen. Schon manches Mal hatte sie angesetzt, um Darien oder Ronan deswegen zu fragen, aber stets war ihr der Mut abhanden gekommen. Sie fürchtete sich davor, eine negative Antwort zu bekommen und dann doch allein mit ihrem Problem zu bleiben. So blieb ihr ein kleiner Funken Hoffnung, dass es normal war, dass sie das alles nicht allein durchmachte. Denn falls das so war, wüsste sie nicht, wie sie damit umgehen sollte.

Doch es stimmte nicht ganz. Nerida träumte durchaus, aber es war immer dasselbe, so wie auch in dieser Nacht wieder. Sie hatte sich hingelegt, die Augen geschlossen, um zu schlafen – und als sie diese wieder öffnete, fand sie sich erneut an jenem unheiligen Ort wieder. Es war ein Zimmer, es hatte schon immer zu klein gewirkt, aber je mehr sie gewachsen war, desto erdrückender hatte der Raum sich angefühlt, obwohl dieser sich nicht änderte. Die rosa Tapete war schmutzig, an manchen Stellen schälte sie sich bereits ab, darunter kamen getrocknete braune Blutspuren zum Vorschein. Ein Leuchter hing von der Decke, wann immer er hin und her schwang, entstand ein Geräusch ächzenden Metalls, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Nerida selbst saß an einem runden Tisch, der möglicherweise einmal weiß gewesen war. Inzwischen beherrschten aber klebrige Flecken in den unterschiedlichsten Farben die Oberfläche – wenn man die leblosen Herrscher betrachtete. Die lebenden huschten in Form von dicken grauen Spinnen, etwa so groß wie Neridas Hand, über den Tisch, ohne dabei irgendeine Linie einzuhalten oder ein Ziel zu erfüllen. Sie liefen einfach über die Oberfläche, verschwanden darunter und tauchten dann irgendwo anders wieder auf. Die ersten Male hatte Nerida aus Angst geweint, aber inzwischen beachtete sie diese Wesen kaum noch. Sie bekam immer noch eine Gänsehaut, wenn ihr Blick zu lange auf einem davon verweilte, deswegen sah sie stets davon ab.

Es gab nur wenige Hindernisse, denen die Spinnen ausweichen mussten, dazu gehörte auch Neridas Tasse. Das Porzellan an sich, das an Perlen erinnerte, war wunderbar verarbeitet. Gemeinsam mit der Untertasse wirkte es, als entfalte sich gerade eine Rosenblüte. Aber der Inhalt sah aus wie dickflüssiges Blut, nur dass er nach einem besonders ekelhaften Schlamm stank. Schon beim Gedanken daran, selbst wenn sie wach war, drehte sich regelmäßig Neridas Magen um. Einmal hatte sie die Tasse von sich geschoben, nur ein wenig – doch dieser eine Zentimeter hatte den Zorn ihrer Gastgeber nach sich gezogen. Noch einmal wollte sie das nicht riskieren. Seitdem legte sie immer ihre Hände in ihren Schoß, damit sie nicht aus Versehen etwas verschob.

Außer ihr saßen noch drei andere Gestalten am Tisch, die laut eigenen Aussagen keine Namen besaßen. Sie hatten alle drei gräuliche Haut, fast als wären sie schon lange tot und sie waren nur nicht in der Lage, das auch zu akzeptieren. Deswegen widersetzten sie sich dieser Tatsache mit aller Macht.

Links von Nerida saß die Gestalt, die sie Näherin genannt hatte. Leider lag das nicht in ihrem Hobby oder gar ihrem Beruf begründet, sondern an ihrem Gesicht. Jemand – obwohl Nerida sich das nicht einmal vorstellen wollte – hatte sich die Zeit genommen, ihre Lippen sowie auch ihre Augen zusammenzunähen. Fingerdicke Nähte hielten beides verschlossen, aber das störte Näherin nicht in ihren Versuchen, Kuchen zu essen. Wieder einmal hatte sie ein frisches Stück auf dem Teller, nahm sorgsam etwas davon auf ihre Gabel und führte es an ihren Mund, einen Schwall roter Flüssigkeit, die aus dem Kuchen tropfte, hinter sich herziehend. Dann – obwohl es Nerida schon beim bloßen Zusehen schmerzte – öffnete Näherin ihren Mund weit genug, dass eine lila Zunge hervorschnellen, das Stück schnappen und sich dann wieder zurückziehen konnte. Die Fäden lockerten sich bei dieser Prozedur kein einziges Mal, stattdessen sah es aus als dehne sich die Haut entsprechend, um eine Öffnung zu schaffen. Kaum war ihr Mund wieder geschlossen, kaute sie auf dem Kuchen, was eigenartig knirschende Geräusche verursachte.

Ihr gegenüber – also rechts von Nerida – saß die Gestalt Glas. Zahlreiche Scherben steckten in ihrem Körper, hatten tiefe Wunden hineingerissen, die aber schon lange nicht mehr bluteten. Immer wieder hob sie ihre eigene Tasse an ihre Lippen, trank einen Schluck. Darauf flossen Rinnsale aus den Wunden, hinterließen neue braune Spuren, die auf ihrer Haut trockneten. Ihre roten Augen huschten immer hin und her, hielten nie wirklich irgendwo inne, als wollte sie alles gleichzeitig wahrnehmen.

Gegenüber von Nerida saß Mumie. Ihr gesamter Körper war in dicke Bandagen eingewickelt, lediglich ihr linkes Auge lag frei. Es war ebenfalls rot, aber im Gegensatz zu Glas, starrte es unverwandt Nerida an, als wollte es direkt in ihre Seele sehen. Im Allgemeinen bewegte sie sich nicht, was im Vergleich zu den unablässigen Bewegungen der anderen beiden noch verstörender wirkte.

Jenseits des Tisches, hinter Mumie, stand ein Metallkonstrukt an der Wand. Erst als Neridas Alter in den zweistelligen Bereich gekommen war, hatte sie gelernt, dass es sich dabei um eine Eiserne Jungfrau handelte, ein Foltergerät. Blut floss in einem stetigen Rinnsal unten heraus. Sie wusste nicht, was sich im Inneren befand – und eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen.

Nerida war einmal ruhig am Tisch gesessen, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Es hatte sich angefühlt, als beobachte sie stundenlang, wie Näherin und Glas aßen und tranken, und Mumie sie anstarre. Nichts war geschehen, sie war nicht aufgewacht, gefangen in diesem Traum.

Deswegen wusste sie inzwischen, dass sie etwas tun musste, um die Ereignisse voranzubringen. Sie beugte sich ein wenig vor – der Gestank des Tees stach in ihrer Nase – und stellte eine unschuldige Frage: »Wie geht es euch?«

Sofort wandte die allgemeine Aufmerksamkeit sich ihr zu. Selbst Näherins geschlossene Augen schienen sie aufzuspießen. Glas stieß ein gackerndes Lachen aus. »Wenn das nicht die Tochter des Verräters ist.«

Das war stets die Begrüßung auf ihre Frage. Daraus hatte Nerida schon lange geschlossen, dass sie alle drei Albträume waren, die einmal im Eden Howl gelebt hatten, genau wie ihr Vater. Eden Howl war der Ort, an dem Albträume entstanden, das Gefängnis, in dem sie existierten, bis sie irgendwann entkamen, um Menschen zu quälen und sich an ihnen zu nähren, ihren Ängsten, ihrer Verzweiflung, ihrer Dunkelheit. Ihr Vater war anders, aber er war auch frei. Diese Albträume hier waren aber an sie gebunden. Etwas, was sie nicht verstand und die anderen wollten ihr natürlich nicht antworten. Sie hätte ihren Vater fragen können, aber … er hatte eben seine eigenen Probleme.

»Du hast ganz schön viel Schneid, hier immer wieder aufzutauchen«, fuhr Glas fort.

»Das mache ich nicht freiwillig.« Nerida beobachtete eine der Spinnen, die sich entschlossen hatte, auf den angeschnittenen Kuchen zu klettern. Näherin ließ die Kuchengabel heruntersausen und spießte die Arachnide damit auf. Lila Blut spritzte, dann rollte sich die Spinne zusammen und eine Sekunde später hatte Näherin sie bereits verschlungen. Neridas Atmung beschleunigte sich. »Ich kann nichts dafür, dass ich immer wieder hier lande.«

»Ach?«, fragte Glas spöttisch. »Kannst du nicht?«

Näherin und Mumie lachten leise, verhalten, ohne sich dabei zu bewegen. Nerida wäre am liebsten im Boden versunken, nur um endlich dieser Situation zu entfliehen. Natürlich wurde ihr dieser Wunsch aber nicht erfüllt. Glas nahm einen weiteren genüsslichen Schluck Tee. Mit einem leisen Klicken stellte sie die Tasse wieder auf ihren Platz. »Du weißt genau, warum du so oft wieder hier landest. Du willst es dir nur nicht eingestehen.«

»Das ist nicht wahr. Ich weiß es wirklich nicht.«

Die drei lachten. Nerida sank ein wenig tiefer auf ihrem Stuhl. Zorn flammte in Glas‘ Augen auf. »Setz dich gefälligst anständig hin! Was soll man denn von dir halten, wenn du dich so hängen lässt?!«

»Was erwartest du von ihr?« Obwohl Näherins Mund zugenäht war, schaffte sie es spielend, zu sprechen, und das auch noch in einem spöttischen Ton. »Sie ist die Tochter eines Verräters. Und ihre Mutter ist eine Schneefee. Die kriegen ihren Rücken doch nur gerade, wenn sie einen Besenstiel verspeisen.«

Die anderen beiden lachten, Nerida senkte den Blick. Sie wusste darauf nichts zu erwidern, denn sie kannte die Vergangenheit ihrer Eltern nicht wirklich. Sie waren ein Geißel und eine Dämonin, so viel war ihr klar, aber sie hatte keinen der beiden jemals wirklich darauf angesprochen. Schließlich waren sie ihre Eltern, und das genügte ihr vollauf. Diese Albträume sahen das offensichtlich anders.

Mumie seufzte. »Schlimm genug, dass Hiwa uns verraten hat und mit den Menschen zusammenarbeitet. Aber sich mit einer Dämonin einzulassen ...«

»Ich sage euch, die Menschenwelt hat einen komischen Einfluss auf Albträume«, sagte Glas spitz. »Schaut euch doch nur den Weltenbrecher an.«

»Und die Weltenzerstörer«, warf Mumie ein.

»Ich hatte so viel Hoffnung in Morte gesetzt«, sagte Näherin seufzend.

»Ja«, schwärmte Mumie, »sie war eines Albtraumes würdig, als sie sich in der Menschenwelt das erste Mal zu erkennen gab.«

Nerida kannte Morte lediglich als Ehefrau von Rowan und Mutter von vier Kindern. Sie war eine gutmütige und sanfte Frau, der man kaum anmerkte, dass ihre Mutter einst eine Weltenbrecherin gewesen war. Auch über ihre Vergangenheit wusste Nerida nicht viel mehr. Sie mochte Mortes sanftes Lächeln und ihre Stimme, deswegen verstand sie noch weniger, weswegen diese Frau ausgerechnet den Grobian Rowan geheiratet hatte. Aber sie schienen glücklich. Vielleicht verstand Nerida die Liebe einfach noch nicht.

»Dummkopf!«, tadelte Glas sie sofort, als habe sie ihre Gedanken gelesen. »Du bist halb Dämon und halb Albtraum. Was denkst du denn, wer dich jemals lieben soll?!«

»Aber Darien hat doch auch eine Beziehung«, wandte sie zaghaft ein.

Sofort brach wieder gackerndes Gelächter aus. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie sich endlich wieder beruhigt hatten. Glas wischte sich eine rote Träne aus dem Augenwinkel. »Denkst du wirklich, dass dieses Mädchen ihn liebt? Sie genießt doch nur die Aufmerksamkeit, die er ihr schenkt.«

»Funktioniert Liebe nicht immer so?«, fragte Näherin spöttisch. »Im Endeffekt liebt doch jeder nur sich selbst und will nur bewundert werden.«

»Oder nicht allein sein«, ergänzte Mumie. »Auch wir führen nicht gern Selbstgespräche.«

Waren sie deswegen immer zu dritt hier? Nerida hakte nicht nach. Aber sie fand zumindest den Mut, zu widersprechen: »Meine Eltern lieben sich aber wirklich.«

Glas vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie wollten nur nicht in ihrer Außergewöhnlichkeit allein sein. An wen sollen sich eine Dämonin und eine Geißel denn wenden?«

»Sie hätten zumindest genug Anstand zeigen können, sich jeweils einen Dämon oder eine andere Geißel zu suchen.« Näherin schnaubte. »Wo kommen wir bei all dieser Vermischung nur hin?«

»Was ist mit Morte?«, fuhr Nerida fort. »Sie liebt Rowan.«

Mumies verdecktes Auge glühte rot auf. »Ich sage doch, diese Menschenwelt stellt irgendwas mit uns da draußen an. Sonst wäre die großartige Zerstörerin niemals dazu übergegangen, so einen Barbaren zu heiraten! Wenigstens einen mit Stil hätte sie sich nehmen können.«

»So wie Ares.« Auf Näherins Einwurf nickten alle einstimmig. »Dann hätten sie auch gemeinsam problemlos mit dem Zerstören fortfahren können.«

Es gab kein Durchdringen zu diesen drei. Sie waren absolut in ihren Meinungen festgefahren. Es war fast schon traurig. Aber bevor Nerida Mitleid für einen von ihnen empfinden konnte, konzentrierten sie sich schon wieder auf sie: »Was auch immer da draußen vor sich geht, eines sei dir versichert, Verrätertochter.«

Statt etwas zu sagen, wartete Nerida angespannt darauf, dass Glas fortfuhr. Doch es war Näherin, die übernahm: »Für dich wird es in der Welt der Menschen keine Zukunft geben, so viel steht fest.«

»Warum nicht?« Eigentlich plante Nerida auch keine Zukunft da draußen; sie wollte ihrem Vater als Ärztin in Athamos nachfolgen. Irgendwann. Vielleicht. Falls sie denn fähig genug dafür wäre. Über diesen Plan hatten die drei sich aber auch schon ausführlich amüsiert.

Wieder gackerndes Gelächter, die Köpfe der drei tanzten dabei auf ihren Hälsen als könnten sie jeden Moment einfach abbrechen und herunterfallen.

»Du gehörst nicht in diese Welt«, erklärte Mumie schließlich. »Und alle anderen wissen das auch. Du solltest es endlich einsehen und jedem einen Gefallen tun, indem du dich selbst daraus entfernst.«

Nerida zuckte unwillkürlich zurück. Sie hob eine Hand an ihre Brust. »N-nein, das könnte ich nicht.«

»Oh, es ist gar nicht so schwer«, beruhigte Glas sie. »Du musst einfach nur untertauchen und nie wieder den Kopf aus dem Wasser heben.«

»Dir den Hals aufschneiden.« Näherin fuhr sich demonstrativ mit einem Finger über den ihren.

»Von einer Klippe springen«, steuerte Mumie begeistert bei.

»Dich von einem wilden Tier fressen lassen.«

»Gift schlucken.«

»Dich auf Schienen legen.«

»Glasscherben essen.«

»Dir einen fleischfressenden Virus einfangen.«

»Ins Eden Howl springen.«

Nerida legte die Hände auf ihre Ohren und kniff die Augen zusammen. Doch die Stimmen schienen dadurch nur noch lauter zu werden.

»Dich von einem Howler erschießen lassen.«

»Nichts mehr essen.«

»Nichts mehr trinken.«

»Zu viel trinken!«

Irgendwann konnte sie nicht einmal mehr die einzelnen Stimmen unterscheiden. Sie vermischten sich zu einem tragischen Chor, der ihren kommenden Untergang besang, während das Publikum gebannt lauschte. Allerdings gab es keinerlei Zuschauer, und die Sänger schienen von den Aussichten eher begeistert als ergriffen, während sie weitere Möglichkeiten ersannen, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Nerida hörte nicht zu, sie konzentrierte sich auf ihre Familie, ihre Eltern, ihre Brüder, und auf die einzige Freundin, die sie besaß. In diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr als einfach wieder bei ihnen sein zu können.

Als hätte der Weltenwächter persönlich sie erhört, verstummten die Stimmen plötzlich. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte Stille – dann ertönte ein nervenaufreibendes Schrillen, das sie aus den Weiten dieses Albtraums zurück in die Wirklichkeit zog. Fort von diesem Ort, den sie so sehr hasste und doch nie endgültig zu verlassen schien. Selbst als das Bild verblasste, sah sie noch Mumies blitzendes rotes Auge, hörte noch einmal Glas‘ Stimme: »Wir werden uns schon bald wiedersehen, Verrätertochter. Du wirst uns niemals entkommen. Also denk ruhig über unsere Vorschläge nach.«

Das darauf folgende gackernde Lachen verhallte nur langsam – und schien Nerida selbst dann noch zu begleiten, als sie in der Realität wieder ihre Augen aufschlug.
 

Kapitel 3: Ich kann nicht klagen.


 

Besuchern der Belfonds fiel oft auf, dass die Wohnung der Familie wesentlich kälter war als jede andere. Sie heizten lediglich, wenn jemand zu ihnen kam, ansonsten kühlte Konia, Neridas Mutter, die Räume sogar auf Temperaturen herunter, die für die Familie angenehmer waren. Jeder von ihnen bevorzugte die Kälte, deswegen störte sich keiner daran.

Auch an diesem Morgen atmete Nerida zufrieden die kühle Luft ein, als sie auf den Gang trat. Sie war vertraut und unterschied sich von dem, was man im Winter wahrnehmen konnte. Beschreiben konnte sie den Unterschied nicht, aber sie bemerkte ihn immer wieder. Auf jeden Fall aber beruhigte sie die Kühle, ließ den zuvor erlebten Albtraum in die kaum erreichbare Ferne rücken.

Auf dem Weg zum Esszimmer kam sie an der Küche vorbei. Ihre Mutter war gerade dabei, das Frühstück vorzubereiten. Sie bewegte sich zwar ruhig, mit gezielten Bewegungen, aber ihr offenes grünes Haar fiel ihr dabei immer wieder über die Schultern, worauf sie innehielt und es zurückwarf, nur um direkt danach auch ihre Brille hochzuschieben. Dabei fiel ihr Nerida auf, die an der Tür stehengeblieben war.

»Guten Morgen«, sagte ihre Mutter, ihre Stimme wieder einmal weich wie Seide und so ruhig und beherrscht, dass man ihr den ganzen Tag lauschen könnte. »Ich komme gleich nach, geh ruhig schon mal rein.«

Nerida ging weiter. Im Esszimmer fand sie Ronan vor, der bereits am gedeckten Tisch saß und Kakao trank. Er nickte ihr zu, konzentrierte sich ansonsten aber ganz auf den kleinen Dämon, der auf seinem Schoß saß und es liebte, gestreichelt zu werden. Er sah aus wie ein kleines Kaninchen, aber seine Fellfarbe ging ins Grünliche, seine Zähne waren rasiermesserscharf und er trug mehrere rundliche Edelsteine in unterschiedlichen Farben um den Hals, die den Eindruck einer Kette erweckten. Manchmal schnurrte er sogar, wenn er von Ronan gestreichelt wurde.

Bernard war ebenfalls anwesend. Der inzwischen uralte Bernhardiner, den Nerida kannte, seit sie geboren worden war, lag auf dem Boden und schlief. Er schnaufte schwer und hob nur träge den Kopf, als Nerida sich neben ihn kniete, um ihm durch das Fell zu streichen. »Schlaf nur weiter.«

Er folgte ihren Worten, legte den Kopf wieder auf den Boden und stieß ein tiefes Seufzen aus. Sie erhob sich, als eine weitere Person ins Esszimmer kam. Mit seiner Anwesenheit erfüllte er sofort den gesamten Raum. Das lag zum einen an seiner ungeheuren Größe, aufgrund derer quasi jeder den Kopf in den Nacken legen musste, wenn er sich mit ihm unterhalten wollte. Dann waren da aber auch noch seine langen braunen Haare, deren Volumen es wirken ließ, als trage er stets einen Schleier mit sich, der ihm Respekt verleihen solle. Am Wichtigsten war aber seine Stimme, die so tief war, dass sie einem direkt an die Seele zu gehen schien, wann immer er auch nur ein Wort sagte. Durch die Schall-Prägung wurde dieses Gefühl noch einmal verstärkt.

Jeder Traumbrecher besaß eine Taschenuhr und eine ihm eigene Prägung. Insgesamt gab es sechs verschiedene, von denen drei sogar ungemein selten waren, aber Nerida empfand die Schall-Prägung als die schönste. Vielleicht lag es nur an ihrem Vater, aber sie hoffte, dass, wenn sie irgendwann eine Taschenuhr bekäme, diese Prägung ebenfalls ein Teil von ihr werden könnte. Leider konnte man das im Vorfeld nicht feststellen oder beeinflussen – soweit sie wusste.

»Guten Morgen, Nerida, Ronan.« Der tiefe Bass rollte aus seiner Kehle und tanzte im Raum umher, bis zur Erschöpfung, wonach er immer noch ein Echo und dann die Erinnerung daran zurückließ. Ein bittersüßes Gefühl, weil man sich immer nach mehr sehnte – jedenfalls tat Nerida das.

»Guten Morgen, Papa«, sagte sie, während Ronan sich auch wieder auf ein Nicken beschränkte.

Vane, so der Name ihres Vaters, strich ihr kurz über das Haar, als er an ihr vorbeiging. »Hast du gut geschlafen?«

»Habe ich.« Sie konnte es ihm einfach nicht erzählen, sie konnte nicht.

Denn die Quelle seiner meisten Probleme rauschte direkt herein, nachdem Vane sich gesetzt hatte.

»Guten Morgen«, grüßte Darien die Versammelten euphorisch.

Manchmal, wenn Nerida ihn ansah, konnte sie nicht fassen, dass sie Zwillinge waren, und ihm ging es offenbar ganz genauso. Sein kurzes Haar war grün, wie das ihrer Mutter, seine Augen hellbraun und er war ziemlich oft gut gelaunt oder zumindest enthusiastisch, etwas zu tun, besonders, wenn es mit Dämonen zu tun hatte – oder Amy, in die er schon ewig verliebt war. Eine Brille, die er aber nur sehr widerspenstig trug, war die einzige Gemeinsamkeit, die es zwischen ihnen gab. Im negativen Licht betrachtet, hätte man Darien als das schwarze Schaf der Familie bezeichnet, aber sie sah ihn eher als den Paradiesvogel, etwas Gutes, etwas, das sie manchmal gern wäre.

»Du bist heute morgen überraschend gut gelaunt«, bemerkte Vane.

Darien setzte sich an seinen Platz. »Jep~. Heute haben wir wieder Kampfpraxis. Und ich freue mich seit einer Woche darauf!« Er senkte seine Stimme. »Schließlich muss ich mit dem Kampflehrer eine gute Strategie entwickeln, um gegen Parthalan anzukommen.«

Das war der Vizeanführer von Abteracht, den sich Darien als eine Art Rivale herausgesucht hatte. Seitdem kam es immer wieder zu kleinen freundschaftlichen Kämpfen zwischen ihnen, die bislang stets mit einer Niederlage für ihren Bruder geendet hatten. Für die beiden Beteiligten mussten sie spannend sein, für Vane waren sie ein nie versiegender Quell der Sorge. »Es wäre mir lieber, du würdest diese Duelle endlich unterlassen, bevor dir etwas zustößt.«

»Dad, ich werde mal Dämonen jagen gehen. Wie soll ich das denn machen, wenn ich zu vorsichtig bin?«

»Es wäre mir auch wesentlich lieber, du würdest mal nicht Dämonen jagen gehen.«

Diese Diskussion kannte Nerida schon zur Genüge. Meist verlief sie in einer immer lauter werdenden Lautstärke, bis nicht nur die Beteiligten, sondern auch alle anderen Familienmitglieder deprimiert waren, und Darien die Wohnung verließ. Sogar Ronan hatte inzwischen den Kopf gehoben, der kleine Dämon schielte angespannt über den Tisch.

Doch gerade als die Spannung überhand zu nehmen schien, kam Konia mit einer Kanne Kaffee herein. Sie warf einen fragenden Blick in die Runde. »Seid ihr wieder dabei, euch zu streiten? So früh am Morgen? Da habt ihr eindeutig zu viel Energie. Nächstes Mal lasse ich euch das Frühstück machen.«

Eine solche Drohung kam öfter von ihr, aber umgesetzt hatte sie noch nie eine. Vermutlich weil Vane auch gern mal freiwillig das Frühstück anrichtete – und weil keiner von ihnen wissen wollte, wie eine von Darien zubereitete Mahlzeit schmeckte.

»Kann ich auch Kaffee haben?«, fragte er, und hielt seine Tasse nach oben.

»Nein«, erwiderte Vane sofort. »Du bist noch zu jung dafür.«

Darien seufzte enttäuscht, gab aber nach und schenkte sich dann Kakao ein.

Konia stellte die Kanne auf dem Tisch ab, nachdem sie Vane und sich eingeschenkt hatte, dann setzte sie sich. Für den Moment war die Atmosphäre wieder friedlich.

Neben der Kanne Kaffee und einer mit Kakao, stand auch ein Brotkorb, in dem sich mehrere Brötchen befanden, auf dem Tisch. Auf einem Tablett war eine Auswahl verschiedener Wurst- und Käseaufschnitte zu sehen, die Marmelade (Nerida bevorzugte Erdbeermarmelade, ihre Mutter dagegen eher die mit Kirsche) stand in ihren Gläsern ebenfalls dabei.

Nerida war davon überzeugt, dass niemand anhand ihres Tisches erahnen könnte, dass sie keine Menschen waren. Er war absolut normal gedeckt. Deswegen mochte sie ihn und die gemeinsamen Mahlzeiten im Allgemeinen. Es war schade, dass niemand aus ihrer Schule Zeuge dieser Normalität werden konnte. Aber schon allein der Weg hierher wäre unnormal und würde damit sein Ziel verfehlen.

Die ersten Momente des Frühstücks verbrachten sie schweigend. Jeder kaute und trank für sich, und besonders ihre Mutter versuchte, endgültig wach zu werden, nachdem es bislang noch nicht sehr erfolgreich verlaufen war. Konia war einfach sehr müde. Nicht so sehr wie Iris, die Vizedirektorin von Athamos, aber es war ihr immerhin möglich überall und zu jeder Zeit einzuschlafen. Deswegen ging unter ihren Freunden auch der Scherz um, dass sie selbst die Apokalypse verschlafen könnte. Nerida hoffte, dass sie das nie ausprobieren müssten.

Um sich nicht zu sehr in Gedanken zu ergehen, nahm sie selbst einen Schluck Kakao. Als damals ihre Albträume mit diesen drei Gastgebern angefangen hatten, war es ihr unmöglich gewesen, im wachen Zustand Kakao zu trinken. Die Ähnlichkeit zwischen diesem Getränk und dem widerlichen Tee aus dem Traum war zu frappierend gewesen. Im Grunde bevorzugte sie deswegen pure Milch; wenn sie beim Vorbereiten des Frühstücks half, stellte sie diese auch immer bereit. Ihre Mutter vergaß das ziemlich oft, Nerida sah aber auch keinerlei Anlass, sie immer wieder daran zu erinnern. Zu groß war die Angst, dann über den Traum sprechen zu müssen.

Kaum hatte Konia die erste Tasse Kaffee geleert, wurde sie auch gesprächiger. »Habt ihr alle auch eure Hausaufgaben erledigt?«

»Ja«, antworteten Nerida und Ronan im Chor.

Darien, der gerade mit dem Kauen eines Brötchens beschäftigt war, nickte lediglich. Als Konia ihn etwas schärfer musterte, bekräftigte er es nochmal mit vollem Mund: »Wirklisch. Allesch fertig.«

Früher hatte er seine Hausaufgaben nie gemacht, Nerida hatte ihn meist bei sich abschreiben lassen; Geschwister halfen einander schließlich aus. Aber seit er Abteracht besuchte, machten ihm weder der Unterricht noch die Hausaufgaben etwas aus. Immerhin träumte er auch davon, Dämonenjäger zu werden, da begriff er wohl, dass es notwendig war, sich anzustrengen. Oder es war Amys Anwesenheit, die ihn anspornte. Beneidenswert.

»Achte darauf, nicht zu viel zu trainieren«, mahnte Vane. »Es hilft niemandem, wenn du irgendwann zusammenbrichst.«

»Ja ja. Opa passt da schon auf mich auf.«

Ihr Großvater mütterlicherseits war ebenfalls ein Jäger, er hatte die Mentoren-Rolle für Darien übernommen. Und offenbar achtete er auch gut auf dessen Gesundheit, das war beruhigend. Nur weil sie nicht sonderlich viel mit ihm sprach, wünschte sie ihm nichts Schlechtes.

»Und mit Amy an meiner Seite habe ich auch kein Interesse daran, zusammenzubrechen. Wir haben noch viel zu viel gemeinsam zu erleben.«

Konia und Vane warfen sich einen Blick zu und lächelten dabei. Sie waren vielleicht anders, aber dennoch wussten sie, wie es war, verliebt zu sein. Also verstanden sie Darien, obwohl zumindest Vane anfangs gegen diese Beziehung gewesen war. Die Gründe dafür kannte Nerida aber nicht, genauso wenig weswegen er schließlich wieder davon abgekommen war. Da es aber auch nicht ihre Angelegenheit war, fragte sie lieber nicht. Ihr Respekt war wesentlich stärker.

»Wie läuft es bei euch in der Schule?« Vane wandte sich ihr und Ronan zu.

Ihr Bruder hob ein wenig die Schultern. »Alles okay. Ich habe keine Probleme.«

Nerida hoffte, dass das auch so stimmte und er nur nicht so wie sie war. Aber er wirkte auch auf dem Schulweg nicht nervös.

Da er offenbar nicht weiterreden wollte, sah ihr Vater nun sie an. Sie lächelte. »Bei mir genauso. Ich kann nicht klagen. Der Unterricht ist ziemlich einfach.«

Sein Blick blieb immer noch auf ihr, für einen Moment befürchtete sie, sich irgendwie verraten zu haben, dass er von allem wusste. Gleichzeitig hoffte sie aber auch, dass er sie durchschaut hatte, dass sie ihm alles erzählen könnte, weil er darauf bestand. Die sich streitenden Gedanken und Wünsche in ihrem Inneren ließen ihr übel werden.

Aber schließlich nickte er zufrieden. »Das höre ich gern.«

Sie atmete auf, als er sich wieder auf sein Frühstück konzentrierte. Wenn es keine Probleme mehr mit den anderen gab, könnte sie vielleicht irgendwann einmal davon erzählen. Vielleicht wäre es ihr dann auch möglich, über all das zu lachen, weil es so lange zurücklag. Bis dahin behielt sie all die finsteren Gedanken in ihrem Inneren verborgen.
 

Kapitel 4: Du hast die Fähigkeiten dafür


 

Der Unterricht am Vormittag verlief ereignislos. An diesem Tag war nicht einmal jemandem danach, sie zu quälen, zumindest bis zur Mittagspause nicht. Nerida genoss diesen Frieden, denn so gelang es ihr, sich vollkommen auf den Inhalt des Unterrichts zu konzentrieren, wie üblich indem sie sich zahlreiche Notizen machte. Sie meldete sich aber nie, die Lehrer riefen sie ohnehin nur sehr ungern auf, manche schienen sich nicht einmal ihren Namen merken zu können. Wahrscheinlich verdrängte man lieber die Tatsache, dass sie existierte. Sie war nicht gut darin, sich bei anderen einzuprägen, dafür war sie doch zu unauffällig. Sie wollte es auch nicht anders haben. In der Unauffälligkeit unterzugehen war ihre einzige Möglichkeit dieses Leben zu überstehen.

Statt in die Cafeteria, ging Nerida während der Mittagspause in die Bibliothek. Dort gab es zwar auch zahlreiche Schüler, aber sie langweilten sich nicht beim Essen und suchten deswegen nach leichten Opfern, sondern versuchten zu lernen. Jegliches Aufheben, das Mobbing mit sich brachte, war dort nicht gestattet und wurde von der Bibliothekarin streng geahndet. Mrs. Polley gehörte schon regelrecht zum Inventar der Schule. Aufgrund ihres aschgrauen Haares, das sie stets zu einem Dutt hochgebunden trug, ihrer sechseckigen Brille an der Kette und den tiefen Falten in ihrem Gesicht, die durch das Make-up nur betont wurden, mutmaßten manche Schüler, dass sie mindestens eine Millionen Jahre alt war. Natürlich war das Unsinn, deswegen ging Nerida nie darauf ein (außerdem gab es auch niemanden, mit dem sie darüber reden könnte). Vielleicht war sie unter anderem deswegen ein recht gern gesehener Gast bei Mrs. Polley, denn sie war noch nie von der Bibliothekarin verwarnt oder gar bitterböse angesehen worden.

Nachdem Nerida die Glastür zur Bibliothek durchquert hatte, entdeckte sie rechts den hervorragend gepflegten Tresen, der nicht einmal Spuren von Druckerschwärze aufwies. Mrs. Polley saß dort und war gerade damit beschäftigt, neue Bücher in das ihr verhasste Computer-System einzuspeisen. Sie schenkte Nerida ein knappes Nicken, das von ihr erwidert wurde. Ein stilles Zugeständnis an Respekt dem jeweils anderen gegenüber.

Nerida wurde wieder einmal bewusst, was für ein wandelndes Klischee Mrs. Polley war, aber gleichzeitig fühlte es sich für sie auch richtig an. So musste eine der wenigen Personen, die ihr wohlgesonnen waren, eben sein. Außerdem hielt Darien auch Nerida für ein wandelndes Klischee. Vielleicht mussten sich solche also als Außenseiter zusammentun.

Direkt nach dem Tresen gab es einen Arbeitsbereich mit mehreren Tischen für Gruppen, die sich aber nur flüsternd unterhalten durften. Dahinter erstreckten sich Reihen von Bücherregalen, in denen sich sowohl auf den Unterricht beziehende Lektüre als auch unabhängiges Lesematerial befand. Zwischendrin standen immer wieder Tische für Einzelstudien, jeweils vom Nachbar durch Holzwände getrennt. Auch an diesem Tag waren aber lediglich vereinzelte davon besetzt.

Nerida griff sich ein Buch aus der Geschichtsabteilung, das einer ihrer Lehrer an diesem Vormittag angesprochen hatte, und setzte sich damit an einen Einzeltisch. Im Grunde interessierte sie sich zwar für die Geschichte der Stadt, aber in den Büchern zeigte diese sich meist sehr geschönt. Niemand redete darin über die Flüche, Dämonen und Albträume, oder gar deren Jäger. Alles Außergewöhnliche, das geschah, wurde auf irgendeine weltliche Art und Weise erklärt. Wenn ein Haus einstürzte, war die Struktur einfach baufällig gewesen. Eine Explosion in einem Viertel? Ein Gasleck. Natürlich gaben sich alle Schulen Mühe, niemanden von der Bedrohung wissen zu lassen, selbst nachdem jemand vor Jahren versucht hatte, alles offenzulegen. Aber dennoch empfand Nerida das als ungerecht. Schließlich konnte so auch nie jemand die für alles verantwortlichen Helden entsprechend würdigen. Vielleicht würde man sogar sie besser behandeln, wenn man wüsste, dass ihre Familie zu diesen Helden gehörte. Oder noch abfälliger, weil sie dann bewiesenermaßen anders waren.

Während sie darüber nachdachte, las sie die angegebenen Seiten, notierte sich Dinge auf ihrem mitgebrachten Block, ohne wirklich etwas in sich aufzunehmen. Vielleicht war das ein Vorteil ihrer Abstammung, vielleicht hatte Darien aber auch recht und sie war wirklich ein Nerd. Doch der Gedanke an ihren Zwillingsbruder lenkte sie schließlich vollends von ihren Aufgaben ab. Sie stellte sich vor, wie er gerade gemeinsam mit Amy und Mya beim Mittagessen saß, wie viel Spaß die drei hatten, während sie sich in dieser Bibliothek verkriechen musste, nur um nicht Opfer irgendeines Streiches zu werden.

Dann verwandle diesen Raum einfach in einen eisigen Krater. Die Stimme in ihrem Inneren flüsterte ein wenig zu verführerisch. Niemand würde dich jemals wieder verurteilen.

Demonstrativ drückte Nerida den Stift fester auf.

Es war Unsinn. Jeder würde sie verurteilen. Sie wäre dann zur Jagd freigegeben, als gefährlicher Dämon gebrandmarkt – und sie wusste, was Abteracht mit diesen tat. Kein Grund, das am eigenen Leib erfahren zu wollen.

Dann frierst du einfach auch alle Jäger ein, die sie dir nachschicken. Und warum dort aufhören? Erschaff doch einfach ein ewig währendes Winterparadies. Du hast die Fähigkeiten dafür.

Sie ignorierte diese Stimme so gut sie konnte. Aber ein kleiner Teil in ihrem Inneren empfand die Idee wohl als gut: Während sie mit zitternder Hand noch die letzten Worte schrieb, entdeckte sie kleine Eiskristalle an ihren Fingern. Diese setzten sich auf ihrer Haut zusammen, bildeten eine Schicht, die sich langsam auszubreiten begann. Eine angenehme Kälte begleitete diesen Prozess, er gab sich Mühe, sie gänzlich von diesem Plan zu überzeugen.

Nerida erhob sich abrupt. Der Stuhl erzeugte ein unangenehm lautes Geräusch in der Stille. Die anderen Schüler in der Nähe sahen überrascht auf. Kaum erkannten sie Nerida allerdings, wandten sie sich bereits wieder ab. Im Moment war sie froh darüber.

Sie atmete betont ein und aus, konzentrierte sich. Das Eis schmolz, wenn auch nur langsam. Etwas von dem Wasser tropfte auf ihren Block und verwischte das zuletzt geschriebene Wort. Sie konnte hier nicht bleiben. Nicht, wenn das so weiterging.

Um kein weiteres Wasser auf irgendetwas kommen zu lassen, drückte sie die rechte Hand gegen ihren Oberkörper, mit der linken räumte sie derweil ihre Sachen zusammen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit ließ sie das Buch einfach liegen und flüchtete aus der Bibliothek.

Die Gänge waren gefüllt mit Schülern. Vor ihrem inneren Auge sah sie jeden einzelnen davon eingesperrt in Eis, die Gesichter vor Schreck verzerrt. Auf paradoxe Weise war es eine unangenehm angenehme Vorstellung, die sie zu verdrängen versuchte, ehe sie etwas tat, das sie bereuen könnte. Der Stoff ihrer Jacke sog sich derweil mit der Flüssigkeit des schmelzenden, aber immer nachkommenden Eises voll.

Sie lief derart schnell, dass sie kaum auf ihren Weg achtete. Dass sie stolperte, überraschte sie deswegen kaum, zumindest stürzte sie aber nicht, sondern fand ihr Gleichgewicht wieder. Ihr Block und ihr Stift fielen ihr dabei aber aus der Hand und schlitterten über den Boden. Die umstehenden Schüler sahen kurz zu ihr. Es fühlte sich an, als brannten diese Blicke auf ihrer Haut, versuchten diese selbst zu schmelzen. Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Atmung, ihre Jacke wurde aufgrund der Feuchtigkeit langsam schwer.

Es ist alles nicht so schlimm, sagte sie sich. Die anderen schauen schon gar nicht mehr. Beruhige dich, Nerida, alles ist okay.

Ihr Herz schlug immer noch viel zu schnell, aber zumindest reagierte ihr Körper darauf, ihren Block an sich zu nehmen. Sie erhob sich gerade wieder, als plötzlich eine Hand in ihren Blickbereich kam. Diese hielt ihr ihren Stift entgegen. Neridas Blick folgte dem Arm, über die Schulter und den Hals, bis sie zum Gesicht der anderen Person kam. Es war ein Mädchen in etwa ihrem Alter, dessen Aussehen Nerida fast das Herz stehenbleiben ließ. Die feinen Züge im blassen Gesicht ließen sie, schon allein wegen der Nase, geradewegs aristokratisch wirken, dazu noch das kupferfarbene Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, und die goldenen Augen, die regelrecht zu glühen schienen. Nerida war überzeugt, sie noch nie zuvor an dieser Schule gesehen zu haben. Vermutlich war sie neu und nur deswegen im Kontakt mit ihr. Das Mädchen stand einfach nur da, lächelte, wartete.

Schließlich holte Nerida sich aus ihrer eigenen Starre, gab sich einen heftigen innerlichen Ruck und nahm der anderen den Stift wieder ab. Ihre Finger streiften dabei die der anderen, ein leichter Elektroschock fuhr dabei durch sie hindurch. »Ah, danke.«

»Keine Ursache.« Ihre Stimme klang dunkel, selbstsicher, so wie Nerida sich ihre eigene immer wünschte. »Sei lieber vorsichtig, während du hier herumläufst.«

»I-ich versuche es.« Wie peinlich, da geschah ihr ein solches Missgeschick ausgerechnet vor einer der wenigen Personen, die sie gar nicht kannte, bei der sie sich noch beweisen könnte. Oder war es ein Vorteil, dass sie sich derart menschlich zeigte?

Die andere lachte leise, als sie den Kopf neigte. »Gut. Man sieht sich.«

Sie hob noch einmal die Hand, dann war sie bereits wieder auf ihrem Weg, den Gang hinunter. Nerida blickte ihr hinterher, wünschte sich, genug Mut zu besitzen, um sie noch einmal anzusprechen, sie als Freundin zu gewinnen. Aber sie ließ zu, dass die Fremde zwischen den anderen Schülern, die sie kaum beachteten, unterging.

Kaum war sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden, blickte Nerida auf ihre rechte Hand hinab. Sie war endlich vollkommen trocken.

 

Den Rest des Schultages sah Nerida das andere Mädchen nicht wieder. Sie konnte auch niemanden nach ihr fragen, schon weil sie ihren Namen nicht kannte. War sie wirklich neu? War sie einfach nicht an den Gerüchten um Nerida interessiert? Oder bereitete sie am Ende nur auch einen Streich vor, der auf Neridas Kosten gehen sollte?

All diese unbekannten Faktoren halfen ihr nicht sonderlich, sich auf den nachmittäglichen Unterricht zu konzentrieren. Die Stimme ihres Englisch-Lehrers erschien ihr wie ein Rauschen, das lediglich das leise Kichern der rachsüchtigen Stimme in ihrem Inneren untermalte. Um sich nicht zu sehr auf ihr Innenleben zu konzentrieren, versuchte sie deswegen, sich der Unterrichts-Lektüre zu widmen, auch wenn das Buch sie nicht sehr interessierte. Es war zu einfach, zu simpel, vollgestopft mit Symbolen, die es tief wirken lassen sollten, obwohl es im Endeffekt genauso oberflächlich war wie die Gespräche, die darin geführt wurden. Es versuchte also etwas zu sein, das es nicht war, und das störte Nerida. Vielleicht fühlten sich alle anderen so auch in ihrer Nähe, während sie versuchte ein einfacher Mensch zu sein.

Nach der Schule machte sie sich wieder allein auf den Heimweg. Wie jeden Tag.

Ihre Hand war in der Zwischenzeit nicht mehr kalt geworden, ihre Jacke war nur noch ein wenig feucht, kaum zu bemerken. Sie nahm sich vor, doch endlich mit ihrer Mutter darüber zu sprechen. Vielleicht war es ihr auch einmal so ergangen und sie hätte einen Ratschlag für sie. Schließlich könnte es jederzeit ganz anders ausgehen als an diesem Tag.

Sie war noch nicht so weit gekommen wie am Vortag, als sie wieder die Stimmen von Orabela Breen hinter sich hörte: »Belfond!«

Nerida blieb stehen und fuhr herum, gerade rechtzeitig bevor jemand nach ihren Zöpfen greifen konnte. Vor ihr hielt das Trio wieder inne, alle drei musterten sie finster, dabei war sich Nerida noch weniger einer Schuld bewusst als am Tag zuvor. »Was ist los?«

Diesmal war es Bernice, die das Reden übernahm: »Ist dein Gehirn ein Sieb? Ich hab dir letzte Woche gesagt, dass ich bis heute eine Projektarbeit abgeben muss, um die du dich kümmern sollst!«

Nerida runzelte die Stirn. Ihr Gedächtnis war normalerweise vollkommen in Ordnung, aber daran erinnerte sie sich nicht. Diese Tatsache teilte sie Bernice auch sofort mit.

»Wirfst du mir etwa vor, dass ich es vergessen habe?«

»Nein, ich-«

Bernice schmetterte Nerida gegen die Wand. Der Sauerstoff wurde aus ihren Lungen gepresst. Hektisch schnappte sie nach Luft. Für einen Moment schien alles vor ihren Augen zu verschwimmen. Deswegen, so glaubte sie, hörte sie nicht, was Bernice sagte, als deren Lippen sich bewegten. Sie blinzelte mehrmals, hoffte, dadurch wieder Kontrolle über ihren Körper zu erlangen.

Da Nerida nicht reagierte, öffnete Bernice noch einmal den Mund. Plötzlich sah es so aus als verzogen sich ihre Lippen – und ein Rauschen war das einzige Geräusch, das Nerida wahrnehmen konnte. Ungläubig sah sie ihren Gegenüber an. Bernices Reaktion darauf bestand daraus, dass sich nun auch der Rest ihres Körpers zu verziehen begann, so dass alle Farben verschwammen, bis sie nur noch eine Silhouette schwarz-weißen Signals war. Das Geräusch, das diese Verzerrung begleitete, erinnerte Nerida mehr und mehr an ein Radio oder einen alten Fernseher ohne Empfang.

»Was?« Ihre eigene Stimme hallte über das Rauschen, schien aber Bernice nicht zu erreichen.

Die Silhouette zuckte untätig, in einem unheimlichen Rhythmus und einem Muster, das nicht dem eines Menschen entsprach.

Hilfesuchend sah Nerida zu den beiden anderen Mädchen – aber diese waren verschwunden. Statt ihnen standen dort nun ebenfalls zuckende Silhouetten, die aber nicht mehr sonderlich menschlich aussahen. Ihre Formen waren derart verzerrt, dass sie nur noch eine wilde Parodie auf Menschen darstellten, die Zeichnung eines Kindes, das Dämonen festzuhalten versuchte.

Keine der Gestalten schien sich mehr um sie zu kümmern.

Nerida wich seitlich an der Mauer entlang aus, ihr Blick wanderte weiter umher, hoffend, dass es in der Nähe jemanden gab, der ihr helfen könnte. Aber plötzlich waren alle anderen Menschen, die sich zuvor noch in der Umgebung befunden haben mochten, nur noch schwarze Schatten von Personen, die auf dem Boden knieten und klagende Wehlaute ausstießen. Lediglich ihre offenen Augen und die aufgerissenen Münder waren leere Höhlen durch die man die Umgebung sehen konnte, die sich ebenfalls zu verzerren begann. Übertrieben große Tränen fielen aus den Augenöffnungen und zerplatzten auf dem Boden, Buchstaben kamen aus den Mündern und begleiteten die ausgestoßenen Töne. Zumeist handelte es sich dabei um einfache Schreie, aber manchmal waren darunter auch Wörter herauszuhören und zu lesen.

Als einer der Schatten »Bitte nicht, Dad!« rief, fuhr Bernice herum, streckte den eigenen Körper – und biss dem Schatten den Kopf ab. Schwarzes Blut spritzte, das Wesen stürzte zu Boden und zerfloss in eine Pfütze. Orabela und Charity schlurften hinüber, beugten sich vor und begannen damit, die Flüssigkeit aufzusaugen.

»Was ist hier los?«, fragte Nerida, sie musste die Worte herauswürgen, ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Wo bin ich?«

Hatte sie sich etwa bei dem Zusammenprall mit der Wand den Kopf gestoßen? War sie in Ohnmacht gefallen? Oder war sie in einen Albtraum oder den Limbus, die Grenze zwischen dieser Welt und Niflheim, geraten?

Nein, das war alles unmöglich. Der analytische Teil ihres Gehirns sprang in Aktion, arbeitete auf Hochtouren und lieferte ihr die Begründungen dafür: Albträume waren nur nachts aktiv, und der Limbus besaß ein gänzlich eigenes Aussehen, das sich nicht veränderte, und es entsprach nicht diesem hier. Diese verzerrte Realität musste also etwas anderes sein. Nur was?

Egal, sagte sie sich, erst einmal muss ich hier weg.

Die Wesen sahen weiter in die andere Richtung, das war ihre Gelegenheit.

Nerida löste sich von der Wand und rannte. Die Richtung war egal, nur weg. Hoffentlich an einen sicheren Ort, wo auch immer sich ein solcher in dieser Welt befinden dürfte.

Doch sie kam nicht weit. Zum einen war ihre Kondition so gut wie nicht vorhanden, und zum anderen setzten sich die Reihen der schwarzen Figuren fort. Als einer der Schatten neben ihr »Hör auf, Dad, hör auf!« ausrief, fuhr Bernice auf ihn nieder. Sie hörte ein Knacken, gefolgt von einem schmatzenden Geräusch, sah aber nicht hin. Das Opfer stürzte gegen Nerida und zerstörte ihre ohnehin schon empfindliche Balance. Sie fiel auf die Knie, brennende Schmerzen schossen durch ihre Beine, verhinderten, dass sie sich sofort wieder aufrichtete.

Der langgezogene Oberkörper des Wesens, das einst Bernice gewesen war, schwebte über ihr in der Luft, starrte sie an. In dem, was die Augen darstellen sollten, bewegten sich die Störungen entgegen denen des restlichen Körpers. Das vergrößerte das unangenehme Gefühl, das in Neridas Inneren wütete und von ihr verlangte, schnellstens zu verschwinden – oder alles zu Eis erstarren zu lassen. Wenn sie ihre Fähigkeiten nun entfachte, könnte sie ihr Leben retten. Sie würde niemanden töten, nur sich selbst retten. Das wäre doch vertretbar, oder?

Das Eis breitete sich bereits über ihre Hände aus. Sie konnte sich nicht rühren, nur den Blick der Verzerrung erwidern und dabei hoffen, dass alles gut ausging, dass niemand sterben musste. Kaum auszudenken, was geschähe, wenn sie doch jemanden tötete.

Das Wesen verließ die Geduld, ehe Nerida ihre Kräfte bündeln konnte. Wütend fuhr es nach unten, raste auf sie zu – dann übertönte ein Schuss das weiße Rauschen. Ein gleißender Lichtstrahl traf auf die Verzerrung, schmetterte sie mühelos zu Boden.

Nerida atmete konzentriert durch, versuchte, die Anspannung nicht sinken zu lassen. Sie wusste nicht, woher dieser Angriff gekommen war, vielleicht musste sie immer noch ihre Kräfte benutzen, sie wollte hier nicht wehrlos sein.

Ihr Blick wanderte wieder umher. Nach nur wenigen Sekunden entdeckte sie tatsächlich eine Gestalt, die kein Schatten und keine Verzerrung war. Das kupferfarbene Haar war hochgesteckt worden, die zuvor goldenen Augen leuchteten nun eher in einem kräftigen Orange, auch die Kleidung war vollkommen anders, aber es war eindeutig das Mädchen, das Nerida vorhin ihren Stift zurückgegeben hatte. Sie stand in einer triumphierenden Pose auf einer flackernden Erhöhung, die kleine Handfeuerwaffe immer noch im Anschlag. Aber ihr durchdringender Blick und ihr strahlendes Lächeln, galten in diesem Moment ganz allein Nerida. Sie tippte sich mit der Waffe kurz gegen die Stirn, zwinkerte, dann öffnete sie ihren Mund, um ihr etwas hinabzurufen: »Hallo, Nerida Belfond~! Mein Name ist Sabia Agron! Ich heiße dich herzlich in dieser Welt der Störungen willkommen! Fühle dich geehrt, dass du als erste Person eine Störungsbrecherin bei der Arbeit bewundern darfst~!«
 

Kapitel 5: Warum beschützt du mich?


 

Nerida blinzelte mehrmals. Aber das Mädchen – Sabia Agron – stand immer noch da, lächelnd sah sie auf sie herab. Ihr schwarzes Kleid schien nicht aus dieser Zeit zu stammen. Das Korsett war aus menschlichen Knochen gefertigt, was zu den skelettierten Händen, die ihren Hals umschlossen, passten. Der ausladende Rock, der eher an ein Ballkleid denken ließ, wirkte auf Nerida nicht wie eine angemessene Kampfgarderobe, genauso wenig wie die schwarzen kniehohen Stiefel mit den deutlichen Absätzen, die nur darauf warteten, dass man damit umknickte. Abgesehen von der Waffe passte nichts an Sabias Aussehen auf ein Kampffeld.

Die Situation war schlagartig noch verwirrender und surrealer geworden. Nerida wusste nicht, was sie sagen sollte. Kälte umspielte nach wie vor ihre Finger, zog sich nicht zurück. Zuvor hatte sie klar und deutlich denken können, aber nun kam es ihr vor als hätte ihr Gehirn aufgrund der Überbelastung ausgesetzt.

Mit einem Sprung begab sich Sabia an ihre Seite, dann reichte sie ihr die Hand. Ihr Lächeln löste in diesem Moment ein angenehm warmes Gefühl von Sicherheit in Nerida aus. Sie verstand weiterhin nicht, was vor sich ging, aber sie ließ sich von Sabia aufhelfen. Als sie wieder auf ihren Füßen stand, klopfte sie sich den Staub von ihrem Faltenrock, während sie ihre Fragen nach Wichtigkeit zu sortieren versuchte. Da ihr Gehirn aber immer noch aussetzte, gelang ihr das nicht so recht. Deswegen stieß sie ein Seufzen aus, als sie schließlich fertig war. »Was ist hier los?«

Sabia wischte ihr lächelnd ein wenig Dreck von der Schulter. »Ich sagte es bereits, du befindest dich in der Welt der Störungen

Unwillkürlich sah Nerida sich wieder um. Die Umgebung war immer noch verzerrt, die weinenden Gestalten waren überall zu sehen und Bernice lag auf dem Boden. Sterne kreisten um das Gebilde, das ihren Kopf darstellte, es war zu surreal als dass Nerida es glauben konnte. »Das ist doch alles nicht wahr.«

»Doch, ist es.« Sabia lächelte ihr zuversichtlich entgegen. »Aber mach dir keine Sorgen, ich bin hier, um dich zu beschützen.«

Sie hielt ihre Waffe nach oben, damit Nerida sie besser sehen konnte. Der kurze Lauf war mit efeuartigen Ornamenten verziert, der Griff aus Perlmutt in Gold eingefasst. Es war die schönste Schusswaffe, die sie jemals gesehen hatte, ob in der Realität oder in allen Medien.

»Warum tust du das?«, fragte Nerida. Sie kannten sich so gut wie gar nicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie jemals von Störungsbrechern gehört hatte. Also waren sie auf jeden Fall keine große Gruppe mit einem Moralkodex. »Warum beschützt du mich?«

Sabia lachte. »Zum einen bist du in Not, warum sollte ich es da nicht?«

Bernice regte sich wieder, die Sterne um ihren Kopf waren inzwischen verschwunden. Sabia sah ebenfalls hinüber, ihr Lächeln wurde von einem entschlossenen Ausdruck ersetzt. »Tja, ich fürchte, das werde ich dir später erklären müssen. Jetzt sollte ich mich erst einmal um diese Störung kümmern.«

Mit einem Sprung näherte sie sich dem Wesen. Die Pistole verschwand in einem hellen Licht, das sich verformte und sich dann als Reitgerte entpuppte. Damit versetzte sie Bernice einen heftigen Schlag, der diese zurückweichen ließ. Sabia drehte die Gerte in ihrer Hand und setzte dem Wesen nach. Das Lederband am oberen Ende der Waffe streifte Bernice, als diese auswich. Wütend stürzte sie sich gleich danach auf Sabia. Ein wabenförmiges Netz aus Licht erstrahlte zwischen den beiden. Bernice zuckte zurück, sie stieß einen wilden Schrei aus, der die gesamte Welt erbeben ließ.

Auch die anderen Wesen wurden nun auf diese Auseinandersetzung aufmerksam. Sie bewegten sich mit überraschender Geschwindigkeit auf Sabia zu. Sie zeigte sich davon aber nicht beeindruckt, stattdessen zog sie mit dem rechten Fuß einen Halbkreis auf dem Boden. Eine schillernde Linie entstand, aus der zahlreiche farbige Bänder erwuchsen. Sie schlangen sich um die anderen Gestalten, deren schwarze Formen geradewegs erdrückt zu werden schienen, dann wurden sie in die Luft gehoben, um dort wie überreife Früchte zu hängen.

Bernice knurrte. Ihr Körper wuchs wieder zu einer abnormalen Länge an, die mehr einer Riesenschlange glich. Sie stürzte sich auf Sabia, um diese zu verschlingen, so wie die Wesen vorhin. Diesmal erschien das Netz aus Licht nicht, dafür schwang Sabia wieder ihre Gerte – und verursachte eine lange Wunde quer über dem, was wohl das Gesicht sein sollte. Statt Blut quoll weißer Rauch hervor, der ebenfalls verzerrt und eckig aussah.

Obwohl alles derart echt wirkte, hoffte Nerida immer noch, dass es sich nur um einen Albtraum handelte. Eine für sie ungewöhnliche Form eines solchen – die ihr auf jeden Fall lieber wäre als die bisherige –, aber das änderte nichts an ihrer Hoffnung.

Bernice wand sich schmerzerfüllt, während der Rauch weiter ihre Wunde verließ und langsam die Welt erfüllte. Sabia trat an sie heran, sie packte die Ränder der Verletzung mit je einer Hand nachdem die Gerte verschwunden war – und zog sie kraftvoll auseinander.

Nerida keuchte, sie taumelte zurück. »W-warum tust du das?«

Von ihrer Reaktion aufgeschreckt, begannen die hängenden Formen zu zappeln, doch die Bänder entließen sie nicht aus ihrem Griff. Ein Chor von klagendem Stöhnen und Seufzen folgte.

Sabia warf einen Blick über die Schulter und zwinkerte ihr zu. »Ich sagte doch, ich erkläre dir alles, wenn ich mich hierum gekümmert habe. Keine Sorge.«

Sie widmete sich wieder dem Wesen, das Bernice sein sollte. Inzwischen wand es sich unter ihrem Griff, es litt eindeutig unter den ihm zugefügten Schmerzen. Sabia vergrub einen ihrer Arme bis zum Ellenbogen in dem Ding, das Zappeln wurde darauf stärker, ein leises Wimmern erklang dazu.

Nerida wich bis zur Wand zurück. Sie war unfähig, ihre Augen von dem Geschehen abzuwenden, obwohl sie glaubte, dieses eigenartige Grauen bald nicht mehr zu ertragen. Ihre Brust schmerzte bereits, eisiger Stahl zog sich quer hindurch.

Dann gab Sabia plötzlich ein triumphierendes Lachen von sich. Als sie den Arm wieder herauszog, hielt sie eine rot leuchtende Scherbe in der Hand. »Da ist sie ja~. Das war einfach.«

Nerida wusste nicht, worum es sich dabei handelte, warum es so wichtig war und weswegen es sich in dieser Verzerrung von Bernice befunden hatte. Aber der Anblick dieses einzelnen Splitters, dessen Kanten keinerlei Form folgten, genügte, um die Kälte in ihrer Brust zu vertreiben und stattdessen eine angenehme Wärme einfließen zu lassen. Sie wollte mehr davon, viel mehr.

Das Wesen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich, unterbrach ihre Faszination für die Scherbe. Es sackte in sich zusammen und zerschmolz zu einer schwarzen Pfütze. Je mehr von ihr verschwand, desto deutlicher und reeller wurde die Welt wieder. Nerida erkannte nun auch, dass sie sich in einer Seitenstraße befanden, in der nicht viel Leben herrschte.

Der Splitter in Sabias Händen verschwand, genau wie die Pfütze unter Bernice. Sie sah friedlich aus, wie sie so auf dem Boden lag und zu schlafen schien.

»Wir sind wieder zurück in der Realität«, sagte Sabia. Sie sah nun genau so aus wie in der Schule zuvor, sogar ihr Haar war erneut zu zwei Zöpfen geflochten. »Jetzt hast du selbst erlebt, wie ich arbeite.«

Unzählige Fragen formten sich in Nerida, wollten besprochen und beantwortet werden. Aber dafür war noch nicht die Zeit, zügelte sie sich selbst. Es gab Wichtigeres. Sie deutete auf Bernice hinab. »Was machen wir jetzt wegen ihr? Wir müssen einen Krankenwagen rufen.«

»Das tun wir«, beruhigte Sabia sie, während sie in ihre Tasche griff und ein Handy hervorholte. »Aber wir sollten besser nicht hier auf die Ambulanz warten. Das würde nur zu viel zu vielen neugierigen Fragen führen.«

Das verstand Nerida. Sie kannte es von manchen Traumbrechern und Dämonenjägern, dass die geretteten Opfer neugierig waren und zu viel wissen wollten. Im Moment nahm sie genau diese Rolle ein – und sie hatte wirklich viele Fragen.

Sabia sah ihr das offensichtlich an. »Sobald ich den Notruf verständigt habe, sollten wir uns in einem Café zusammensetzen. Dann erkläre ich dir so viel, wie ich kann.«

Das klang danach als wüsste auch Sabia nicht sehr viel über dieses Thema. Aber immerhin mehr als Nerida es tat. Deswegen wartete diese geduldig darauf, dass Sabia ihren Anruf abschloss und sie sich ein Café suchen könnten. Doch in ihrem Inneren rumorte die Aufregung in Verbindung mit viel zu vielen Fragen.

 

Sabia hatte sie nur wenige Straßen weitergeführt, als sie durch eine Glastür schließlich ein Café betraten. Nerida kannte dieses Etablissement. Vor einigen Monaten war sie mit ihrem Großvater hier gewesen, nachdem sie geglaubt hatte, er würde sie verlassen. Nun behielt er sie nicht mehr ständig im Auge, aber sie standen in regelmäßigem Kontakt miteinander und sahen sich auch öfter.

Eine Glocke kündigte ihre Ankunft an. Die Luft roch nach Zucker und Kuchen, angenehm, wie eine schöne Erinnerung an die Kindheit. Ohne Umschweife strebte Sabia zu einem Tisch an der Wand, weit entfernt von der verglasten Fassade. Dort gab es keine Stühle, sondern mit Leder überzogene Sitzbänke. Die marmornen Tischplatten waren so sauber, dass sich das warme orange-farbene Licht darin spiegelte.

Sabia und Nerida setzten sich gegenüber, sie bestellten beide Schwarztee. Kaum war die Bedienung wieder weg, stieß Sabia ein Seufzen aus. Es klang gespielt, aber daran störte sie sich nicht.

»Also, wo soll ich anfangen?«

Da hatte Nerida schon eine gute Idee: »Was sind Störungen?«

»Du kommst direkt zum Punkt, das ist schön.« Sabia legte die Arme auf den Tisch. Ihr Blick schien durch das Licht noch intensiver zu werden. »Sie sind genau das, wonach sie klingen: Störungen in der Realität, in einer Person, wie du es eben erlebt hast. Es hängt meist mit traumatischen Ereignissen zusammen, die dafür sorgen, dass sich die Störungsenergie derart ansammelt, bis daraus dieser eigene kleine Mikrokosmos entsteht.«

»Davon habe ich noch nie gehört«, entfuhr es Nerida. »Seit wann ist das so?«

Wenn Sabia davon irritiert war, so zeigte sie es nicht. »Noch nicht sehr lange. Erinnerst du dich an diesen roten Splitter? Ich weiß nicht, woher genau diese stammen, aber sie scheinen etwas damit zu tun zu haben. Irgendetwas ist zersprungen und seitdem gibt es diese Störungen.«

Was mochte so etwas auslösen, nur weil es auseinanderbrach? Diese Frage beschäftigte Nerida, aber sie bemerkte, dass Sabia selbst keine Ahnung hatte, also lohnte es sich nicht, weiter nachzufragen. Ihr blieben aber noch andere Fragen. »Kümmerst du dich ganz allein darum?«

Sabia schnitt ihr eine amüsierte Grimasse. »Erwischt. Außer mir gibt es keinen anderen. Den Namen habe ich auch nur von den Chaosbrechern geklaut.«

Nerida war noch ein Kleinkind gewesen, als diese Gruppe für kurze Zeit existiert hatte. Das einzige, woran sie sich noch erinnerte, war die Entführung ihres Vaters. Ihre Mutter war tagelang so traurig, dass die gesamte Wohnung vereist gewesen war. Sie und ihre Brüder hatten Spaß daran gehabt, weil sie nichts von der Ernsthaftigkeit ahnten. Inzwischen waren von der Gruppe nur noch die Kinder des Anführers, Armas, geblieben. Aber Nerida kannte nur das jüngere Kind wirklich: Eri, die ebenfalls in Athamos lebte.

»Wie kommst du gerade auf diese Gruppe?«

Sabia zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Meine Eltern haben mir von ihnen erzählt, ich mochte den Namen.«

Sie lachte ein wenig verlegen. Nerida wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Einen derart vorbelasteten Namen – wenn auch nur einen Teil davon – zu wählen, obwohl man die Geschichte kannte, kam ihr nicht richtig vor.

Zu ihrem Glück brachte ihnen die Bedienung gerade den Tee, so dass sie eine Pause machen konnten. Die Tassen standen auf zwei kleinen silbernen Tabletts, auf denen sich auch je eine Zitronenscheibe und Kandiszucker an einer Stange befanden. Sabia legte ihre Zitronenscheibe in die Tasse, sie schwamm auf dem Tee, fast wie eine Seerose. Nerida tauchte lieber den Kandiszucker ein. Während sie darauf wartete, dass er sich auflöste und der Tee die richtige Trinktemperatur bekam, setzte sie das Gespräch fort: »Wenn du die einzige Person bist, wie kamst du dann dazu?«

Bislang kannte Nerida nur das Konzept, dass man auf eine Gruppe stieß oder von dieser angeworben wurde. Ihr war wegen dieser Selbstverständlichkeit nie die Frage in den Sinn gekommen, wie diese irgendwann einmal angefangen hatten. War es zu Beginn auch irgendwann mal nur eine Person gewesen?

Sabia drückte derweil mit ihrem kleinen Löffel die Zitrone nach unten. Sie benötigte dafür nicht sonderlich viel Kraft. »Sagen wir, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber eigentlich war es nur ein Zufall.«

Mehr sagte sie nicht. Nerida wartete, aber Sabia konzentrierte sich nur auf ihre Zitronenscheibe.

Vielleicht ist es etwas, worüber sie nicht reden will. Ich sollte sie nicht zu sehr drängen.

»Dann hast du dir auch den Namen ausgesucht? Kam dir dabei nicht in den Sinn, dass Störbrecher vielleicht einfacher ausgesprochen werden kann?« Nerida biss sich auf die Zunge, aber da war es bereits zu spät. Darien sagte ihr oft, dass ihre ungefragten Verbesserungen nervten, warum hielt sie sich nicht daran, einfach still zu sein? Nervös wartete sie auf Sabias Erwiderung.

Diese neigte den Kopf. »Huh, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber du hast recht, ich sollte es echt lieber Störbrecher nennen.«

Sie nickte sich selbst zufrieden zu. Nerida atmete erleichtert auf. Noch verstand sie sich gut mit Sabia, das wollte sie nicht mit ihren unbedacht ausgesprochenen Verbesserungsvorschlag gefährden. Die Schulzeit könnte wesentlich erträglicher werden, wenn sie jemanden dort besser kannte.

Als sie daran dachte, fiel ihr eine weitere Frage ein: »Was wird jetzt aus Bernice?«

»Ich bin erstaunt, dass dich das so sehr kümmert.« Sabia ließ die Zitrone endlich an die Oberfläche zurückkommen, sie war nun dunkel verfärbt. »Aber keine Sorge, sie wird nichts mehr von den Ereignissen wissen, sobald sie aufwacht. Es wird ihr aber besser gehen. Oh, schau nicht so fragend. Du hast doch bestimmt mitbekommen, dass sie wegen ihres Vaters ein Trauma erlitten hat. Das war ja wohl sehr offensichtlich. Aber sobald die Störung beseitigt ist, verschwindet auch das Trauma.« Unschuldig hob sie die Schultern. »Ich weiß aber auch nicht, weswegen das so ist.«

Es gab so viele ungeklärte Fragen, besonders ob das schädlich für die Opfer sein mochte. Aber da Sabia allein daran arbeitete und wohl nicht viel Interesse an den Hintergründen hatte, gab es darauf vorerst keine Antwort. Deswegen musste Nerida sich nun den persönlicheren Fragen widmen: »Woher kennst du mich eigentlich?«

Ihr Gegenüber prustete kurz. »Sag bloß, dir ist noch nie aufgefallen, wie berühmt du in der Schule bist. Jeder dort kennt dich. Also, sie kennen dein Aussehen und deinen Namen, aber mehr weiß man nicht so wirklich über dich.« Sie schenkte Nerida ein strahlendes Lächeln. »Vielleicht kann ich das zumindest ändern.«

Im Moment war Nerida sich noch nicht sicher, ob sie das gut finden sollte, nachdem sie nun wusste, dass man wohl über sie sprach. Einerseits wünschte sie sich einen Freund in der Schule, andererseits machte sie sich damit auch für noch mehr Mobbing verwundbar. Es war eine schwierige Gratwanderung, die notwendig wäre. Reichten ihre Nerven dafür aus?

»Oh ja.« Sabia erinnerte sich noch an etwas, während sie die Zitronenscheibe vorsichtig aus dem Tee entfernte. »Dort drüben hast du mich gefragt, warum ich dich beschütze. Weißt du, das hat neben persönlichen auch professionelle Gründe.«

Also gab es auch einen Haken bei dieser Gratwanderung. Nerida konnte sich bereits denken, worin er bestand: »Du meinst, die Störungen werden in meiner Gegenwart aktiv?«

Sabia hielt in ihrer Bewegung, den Tee umzurühren, inne, ihre Augen waren vor Überraschung geweitet. »Du konntest das bereits schlussfolgern?«

»Etwas anderes wäre mir nicht logisch erschienen.« Obwohl sie es nicht nach außen zeigte, war Nerida stolz auf sich. Sie rückte ihre Brille zurecht. »Ist dieses Gespräch ein Angebot dir beizutreten?«

»Ganz genau! Aber nicht nur, weil du diese Störungen anziehst.« Sabia lehnte sich zurück, sie atmete tief ein, als wäre sie nun an dem Punkt angekommen, der schwer werden könnte. »Ich habe dich auch abgesehen davon schon eine Weile im Auge. Du bist immer so allein, das finde ich schade. Natürlich können wir auch Freunde sein, wenn du keine Störbrecherin wirst.«

Es freute Nerida, dass sie sogar direkt dieses neue Wort benutzte, sie hob die Mundwinkel ein wenig.

»Aber wenn du auch eine wirst, könnten wir so viel mehr Zeit miteinander verbringen und Abenteuer erleben. Wir könnten allerbeste Freunde werden.« Sabias Stimme schien ein wenig unsicher zu werden, während sie das sagte. »Denkst du nicht auch, dass das wundervoll wäre?«

Es klang auf jeden Fall verlockend. Sie könnte Leuten helfen, so wie sie es sich immer wünschte, und dabei noch ein weiteres Merkmal der Einzigartigkeit tragen. Außerdem könnte sie Darien wieder ähnlich werden. Er war auf dem Weg, ein Dämonenjäger zu werden, sie würde Störungen jagen. Das wäre perfekt.

Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass es das Vernünftigste wäre, den Anführern der anderen Gruppen von dieser Gefahr zu erzählen, damit sie sich darum kümmern könnten. Aber wäre ihnen das überhaupt möglich? Das könnte sie nur erfahren, wenn sie es ihnen erzählte. Doch das bedeutete auch, sie würde weiter diese unbedeutende kleine Figur bleiben, die nur darauf wartete, die Krankenstation ihres Vaters zu übernehmen – und niemals aus dem Schatten anderer trat. Sie war sich aber auch nicht sicher, ob sie das wirklich wollte. Ein ruhiges Leben war schön. Aber anderen zu helfen, besonders wenn es sonst quasi keiner machen konnte, war sicher erfüllend.

Warum muss das so schwer sein?, fragte sie sich.

Sabia ließ sie nachdenken, nahm derweil einen Schluck ihres Tees. Nerida sah auf ihren eigenen hinab. Der Zucker hatte sich inzwischen aufgelöst, das Stäbchen war nur noch eine Erinnerung an das, was zuvor dagewesen war. Sie entfernte es, um selbst einen Schluck zu nehmen. Der Tee war einen Tick zu süß, aber gerade an einem solchen Tag konnte sie das gut gebrauchen. Sie fühlte auch wieder Wärme in ihrem Inneren.

Das Schweigen zwischen ihnen hielt so lange an, dass Sabia wieder das Wort ergriff: »Hör mal, du musst dich nicht sofort entscheiden. Ich weiß, dass das nicht geht, deswegen solltest du dir Zeit nehmen. So viel du auch immer brauchst.«

Kaum hatte sie das gesagt, wusste Nerida ihre Antwort: »Nein, ich brauche keine Zeit mehr. Ich werde dir helfen. Sag mir nur, wie ich ebenfalls eine Störbrecherin werden kann.«

Sabias Gesicht hellte sich auf. Erleichtert lächelte sie. »Ich bin so froh. Mit dir an meiner Seite wird das alles viel einfacher und großartiger werden.« Sie nahm noch einen Schluck, vor Aufregung zitterten ihre Hände. »Dann lass uns gleich morgen dorthin gehen, wo du auch zu einer Störbrecherin werden kannst. Vielleicht verstehst du dann ja auch etwas, das ich nicht verstehe, wenn du den Ursprung siehst.«

Nerida wusste nicht, was sie damit meinte, aber sie hakte auch nicht weiter nach. Sie würde sich am nächsten Tag einfach ansehen, wovon Sabia genau sprach.

»Wir gehen nach der Schule«, fuhr diese fort. »Das passt dir auch, oder?«

»Ja, natürlich. Ich habe nichts vor.«

Sabia lächelte glücklich. »Yay~. Dann freue ich mich schon auf morgen.«

Für Nerida war es überraschend angenehm, dass sich eine quasi Fremde wegen ihr derart freute. Sie glaubte, verstehen zu können, warum die Jäger und die Traumbrecher ihre Arbeit so sehr mochten, selbst wenn kaum jemand von ihnen wusste. Wenn sie damit Menschen, die sie nicht kannten, auch ähnlich glücklich machen konnten – oder ihr Glück zumindest aufrecht hielten – musste das die beste Bezahlung von allen sein.

»Da das jetzt geklärt ist«, begann Sabia plötzlich, »lass uns mal über die Schule reden. Vielleicht kannst du mir ein paar Dinge erklären, die ich im Unterricht noch nicht ganz verstanden habe.«

Nerida beugte sich direkt ein wenig vor, um zu zeigen, dass sie aufmerksam zuhörte, was die restliche Zeit, die sie gemeinsam im Café verbrachten, auch notwendig war.

Zum ersten Mal in ihrem Leben saß Nerida mit einer Mitschülerin zusammen und unterhielt sich unbefangen mit ihr über die Schule und den Unterricht.

Es war der schönste Nachmittag ihres bisherigen Lebens.
 

Kapitel 6: Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen kann


 

Am nächsten Tag strebte Nerida nach der Schule in Richtung des Ausgangs. Sie kümmerte sich nicht um die anderen, wusste deswegen nicht einmal, ob ihr Blicke zugeworfen wurden. Da Bernice und ihre Freundinnen nicht in der Schule waren, gab es niemanden, der ihr zu schaden versuchte, deswegen war sie nicht aufmerksam. Ihre Gedanken galten einzig Sabia, mit der sie sich am Ausgang treffen wollte, um diesen Ort aufzusuchen, an dem sie Störbrecher werden könnte.

Sie hatte die Nacht noch darüber nachgedacht, lange wach gelegen und sich die unterschiedlichsten Szenarien und Plätze vorgestellt. Aber ihre schlimmste Fantasie (ein magischer Drache im Limbus, der sie fressen würde) war selbst ihr derart lächerlich erschienen, dass sie sich im Anschluss wieder beruhigt hatte. Dadurch war sie, als sie schließlich eingeschlafen war, vor den drei Albträumen verschont geblieben. Am Morgen hatte sie sich endlich einmal erholt gefühlt. Entsprechend enthusiastisch war sie auch auf dem Weg zum Ausgang, wo Sabia auf sie wartete, wenn ihre Nachricht stimmte. Nerida hatte noch nie mit jemandem aus der Schule die Nummern getauscht, deswegen war sie überaus aufgeregt gewesen, als Sabia ihr an diesem Vormittag die erste Nachricht geschickt hatte – obwohl es mitten im Mathe-Unterricht gewesen war. Möglichst leise hatte sie sich gefreut und geantwortet, dass sie da sein würde. Ihr Herz vollführte einen freudigen Sprung, als sie an den Türen ankam und die wartende Sabia entdeckte.

»Du bist aber früh hier«, bemerkte Nerida.

»Wir hatten Mrs. Brown in der letzten Stunde, die lässt uns schon immer vor dem Ende gehen.« Sabia lächelte erwartungsvoll, legte ihre Hände hinter ihrem Rücken zusammen. »Bist du bereit?«

»Es wird dort kein Drache auf mich warten, oder?« Eigentlich wollte sie es nicht fragen, aber ihre Fantastereien verlangten es geradezu, um ihre Furcht zu bändigen.

Sabia runzelte die Stirn. »Was? Nein, natürlich nicht. Dort gibt es keine Drachen.«

Nerida atmete auf. »Oh, gut. Ich wollte nur sichergehen.«

Sie lächelte ein wenig verlegen, worauf Sabia glücklicherweise nicht mehr auf das Thema einging, sondern sie mit sich winkte. »Es ist auch nicht weit.«

Gemeinsam verließen sie die Schule. Nerida hätte am liebsten einen leisen Ton der Freude von sich gegeben, wollte aber nicht noch seltsamer erscheinen als nach der Drachen-Frage.

»Ach ja.« Sabia wandte sich ihr zu. »Ich war gestern Abend übrigens noch kurz im Krankenhaus, um nach Bernice zu sehen. Ich dachte mir, dass du dir Sorgen machen würdest.«

Ihre Worte klangen belächelnd, als nehme sie Nerida nicht wirklich ernst. Aber darüber machte sie sich keine Gedanken. »Wie geht es ihr?«

»Sie wird es überleben«, sagte Sabia. »Sie ist nur sehr verwirrt und wusste nicht, was geschehen ist. Ich habe auch ihren Vater gesehen.«

Die Person, die mitunter für diese Störungen verantwortlich gewesen war. Warum hatte er sie im Krankenhaus besucht?

Sabia lachte. »Du solltest dein Gesicht sehen. Aber na ja, jedenfalls wurde der Vater gerade in Handschellen weggeführt. Bernice mag wegen den Störungen verwirrt gewesen sein, aber offenbar auch gefestigt genug, um endlich ihren Peiniger zur Verantwortung zu ziehen.«

Bereits zum zweiten Mal bei diesem Treffen atmete Nerida erleichtert auf. »Da bin ich froh. Aber was ist mit den anderen beiden? Mit Orabela und Charity?«

»Oh die. Wahrscheinlich hat denen der Aufenthalt in der Welt der Störungen zugesetzt. Spätestens nächste Woche sollten sie aber wieder fit sein. Und sich an nichts erinnern.«

Es war ein interessanter Fakt, dass die menschlichen Opfer am Ende alles wieder vergaßen. Aber bedeutete das im Umkehrschluss, dass Sabia kein Mensch war? Oder lag es doch nur an diesem Ort, wo sie zur Störbrecherin geworden war? Nerida stellte diese Fragen nicht, hoffte stattdessen, die Antworten selbst herausfinden zu können.

Danach unterhielten sie sich wieder über unterrichts-relevante Dinge, während sie durch die Straßen liefen. Nerida kannte die Gegend nicht, in der sie schließlich landeten, aber es musste ein Viertel sein, in dem weniger gut verdienende Leute lebten. Hochhäuser drängten sich dicht aneinander, graue Blöcke, die nur auf Nützlichkeit, nicht auf Schönheit aus waren. An manchen Fenstern waren kunstvolle Vorhänge angebracht, die ein wenig Abwechslung zeigten, aber sie ließen die Trostlosigkeit nur umso stärker hervortreten. Vor den Häusern spielten Kinder miteinander, sie hielten inne und sahen den Mädchen interessiert hinterher, als diese an ihnen vorbeikamen.

Nerida warf einen Blick über die Schulter. Als sie endlich in einiger Entfernung waren, widmeten die Kinder sich wieder ihren Spielen. Seilhüpfen, Himmel-und-Hölle, dazu irgendetwas, das mit einem kleinen Haufen Steinen zu tun hatte. Für einen kurzen Moment fühlte Nerida sich wieder an ihre eigene Kindheit erinnert, als sie noch gemeinsam mit ihrem Bruder und den Lane-Zwillingen gespielt hatte. Es erschien ihr nun wie eine Ewigkeit her.

Neben einem einstöckigen, flachen Gebäude hielt Sabia wieder inne. Ausgehend von der staubigen Scheibe, die fast die gesamte Front einnahm, musste es sich einmal um einen kleinen Laden gehandelt haben. Nerida fragte sich, was darin wohl einmal verkauft worden war.

Sabia lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Gasse zwischen diesem Gebäude und dem Haus nebenan. Sie war schmal, nur für die darin befindlichen Mülltonnen und einen Fußgänger geeignet. So wie es aussah, führte der Weg hinter das Wohnhaus. Aber das eigentlich Interessante war eine Tür direkt vor ihnen. Diese bestand aus rotem Holz, das leicht glühte und dabei Funken sprühte. Sie stand im Nichts, führte nirgendwohin, wirkte deswegen vollkommen deplatziert.

Sabia legte eine Hand darauf. »Toll, oder?«

»Aber kann sie nicht jeder sehen?«

»Nein. Das ist wie mit den Störungen, die kann auch nicht jeder sehen.«

Das ergab Sinn.

Nerida betrachtete die Tür, die ein kaltes Loch in ihren Magen riss. Das hier war ihre letzte Möglichkeit es sich noch einmal anders zu überlegen. Wenn sie erst einmal hindurchging, könnte nie wieder etwas so werden wie vorher.

Aber sie hatte bereits zugesagt, sie war noch immer entschlossen.

Obwohl Sabia keine Frage gestellt hatte, nickte Nerida ihr zu. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür von selbst, schwang auf und enthüllte ein gleißend helles Licht, das verhinderte, dass sie sehen konnte, was sich im Inneren befand.

Nerida kniff blinzelnd die Augen zusammen, aber es war als starre sie in die Sonne. Absolutes Weiß überlagerte ihren Blick, brannte sich regelrecht auf ihre Netzhaut. Sie spürte, wie Sabia nach ihrer Hand griff und sie mit sich in die Helligkeit hineinzog.

Im Gegensatz zur Sonne war dieses Licht nicht heiß, sondern angenehm warm. Das Gefühl von Geborgenheit schloss sie sofort ein, als wolle man sie wie in einem neuen Zuhause willkommen heißen. Wie sehr hatte sie sich nach diesem Gefühl gesehnt, ohne es bisher zu wissen?

Nach wenigen Sekunden ließ Sabia sie wieder los. Ihre Augen gewöhnten sich auch an die neuen Lichtbedingungen, die an diesem Ort angenehmer waren.

Der Raum, in dem sie sich nun befanden, war kreisförmig, die Wand bestand aus hellem Gestein. Neridas Blick wurde zuerst zu einer runden leicht erhobenen Plattform in der Mitte gezogen. Direkt darüber, in einer kaum sichtbaren Blase, schwebten glitzernde rote Scherben, die an jene erinnerten, die Sabia aus der verzerrten Bernice gezogen hatte. Sie waren alle unterschiedlich geformt, bislang schien keines der Stücke zu einem anderen zu passen.

»Ich weiß auch nicht, was das ist«, erklärte Sabia. »Aber ich glaube, sein Zerbrechen ist dafür verantwortlich, dass es zu den Störungen kommt.«

Da Nerida nicht antwortete, zog sie erst einmal ihre zuletzt erbeutete Scherbe aus dem Nichts hervor. Ein leichter Wurf genügte, dass sich diese den anderen anschloss. Sie zog nun ebenfalls ihre unsichtbaren Bahnen innerhalb der Blase.

Ob einer der Anführer wusste, worum es sich hierbei handelte? Bei Gelegenheit sollte sie Jii oder ihren Großvater danach fragen – sobald sie wusste, wie man das möglichst subtil verpackte.

Beim weiteren Betrachten des Raums fiel Nerida nun auch noch eine kleine Tür in der Wand auf, kaum groß genug, dass sie gebückt hindurchpasste. Im Gegensatz zu jener, durch die sie hereingekommen waren, schmiegte sich diese aber farblich korrekt direkt in die Wand ein. Nerida hatte sie nur entdeckt, weil der dunkle Knauf und das Schlüsselloch hervorstachen. Sie deutete darauf. »Wohin geht es da?«

Sabia sah ebenfalls hinüber, wirkte aber deutlich desinteressiert. »Ich weiß es nicht. Die Tür ist verschlossen, also habe ich mich nie darum gekümmert.«

Da sie diese Worte nicht anzweifelte, achtete Nerida auch nicht weiter darauf. Was brachte es schon, sich mit einem Mysterium zu befassen, hinter dem sich vielleicht nur eine weitere Wand befand?

»Was soll ich jetzt tun?«, fragte sie stattdessen.

»Stell dich einfach vor die Scherben und heb die Hand.« Sabia machte es ihr vor. »Es tut vielleicht ein bisschen weh, aber das ist ganz schnell vorbei.«

Diese Information hätte Nerida gern ein paar Sekunden früher gehabt.

Es kam ihr vor als schösse ein heißer Strahl aus Feuer durch ihre Hand ihren Arm hinauf. Die Hitze sammelte sich in ihrem Rücken zwischen ihren Schulterblättern. Unzählige Bilder blitzten vor ihren Augen auf, verschwanden immer bevor sie das Thema überhaupt ausmachen konnte, dennoch ließ jedes einzelne sie mit einem immer unangenehmeren Gefühl zurück. Glühende Nadeln wurden auf ihren Rücken gepresst, zeichneten ihr ein Muster ein, dessen Form sie nicht einmal erahnte.

In jenem Moment, in dem sie ihren Mund zum Schreien öffnen wollte, stoppte das alles so plötzlich wie es begonnen hatte. Reste der Hitze verblieben in ihrem Körper. Sie wich einen Schritt zurück, ihre Beine zitterten, aber sie ging nicht in die Knie. Es erforderte ihre gesamte Energie, aber es gelang ihr, aufrecht stehenzubleiben.

Sabia trat neben sie und legte stützend einen Arm um ihren Körper. »Du bist wirklich gut. Ich lag erst einmal fast bewusstlos auf dem Boden.«

Sie lächelte etwas verlegen, überspielte es aber sofort: »Wenn du dich wieder gut genug fühlst, sollten wir uns ansehen, welche Fähigkeiten du hast – und du solltest lernen, wie man damit umgeht.«

»Klingt vernünftig.« Nerida atmete schwer. »Aber erst einmal … brauche ich etwas zu essen.«

 

Sabia hatte sie direkt zu einer Imbissbude in der Nähe gebracht. Das Essen war wenig appetitlich gewesen, aber es hatte seinen Zweck erfüllt und Nerida wieder einigermaßen aufgebaut. Nachdem sie der Meinung gewesen war, fit genug zu sein, waren sie weitergezogen.

Schließlich standen sie gemeinsam vor dem kaum benutzten Hintereingang eines Einkaufszentrums. Nerida war einmal darin gewesen, um sich den dortigen Buchladen anzusehen, aber enttäuscht wieder abgezogen; es waren lediglich einige Regale mit den neuesten Bestsellern bestückt gewesen, ansonsten verkaufte man dort Nippes, der nichts mit Literatur gemein hatte.

»Normalerweise sind Störungen etwas sehr Persönliches«, erklärte Sabia. »Aber an Orten, wo viele Menschen zusammentreffen, prallen auch Hoffnungen, Träume und vor allem Enttäuschungen aufeinander. Was denkst du, wie viele Störungen dabei entstehen?«

»Das müssen unzählige sein.«

»Korrekt~.« Sabias Gesicht glühte regelrecht vor Aufregung. »Und was glaubst du passiert mit denen in solchen Verhältnissen?«

Es konnte mehrere Variationen geben, die auch sofort durch Neridas Gedanken rasten; miteinander konkurrierende Störungen, Herdenbildung oder gar eine gegenseitige Neutralisation waren dabei noch die harmloseren Varianten. Dabei fiel ihr aber auch wieder ein, dass sich bei Bernice sogar die Realität verzerrt und eine eigene Ebene gebildet hatte. Das musste sie beachten. Wenn sie dann noch hinzurechnete, dass Sabia ihr hier zeigen wollte, wie sie ihre Fähigkeiten benutzte, gab es nur eine einzige Lösung: »Sie formen eine bizarre eigene Welt, in der die Störungen frei umherstreifen?«

Sabia atmete überrascht ein. »Wow~. Ja, das ist richtig! Ich war damals auch hier, um herauszufinden, wie ich mit meinen neuen Kräften umgehen muss.«

»Wie hast du diese Ebene denn entdeckt?«

»Zufall. Wenn wir mal Zeit haben, erzähle ich dir davon.«

Mehr sagte sie nicht.

Nerida folgte ihr ins Einkaufszentrum hinein. Durch den verwinkelten Bau gab es keinerlei Tageslicht; die künstlichen Leuchten, deren Schein von den blanken Bodenfliesen verstärkend reflektiert wurden, tauchten das Innere in eine unwirkliche Atmosphäre. Auch die vielen Kunden, die zwischen den verschiedenen Läden umherstreiften, änderten nichts daran. Abgeschnitten von den Geräuschen der Außenwelt, angefüllt mit seinem eigenen Chor aus Musik, Lautsprecherdurchsagen und Plaudereien, fühlte Nerida sich in diesem fremden Kosmos immer besonders krank.

Sie liefen an einem Friseursalon vorbei, einer Apotheke, einem Reisebüro und verschiedenen kleineren Läden, in denen Dekorationsgegenstände verkauft wurden. Eine Rolltreppe und eine Glastür später befanden sie sich in einem verlassenen Gang des Einkaufszentrums. Hier war das Licht dezenter, fast schon zu düster. Dort, wo die Nadeln Neridas Rücken berührt hatten, pochte es inzwischen schmerzhaft. Die Störungen mussten in der Nähe sein.

Sabia warf noch einmal einen prüfenden Blick umher, dann trat sie direkt vor die Wand und legte ihre Hand darauf. Ein helles blaues Licht erglühte und bildete den Umriss einer Tür, die sofort nach innen aufschwang und den Blick auf Dunkelheit freigab.

»So etwas findest du durch Zufall?«, fragte Nerida.

Sie erntete ein unschuldiges Lächeln von Sabia. »Das ist wirklich keine spannende Geschichte, deswegen ist das nichts für heute.«

Nach einer auffordernden Geste trat Nerida zuerst durch das Portal. Entgegen ihrer Erwartungen wurde sie aber nicht von Finsternis eingehüllt, ihre Augen gewöhnten sich sofort an die neuen Lichtverhältnisse. Rauchige Schatten hüllten kubisch wirkende schmucklose Räume ein, in denen sich nicht sichtbare Gestalten bewegten. Sie hörte das Rascheln und Seufzen und Knistern, wann immer sich eine von ihnen regte. Aber noch war keines bei ihr.

»Sie spüren bereits, dass du in der Nähe bist.« Sabia war neben sie getreten. »Wir sollten sie nicht zu lange warten lassen.«

Nerida sah sie an, musste die sie beschäftigende Frage glücklicherweise aber nicht laut aussprechen. Sabia streckte den Arm aus, die Handfläche nach unten. »Kommen wir dann mal zur Praxis.«

Auf ihrem Rücken erstrahlte ein helles Licht, das sich über ihre Schultern ausbreitete, bis es ihren gesamten Körper einhüllte. Es blendete Nerida so sehr, dass sie den Blick abwenden musste, und als sie wieder hinsah, stand Sabia wieder in dem Kleid von gestern da. Auch ihr Haar war erneut hochgesteckt. Das ganze erinnerte Nerida ein wenig an die animierten Serien, die Darien sich manchmal ansah. Es aber in der Realität zu erleben war etwas ganz Neues.

Sabia lächelte zufrieden über ihr Staunen. »Das kannst du jetzt auch. Du musst dich nur genug darauf konzentrieren.«

Das klang einfach genug. Nerida legte eine Hand auf ihr Herz, dann atmete sie tief durch. Sie wusste nicht, worauf genau sie ihre Gedanken richten sollte. Deswegen dachte sie an das Pochen in ihrem Rücken. Sie spürte, dass ihr Herz im Einklang damit schlug. Plötzlich schien ihr Rücken in Flammen zu stehen, das Feuer verzehrte ihren gesamten Körper, noch bevor sie realisierte, was wirklich mit ihr geschah. Doch ehe sie glaubte verglühen zu müssen wurde sie von Kälte eingehüllt, aus der sie wie aus einem Kokon ausbrach. Dann war alles wieder … normal.

Sie fühlte sich nicht anders als vorher, deswegen sah sie an sich herab, nur um überrascht festzustellen, dass auch sie sich verändert hatte. Sie trug kein Kleid, sondern eine eng anliegende Hose, dazu einen Mantel, der vorne kurz geschnitten war, hinten aber bis zu ihren Fußknöcheln reichte. Allerdings kam ihr der leicht glänzende schwarze Stoff, der aus unzähligen kleinen Schuppen zu bestehen schien, absolut nicht bekannt vor.

»Oh, du siehst toll aus~.« Sabia stellte sich vor sie und betrachtete sie mit glitzernden Augen. »Besonders mit deinen offenen Haaren siehst du viel besser aus~.«

Unwillkürlich griff Nerida sich an den Kopf. Tatsächlich waren ihre Zöpfe nun offen, ihr Haar hing in Wellen über ihre Schultern. An ihrem Hinterkopf ertastete sie allerdings noch etwas; ein Gebilde aus feinen Knochen, das eine Krone darzustellen schien.

»Das steht dir total«, sagte Sabia. »Was auch immer es bringt.«

»Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen kann.« Nerida zog die Augenbrauen zusammen, während sie sich auch die Schuhe betrachtete, die einen kleinen Absatz hatten. »Normalerweise trage ich solche Sachen nicht.«

»Das ist doch das Schöne am Störungen jagen«, erwiderte Sabia. »Dass du etwas machst, was du sonst nie tust.«

Sie legte ihre Hände auf Neridas Schultern. »Und genau das sollten wir jetzt tun.«

Nach einem aufmunternden Klopfen fuhr Sabia herum. Die Reitgerte erschien in ihrer Hand. »Wir sollten loslegen. Ich bin schon gespannt, wie deine Waffe aussehen wird~.«

Es müsste ausreichen, sich wieder auf das Gefühl auf ihrem Rücken zu konzentrieren, also tat sie das auch direkt. Diesmal formte sich die Hitze in ihrer Hand, wurde schlagartig durch Kälte ersetzt – und dann hielt sie plötzlich einen Stab in der Hand, an beiden Enden waren kurze Seile angebracht, die zu Platten mit äußeren Klingen führten. Als sie den Stock waagerecht hielt, erinnerte die Konstruktion sie an eine Waage. Von dieser wanderte ihr Blick zu ihrem linken Arm. Dort hatte sich ein Kristall manifestiert, dessen kantige Form entfernt an eine Acht erinnerte.

»Erinnert ein wenig an einen Schild«, merkte Sabia dazu an. »Und dieser Stab … ziemlich cool, wenn du mich fragst. Total außergewöhnlich. So etwas hat bestimmt sonst niemand.«

Deswegen war Nerida sich auch nicht sicher, wie sie damit kämpfen sollte, aber vielleicht bekäme sie das in der Praxis hin. Jedenfalls wusste sie von Kieran, dass er oft einfach im Kampf neue Waffen erprobte. Also sollte sie das auch schaffen.

»Fangen wir an?«

Sabia nickte lächelnd. Dann fuhr sie herum und ging voraus, in die Richtung, in der sie die Störungen vermutete. Nerida folgte ihr mit vorsichtigen Schritten, um sich an die neuen Schuhe zu gewöhnen.

Nur einen Raum weiter fanden sie bereits eines der Wesen. Es sah aus wie eine schwarze Raupe, die sich schwerfällig über den Boden bewegte.

»Ideal«, bemerkte Sabia. »Die schnappen wir uns.«

Sie wirkte harmlos genug, dass nichts passieren könnte, aber Nerida wusste, dass dieser Eindruck manchmal täuschte. Dafür musste sie nur Kieran ansehen, der vollkommen harmlos wirkte, aber im Kampf unfassbare Zerstörungskräfte entwickeln konnte. Hoffentlich war das bei diesem Wesen nicht so.

Sabia machte eine einladende Handbewegung. »Fang du an. Ich greife ein, sobald ich merke, dass es notwendig wird.«

Das half nicht, um Neridas Nervosität zu beruhigen, aber sie hatte sich hierzu bereit erklärt, nun musste sie sich beweisen. Mit möglichst selbstsicheren Schritten, die dennoch leicht wackelig waren, verließ sie das Versteck und ging zu der Raupe hinüber. Diese wandte sich ihr überraschend schnell zu, ein weißes Augenpaar musterte sie. Neridas Griff um den Stab verstärkte sich, ihre Knöchel schmerzten ein wenig. Aber davon wurde es nicht besser. Sie musste etwas tun.

Instinktiv bewegte sie die Waffe ein wenig, worauf die Kreisklingen sich um sich selbst drehten – und dabei tatsächlich die Raupe verletzten. Das Wesen stieß einen Schrei aus, dessen Lautstärke fast ausreichte, um Nerida von den Füßen zu reißen. Von irgendwo antworteten andere Störungen.

Keine Zeit mehr!

Ein letztes tiefes Durchatmen, dann drehte sie den Stab schneller. Dank seiner Länge musste sie sich der Raupe nicht nähern, um ihr einen weiteren Schnitt zu versetzen. Aus den Verletzungen quoll wieder dieser kantige Rauch. Die Störung schnappte nach ihr, Nerida stolperte zurück, um auszuweichen. Dabei riss sie die Arme hoch, eine der Klingen wurde nach oben geschleudert und hinterließ einen weiteren langen Riss auf dem Wesen. Der darauf folgende gequälte Schrei wurde von mehr Rauch und einer hellen Flüssigkeit begleitet.

»Du machst das gut!«, rief Sabia ihr aus ihrem Versteck zu.

Von diesen Worten angespornt schwang Nerida ihre Waffe noch einmal. Diesmal wich die Raupe aber nach unten aus, nur um dafür einen instinktiven Tritt zu ernten. Sie traf direkt in eine der Wunden und vergrößerte diese damit noch, als das Wesen nach hinten flog.

Die Schreie der anderen Störungen wurden lauter. Sie musste etwas tun, um diese einzelne Bedrohung auszuschalten.

Noch während dieses Gedankens löste der Stab sich auf, an seiner Stelle erschien ein Revolver, der dem von Sabia absolut glich. Nerida war überrascht, wie schwer er sich anfühlte, gleichzeitig gab ihr dieses Gewicht aber auch Sicherheit. Und diese benötigte sie, als sie anlegte und abdrückte.

Ein Schuss aus purem Licht verließ den Lauf, traf auf die Raupe und verwandelte sie in eine Wolke aus glitzerndem Staub, die gleich darauf von einem kaum spürbaren Wind zerschlagen wurde.

Nerida betrachtete die letzten glitzernden Funken, als Sabia ihr plötzlich um den Hals fiel.

»Das war großartig!«, juchzte sie. »Ich wusste gleich, dass du ein totaler Profi sein wirst!«

»W-war das wirklich so gut?«

Sabia löste sich wieder ein wenig von ihr, hielt aber die Hände auf ihren Schultern. »Natürlich. Ich war beim ersten Mal lange nicht so gut! Aber das war einfach fantastisch! Du bist ein Naturtalent!«

Ob das an den Genen eines Dämons und eines Albtraums lag? Jedenfalls könnte es das erklären. Aber Nerida erwähnte es nicht. Ihre Freundin hätte damit sicher nichts anfangen können.

»Lass uns jetzt zurückgehen. Ich lade dich zur Feier des Tages auf einen Eisbecher ein.« Sabia hakte sich bei ihr unter. »Wir müssen unbedingt festhalten, was für ein tolles Team wir sind.«

»Aber die anderen-«

»Die lassen wir erst einmal. Sie können uns nicht folgen.«

»Und die Splitter?«

Nerida blickte auf den Bereich, wo die Wolke sich verflüchtigt hatte. Nichts war zu sehen.

»Aus irgendeinem Grund gibt es die immer nur in den Störungen, die wirklich an Personen gebunden sind.« Sabia zuckte mit den Schultern. »Die hier sind deswegen nur Trainingsobjekte.«

Das klang seltsam traurig. Aber auch das kommentierte sie nicht. Ihre neu gefundene Freundin musste nicht wissen, was für ein Wesen sie war, das sogar Mitleid für splitterlose Störungen empfand.

Lieber ignorierte sie die sich nähernden Feinde und ging gemeinsam mit Sabia in Richtung Ausgang, um die neue Partnerschaft würdig zu besiegeln.
 

Kapitel 7: Ich würde alles für dich tun


 

Nerida war nie an einer Tätowierung interessiert gewesen, egal unter welchen Umständen oder um welches Motiv es sich dabei handeln mochte. Sie hielt nicht sonderlich viel von derartigem Körperschmuck, vor allem nicht an ihr selbst – aber sie verurteilte auch niemanden, der sich ein solches stechen ließ. Sie wollte nur für sich keines.

Deswegen war sie auch nicht begeistert, als sie am nächsten Morgen vor dem Spiegel stand. Ihr Rücken hatte nicht mehr gebrannt, nur noch etwas gejuckt, darum war ihr der Gedanke gekommen, sie müsste sich diesen einmal ansehen, nur um sicherzugehen. Glücklicherweise hatte ihr Kleiderschrank einen Spiegel auf der Innenseite, so dass sie nicht einmal das Zimmer verlassen musste. So stand sie nun da, sah über ihre Schulter und betrachtete das Bild, das sich ohne ihr Wissen auf ihrem Rücken ausgebreitet hatte. Es war eine Waage, deren Mittelpunkt von jenem kristallinen Schild gehalten wurde, das sie im Kampf am Arm trug. Die Verbindung beider Kristalle bildete dabei den Schwerpunkt, wo der Stab der Waage in perfekter Balance gehalten wurde. Im Grunde gefiel ihr das Motiv und sie konnte auch ihre Waffe wiedererkennen, aber dennoch war sie nicht begeistert.

Außerdem bin ich erst 14.

Wenn sie nicht vorsichtig war, würden ihre Eltern dieses Bild entdecken und dann käme sie in Erklärungsnot. Nicht auszudenken, was ihr Vater von ihr hielte, sobald er erst einmal wusste, dass sie sich ebenfalls für den Kampf entschieden hatte. Noch dazu ohne im Vorfeld etwas über eine Tätowierung zu wissen.

Wusste Sabia davon? Falls ja, müsste sie diese fragen, weswegen sie nichts gesagt hatte.

Frustriert stieß sie Luft durch ihre Lippen, dann zog sie sich rasch an, bevor jemand auf die Idee käme, in ihr Zimmer zu stürmen. Normalerweise passierte das nicht, da man ihre Privatsphäre respektierte, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Durch die Tür klangen die Stimmen ihrer Familie gedämpft herein, während sie alle ihrem normalen Leben nachgingen. Vor allem die von Darien flatterte regelrecht durch die Atmosphäre, während er sich bereits auf den Schultag zu freuen schien. Besonders seine Lebhaftigkeit beneidete Nerida im Moment mehr als alles andere. Sie würde nun auch kämpfen, dafür hatte sie sich entschieden, aber noch fehlte ihr die Zuversicht, die ihm zu eigen war. Vielleicht – hoffentlich – käme das mit der Zeit noch.

Erst nachdem sie vollständig angezogen war und mehrmals geprüft hatte, dass man durch diesen dunklen Pullover nichts sehen konnte, fühlte sie sich einigermaßen gefestigt. Noch immer juckte es unangenehm, als wolle es mit aller Gewalt Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dazu erschien ihr sogar die Wolle kratziger als normalerweise. Das ließ sie nur noch mehr in Frage stellen, warum irgendjemand sich freiwillig eines stechen ließ.

Ein richtiges ist vielleicht aber nicht so störrisch.

Schließlich – viel später als sonst – nahm sie ihre Schultasche und schloss sich ihrer Familie im Esszimmer an. Das Frühstück war inzwischen fast vorüber, aber das störte sie nicht, ihr war ohnehin nicht nach Essen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Vane sofort. »Sonst kommst du nicht erst so spät.«

Sie entschuldigte sich sofort. »Ich habe nur ein wenig verschlafen – und vergessen, dass ich vor der Schule noch schnell in die Bibliothek muss. Deswegen muss ich jetzt auch schon los.«

Da sie eine schlechte Lügnerin war, hoffte sie, dass dies genügte. Glücklicherweise hinterfragte das auch niemand, selbst Ronan hatte nur ein Problem damit: »Dann gehen wir heute nicht zusammen zur Schule?«

Sie lächelte ihm entschuldigend zu. »Nein. Aber morgen bestimmt wieder.«

Das war alles, was sie beantworten musste. Danach folgten nur noch Bitten ihrer Eltern, unterwegs vorsichtig zu sein, was sie auch versprach, ehe sie sich auf den Weg machte – und dabei hoffte, Sabia noch vor Beginn des Unterrichts zu sehen.

 

Mehrere Stunden später hatte sich diese Hoffnung zerschlagen. Sie war Sabia nicht vor dem Unterricht begegnet und dann erst recht nicht währenddessen, schließlich teilten sie sich keine Kurse. Aber auch in der Mittagspause empfand Nerida es als hoffnungslos, Sabia zu finden. Auf ihre Anfragen per Handy erhielt sie lediglich eine halbherzige Entschuldigung, verbunden mit dem Angebot, sich nach dem Unterricht zu treffen. Für Nerida blieb nur ein Schluss übrig: Sabia wollte nicht gemeinsam mit ihr gesehen werden. Dummerweise konnte sie das sogar verstehen. Wenn man beliebt war, sollte man sich den Ruf nicht ruinieren, indem man sich mit ihr sehen ließ.

Obwohl ihr rationaler Verstand das begriff, fühlte sie sich dennoch verletzt. Das konnte sie nicht ändern. Um sich zu beruhigen, suchte sie deswegen nach der Hälfte der Pause erst einmal die Toiletten im zweiten Stock auf, die um diese Zeit erfahrungsgemäß angenehm verlassen waren. Da sie weit weg von der Mensa war und es außerdem nur zwei Kabinen gab, bevorzugten die meisten doch eher die geräumige Toiletten im Erdgeschoss.

Nachdem sie sichergestellt hatte, dass wirklich niemand hier war, stellte Nerida sich an das Waschbecken. Ein kurzer Blick in den Spiegel verriet ihr, dass sie etwas blasser war als sonst. Andere beachteten sie nicht derart intensiv, also war es hoffentlich noch niemandem aufgefallen. Sie nahm ihre Brille ab und spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht, um ihre Rationalität wieder in den Vordergrund dringen zu lassen. Es half etwas, dass die Zurückweisung nicht mehr so sehr schmerzte. Auch die Farbe schien wieder in ihr Gesicht zurückzukehren.

Im Grunde, so sagte sie sich, hätte sie damit rechnen müssen, dass es derart weitergehen würde. Warum sollte Sabia, die bestimmt beliebt war, sich mit ihr abgeben? Dass Nerida sie vor ihrer ersten Begegnung nie an der Schule gesehen hatte, musste schließlich nichts bedeuten, sie gab sich eher Mühe, unauffällig zu sein und achtete dabei auch nicht auf andere.

Bestimmt hat sie Freunde, die Zeit mit ihr verbringen wollen. Wir kennen uns ja gerade mal ein paar Tage.

Sie beugte sich ein wenig vor, um ihre Augen besser betrachten zu können. Sie waren grün, unauffällig, aber ihre Pupillen wirkten heller als die der Menschen, nicht so tiefschwarz wie es sein müsste. Genügte dieses Merkmal bereits, dass sie derart von anderen ausgeschlossen wurde?

Vielleicht sollte ich Sabia danach fragen.

Nach dieser kurzen Nahbetrachtung, stellte sie sich wieder aufrecht hin und setzte ihre Brille auf. Im selben Moment flog die Tür auf und prallte gegen die Wand. Nerida zuckte zusammen und sah sofort zu jenen, die ihre Ruhe störten – am liebsten hätte sie sich nun in Luft aufgelöst.

Noch am Vortag hatte Sabia ihr versichert, dass es einige Zeit dauern würde, bis Orabela und Charity wieder in der Schule sein könnten, doch da standen sie beide leibhaftig vor ihr. Die Blicke, mit denen sie Nerida aufspießten, verhießen nichts Gutes. Sie stand inzwischen mit dem Rücken zum Waschbecken und klammerte sich mit den Händen daran fest.

Keiner von ihnen sagte etwas. Orabela schloss die Tür und lehnte sich dann dagegen, um weitere Besucher auszuschließen. Charity dagegen kam mit langsamen Schritten auf Nerida zu. Ihre mahlenden Kiefer verrieten, dass sie wieder einmal Kaugummi kaute.

»Also Belfond«, sagte Orabela von der Tür aus, »Chari will mit dir mal über Berni sprechen.«

»W-warum?«

»Was ist das für eine Frage?«, blaffte Charity sie an. »Es ging ihr großartig, bis sie mit dir gesprochen hat – seitdem ist sie im Krankenhaus. Also erzähl uns lieber schnell, was du mit ihr gemacht hast, sonst müssen wir ein paar andere Saiten aufziehen.«

Sie führte ihre Methoden dafür nicht weiter aus, aber ihr eindringlicher Blick verriet Nerida, dass sie auch gar nicht mehr wissen wollte. Sie ließ deswegen das Waschbecken wieder los und hob möglichst unschuldig die Hände. »Ich habe ihr nichts getan.«

Charitys Augen verengten sich. »Das glaube ich dir nicht. Irgendwas stimmt doch nicht mit dir.«

Spürte sie es an ihrer Aura? Konnte sie das in ihrem Gesicht lesen? In ihren Augen?

»Zeig ihr doch das Spielzeug, das du extra für sie mitgebracht hast«, sagte Orabela, immer noch gegen die Tür gelehnt als wäre das alles nur eine Plauderei.

Nerida wollte sich gar nicht ansehen, was Charity für sie hatte, doch da griff diese bereits in ihre Tasche und zog etwas hervor. Nach einem kurzen Klacken wurde ihr auch klar, worum es sich handelte: ein Teppichmesser mit einer scharfen Klinge, die gerade ausgefahren worden war.

Ihr schauderte, als sie sich nur vorstellte, wie man ihr damit über die Haut fuhr. Sie wollte das nicht, wollte nur noch weg, egal wohin. Selbst das Refugium eines Albtraums hätte sie nun akzeptiert.

Wenn ich eines schaffen könnte …

Charity ließ ihr keine Zeit, den Gedanken zu beenden. Ein kurzer heißer Schmerz fuhr über ihre Wange, als das Messer sie dort streifte. Dann floss etwas Blut aus dem Schnitt. Nerida war nicht einmal Zeit geblieben, diesem Angriff auszuweichen.

Orabela applaudierte amüsiert, aber in Charitys Augen war keine Regung zu erkennen. Selbst als sie den oberflächlichen Blutfilm auf der Klinge betrachtete, schien sie das nicht zu kümmern.

»Warum tust du das?«, fragte Nerida leise.

»Was für eine blöde Frage! Du nervst schon seit dem ersten Tag! Kriegst nie deine Zähne auseinander und starrst einen immer so dämlich an. Wofür hältst du dich eigentlich?!«

»Sie hält sich für was Besseres«, sagte Orabela von der Tür her. »Du solltest ihr mal eine Lektion erteilen, damit sie nicht mehr denkt, sie sei ein Prinzesschen.«

Das tat sie nicht, das wollte sie ihnen sagen, aber Charity war schneller. Nerida riss ihren rechten Arm hoch, um den Angriff abzuwehren. Der folgende Schnitt war tiefer als der erste, begleitet von einem brennenden Schmerz, der sich in ihrem gesamten Unterarm ausbreitete. Ihr Ärmel saugte sich rasch mit Blut voll, ein unangenehmes Gefühl, auf das sie gern verzichtet hätte. Nerida ging einen Schritt zur Seite, ein verzweifelter Versuch, dieser Situation zu entgehen. Doch ihre Knöchel knickten unter ihr weg, so dass sie schmerzhaft auf dem Boden landete.

»Typisch.« Charity verpasste ihr einen schlaffen Tritt in den Unterleib. »Wenn etwas passiert, willst du natürlich sofort verschwinden, aber nicht einmal das kannst du richtig.«

»Anscheinend kann sie nur strebern«, kommentierte Orabela.

Im Moment hätte Nerida ihnen nur zu gern demonstriert, was sie noch konnte, doch alles in ihr schien durcheinander zu wirbeln, selbst ihre eigenen Kräfte, die sich in diesem Zustand weigerten, jegliche Form anzunehmen. Sogar das, was sie so anders machte, ließ sie in dem Moment, in dem sie es am meisten brauchte, im Stich, es war frustrierend. Sie glaubte sogar, das spöttische Lachen der drei Albträume zu hören.

Charity kniete sich neben sie. »Eigentlich wollte ich eher dein Gesicht verschönern. Kann ja nicht schaden, dich wenigstens mal interessant aussehen zu lassen, wenn du schon so super-langweilig bist. Vielleicht hast du dann wenigstens mal was zu erzählen.«

Sie wollte noch einmal zustechen, doch Nerida hob wieder ihren Arm. Als Charity diesen wegstieß, nutzte sie den anderen, um ihre Angreiferin auf Distanz zu halten. Die frische Wunde protestierte dabei, aber darauf wollte sie keine Rücksicht nehmen.

»Hilf mir endlich mal!«, fauchte Charity genervt über die Schulter in Orabelas Richtung.

»Kannst du denn gar nichts?«, fragte diese seufzend. »Ich habe dir doch erklärt, wie du es tun sollst.«

Dennoch kam sie ebenfalls herüber. Sie setzte sich hinter Nerida und packte sie an den Schultern, um sie dann auf den Boden zu zwängen. Ihre Arme festhaltend beugte sie sich über Nerida. »Tss, selbst in dieser Situation kannst du noch den Mund nicht richtig aufbekommen, was?«

»Dann würde ich ihr eh nur die Zunge abschneiden«, sagte Charity lachend, während sie sich auf Neridas Beine setzte. »Sie weiß also schon, warum sie lieber die Klappe hält.«

Egal wie sehr sie sich bemühte, sie wurde derart stark von den beiden festgehalten, dass sie sich nicht befreien konnte. Jeder Druck von ihrer Seite, wurde mit wesentlich mehr von der anderen beantwortet. Orabelas eiserner Griff schmerzte fast mehr als die Wunde an ihrem Arm.

Charity beugte sich über sie, kam ihrem Gesicht, vor allem mit dem Messer, viel zu nahe. »Dann wollen wir mal …«

Ihre Stimme erstarb, Nerida erkannte Verwirrung in ihrem Gesicht, konnte sich den Grund aber nicht erklären. Orabela offenbar auch nicht: »Was ist jetzt schon wieder?«

»Ich hab ihr vorhin einen Kratzer verpasst.« Mit der Klinge deutete sie auf Neridas Wange. »Aber der ist jetzt weg.«

»Bist du sicher?«

»Ja, verdammt!« Dennoch griff Charity grob an ihr Gesicht und wischte das angetrocknete Blut fort. »Siehst du?! Die Wunde ist weg!«

Wie konnte sie das nur vergessen? Selbst als Halbdämonin übertrafen ihre Heilkräfte noch die eines normalen Menschen. Ein derart kleiner Kratzer musste also schnell wieder verschwunden sein.

»Das ist unmöglich«, bemerkte Orabela. »Vielleicht war sie einfach zu klein. Schau dir halt mal ihren Arm an, da siehst du bestimmt noch was.«

Noch einmal versuchte Nerida sich aus den Umklammerungen der beiden zu retten. Mit aller Macht stemmte sie sich gegen die fremden Körper, doch keine von ihnen ließ auch nur im Mindesten nach. Charity griff nach ihrem Arm – und riss die Augen auf. »Was ist das jetzt?!«

Bevor Orabela wieder nachhaken konnte, verdrehte Charity Neridas Arm derart, dass sie die Wunde sehen konnte – jene, die sich gerade vor ihren Augen wieder verschloss.

Mit einem erschrockenen Ausruf ließ Orabela sie los und fiel nach hinten. Charity hielt ihren Arm dagegen immer noch fest und starrte Nerida an. Plötzlich verengten sich ihre Augen wieder zu Schlitzen. »Du bist ein Freak. Und eine Hexe.«

Nerida schüttelte mit dem Kopf. »N-nein, bin ich nicht.«

Selbst jetzt war ihre Stimme schwach. Genau das schien auch Orabela wieder zu reizen, denn sie kehrte an ihren Platz zurück, um Neridas Arme festzuhalten. »Die Theorie müssen wir doch mal prüfen, oder? Du solltest ihr ein Auge rausschneiden, dann sehen wir ja, ob sie das auch heilen kann. Wie eine echte Hexe eben.«

Adrenalin schoss durch Neridas Körper und ließ sie erneut die Muskeln anspannen. »Lasst mich los!«

Sie wand sich unter Charity, um sich von dieser zu befreien, doch stattdessen wurde der Druck auf ihre Beine stärker. Es kam ihr vor als ob die bevorstehende Verstümmelung Charity ebenfalls mit Adrenalin erfüllte, das ihres überstieg.

»Anscheinend freut sie sich schon darauf«, bemerkte sie lachend. »Dann sollten wir sie nicht warten lassen.«

Sie beugte sich über Nerida, das Messer bereits erhoben. Licht reflektierte bedrohlich von der Klinge, doch sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Den Schmerz erwartend begann ihr Körper unkontrolliert zu zittern. Hitze erfüllte ihr Inneres und vertrieb die ihr so vertraute Kälte. Ihr leises Wimmern ging fast im viel zu schnellen Klopfen ihres Herzens unter. Das immer näher kommende Messer war nur noch wenige Zentimeter entfernt – da hörte sie plötzlich eine Stimme, die sich über alle anderen Geräuschen hinwegzusetzen schien: »Was soll das werden?«

Charity und Orabela setzten sich sofort wieder aufrecht hin und starrten dem Störenfried entgegen. Nerida ihrerseits wäre vor Erleichterung am liebsten in Tränen ausgebrochen, besonders als sie die Person erkannte.

Sabia stand in der Nähe der Tür und sah kühl auf sie alle herunter. Erst als ihr Blick auf Nerida zu liegen kam, wurde ihr Gesicht ein wenig weicher, was diese so weit beruhigte, dass ihre innere Hitze nachzulassen begann.

»Wir haben nur eine nette Unterredung mit unserer Freundin«, sagte Orabela und tätschelte Neridas Wange. »Ist das so verkehrt?«

»Sie sieht nicht so aus als wäre sie besonders glücklich.«

»Die Gute ist nur ein wenig nervös.«

Sabias Blick war eiskalt, als sie Orabela damit bedachte und sie sogar zum Verstummen brachte. Charity ließ sich davon aber nicht beeindrucken: »Sie ist ein Freak, du solltest sie nicht verteidigen. Ihre Wunden sind innerhalb von Sekunden verheilt!«

Mit einer kaum bemerkbaren Bewegung nahm Sabia das Messer an sich. Selbst Charity musterte verdutzt ihre leere Hand.

»Habt ihr damit ihre Verletzungen verursacht?«, fragte Sabia.

Die beiden nickten stumm.

»Ist euch dabei nicht aufgefallen, dass das Messer stumpf ist?«

Zum Glück war Nerida nicht die einzige, die von dieser Aussage verwirrt war. Sie erinnerte sich an den Schmerz, der durchaus echt gewesen war, genau wie ihre Verletzungen. Dennoch ließ sich Sabia nicht davon abhalten, ihre Behauptung zu beweisen, indem sie das Messer kurzentschlossen in ihren eigenen Unterarm stieß. Das Blut spritzte hervor, aber dennoch blieb sie bei ihren Worten: »Absolut stumpf, sage ich doch.«

Sie fuhr damit fort, sich mit der Klinge die Haut aufzuschlitzen. Nerida sog scharf die Luft ein. Der Anblick ließ sie immer wieder zusammenzucken. Wie konnte Sabia diesen Schmerz nur ertragen?

Charity und Orabela waren derweil wesentlich weniger beeinflusst von dem Spektakel. Dafür wirkten ihre Blicke … verträumt, fast schon abwesend.

»Oh«, sagte Charity. »Es ist wirklich stumpf. Ich dachte, es wäre scharf.«

»Richtig.« Endlich hörte Sabia auf damit, sich selbst zu verletzen. »Außerdem wird es Zeit für euch zu gehen. Ihr werdet woanders gebraucht. Und lasst Nerida zukünftig in Ruhe.«

Die beiden nickten. Sabia fuhr die Klinge wieder ein und reichte das blutige Messer an Charity zurück. Diese achtete nicht einmal auf die Flüssigkeit, sondern steckte es einfach ein. Ohne jedes Wort standen sie und Orabela dann auf und verließen die Toiletten.

Während Nerida sich aufrecht hinsetzte, flatterte ihr Herz immer noch mit einer Frequenz, die ungesund sein musste, solange man kein Kolibri war. Doch das ignorierte sie erst einmal, als Sabia sich neben sie kniete. »Alles in Ordnung?«

Statt zu antworten, griff Nerida sich den Arm der anderen, um sich die Wunden anzusehen. Sie fürchtete sich nicht vor Blut, ekelte sich auch nicht vor dem, was der menschliche Körper beherbergte, aber ihr Magen fühlte sich flau an, während sie das blutige Massaker aus Haut, Fleisch und Sehnen betrachtete. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass Sabia ihren Arm überhaupt noch bewegen konnte.

»Das ist nicht so schlimm wie es aussieht«, beruhigte diese sie sofort. »Das heilt schnell wieder.«

»Aber es sieht so brutal aus.« Neridas Sicht verschwamm ein wenig. »Warum hast du das getan?«

Sie spürte, wie die Panik abebbte und die Kälte wieder in ihr Inneres zurückkehrte. Das ließ sie endlich wieder einen klaren Gedanken fassen. Aber keiner von ihnen konnte ihr erklären, weswegen die andere so weit gegangen war.

Sabia legte ihre andere Hand unter Neridas Kinn und brachte sie dazu ihr ins Gesicht zu sehen. Ihr Ausdruck war von grimmiger Entschlossenheit. »Ich würde alles für dich tun. Alles, was nötig ist. Ich bin immer auf deiner Seite, egal was kommt.«

Wieder sog Nerida scharf die Luft ein, ihr Herz schlug schneller, diesmal aber vor freudiger Aufregung. Sabia lächelte ein wenig. »Präg dir das gut ein.«

»Aber warum?« Sie konnte nicht anders, sie musste es hinterfragen. »Warum tust du das?«

Während sie auf die Antwort wartete, spürte sie, wie die Wunden verheilten, die Haut an Sabias Arm sich wieder schloss als wäre nie etwas geschehen. Lediglich der zerfetzte Stoff ihres Oberteils und das zurückgebliebene Blut verrieten, dass überhaupt etwas passiert war.

Sabias Lächeln wurde noch eine Spur strahlender und traf damit direkt in Neridas Herz. »Weil wir Freunde sind, Nerida. Und diese passen aufeinander auf. Ab sofort werde ich dich in der Schule nicht mehr aus den Augen lassen. Das verspreche ich dir.«

Sie musste mehrmals tief durchatmen, um das ungewohnte Gefühl in ihrer Brust wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Meinst du das wirklich ernst?«

»Natürlich.« Sabia strich ihr durch das Haar und löste dabei einen der zerzausten Zöpfe. »Ich werde von jetzt an auf dich aufpassen, damit so etwas nicht noch einmal geschieht.«

»Aber was ist mit deinen anderen Freunden?«

Sie schüttelte mit dem Kopf und löste auch Neridas anderen Zopf. »Keiner von denen ist so wichtig wie du. Absolut keiner.«

Ihre Stimme klang derart aufrichtig, dass man ihr alles glauben musste. Deswegen konnte auch Nerida keinerlei Widerspruch einlegen. Während sie das noch verarbeitete, fuhr Sabia ihr nun mit beiden Händen durch die Haare, um sie einigermaßen zu bändigen.

»Ich verstehe das nicht«, gestand Nerida schließlich. »Aber ich bin wirklich froh darüber. Danke, Sabia.«

Möglicherweise tat sie das ohnehin nur weil sie beide Störbrecher waren. Aber das kümmerte Nerida nicht. Noch niemals waren ihr auch nur annähernd solche Worte gesagt worden, deswegen wollte sie diese nun wertschätzen und das auch zeigen.

»Dann sind wir ab sofort wirklich Freunde«, sagte Sabia zufrieden und umarmte Nerida dann.

Nach wenigen Sekunden löste sie sich aber auch schon wieder von ihr, um sie stattdessen noch einmal zu mustern. »Jetzt sollten wir dich aber wieder ansehnlich machen. Sonst gibt es da draußen nur viel zu neugierige Fragen. Leider wirken meine Illusionen nicht bei großen Massen.«

Auf diese Weise war es ihr also gelungen, Orabela und Charity zu täuschen. War es dennoch notwendig gewesen, sich derart zu verletzen, um etwas zu beweisen?

Nein, darüber wollte Nerida nicht nachdenken, nicht gerade jetzt.

Sie ließ sich von Sabia wieder nach oben helfen. Ihr Gegenüber lächelte sie freudig an. »Und sobald wir das erledigt haben, gehen wir zusammen essen. Du musst unbedingt wieder Farbe in deine Wangen bekommen – und es kann nicht schaden, wenn man uns zusammen sieht.«

Vielleicht würde sie dann als normal wahrgenommen werden, alles könnte besser werden. Und dass Sabia sich Sorgen um sie machte, aus welchem Grund auch immer, rührte ihr Herz nach wie vor. Deswegen gab sie keine Widerrede und stellte auch keine weiteren Fragen, sondern ließ Sabia an ihrem zerfetzten Ärmel herumnesteln, um den Schaden zu verstecken.

Nun waren sie nicht mehr nur Partnerinnen im Kampf, sondern auch Freundinnen – und dieser Gedanke erfüllte sie mit derart viel Glück, dass sie für den Moment sogar die ungewollte Tätowierung auf ihrem Rücken vergaß.
 

Kapitel 8: Wer genau ist denn nun diese Sabia?


 

Nach dem Ereignis auf der Schultoilette besserte sich Neridas Situation. Charity und Orabela ignorierten sie seitdem, auch die anderen Schüler schienen kein Interesse daran zu haben, sich mit ihr zu beschäftigen, wofür sie nur dankbar sein konnte. Bernice war immer noch nicht zurück, was ihr Sorgen bereiten sollte. Mit Sabia an ihrer Seite blieb Nerida aber auch nicht viel Zeit, über so etwas nachzudenken. Die letzten Tage hatten sie damit verbracht, ihre Fähigkeiten auf dieser fragwürdigen Ebene zu verbessern. Inzwischen hatte Nerida keinerlei Schwierigkeiten mehr damit, einen oder sogar mehrere Gegner in einem Kampf zu besiegen. Es laugte sie nicht mehr so sehr aus wie noch zuvor, als sie derart erschöpft gewesen war, dass sie nicht einmal zum Träumen gekommen war. Jedenfalls hatte sie sich, zu ihrer Erleichterung, nicht mehr in diesem Zimmer vorgefunden. Aber sie rechnete jede Nacht mit einem neuen Albtraum.

Sie war jedenfalls bereit für den richtigen Kampf – sie müsste nur noch einen Feind finden, der auch einen Splitter mit sich führte. Doch Sabia vertröstete sie auf einen späteren Zeitpunkt.

»Ein Mensch mit einer Störung wird sich noch früh genug zeigen«, sagte sie. »Da musst du dir keine Gedanken machen. Sie kommen immer irgendwann.«

Nach dem heutigen Training hatten sie sich ein kleines Café innerhalb des Einkaufszentrums gesucht, um dort etwas zu trinken und auch Kuchen zu essen. Außer ihnen waren nicht viele Personen anwesend, möglicherweise wegen der reichhaltigen Konkurrenz in diesem Gebäude, doch Nerida empfand es so auch als passender. Sie saßen sich auf bequemen Polstermöbeln gegenüber, die Marmorierung des Tisches schien im Flackern einer Kerze zu schwimmen. Die allgemeine Beleuchtung war gedämpft genug, dass man sich gänzlich allein fühlen konnte. Darien hätte diesen Ort sicher als romantisch bezeichnet.

Neridas bestellter Käsekuchen war hübsch angerichtet worden, mit einer spiralförmigen Zeichnung aus Erdbeersoße, die auch den Teller verzierte. Es kam ihr fast zu schade vor, dieses Kunstwerk zu essen, weswegen sie eine Weile untätig mit der Gabel in der Hand dasaß. Zumindest erinnerte sie ihr Kuchen nicht an ihren Albtraum. Um von ihrem Zögern abzulenken, stellte sie noch eine Frage: »Werden die Störungen denn enden, sobald wir alle Splitter haben?«

Sabia zeigte keinerlei Problem damit, ihr Tortenstück zu zerstören, indem sie zuerst die Erdbeere darauf entfernte und dann genüsslich auf dieser herumkaute. »Wir können das nicht wissen. Aber wir können auch nicht einfach nur zusehen, wenn die Leute durchdrehen, oder?«

Nein, das konnten sie nicht. Dennoch war Nerida ein wenig besorgt über den Ursprung der Splitter. Da Sabia diese nicht kannte, wäre es jedoch verschwendete Zeit, sie noch einmal danach zu fragen. Dafür müsste sie sich an jemand anderen wenden. Außerdem gab es immer noch etwas anderes, das ihr mehr auf der Seele lag: »Wusstest du eigentlich von diesem … Tattoo

Das verlegene Lächeln darauf war Antwort genug. Dennoch führte Sabia es noch aus: »Ehrlich gesagt habe ich dann gar nicht mehr daran gedacht. Immerhin gab es wichtigere Dinge als so ein kleines Bild.«

Nerida runzelte die Stirn. »Meines ist nicht sonderlich klein.«

»Oh. Also meines ist nur auf einem Schulterblatt.« Sabia nahm schnell ein großes Stück ihrer Torte in den Mund. »Hast du viele Gründe, es jemandem zu zeigen?«

»Das hat damit nichts zu tun.« Nach wie vor ging es ihr dabei nur um das Prinzip. »Ich wollte nur nie eines.«

»Wäre deine Entscheidung anders ausgefallen, wenn du es gewusst hättest?«

»Nein. Aber zumindest wäre ich davor zögerlicher gewesen.«

Sabia lächelte zufrieden. »Es tut mir leid. Aber ich wusste wirklich nicht, dass es bei dir derart groß werden würde. Ich bin jedenfalls froh, dass du bei mir bist.«

Vor Verlegenheit rutschte Nerida ein wenig tiefer auf ihrem Sitz. »I-ich bin auch froh.«

Mit Neugierde im Blick beugte Sabia sich etwas vor. »Was macht dich daran denn so verlegen?«

Um eine Antwort hinauszuzögern, nahm Nerida endlich einen Bissen ihres Käsekuchens. Fast hätte sie wohlig geseufzt, so gut schmeckte er. Es war genau die richtige Mischung aus Süße und Feuchte, die einem geradewegs auf der Zunge zerging.

Dummerweise blieb Sabia neugierig. Im Schein des Feuers sah es aus als leuchteten ihre Augen; ein hypnotisierender Anblick, der Neridas Widerstand brach: »Bislang hat noch nie jemand gesagt, dass er froh über mein Hiersein ist. Zumindest niemand, der nicht zu meiner Familie gehört.«

»Das ist schade«, sagte Sabia mit sanfter Stimme. »Aber nun bin ich ja hier. Ich übernehme das.«

Bei diesen Worten strahlte sie über das ganze Gesicht, so dass Nerida ihr das wirklich glaubte, genau wie zuvor, als sie von ihr gerettet worden war. Ihre Brust füllte sich mit angenehmer Wärme, die sie leise seufzen lassen wollte – aber davon kam sie schnell ab, als sie plötzlich eine bekannte Stimme hörte: »Neri?«

Erschrocken setzte sie sich sofort wieder aufrecht hin, dann blickte sie zur Seite. Dort entdeckte sie tatsächlich – zu ihrem Grauen – nicht nur Darien, sondern auch Amy, die an seinem Arm hing. Einer von ihnen wäre schon schlimm genug gewesen, aber sie zusammen … das glich einer mittelmäßigen Katastrophe. Natürlich mochte sie die beiden – Darien war immerhin ihr Bruder – aber sie hatte nicht mit Sabia gesehen werden wollen.

Sie musste gar nicht erst fragen, weswegen sie eigentlich hier waren; Amys schwarzes Haar hing ihr ausnahmsweise offen über die Schultern, noch dazu trug sie einen Rock und ein schickes Oberteil, statt der praktischen Kleidung, die sie sonst bevorzugte – und Darien trug seine Brille nicht. Die beiden mussten hier ein Date haben.

Sabias Blick wanderte zwischen ihnen hin und her, während das Schweigen einen kurzen Moment zu lange anhielt. Glücklicherweise brach ihr Bruder es plötzlich: »Was machst du denn hier, Nerdi-, äh, ich meine Nerida?«

Sie seufzte innerlich, war aber auch dankbar, dass er ihren Spitznamen im Endeffekt doch nicht ganz aussprach. Um diese Verbesserung nicht zu lange wirken zu lassen, deutete sie mit einer Handbewegung in Sabias Richtung. »Ich bin mit einer Freundin hier.«

Beide sahen sofort zu ihr. Sie erwiderte die neugierigen Blicke lächelnd. »Neri hat vergessen zu sagen, dass ich ihre beste Freundin bin.«

Zu ihrem Glück wunderte sich keiner von ihnen, seit wann sie Freunde hatte, jedenfalls nicht öffentlich. Amy schüttelte Sabias Hand und stellte sich dabei vor. »Ich bin Dariens Freundin. Freut mich sehr.«

»Wir gehen miteinander«, sagte er mit stolzgeschwellter Brust, nachdem er ihrem Beispiel gefolgt war, um es auch wirklich besonders deutlich zu machen. Noch immer konnte er nicht anders, als damit anzugeben.

Sabia ließ auch die erwünschte Reaktion hören: »Awww, das ist schön. Ihr gebt echt ein süßes Paar ab.«

Darien nickte zufrieden. Er hatte lange genug gebraucht, um an diese Beziehung zu kommen, es verwunderte Nerida daher überhaupt nicht, wie stolz er darauf war. Ein wenig beneidete sie ihn sogar darum; eine erfüllte Liebe musste immerhin ein wunderschönes Gefühl sein. Außerdem entsprach es der Wahrheit: sie gaben ein süßes Paar ab.

Es schien ihr, als wolle er noch etwas sagen, aber da hakte Amy sich bei ihm unter und schnitt ihm das Wort ab: »Wir lassen euch dann mal wieder allein. War nett, dich kennenzulernen, Sabia.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie Darien dann mit sich in die entgegengesetzte Richtung. Er warf noch einen letzten neugierigen Blick über die Schulter, dann war er schon um eine Ecke verschwunden. Heute Abend würde er sie garantiert ausfragen, aber der Gedanke störte sie gerade noch nicht. Sie müsste sich nur überlegen, was genau sie ihm erzählen sollte. Im Moment war sie Amy dankbar für diese Intervention.

»Dein Bruder wirkt nett«, kommentierte Sabia, während sie sich bereits wieder auf ihr Tortenstück, von dem nicht mehr viel übrig war, konzentrierte.

Dabei war Darien mehr als nur nett. Er war der Paradiesvogel der Familie, der Rebell, der sich gegen die ihn umgebenden Spießer auflehnte, um auch deren Alltag schöner zu gestalten. Ohne Darien wäre das Leben der Belfonds wirklich um einiges eintöniger; sie wollte nicht auf ihn verzichten, egal wie fremd sie sich ihm manchmal fühlte. Das alles sprach sie jedoch nicht aus, Sabia hätte es vermutlich nicht einmal verstanden; manchmal verstand Nerida es ja selbst nicht.

»Er ist auch nett«, sagte sie stattdessen und widmete sich auch wieder ihrem Käsekuchen.

»Warum hast du ihn nicht gefragt, ob er sich setzen will?«

»Ich wollte das Date der beiden nicht stören.« Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Im Grunde war Nerida besorgt, dass Sabia ihn am Ende sympathisch genug finden könnte, um sie selbst in den Hintergrund rücken zu lassen, dass sie am Ende nur noch Mittel zum Zweck wäre, auf der aussichtslosen Mission, Dariens Zuneigung zu gewinnen.

Es gab keinerlei Präzedenzfall dafür, dass jemand Darien ihr vorzog – schon allein, weil sie abgesehen von einigen Ausnahmen, keinen Freundeskreis miteinander teilten –, aber die Furcht war dennoch real und schnürte ihr die Luft zum Atmen ab. Darien war derart lebens- und farbenfroh, dass sie daneben wie ein eintöniges, hässliches Entlein, das niemals zu einem Schwan werden würde, wirken musste. Ein typisches Mauerblümchen eben, das sogar dafür gemobbt wurde, nie etwas zu sagen. Das alles jedoch zu erzählen kam ihr eigenartig vor und würde sie noch verletzlicher machen als sie ohnehin schon war, deswegen behielt sie es lieber für sich, eingeschlossen in ihren Gedanken, wie es auch sein sollte.

Sabia beließ es auch dabei, statt weiter nachzuhaken und widmete sich dafür den Resten ihrer Torte.

Das im Anschluss entstehende Gespräch drehte sich dann wieder nur um die Schule, so dass Nerida die Furcht vor dem Verlassen werden erst einmal wieder weit von sich schieben und sich einem ihrer Lieblingsthemen widmen konnte: dem Lernen.

 

Wie Nerida es sich bereits gedacht hatte, ließ Darien seine Neugier nicht los. So kam er nach dem Abendessen, als sie an ihren Hausaufgaben saß, ohne zu klopfen, in ihr Zimmer geplatzt.

»Also, Schwesterherz.« Er warf sich auf ihr Bett und zerwühlte damit Decke und Laken. »Wer genau ist denn nun Sabia?«

Sie betrachtete ihn aus dem Augenwinkel, wie er, den Oberkörper auf einen Ellenbogen gestützt, zu ihr sah, die Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen. Er war derart selbstbewusst, dass sogar sie sich in diesem Moment wunderte, ob sie wirklich miteinander verwandt waren.

Vor ihm tat sie aber so, als konzentriere sie sich weiter auf ihre Aufgaben, während sie ihm antwortete: »Das sagte ich doch schon: sie ist eine Freundin.«

»Deine beste Freundin«, korrigierte er. »Oder doch mehr?«

Sie stöhnte innerlich. Wie kam er nur auf diese Idee?

»Ich kenne sie erst seit kurzem«, führte sie ihre erste Antwort aus, damit er von seinem Gedanken abkam. »Wir sind uns in der Schule begegnet.«

Seine Stirn legte sich in Falten. »Ich kann mich nicht an sie erinnern. Aber ich kannte ja auch nicht jeden dort.« Sein Gesicht hellte sich wieder auf. »Ist doch cool, dass du da jetzt eine Freundin hast.«

»Ich bin auch froh.« Selbst wenn das damit einherging, dass sie kämpfen gehen musste und es niemandem sagen konnte.

»Wissen Mum und Dad schon von ihr?«

Sie kritzelte ein paar grobe Zeichnungen an den Rand ihres Blattes, damit die Illusion entstand, sie arbeite wirklich, und sie sich mit der Antwort Zeit lassen konnte. »Nein. Ich habe bislang niemandem von ihr erzählt.«

»Warum denn nicht?«

Weil ich sie nicht teilen will, nicht einmal mit meiner Familie.

»Aus keinem besonderen Grund. Es kam einfach noch nicht zur Sprache.« So beschäftigt wie die beiden stets waren dürfte das als gute Ausrede dienen. »Außerdem gibt es wichtigere Themen. Leute in meinem Alter finden andauernd Freunde.«

Ruckartig setzte Darien sich aufrecht hin und beugte sich vor, um sie streng über die Ränder seiner Brillengläser anzusehen. Dieser Blick erinnerte sie an den ihres Vaters und auch ihres Großvaters, weswegen sie nun endlich von ihren Aufgaben abließ. Ein Schmunzeln umspielte sein Gesicht, ganz anders als bei den anderen beiden, wenn sie einen derart ansahen. Wusste er, wie ähnlich er einem von ihnen sein konnte?

»Du bist aber nicht die Leute, Neri«, tadelte er. »Mum und Dad würden sich bestimmt freuen, wenn sie wüssten, dass du jetzt jemanden kennst.«

»Wenn du es für so wichtig für die beiden hältst« – obwohl er sonst so ziemlich alles tat, um einen der beiden zu verärgern – »werde ich es ihnen morgen sagen.«

Irgendwann müssten sie es ohnehin erfahren, es war schließlich nicht sehr logisch, Geheimnisse vor den eigenen Eltern zu haben, schon gar nicht für Nerida.

»Warum nicht jetzt?«

Sie runzelte die Stirn. Ihr war unklar, weswegen er so sehr darauf bestand. Sein Blick blieb vollkommen unschuldig. Ein wenig zu unschuldig.

»Was willst du von den beiden haben?«, hakte sie nach.

Seine Gesichtszüge entglitten ihm sofort. Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und sah schuldbewusst nach unten. »Na ja, ich wollte fragen, ob ich bei Amy übernachten kann. Und du weißt ja, wie Dad da ist. Der denkt wahrscheinlich, dass wir wer-weiß-was machen.«

Er rollte mit den Augen.

Die Beziehung zwischen Amy und Darien war anfangs von ihren Vätern nicht akzeptiert worden. Während es bei Cathan wohl eher der Tatsache anzulasten war, dass er seine kleine Prinzessin nicht verlieren wollte, war es bei Vane die Furcht vor einer jungen Schwangerschaft mit dem durch Komplikationen verursachten viel zu frühen Tod Amys. Inzwischen sah Cathan es etwas gelassener, weswegen er eine solche Übernachtung wohl auch erlaubte, aber für Vane musste es immer noch wie der Anfang von Sodom und Gomorrha anmuten. Sie schmunzelte innerlich über sich selbst, schließlich war sie nicht einmal sicher, ob ihr Vater wüsste, was das ist.

»Du willst sie also erst gnädig stimmen, damit Papa dich gehen lässt?«, hakte sie nach.

Darien, nun wieder etwas enthusiastischer, nickte. »Genau. Wenn er sich für dich freut, wird er vielleicht weniger misstrauisch sein und es mir erlauben.«

Genau genommen gab es wirklich nichts, was dagegen sprach, es ihnen zu erzählen. Sicher würden sie sich freuen. Und niemand würde ihr die Freundin wegnehmen. Erst recht nicht Darien, der ohnehin nur auf Amy fixiert war.

»In Ordnung, ich werde es ihnen sagen.« Sie machte eine Pause, als Darien vor Freude juchzte. »Aber wirklich erst morgen. Heute will ich mich noch auf meine Aufgaben konzentrieren.«

Sie tippte mit dem Finger auf ihr Heft, um diesen Punkt zu unterstreichen. Da ihre Eltern dann sicher mehr wissen wollen würden, käme sie wohl kaum noch dazu, den Rest zu erledigen, wenn sie es erst einmal erzählt hätte.

Dieses Argument, so trivial es ihm auch erscheinen mochte, leuchtete ihm aber offenbar ein, denn er nickte sofort. »Klar, kein Thema. Danke, Neri.«

Ehe sie es verhindern konnte, war Darien bereits wieder aufgestanden und hatte sie umarmt. Eine Geste, die sie nur ein wenig ungelenk erwidern konnte. »Uhm, keine Ursache. Aber sei nicht sauer, wenn dein Plan nicht aufgeht.«

Möglicherweise war Vanes Sorge immerhin größer als seine Freude. Doch Darien ließ sich davon nicht entmutigen. Stattdessen löste er sich von ihr, lächelte sie an und tätschelte ihren Kopf. »Da mache ich mir keine Gedanken.«

Schön, dass er so positiv sein konnte. Warum konnte sie davon nicht auch etwas haben?

Sie stutzte, als er seine Hände plötzlich auf ihre Schultern legte.

»Ich freue mich aber wirklich für dich«, fuhr er fort. »Es ist toll, dass du endlich eine beste Freundin hast. Du wirkst seit ein paar Tagen auch schon viel glücklicher.«

Unwillkürlich fasste sie sich an die Wange, als könnte sie es dort spüren. »Wirklich?«

»Mh-hm. Du hast immer voll nervös gewirkt, bevor du in die Schule bist, aber jetzt bist du eigentlich immer ziemlich gut gelaunt. Das ist gut.«

Hatte er sie so genau beobachtet, ohne dass es ihr aufgefallen war? Konnte sie doch nicht so gut schauspielern, wie sie dachte? Nein, sie sollte sich lieber freuen, dass er überhaupt auf sie geachtet hatte, da war kein Platz für ihre eigene Zurechtweisung.

»Danke, Darien.«

»Heh.« Grinsend kniff er ihr in die Wange. »Irgendwie bleibst du dennoch seltsam, Nerdia

Sie gab eine kaum verständliche Beschwerde von sich, woraufhin er lachte. »Ich hab dich trotzdem lieb, Schwesterchen.«

Danach ließ er sie wieder los und nickte ihr zu. »Okay, dann mach dich mal wieder an deine Aufgaben. Und bleib so wie du bist.«

»Ja ja«, murmelte sie, während sie sich die schmerzende Wange rieb.

Dennoch freute sie sich über das zufriedene Lächeln, das Darien ihr noch einmal schenkte, ehe er ihr Zimmer wieder verließ. Seine Worte dagegen blieben mit ihr im Raum und auch in ihrem Kopf.

Ich bin also gut gelaunt … das alles nur dank Sabia.

Der Gedanke an ihre Freundin ließ sie wieder lächeln. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie davon überzeugt, dass auch für sie alles gut werden könnte, egal was andere – besonders die drei Albträume – sagen mochten.
 

Kapitel 9: Das hier ist unser Reich, nicht deines


 

Die Gelegenheit, diesen drei Wesen ihre Meinung zu sagen, erhielt Nerida noch in derselben Nacht. Als sie ihre Augen öffnete, befand sie sich wieder in diesem kleinen Raum, gemeinsam mit den Albträumen, die sich gerade eifrig miteinander unterhielten und sie dabei wieder einmal vollkommen ignorierten.

»Wer ist diese Sabia überhaupt?« Näherin schnaubte, ihre Zähne knirschten, während sie den aktuellen Kuchen dazwischen mahlte. »Was bildet sie sich ein, der kleinen Verräterin Hoffnung zu schenken?«

Die anderen beiden Gestalten schüttelten leise murmelnd die Köpfe. Sie wirkten derart empört, dass ein unbedarfter Beobachter von einer schweren Enttäuschung ausgegangen wäre, nicht von neuer Hoffnung für eine Person. Möglicherweise fühlten sich die Personen, die Nerida in der Schule schlecht behandelten, auch derart fassungslos über ihre neu gewonnene Lebensfreude. Allein der Gedanke ließ sie unwillkürlich lächeln. Am Ende hatte sie eben gesiegt, genau wie es sein musste. Sabia hatte recht, sie beide waren besonders und deswegen konnten sie nur erfolgreich sein.

Hatte sie das jemals gesagt? Nerida war sich nicht sicher, aber sie wusste auch nicht, woher dieser Gedanke sonst stammen könnte, also nahm sie an, dass sie es gesagt haben musste. Jede andere Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen, hätte bedeutet, alles in ihrem Leben zu hinterfragen.

Nerida saß am Tisch, die Hände in ihrem Schoß gefaltet, während sie mit einer geradezu diebischen Freude die seltene Ratlosigkeit ihrer Gastgeber betrachtete. Diese beachteten sie nach wie vor nicht, sondern klagten weiter über Sabias Einfluss als könnten sie damit etwas ändern.

»Ich bin sicher, ihr ist nicht zu trauen«, entschied Glas. »Wer auch immer sie ist, und welche Pläne sie auch verfolgt, sie ist mir nicht geheuer.«

Die beiden anderen nickten.

Natürlich, dachte Nerida. Albträume können nur das Schlimmste von Menschen annehmen, etwas anderes kennen sie ja auch nicht.

»So muss es sein«, bestätigte Mumie. »Wer sonst sollte sich mit ihr abgeben?«

Neridas Lächeln wurde noch eine Spur herzlicher, gleichzeitig zog sie eine Augenbraue nach oben. »Ihr macht das doch ständig, wenn ich euch darauf hinweisen darf.«

Die Ignoranz ihr gegenüber schwand sofort. Alle drei richteten ihre Blicke auf sie und schienen sie damit zu erdolchen. Wie glühende Pfeile schlugen sie in ihre Haut ein und verbreiteten eine unangenehme Hitze. Neridas neu gefundene Selbstsicherheit verkroch sich in Anbetracht dessen lieber an einen sicheren Platz in ihrem Inneren. Hätte sie nur nichts gesagt.

Näherin schnaubte. »Weist du uns etwa zurecht?«

»Ich wollte es nur erwähnen.« Ihre Stimme klang nun wesentlich leiser als eben. Sie starrte auf den Tisch, der gerade frei von jeglichen Insekten war. Als hätten sie sich aus Furcht vor dem Kommendem in Sicherheit gebracht.

»Wir«, sagte Glas spitz, »brauchen bestimmt keine Verbesserung von der Tochter eines Verräters. Stattdessen weisen wir dich darauf hin, dass wir nur unsere kostbare Zeit mit dir verbringen, weil wir an dich gebunden sind.«

Nerida sagte darauf nichts, das nahm ihr Näherin auch ab: »Seht sie an. Ihren bemitleidenswerten Gesichtsausdruck. Sie hat keine Ahnung, wovon wir eigentlich sprechen.«

Warum hatte sie auch nie danach gefragt? War sie wirklich davon ausgegangen, dass die drei immer freiwillig zu ihr kamen, obwohl sie das nicht wollten?

»Sie ist eben dumm.« Glas wackelte mit dem Kopf als wäre er nicht durch den Hals mit ihrem Rumpf verbunden. »Muss sie ja sein, schließlich ist sie das Kind von Hiwa – und es muss ja auch einen Grund geben, aus dem er sich mit einer Dämonin einließ.«

Mumie kicherte. »Du meinst, er sei nur dumm

Glas nickte. Ihr wackelnder Kopf bewegte sich weiter vor und zurück, selbst als sie antwortete: »Richtig. Vielleicht ist das ja, was mit den Geißeln unter den Menschen passiert, sie werden einfach dumm. Deswegen lassen wir uns nicht mit dem Gesocks ein.«

Die anderen beiden gackerten begeistert. Dieses geradezu klirrende Gelächter lockte Neridas Selbstsicherheit wieder hervor. Wie ein Schild baute es sich vor ihr auf und verlieh ihr die Kraft für ihren nächsten Schritt: Ruckartig erhob sie sich von ihrem Stuhl. Dabei stieß sie gegen den Tisch, worauf ihre Tasse umfiel und ihren Inhalt über das fleckige Tuch ergoss. Schlagartig verstummten die drei Albträume. Ihre Blicke brannten wie glühende Kohlen, die gegen ihre Haut gepresst wurden. Aber sie und die Kälte in ihrem Inneren waren stärker.

»Mein Vater ist nicht dumm!« Kalter Zorn loderte in Neridas Inneren. »Er ist wesentlich schlauer als ihr, deswegen tut er jetzt alles, damit alle in Frieden leben können!«

Sogar Albträume und Dämonen. Ihr Vater glaubte, dass es so viele gute Seelen unter ihnen gab, dass er es ablehnte, sie allesamt zu bekämpfen. Lieber wollte er ihnen helfen, ein gutes Leben in dieser Welt zu führen. Diese drei wüssten es, wenn sie nur halb so viel zuhörten wie sie stets vorgaben.

Sie schwiegen derweil, ihre Blicke brannten unablässig. Reif bildete sich auf den Wänden, formte innerhalb kürzester Zeit kunstvolle ineinander verflochtene Ranken für die sie gerade kaum Aufmerksamkeit erübrigen konnte. »Ihr dagegen sitzt nur hier und ertrinkt geradezu in eurem Hass!«

Sie wollten nichts ändern, sie genossen es, sich elend zu fühlen und gleichzeitig die Kontrolle über Nerida zu behalten. Dafür existierten sie. Aber das würde sie nicht mehr mitmachen.

Die Blicke der drei verloren an Intensität. Flocken fielen sacht zur Erde, erfüllten den Raum erstmals mit einer angenehmen Atmosphäre, in der sogar Nerida sich wohlfühlte.

»Und dann versucht ihr auch noch andere auf eure Ebene hinunterzuziehen! Wie könnt ihr euch da so sehr als etwas Besseres fühlen?!«

Die Selbstsicherheit verlieh Nerida geradewegs Flügel, sie glaubte, alles schaffen zu können. Sie genoss den Anblick der drei Albträume, die bislang Angst und Schrecken in ihr ausgelöst hatten und nun plötzlich nur noch kümmerliche Gestalten schienen. Stolz reckte sie ihr Kinn – da erklang ein Klirren, das die gesamte kleine Welt erzittern ließ, und im nächsten Moment zogen glühend heiße Schmerzen durch Neridas Brust und rissen sie zu Boden. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen, sie schnappte nach Sauerstoff. Das Lachen der Albträume schrillte in ihren Ohren, ließ ein dumpfes Pochen in ihrem Kopf entstehen. Ihre zitternde Hand ertastete einen Eiszapfen, der sich in ihre Brust gebohrt hatte. Ein Gegenstand, geformt aus dem einzigen Element, das bislang immer an ihrer Seite gewesen war und sie nun offenbar verraten hatte; diese Erkenntnis schmerzte mehr als die Verletzung, die ohnehin – hoffentlich – nur in ihrem Geist existierte.

Glas beugte sich über sie, ihre Mundwinkel waren in morbider Freude angehoben. »Oh, hast du wirklich geglaubt, dass du so einfach Macht über uns bekommen kannst?«

Einen Moment schwieg sie, als wartete sie wirklich auf eine Antwort, doch noch ehe eine solch folgen konnte, fuhr sie bereits fort: »Da hast du dich aber geschnitten. Wir werden dich vernichten, Verrätertochter. Wir werden am Ende siegreich sein. Denn im Gegensatz zu dir sind wir reine Wesen und das hier ist unser Reich, nicht deines.«

Die anderen beiden gackerten zustimmend. Nerida glaubte, Zähne klappern zu hören. So laut wie ihr das Geräusch schien, konnte es gut sie selbst sein, die es erzeugte.

»Wir werden dich überdauern«, fuhr Glas unbarmherzig fort, »und dann wirst du dir wünschen, dich uns niemals widersetzt zu haben.«

Das tat sie bereits in diesem Moment. Und auch noch eine Sekunde später, als sie ihre Augen in der Realität aufschlug und an die dunkle Decke starrte. Diesmal fand ihre Hand kein Projektil in ihrer Brust, doch das änderte nichts daran, dass sich dahinter ein brennender Schmerz festgesetzt hatte, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Aber das durfte sie nicht aufhalten. Niemals.

Sie ballte die Hand zur Faust, atmete mehrmals tief durch, um ihr wild klopfendes Herz wieder zu beruhigen. Es dauerte viel zu lange für ihren Geschmack, aber es gelang ihr dennoch.

»Ich werde trotzdem nicht aufgeben«, flüsterte sie. »Ich werde euch zeigen, dass ich es schaffen kann. Ich werde euch zeigen, dass ihr euch irrt.«
 

Kapitel 10: Du hast dich gut geschlagen


 

»Deine Eltern wollen mich also kennenlernen?« Sabia neigte den Kopf ein wenig, sie wirkte nachdenklich. »Du hast es wirklich nicht so mit Freunden, hm?«

Nerida gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Wie versprochen hatte sie ihren Eltern von Sabia erzählt, worauf diese sich darin einig gewesen waren, ihre Freundin treffen zu wollen. Diese Art übereifrige Eltern kannte Nerida normalerweise nur aus Büchern, aber nun war sie betroffen und sie verstand endlich, weshalb es den Kindern so unangenehm sein konnte.

Warum sie es Sabia ausgerechnet erzählt hatte, während sie sich auf dem Weg zum Einkaufszentrum befanden, wusste sie auch nicht. Das, was sie dort erwarten würde, machte sie wohl derart nervös, dass sie sich hatte ablenken wollen – es funktionierte allerdings nicht sehr gut, in ihrem Inneren fühlte sie immer noch eine unangenehme Leere, die sich auszubreiten schien.

Das endete allerdings sofort, als Sabia ihr endlich eine Antwort gab: »Ich komme gern.«

Die Erleichterung vertrieb die Leere augenblicklich. Doch dann kam eine andere Sorge in ihr auf, die von ihren Eltern in ihrer Begeisterung vermutlich nicht bedacht worden war: »Ich muss dir dazu noch sagen, dass wir in einer ungewöhnlichen … Gegend wohnen.«

Keiner von ihnen hatte bislang Freunde mit nach Hause gebracht, die nicht bereits von Traumbrechern und Athamos wussten. Spätestens wenn man die Eingangstüren hinter sich ließ, erkannte man, dass das Gebäude etwas Besonderes war; da wollte Nerida sie lieber vorwarnen. Sabia vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon okay. Noch ungewöhnlicher als das, was wir hier tun, kann es ja kaum sein.«

In ihrer Stimme lag ein Unterton, der verriet, dass sie nicht weiter darüber reden wollte. Dann müsste Nerida sie eben aufklären, sobald sie dort waren. Sobald sie in der Eingangshalle standen, kamen bestimmt Fragen auf.

An diesem Nachmittag kamen sie aber zuerst am Einkaufszentrum an. Statt den verlassenen Gang anzustreben, in dem sich der Zugang zur Welt der Störungen befand, ließ Sabia aufmerksam ihren Blick durch das Atrium schweifen. Die verschiedenen Ebenen des Gebäudes waren so aufgebaut, dass die Mitte des Erdgeschosses freilag. Dort war eine Naturanlage errichtet worden; kunstvoll gestutzte junge Bäume und Büsche wurzelten in einer flüssigen Nährlösung, die durch LED-Lichter in unterschiedlichen Farben beleuchtet wurde. Darum herum waren Bänke aufgebaut, die den einkaufenden Besuchern etwas Ruhe gönnen sollten. Von oben fiel zwar natürliches Sonnenlicht durch eine gläserne Kuppel, es wurde jedoch von all der künstlichen Beleuchtung verdrängt, so dass es vollkommen unerheblich geworden war. Nerida mochte diesen Ort nicht, aber sie stellte ihn sich schön vor, wenn man nachts dort war und keine anderen Lichter mehr brannten.

Andererseits wäre es sicher auch unheimlich.

Und das vermied sie dann lieber.

Gemeinsam mit Sabia saß sie auf einer der Bänke und beobachtete die anderen Menschen. Sie spürte das charakteristische Prickeln auf ihrem Rücken, also musste wirklich eine Störung in der Nähe sein, aber bislang war es ihr nicht gelungen, herauszufinden, wer von all diesen Leute sie verursachte. Es wurde nicht stärker, aber auch nicht schwächer, und sah dadurch wie eine Zeitverschwendung aus.

»Normalerweise«, erklärte Sabia, »ist es fruchtlos, auf diese Art und Weise eine Störung zu suchen, aber bei unseren letzten Besuchen habe ich sie bereits gespürt.«

An diesem Tag sollte Nerida erstmals die Störung einer Person beseitigen, was sie weiterhin nervös machte. Was, wenn sie einen Fehler beging? Oder sie nicht gegen den Feind ankam, weil er stärker war als die herumwandernden Wesen auf der anderen Ebene? Am liebsten hätte sie mit jemandem darüber gesprochen, der bereits solche Fragen mit sich ausgemacht hatte, aber das war ihr nicht möglich, ohne anderen zu verraten, was sie tat – und das ging auf keinen Fall, sonst erfuhr am Ende ihr Vater etwas davon. Seine Enttäuschung wollte sie sich gar nicht ausmalen, so sehr wie er sich dafür einsetzte, dass Konflikte mit anderen Wesen auch gewaltlos beigelegt werden könnten. Sabia konnte sie deswegen auch nicht fragen, denn diese schien sich mit so etwas gar nicht auseinanderzusetzen, genau wie Darien vermutlich. Also blieb sie damit vollkommen allein.

Sie wurde aus diesen Gedanken gerissen, als Sabia ihr vorsichtig gegen die Stirn tippte.

»Manchmal«, sagte sie leichthin, lächelnd, »runzelst du die Stirn, als ob du alle Sorgen der Welt auf deinen Schultern trägst.«

Nerida blinzelte und versuchte, ihre Stirn wieder zu glätten. »Das ist übertrieben.«

»Finde ich auch«, stimmte Sabia zu, schien aber etwas anderes zu meinen, wie Nerida schnell klar wurde, als sie fortfuhr: »Du hast die Möglichkeit, in einer so friedlichen Zeit zu leben, in Freiheit, du solltest das genießen, statt dir immer Sorgen zu machen.«

Während sie das sagte, wanderte ihr Blick über all die Leute, die ihren eigenen Existenzen nachgingen. Man mochte es ihnen nicht ansehen, weil die meisten von ihnen gerade müde wirkten, aber Nerida glaubte, dass sie zufrieden waren. Das war nicht dasselbe wie glücklich, aber es war besser als unglücklich.

Mehr Gedanken machte sie sich aber über den Ton in Sabias Stimme. Es klang, als spräche sie aus Erfahrung und hätte selbst einmal erlebt, wie es war, in einem Kriegsgebiet zu leben. Dabei wurde ihr bewusst, wie wenig sie eigentlich über Sabia wusste. Hatte sie schon immer hier gewohnt? Was war mit ihrer Familie über die sie nie sprach? Und wie war sie zur Störbrecherin geworden?

Es erschien ihr angebracht, Sabia einmal danach zu fragen, aber vielleicht nicht gerade in diesem Moment, da sie schließlich nach einer neuen Störung suchten, die sie beheben könnten. Auf dieses Thema sollte Nerida die Unterhaltung auch wieder lenken, bevor sie zu sehr abdrifteten, selbst wenn dadurch die Nervosität wieder in ihr entflammte: »Du sagtest vorhin, du hättest es schon die letzten Male gespürt. Vielleicht ist es dann ja kein Besucher, sondern ein Angestellter.«

»Oh.« Sabia fuhr sich mit einer Hand über die Wange. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Gut, dass du das übernimmst.«

Es war eigenartig, für ihre Gedanken gelobt zu werden, vor allem wenn sie nur derart offensichtlichen Wegen folgten. Aber möglicherweise wanderten die von Sabia in gänzlich anderen Sphären, weswegen sie dieses Offensichtliche nicht sehen konnte. Wo genau befanden sie sich wohl in diesem Moment? Irgendwann müsste Nerida versuchen, auch das zu lernen.

Sabia erhob sich abrupt. »Gut, finden wir mal heraus, wo die Person arbeitet. Wenn wir das erledigt haben, können wir dann auch noch was essen gehen.«

Nerida wäre gern ebenso zuversichtlich gewesen, stattdessen war sie immer noch besorgt. Doch dafür war nun keine Zeit. Sie schloss sich ihrer Freundin direkt an, als diese loslief, an den einzelnen Läden – hauptsächlich Bekleidungsgeschäfte oder kleinere Restaurants – vorbei. In der unteren Etage änderte sich nichts an dem Prickeln, hier war wohl niemand die gesuchte Person, weswegen sie in den ersten Stock hinauf gingen. Dort – zwischen Multimedia-Läden, Friseuren und Reisebüros – wurde es ein wenig intensiver, erreichte jedoch immer noch nicht den Grad, der mit Störungen normalerweise einherging.

»Sabia«, begann Nerida vorsichtig, nachdem sie eine Weile schweigend umher gelaufen waren, »glaubst du, ich kann das wirklich schaffen?«

Ihre Freundin wandte sich ihr zu, mit einem zuversichtlichen Lächeln im Gesicht. »Warum zweifelst du immer so sehr an dir? Du hast dich in den Tests gut geschlagen, also sollte es keine Probleme dabei geben, wenn du dich einer richtigen Störung entgegenstellst.«

Woher nahm Sabia nur diese Zuversicht, besonders wenn sie selbst diese nicht empfand?

Sie kam nicht dazu, sie das selbst zu fragen, denn plötzlich wurde das Prickeln derart intensiv, dass Nerida unwillkürlich ihren Arm verdrehte, um sich selbst an den Rücken zu greifen. In dem Moment blieb Sabia stehen und musterte das Geschäft vor dem sie gelandet waren. Es war ein Buchladen, der sich auf wissenschaftliche Literatur spezialisiert hatte, wie es aussah. Da er mit Ausnahme eines Verkäufers jedoch vollkommen leer war, sah es nicht nach einer sehr ertragreichen Idee aus. Hinter dem Tresen saß ein Mann mittleren Alters, unablässig auf einen Monitor starrend, während er sich hin und wieder an seinem stoppeligen Kinn kratzte.

»Das muss er sein«, sagte Sabia. »Bei einem so erfolglosen Geschäft muss man wohl durchdrehen.«

Dutzende von Leuten liefen an den offenen Türen vorbei, aber niemand beachtete den Laden.

Natürlich, fuhr es Nerida durch den Kopf. Die Leute wollen sorglos einkaufen und sich nicht um die Wissenschaft kümmern.

Ganz davon abgesehen wie teuer einige der Exemplare waren, die im Schaufenster ausgestellt wurden. Wie konnte jemand auch nur denken, das sei eine gute Idee? Nerida empfand durchaus Neugierde, was einzelne Themen anging, aber leisten konnte sie sich kein einziges dieser Bücher – und außerdem hätte Darien schon ihr Interesse daran als Faktor gewertet, dass dieses Geschäft zum Scheitern verurteilt war.

»Sollen wir uns darum kümmern?«

»W-während der Laden offen ist?«

Sabia sah Nerida lächelnd an. »Es wird niemand bemerken, vertrau mir. Also?«

Sie ging bereits einen Schritt auf die Tür zu, da wurde sie noch einmal von Nerida aufgehalten: »Was soll ich tun, um die Störung hervorzurufen?«

»Keine Sorge.« Sabia warf einen Blick über ihre Schulter. »Darum kümmere ich mich schon.«

Ohne jedes weitere Wort zuzulassen schritt Sabia voran in den Laden, Nerida folgte ihr schnell, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beachtete.

Der Mann löste sich von dem Bildschirm und sah sie entgeistert an. Sicher konnte er nicht nur nicht fassen, dass er Kunden haben sollte, sondern dass es sich dabei um zwei so junge Mädchen handelte. Nerida sah verlegen von einem Regal zum anderen und entdeckte dabei weitere Bücher, die ihr gefallen könnten, wenn sie nicht derart teuer wären; sie müsste in der Bibliothek nach ihnen Ausschau halten.

»Wie kann ich euch helfen?«, fragte er freundlich, wenngleich die Überraschung immer noch deutlich in seiner Stimme mitschwang.

»Wir sind wegen einer dringenden Angelegenheit hier«, erklärte Sabia. »Ich möchte Sie deswegen um Ihre Kooperation bitten.«

Er runzelte die Stirn, genau wie Nerida.

»Was soll das denn heißen?«, hakte er nach.

In einer lautlosen Lichtexplosion nahm Sabia ihr Aussehen als Störbrecherin an und hielt dem Mann dann die Pistole entgegen. »Das dauert nur eine Sekunde.«

Seine Augen weiteten sich, er wich zurück, hob die Arme und wollte scheinbar noch etwas sagen, genau wie Nerida – doch da gab Sabia bereits einen Schuss ab. Die helle Energiekugel fegte durch seinen Kopf, gleichzeitig verlor die Welt ihre Konturen und verschwamm vor Neridas Augen.

Plötzlich gab es kein Oben oder Unten mehr, keinen festen Punkt, den sie fixieren konnte. Es war vollkommen anders als der Übergang in Bernices Störung und es erfüllte sie mit einer Furcht, die so riesig wurde, dass sie Nerida zu übernehmen, zu ersticken drohte. Sie glaubte, dass sie fiel, in alle Richtungen gleichzeitig, so dass ihr Körper auf unnatürliche Weise gestreckt wurde. Vielleicht hatte Sabia einen Fehler gemacht, und sie würde nun dafür hier sterben. Oder – noch schlimmer – für immer in dieser Ebene existieren müssen.

Gerade, als sie befürchtete, niemals wieder in irgendeine Realität zurückzukehren, formten die ineinander überfließenden Farben eine neue Welt, die feste Punkte bot, an denen sie sich orientieren konnte. Riesige Bücherregale verloren sich in der Unendlichkeit, in der es keinerlei Boden zu geben schien, im Hintergrund, vor wellenschlagenden Aquarellfarben, schwebten offene Bücher umher als wären sie Mauersegler.

Nerida selbst stand nun auf Papier, das sich um die Regale wand und damit einen Weg durch diese Welt bildete; ein genauerer Blick offenbarte Nerida, dass es sich um eine Rechnung handelte, deren Betrag allerdings nur aus unsinnigen Zeichen bestand.

Als sie sich umsah, entdeckte sie dann auch ihre Freundin, die immer noch neben ihr stand, als wäre sie nie fort gewesen. Sabia hatte eine Hand in ihre Hüfte gestemmt und sah in die Ferne. Mit ihrer anderen Hand wirbelte sie die Feuerwaffe immer wieder in die Luft, um sie dann aufzufangen. Ihr Gesicht verriet keinerlei Reue, sondern eher ungebrochenen Stolz.

»War das wirklich der richtige Weg?«, fragte Nerida. »Hätten wir die Störung nicht anders hervorrufen können?«

Ihre Freundin richtete ihre Aufmerksamkeit nun endlich auf sie. »Das geht natürlich, aber es hätte ewig gedauert. Schau dir nur an, wie lange es bei Bernice dauerte.«

Nerida wollte ihr erwidern, dass es nur wenige Minuten gedauert hatte, aber dann wurde ihr bewusst, dass sie das nicht wissen konnte. Vielleicht war Bernices Zustand nicht so überraschend gekommen, wie sie glaubte, und sie hatte die Anzeichen nur nicht bemerkt. Wie sollte sie auch?

»Hast du den Übergang gut überstanden?«, fragte Sabia, als keine Erwiderung mehr kam.

Nerida nickte, murmelte ein undeutliches »Es ging so« und legte sich eine Hand auf ihr Herz. Sabias Blick wurde ein wenig weicher. »Daran gewöhnt man sich nach einer Weile. Ich hätte dich vorgewarnt, aber man kann es so schlecht erklären.«

Nerida war sich selbst nicht sicher, ob sie es verstanden hätte. Vermutlich war es dasselbe mit Athamos und da hatte sie auch bereits beschlossen, abzuwarten, bis ihre Freundin es einmal selbst sehen konnte. Also verstand sie diese Erklärung gut.

»Jetzt mach dich fertig«, forderte Sabia. »Dann sehen wir mal, wie du dich gegen eine ausgewachsene Störung schlägst.«

Nerida fühlte sich immer noch unsicher, aber wenn sie die Mission erfüllte, käme sie auch bald wieder in die wirkliche Welt zurück. Also verwandelte sie sich endlich selbst. Mit ihrer Waffe in der Hand wurde sie tatsächlich auch ein wenig selbstsicherer. Sie könnte das schaffen, sie müsste nur daran glauben und sich Mühe geben.

Sichtlich zufrieden deutete Sabia in die Entfernung. »Ich spüre die Störung dort hinten.«

Ansonsten sagte sie nichts mehr. Nerida nahm das als Aufforderung wahr und folgte der Anweisung sofort. Mit vorsichtigen Schritten lief sie auf dem unebenen Boden los, bis sie sicher war, dass sie nicht einfach stürzen würde, dann rannte sie. Das Ziel schien ihr noch in weiter Ferne zu liegen und sie wollte das so schnell wie möglich ändern.

Es war ihr bereits beim Training aufgefallen, aber die Kräfte, die ihr verliehen worden waren, mussten auch ihre unsportliche Seite ausgeglichen haben. Selbst nach mehreren hundert Metern fühlte ihr Körper sich noch leicht an, ihre Knie schmerzten nicht und ihre Lungen versorgten sie zuverlässig mit Sauerstoff ohne zu brennen und nach Erlösung zu betteln. Daran könnte sie sich tatsächlich gewöhnen, glaubte sie.

Noch während sie dieses euphorische Gefühl genoss, änderte sich etwas an der Atmosphäre des Ortes. Bislang war sie angespannt, aber friedlich gewesen – nun wurde sie bedrohlich. Die Aquarellfarben des Hintergrunds verdeutlichten dies, indem sie rötliche Töne annahmen und keine Wellen mehr schlugen, sondern gezackte Linien erschufen, ehe sie ineinander verschmolzen. Nerida blieb abrupt stehen und sah zu den gleitenden Büchern hinauf. Plötzlich schienen sie ihr wesentlich größer als noch zuvor – und auf ihnen befanden sich verzerrte Störungen, ähnlich des weißen Rauschens eines Fernsehers, aus denen schwarze Gelenke wuchsen. Sie waren grobe Striche, die aneinanderhingen, als hätte ein Kind versucht, ein Strichmännchen zu malen und die Bücher dabei als Körper verwendet.

Neridas Hand verkrampfte sich um ihre Waffe. Die Bücher – es mochten etwa ein halbes Dutzend sein – schienen sich ihr zuzuwenden. Für einen Wimpernschlag musterten sie Nerida – und dann rasten sie gemeinsam auf sie zu.

Ihrem Instinkt folgend sprang sie zur Seite und riss gleichzeitig ihre Waffe hoch. Das Sägeblatt an einem Ende zerfetzte den Einband des ersten Buches. Ihre Brust zog sich ein wenig zusammen, aber für Sentimentalität blieb ihr keine Zeit. Zwei weitere Bücher hatten sie bereits erreicht, scheiterten jedoch an ihrem Schild, als sie den Arm hochriss. Benommen taumelten sie zurück und wurden ein leichtes Ziel für einen Schlag ihres Stabs. Sie wirbelte die Waffe in ihrer Hand, so dass die Sägeblätter rotierten und ihre Angreifer regelrecht zerfetzten. In den nun um sie schwebenden Blättern wurde es schwerer für sie, die anderen Bücher zu sehen, deswegen konzentrierte sie sich auf ihr Gehör. Glücklicherweise war dieses besser als ihre Augen; sie warf zwei weitere Bücher mit einfachen Schlägen beiseite – und spürte dann einen Schlag in ihren Rücken. Im nächsten Moment packte etwas ihr Haar und zog mit voller Wucht daran, ihr gesamter Kopf schien in Flammen aufzugehen. Sie stieß einen Schrei aus und griff automatisch mit der freien Hand über ihre Schulter, doch das Wesen entging ihrem hektischen Tasten.

Etwas Spitzes stach in ihre Schulter, klebrige Flüssigkeit breitete sich unter ihrer Kleidung aus. Gemeinsam damit wuchs die Anspannung in ihrem Inneren, es nicht schaffen zu können, egal wie gut der Großteil bislang verlaufen war. Wenn sie diesen Kampf schon verlor, wie sollte sie dann für irgendjemanden nützlich sein? Das durfte einfach nicht sein.

Du kannst das ganz einfach ändern, flüsterte ihr die altbekannte Stimme in ihrem Inneren ihr zu. Du musst dafür nur deine ganze Kraft erwecken.

So weit wollte sie es nicht kommen lassen. Vor allem nicht jetzt schon, wenn sie nicht mal ihren ersten richtigen Kampf beendet hatte. Mit dem Teil ihres Verstands, der noch nicht von den Schmerzen vereinnahmt worden war, kämpfte sie gegen diese Stimme an.

Doch das Flüstern wurde immer eindringlicher und das Stechen immer schmerzhafter; das Buch biss in ihre tastenden Finger, ein leises Knirschen erklang dabei. Wie sollte sie dem noch lange standhalten? Sie war nur eine einfache Person, niemand, der so etwas hier tun sollte, und -

Ein Schuss unterbrach ihre Gedanken. Das Ziehen an ihrem Haar ließ augenblicklich nach. Schmollend verschwand die Stimme wieder tief in ihrem Inneren.

»Alles okay?« Sabia trat neben sie. Sie hielt die Pistole immer noch in ihrer Hand, mit der anderen richtete sie Neridas zerzaustes Haar.

Es fiel ihr noch ein wenig schwer, wieder in die Realität zurückzukehren, in der es keinen Kampf gab, in der sie in Sicherheit war. Die Finger ihrer rechten Hand waren schmerzhaft um ihre Waffe verkrampft, die ihrer linken waren leicht angeschwollen. Auf dem Boden lag das nun zerfledderte Buch neben seinen Artgenossen, die von Nerida besiegt worden waren.

»Du hast dich gut geschlagen«, versicherte Sabia ihr, als sie wieder von ihrem Haar abließ. »Das letzte war nur ein schlechter Verlierer.«

»Ja.« Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder, so leise und brüchig wie sie war. »W-warum sind diese Gegner so … anders als die auf der anderen Ebene?«

Dort wären sie nicht auf die Idee gekommen, sie von hinten anzugreifen, während sie mit den anderen Feinden beschäftigt war. Sie schienen eher dumm.

Sabia stemmte eine Hand in ihre Hüfte, sie zog ihre Brauen zusammen. »Ich schätze mal, das hängt damit zusammen, wie stark verbunden die Störung mit ihrem Wirt ist. Unser Trainingsplatz ist ja losgelöst von einzelnen Menschen. Aber wenn sie derart verbunden bleiben, gewinnen sie wohl schneller an Stärke.«

Die Antwort war nicht zufriedenstellend, was Sabia ihr offenbar ansah: »Es wäre viel einfacher, wenn wir einen Forscher hätten, der sich damit auseinandersetzt. Ich bin darin leider nicht so begabt.«

Sie lachte und zwinkerte Nerida zu. »Dabei sind meine Eltern beides Forscher; ich bin eine ganz schöne Enttäuschung, nicht wahr?«

Endlich erfuhr sie mehr über Sabia! Nerida hätte am liebsten einen euphorischen Schrei ausgestoßen, so wie Darien in ihrer Situation wohl, aber zum einen war sie nicht so – und außerdem blieb ihr dafür keine Zeit, da ein wildes Grollen durch diese Welt hallte.

»Die Störung wird sauer.« Sabia hob ihre Pistole. »Wir sollten uns um sie kümmern.«

Neridas fragender Blick wurde von ihr direkt beantwortet: »Ich werde dich natürlich erst einmal allein kämpfen lassen, aber wenn ich merke, dass du meine Hilfe brauchst, werde ich dich nicht einfach im Stich lassen.«

Das zu hören beruhigte Nerida tatsächlich. Selbst wenn sie wieder in eine solche Situation kämen, könnte sie erneut auf ihre Freundin vertrauen. Deswegen nickte sie motiviert, statt sie zu bitten, sie einfach nach Hause gehen zu lassen. Sie steckten gemeinsam in dieser Sache. Und gemeinsam setzten sie ihren Weg über den unebenen Boden fort, weitere Angriffe blieben aus.

Je näher sie dem Kern kamen, desto finsterer wurde die Umgebung. Die riesigen Bücherregale rückten dichter zusammen, bildeten Labyrinthe, deren finstere Gänge wie tödliche Fallen schienen. Nerida sah in einen solchen hinein, entdeckte aber nur Dunkelheit, die jedes Licht verschluckte. Zwei glühende Kohlen starrten ihr entgegen, begleitet von einem leisen Knurren. Sie zuckte zurück, richtete den Blick wieder nach vorne und konzentrierte sich auf ihr Ziel. Wenn sie sich zu viele Sorgen um das machte, was in den Schatten lauerte, störte sie das nur bei ihrer Aufgabe.

Kurz bevor selbst der Hauptgang in Finsternis getaucht wurde, als nur noch ein diffuses Licht wie von unzähligen Kerzen alles erleuchtete, knickte der Weg nach rechts ab. Sabia blieb stehen. »Wenn du weitergehst, triffst du auf die Störung.«

Nerida zögerte. Wieder kam ihr der Gedanke, dass sie hierfür nicht geeignet war, dass sie lieber zu Hause oder in der Bibliothek sitzen sollte. Doch ehe die Stimme sich wieder melden konnte, tippte Sabia ihre inzwischen nicht mehr schmerzende Schulter an. »Denk daran: Du gehst nur vor. Ich bin direkt hinter dir. Sobald ich sehe, dass du es nicht unter Kontrolle hast, werde ich eingreifen.«

Da Nerida sich weiterhin nicht rührte, lächelte Sabia wieder herzlich. »Alles wird gut werden, du musst keine Angst haben. Ich bin bei dir.«

Das war sie wirklich. Nerida wusste das, es gab keinen Grund, zu zweifeln. Das Gefühl erfüllte ihre Brust mit Wärme und gab ihr die Sicherheit, es wirklich schaffen zu können. Wenn nicht allein, dann doch mit Sabia – und so könnte der Kampf enden. Für diesen Weg hatte sie sich entschieden, nun sollte sie ihm auch folgen.

»Gut«, sagte sie daher schließlich, »ich gehe vor.«

Diesen Vorsatz setzte sie sofort in die Tat um, sie lief weiter, um sich der Störung zu stellen, egal in welcher Form sie sich zeigen würde.
 

Kapitel 11: Endlich verstehst du es


 

Nerida erinnerte sich an ihren ersten Besuch in einer Buchhandlung. Sie war damals fünf Jahre alt gewesen und konnte kaum lesen, dennoch wollte sie unbedingt in einen solchen Laden gehen, nachdem Granya, die Mutter ihrer besten Freundinnen, ihr so viel von ihrem Arbeitsplatz erzählt hatte. Glücklicherweise war ihr Vater auch ein begeisterter Leser – wenngleich er Sachbücher bevorzugte –, deswegen hatte sie ihn nicht lange darum bitten müssen, Granya einmal in ihrer Buchhandlung aufzusuchen.

Es war überwältigend.

Fast bis an die Decke reichende Regale waren mit Büchern gefüllt, geordnet standen sie mit den Rücken zu ihren potentiellen Lesern, in unterschiedlichen Größen, den verschiedensten Farben und Schriftarten, versprachen großartige Abenteuer, die jeden Leser begeistern müssten. In Drehständern warteten aktuelle Bestseller darauf, in die Hand genommen und durchgeblättert zu werden. Auf einem Beistelltisch türmten sich verschiedene Neuheiten, nur darauf wartend, dass jemand ihnen eine Chance gab, von sich zu überzeugen.

Der bloße Anblick all dieser Bücher erfüllte die kleine Nerida mit derart viel Ehrfurcht, dass sie sich nicht traute, auch nur einen Schritt zu machen. Stattdessen blieb sie immerzu neben ihrem Vater stehen, sich an seinem Bein festhaltend, um nicht in einer dieser Geschichten verlorenzugehen. In ihren Augen war diese Buchhandlung vergleichbar mit einem heiligen Ort, sie war sogar überzeugt, dass nach Ladenschluss eine Gottheit hier seine Freizeit verbringen musste. Dies war ein weiterer Grund, nichts dort zu berühren, nur um sicherzugehen, dass dieses übermenschliche Wesen nicht wütend werden würde, weil sie aus Versehen etwas verschob.

Ein ähnliches Gefühl überkam die ältere Nerida nun, als sie um die Ecke bog und sich in einem offenen Raum wiederfand.

Schwebende Kerzen erleuchteten ihn dürftig, enthüllten gestapelte Ordner, die, deren Aufschrift nach, Rechnungen enthielten, und einen Schreibtisch, der für jemanden gedacht zu sein schien, der mindestens fünf Meter groß war. Von der anderen Seite erklang ein genervtes Schnauben, vermischt mit dem stetigen Kratzen eines Stifts auf Papier. Da der Tisch aber zu hoch und im Dunkeln lag, war es ihr nicht möglich, zu sehen, was diese Geräusche verursachte. Außerhalb der Lichtquellen, kurz bevor alles in Schatten versank, waren Bücherregale zu sehen, so wie im Rest dieser Welt; ohne ausreichend Licht war es schwer zu erkennen, aber es wirkte, als reichen sie bis tief in die Finsternis hinein. Bei genauerem Hinsehen wurde Nerida bewusst, dass auf jedem Buchrücken dieselben unverständlichen Buchstaben aufgedruckt waren; sie schienen keinerlei Sinn zu ergeben, sie wirkten nicht einmal wie aus einem ihr bekannten Schriftsystem, also gab sie es auf, sich weiter damit zu befassen. Es war gut möglich, dass es sich hierbei um eine eigene Sprache der Störungen handelte – aber genauso gut war es vielleicht auch nur sinnloses Kauderwelsch. Dafür blieb ihr keine Zeit.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Schreibtisch. Was auch immer dort saß war lebendig – außer Nerida das wahrscheinlich einzig Lebendige in diesem Raum – also musste es die Störung sein. Doch wenn es an einem derart großen Tisch saß … wie riesig mochte das Wesen dann erst sein?

Gänsehaut begleitete die sie überkommende Ehrfurcht. Bernices Störung war so groß gewesen wie das Mädchen selbst, auch die anderen bislang von ihr bekämpften Wesen waren in dieser Hinsicht nicht sonderlich außergewöhnlich gewesen – deswegen war ihr nie in den Sinn gekommen, dass es auch anders sein könnte. Nun musste sie das überdenken. Mit dieser Erkenntnis schlich sich auch die Furcht wieder ein, wollte ihr einreden, dass es besser sei, sich zurückzuziehen und so zu tun, als sei das niemals passiert. Wenn sie nicht kämpfte, sondern ihr altes Leben wieder aufnahm, müsste sie sich solchen Situationen nicht mehr aussetzen. Die bekannte Ruhe rief geradezu verführerisch nach ihr – doch dann schob sich Sabias Gesicht vor Neridas inneres Auge, begleitet von ihrer Stimme, der es mühelos gelang, die Ruhe zu übertönen: »Alles wird gut werden, du musst keine Angst haben.«

Wie einem Zauberspruch gelang es dieser Erinnerung, sie wieder tief durchatmen zu lassen. Sie konnte das schaffen – und selbst wenn nicht, wäre immer noch Sabia hier, um ihr zu helfen. Zusammen könnten sie das schaffen, sie musste nur endlich herausfinden, worum es sich bei der Störung genau handelte.

Um den Feind nicht sofort auf sich aufmerksam zu machen, umrundete Nerida mit neu gewonnenem Vertrauen den Tisch so leise wie es ihr möglich war. Ein Überraschungsangriff könnte ihr den sofortigen Sieg einbringen, so hoffte sie – aber vor allem wollte sie sich nicht ahnungslos in den Kampf stürzen.

Als sie ihren Feind schließlich sehen konnte, zuckte sie unwillkürlich zurück. Sie hatte die mögliche Höhe der Störung tatsächlich unterschätzt; auf einem Stuhl hinter dem Tisch saß ein alter Mann mit gräulicher Haut, die sich von seinem hellen Hemd abhob, und der etwa sechs Meter groß war, Reste weißen Haares rahmten seinen Kopf ein. Er konzentrierte sich vornübergebeugt auf seine Papiere, schrieb unablässig mit seinem Bleistift darauf und atmete dabei schwer; alle paar Sekunden rasselte seine Lunge dabei, als stünde sie kurz vor dem Aufgeben, doch er fing sich immer wieder.

Noch hatte er sie nicht bemerkt. Ihr blieb Zeit, nachzudenken, wie sie ihn angreifen sollte.

Sie wich zurück – und da fiel ihr noch etwas anderes ins Auge: Um die Füße des Mannes hüpften unbekümmerte Wesen – etwa sechs davon –, die entfernt an Zahlen mit Gliedmaßen erinnerten; sie waren stark verfremdet, es war kaum noch auszumachen, welche Nummer oder vielleicht Buchstaben sie ursprünglich hatten sein sollen, deswegen war es lediglich eine Art innerer Instinkt, der ihr verriet, dass es so sein musste.

Während Nerida sie anstarrte, in einem unbewussten Versuch sie zu erkennen und einzuordnen, hielten sie alle abrupt in ihren Bewegungen inne. Selbst jene, die gerade in die Luft gesprungen waren, verharrten dort, ohne dass die Schwerkraft einzuschreiten gedachte. Andere waren so sehr zur Seite geneigt, dass sie eigentlich umfallen müssten, taten dies aber nicht.

Neridas Augen huschten über die einzelnen Wesen, verwirrt über diese Bewegungslosigkeit, da sie keinerlei Grund dafür erkennen konnte.

Mit einem Ruck wandten die Zahlen sich ihr zu – obwohl das schwer zu sagen war, da sie keine Gesichter besaßen – und stießen einen lauten Schrei aus. Selbst ohne irgendeine Art von Mund erklang ein ohrenbetäubendes Geräusch, das aus einer einzigen Kehle zu stammen schien, die keineswegs menschlich sein konnte.

Neridas Ohren pulsierten schmerzhaft, ihre Sicht verschwamm ein wenig; sie glaubte zu spüren, wie sogar ihr Gehirn zu vibrieren begann und dabei immer wieder an ihren Schädel stieß. Doch sogar das geriet sofort in Vergessenheit, als der Mann, die Störung, ebenfalls aufmerksam wurde. Er setzte sich aufrecht hin – wodurch er noch riesiger wirkte – und sah nach unten. Der Zwicker, die kleine bügellose Brille auf seiner Nase, reflektierte das Kerzenlicht.

Nerida wich zurück, den Kopf in den Nacken gelegt, um die Störung weiter zu beobachten. Der Mann betrachtete sie ausdruckslos, als wüsste er nicht, worum es sich bei ihr handelte.

Sie wollte weglaufen, gleichzeitig aber auch diesen Auftrag erfüllen, um der Person zu helfen, die unter der Störung zu leiden hatte. Außerdem – und noch viel wichtiger – ging es hier darum, auch ihr selbst zu beweisen, dass sie das alles schaffen konnte, genau wie Sabia. Sie war würdig, an der Seite ihrer neuen Freundin zu kämpfen, sie musste sich das nur selbst beweisen.

Damit spannte Nerida ihren Körper an. Im selben Moment hob die Störung die Hand und deutete auf sie – und die kleinen Wesen schnellten ihr entgegen.

Sie wich mit einem Sprung zur Seite aus, die Zahlen flogen an ihr vorbei. Doch zwei von ihnen streiften sie, ließen eine Linie brennenden Schmerzes auf ihrer Wange entstehen. Die Wunde war nur oberflächlich – das sagte sie sich jedenfalls –, darum sollten ihre passiven Heilkräfte sich kümmern. Mit ihrer aktiven Macht beschwor sie den Revolver und schoss damit auf die kleinen Störenfriede, die sich bereits zu einem weiteren Angriff zusammenrauften. Sie traf zwei von ihnen, aber die anderen sprangen davon, während ihre Kameraden sich in glitzernde Funken auflösten.

Das Gewicht der Waffe war immer noch ungewohnt, egal wie viel Training sie damit inzwischen absolviert hatte, deswegen empfand sie es als Glücksfall, überhaupt damit zu treffen.

Da! Eine Bewegung von der Störung selbst!

Mit einem kurzen Sprint brachte Nerida sich in Sicherheit, kurz bevor die Hand des Riesen den Boden zermalmte, wo sie eben noch gestanden hatte. Ihr blieb jedoch keine Zeit, durchzuatmen: Eine der Zahlen traf auf ihren Rücken, Schmerzen explodierten an dieser Stelle, rosa Sterne zerplatzten vor ihren Augen. Innerlich fluchend wirbelte sie herum und riss den Arm mit ihrem Schild hoch. Die drei anderen Wesen prallten an einem Netz aus wabenförmigen Lichtern ab.

Ich muss aufpassen, sagte sie sich selbst. Wenn sie mich richtig erwischen, genügen meine Heilkräfte auch nicht mehr.

Die Störung sagte etwas, unbekannte Worte, deren Sinn sich Nerida nicht erschlossen, aber als sich der Fuß des Riesen hob und bedrohlich über ihr zum Schweben kam, konnte sie sich bereits denken, was der Inhalt gewesen war: Störende Made!

Eine der verbliebenen Zahlen – möglicherweise jene, die ihren Rücken getroffen hatte – wagte einen erneuten Satz in ihre Richtung. Nerida duckte sich, spürte den Windhauch, als das Wesen über sie hinwegfegte, dann sprang sie selbst nach vorne. Ihr Körper rollte sich wie von selbst ab und richtete sich auch wieder auf, noch bevor sie selbst genau wusste, was passiert war.

Der Fuß der Störung kam wieder auf dem Boden auf – und zerquetschte die Zahl, die sie gerade angegriffen hatte.

Damit habe ich die Hälfte bereits. Aber das reicht nicht.

Sie musste auch die anderen noch töten, bevor sie sich gänzlich ihrem eigentlichen Feind widmen konnte.

Die Störung stieß einen frustrierten Schrei aus, der die verbliebenen drei Wesen zu einem Angriff ermutigte. Nerida hob den Schild, um sie abzuwehren, während sie gleichzeitig den Revolver in der anderen Hand durch ihren Stab mit den Kreisklingen ersetzte. Kaum prallten die Feinde auf ihre Abwehr, riss sie ihre Waffe hoch – und in einem außergewöhnlichen Glücksfall gelang es ihr, direkt zwei Zahlen zu zerschneiden. Wie ihre Kameraden zuvor, lösten sie sich in glitzernde Funken auf, die für einen Moment in der Luft verblieben und dann einfach verglühten.

Bleibt nur noch einer.

Wieder sagte die Störung etwas, das sie nicht verstehen konnte, aber diesmal wurde es nicht von einer Bewegung begleitet, deswegen ignorierte sie diese erst einmal und konzentrierte sich auf die noch verbliebene Zahl. Diese stand in einiger Entfernung zu ihr, bewegungslos, als ob sie Nerida zu mustern versuchte. Glaubte sie, eine Lücke in der Verteidigung gefunden zu haben? Wartete sie auf einen Moment der Unachtsamkeit?

Inzwischen kribbelte Neridas Rücken nur noch ein wenig. Wenn alles richtig funktionierte, würden keine Narben zurückbleiben, nichts, was sie irgendjemandem erklären müsste.

Sofern ich hier wieder herauskomme.

Woher kam dieser plötzliche Selbstzweifel? Fünf ihrer Feinde hatte sie bereits ausgeschaltet, es gab keinen Grund, zu glauben, dass sie nicht auch die letzten beiden schaffen könnte – selbst wenn einer von ihnen riesig war.

Die Störung keuchte laut, wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.

Die Zahl schnellte wieder vor. In einem Reflex riss Nerida das Schild hoch. Doch diesmal traf ihr Feind nicht einfach nur auf die leuchtenden Waben: plötzlich aus dem Körper gewachsene Stacheln zerschmetterten das schützende Netz regelrecht, ohne das Wesen wirklich aufzuhalten.

Für einen Wimpernschlag schien es Nerida, als geschähe alles nur noch in Zeitlupe. Die leuchtenden Splitter ihres Schutzschildes schwebten federgleich durch die Luft, ihr Angreifer näherte sich ihr millimeterweise, seine Stacheln reflektierten das sie umgebende Licht, und im Hintergrund krümmte sich die Störung noch immer wegen seines Hustens.

Nerida wirbelte ihre Waffe. Die erste Kreisklinge prallte von den metallenen Auswüchsen ab, beschrieb einen viel zu großen Bogen und erwischte dabei fast Nerida selbst. Nur das rechtzeitige Zurücklehnen ihres Kopfes bewahrte sie vor einem sicherlich tiefen Kratzer auf der Wange.

Die zweite Kreisklinge traf das Wesen dafür perfekt. Mit einem letzten, verzweifelten Schrei löste es sich auf. Diese Funken verweilten für einen kurzen Moment mit den Splittern ihres Schildes und wirkten dabei wie ein überirdischer Zauber, dessen Leuchten dem von unzähligen Diamanten im Sonnenlicht gleichkam. Unwillkürlich streckte Nerida ihre Hand danach aus, um diesem Glanz nahekommen zu können. Doch kaum waren ihre Fingerspitzen davon eingehüllt, lösten sich die Funken und die Splitter gemeinsam auf.

Einen kurzen Moment blieb Nerida noch so stehen, dann ließ sie ihre Hand langsam wieder sinken. Sie konnte es sich nicht erklären, denn sie hatte nichts erwartet, aber sie war doch ein wenig enttäuscht, dass nichts geschehen war und dass sie nichts gespürt hatte.

Doch dieses Gefühl wurde sofort von einem anderen ersetzt, als ihr die Anwesenheit der Störung wieder bewusst wurde. Der Riese hatte sich von seinem Hustenanfall erholt – und in einer viel zu schnellen Bewegung beugte er sich vor und ergriff Nerida. Das geschah alles derart abrupt, dass sie es erst verstand, als sie den Boden unter ihren Füßen verlor, weil die Störung sie hochhob.

Panik nahm ihr gesamtes Innerstes ein. Ohne darüber nachzudenken schlug sie mit ihrer Faust auf die Hand der Störung ein, gleichzeitig versuchte sie mit ihrer Waffe Schaden anzurichten – doch aufgrund des wenigen Spielraums trafen die Kreisklingen hauptsächlich Nerida selbst und schnitten ihr dabei mehrere Haarsträhnen ab.

Der Riese ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hob sie noch höher, brachte sie näher zu seinem Gesicht, um sie eingehender zu betrachten. Sein viel zu heißer Atem strich über sie, brannte in ihrer Nase, ihrer Lunge. Sie hustete, spürte dabei, wie fest er sie in seinem Griff hielt.

In seinen wässrigen Augen lagen keinerlei Gefühle, keine Gnade, kein Erkennen, worum es sich bei ihr handeln mochte. Für ihn musste sie gerade wirklich ein einfacher Störenfried sein, ein Insekt, das es loszuwerden galt.

Zum dritten Mal sagte er etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann erhöhte sich der Druck seiner Hand. Die Panik flammte ein weiteres Mal in Nerida auf, sie musste entkommen, egal, was es kostete.

Sie verwandelte den Stab wieder in den Revolver, doch ihre Schüsse verpufften wirkungslos an seiner dicken Haut, schienen ihn nicht einmal zu interessieren.

Das kann nicht sein!

Etwas in ihrem Körper knackte, ein stechender Schmerz bohrte sich in ihre Lunge. Und die Störung zeigte kein Anzeichen, wieder lockerzulassen.

Panik wurde von Reue verdrängt. Warum hatte sie sich hierauf eingelassen? Warum gab es Menschen, die kämpften, wenn es so schnell gefährlich werden konnte? Warum wollte Darien das?

Ich hätte auf Papa hören sollen.

Sie war noch nicht bereit, aufzugeben, vor allem nicht, da Sabia sich auf sie verließ – wo war sie überhaupt? –, doch die Schmerzen wüteten wie ein Feuer in ihrem Inneren, um dort alles auszulöschen, was sie ausmachte. Es war eine Erlösung, als sie nach einem weiteren Knacken, das Messerspitzen durch ihren Rücken zu jagen schien, jegliches Gefühl in ihren Beinen verlor.

Sie hustete, glaubte, dass ihre Lungen explodieren wollten, schmeckte Blut. Die Kräfte verließen ihre Arme, der ohnehin nutzlose Revolver fiel ihr aus der Hand.

Ich kann nichts tun, absolut nichts.

Doch als ob irgendjemand wirklich ihre Gedanken hätte hören können, erklang plötzlich eine andere, ihr unbekannte Stimme in ihrem Inneren: »Gib nicht auf. Es ist noch nicht vorbei.«

Mit diesen Worten leuchtete der Kristall an ihrem linken Arm auf. Das lilafarbene Licht schien ihr Bewusstsein noch einmal stabilisieren zu wollen, für den Moment waren sogar die Schmerzen in ihrem Oberkörper nur noch ein fernes Pochen. Seit ihrer ersten Verwandlung hatte Nerida diesem Kristall, der ihr Schild materialisierte, nicht mehr viel Beachtung beigemessen, doch nun fiel ihr auf, dass der untere Teil der eckigen Acht mit glitzerndem lila Sand gefüllt war.

Während sie sich fragte, was das bedeutete, spürte sie plötzlich eine Veränderung: ihre Schmerzen ließen nach, bis sie nicht mehr existierten, dafür kehrte das Gefühl in ihren gesamten Körper zurück – und dann stand sie wieder auf dem Boden, in Freiheit, vor dem glitzernden Spektakel, das sich nach dem Tod der Zahl gebildet hatte.

»W-was ist gerade passiert?«, murmelte sie.

Der Sand im Kristall war noch immer im unteren Bereich, aber er leuchtete nicht mehr.

Hatte sie gerade die Zeit zurückgedreht? Oder war es nur ein Traum gewesen, dass er sie in der Hand hielt?

Beides ergab für sie keinen Sinn – aber sie wusste, dass ihr keine Zeit mehr zum Überlegen blieb, als die Funken und die Splitter sich auflösten.

Die Störung beugte sich vor und griff nach ihr. Doch diesmal wich Nerida mit einem Sprung zur Seite aus, dann folgte sie einem Gefühl in ihrem Inneren, das ihr zu helfen versuchte, wie sie hoffte. Sie mobilisierte die Störbrecher-Kräfte, die ihr einverleibt worden waren und sprang auf die Hand des Riesen. Ehe er sie abschütteln konnte, rannte sie den Arm hinauf, direkt auf die Schulter ihres Feindes. Erst hier wurde ihr bewusst, dass sie gar nicht wusste, was sie nun tun sollte. Ihr Revolver richtete nicht genug Schaden an, könnte ihr Stab da überhaupt etwas ausrichten?

Denk nicht darüber nach, versuch es einfach!

Also folgte sie ihrem eigenen Vorschlag und ließ ihre Waffe wieder erscheinen. Mit einer Bewegung aus dem Handgelenk kreiselte sie den Stab, doch die Klingen kratzten die Haut des Riesen nicht einmal an.

Einen wunden Punkt suchend, bewegte sie sich auf seiner Schulter vorwärts. Er griff wieder nach ihr, verfehlte sie aber, weil es ihr gelang, ein Stück zur Seite auszuweichen. Und dabei entdeckte sie genau das, was sie gesucht hatte: seine Schwachstelle. Direkt auf seinem Nacken prangte eine rot glühende Stelle unter seiner Haut, stach wie ein Stück Kohle in einem erlöschenden Haufen Asche hervor.

Ihr Gehirn wollte ihr direkt ein Dutzend Gründe liefern, weswegen ein solches Geschöpf so etwas haben könnte, ohne dass es als Angriffspunkt diente. Aber ihr Instinkt unterdrückte all das. Sie schwang die Waffe – und die Kreisklingen bohrten sich beide mühelos in die rote Stelle. Eine glühende Flüssigkeit spritzte hervor und traf zischend auf die Haut der Störung.

Der Riese schrie auf, schlug wild mit der flachen Hand nach ihr, doch diesen ungelenken Bewegungen konnte Nerida leicht ausweichen.

Noch einmal trieb sie die Kreisklingen tief in die schwache Stelle, dann riss sie die Waffe gemeinsam mit einigen Fleischbrocken wieder heraus.

Die Arme ihres Feindes fielen herunter, ehe er selbst in die Knie ging. Neridas Füße rutschten aufgrund der Erschütterung unter ihr weg. Panisch griff sie nach einem Halt – und bekam das Hemd zu fassen. Sie klammerte sich daran fest, als der gesamte Körper zu Boden stürzte.

Ihre Hände verkrampften sich, während sie darauf wartete, dass noch etwas geschah, dass er sich wieder aufrichtete oder sie doch noch einmal herunterzuschlagen versuchte.

Doch er rührte sich nicht mehr.

Stattdessen stiegen glühende goldene Funken von ihm auf. Nerida atmete durch, erlaubte sich endlich, ihn wieder loszulassen und vorsichtig von ihm herunterzuklettern. Erst als sie selbst wieder auf dem sicheren Boden stand, wurde ihr bewusst, wie weich sich ihre Knie nun anfühlten. Sie hatte gehofft, sich erfolgreich und großartig zu fühlen, aber im Moment wünschte sie sich nur sehnlichst nach Hause, am besten in ihr Bett, am besten für immer.

Nach und nach verschwand mehr von dem Riesen, zurück blieb eine rote Scherbe, ein Splitter, genau wie bei Bernice. Nerida sog tief die Luft ein – und es kam ihr vor, als atmete sie dieses Ding selbst ein. Es brannte nicht, sondern fühlte sich wunderbar an, erfrischend, stärkend, es gab ihr ein plötzliches Hochgefühl und verscheuchte sogar die Schwäche in ihren Beinen.

Sie nahm den Splitter an sich und plötzlich fühlte sich alles Schreckliche, das sie erlebt hatte, so vollkommen unbedeutend an. Es war einfach nicht mehr wichtig, alles war nun in Ordnung – und sie müsste nur mehr von diesen Bruchstücken sammeln. Mehr, bis endlich fertig war, was auch immer es einmal gewesen war.

»Du hast es geschafft!«

Nerida drehte sich in Richtung des Ganges, der zwischen den Bücherregalen entlangführte. Sabia kam ihr von dort entgegen – und allein ihr Anblick beantwortete die Frage, wo sie gewesen war: Ihr Kleid wies Risse und Flecken auf, während sich einige Strähnen ihres Haares aus ihrer Frisur gelöst hatten.

In Sabias Augen lag ein begeistertes Glühen, als sie Nerida und den Splitter musterte. »Du hast es wirklich ganz allein geschafft!«

Das Bruchstück verschwand, doch das dadurch hervorgerufene Gefühl blieb in Neridas Inneren verankert. Sie nickte. »Es hat gut funktioniert. Kein Problem.«

Jedenfalls war ihr Selbstvertrauen gerade an einem solchen Höhepunkt angelangt, dass sie nicht mehr daran zweifelte, dass der Kampf viel besser gelaufen war, als ihre Erinnerung es ihr sagte.

Sabia umarmte sie für einen Moment. »Ich bin wirklich stolz auf dich. Ich hatte schon Angst, nachdem ich mit den kleinen Laufburschen der Störung beschäftigt gewesen bin und dir deswegen nicht helfen konnte.«

Sie sah sie um Verzeihung heischend an und Nerida musste nicht lange darüber nachdenken. »Ich bin froh, dass dir auch nichts passiert ist. Aber das war wirklich aufregend.«

»Ja, nicht wahr?« Sabias ganzes Gesicht schien zu strahlen. »Endlich verstehst du es~.«

Während sie sich noch so gegenüberstanden, löste die Störung um sie herum sich gänzlich auf. Sie befanden sich wieder in der immer noch leeren Buchhandlung, selbst von dem Verkäufer war nun nichts mehr zu sehen. Gemeinsam warfen sie einen Blick über den Tresen, wo sie den Mann auf dem Boden liegend entdeckten.

»Er atmet noch«, stellte Sabia fest. »Wir werden einem Sicherheitsmann des Einkaufszentrums Bescheid geben, dann gehen wir etwas essen.«

»Geht das wirklich so einfach?«

Lachend tippte Sabia ihr gegen die Brille. »Du bist mal wieder so niedlich besorgt. Natürlich geht das. Wir dürfen das nur nicht zu oft machen, sonst fällt irgendjemandem noch ein Muster auf.«

Tatsächlich war Nerida eher besorgt gewesen, ob sie den Mann einfach auf dem Boden liegen lassen konnten, ohne sicherzustellen, dass es ihm auch wirklich gut ging. Lediglich zu wissen, dass er atmete, beruhigte sie nicht wirklich.

Dann war da aber auch noch dieses absolute Hochgefühl, das von ihr verlangte, ihn zu ignorieren und den errungenen Sieg einfach zu feiern, so wie es ihr zustand.

Schließlich gab Nerida nach und nickte. »Okay, machen wir das so.«

Sabia drückte sie noch einmal, dann ging sie bereits voraus nach draußen. Nerida warf einen letzten Blick auf den Mann hinunter, ehe sie ihrer Freundin folgte. Für den Moment wollte sie nur noch feiern und sich nicht mehr mit anderen Dingen abgeben – besonders da sie ihn nicht einmal kannte.

Deswegen verdrängte sie jeden Gedanken an das Geschehene und behielt lediglich die Hochstimmung in ihrem Inneren, gemeinsam mit dem Wunsch, noch viel mehr davon zu erleben.
 

Kapitel 12: Kennst du andere Jäger?


 

Eine Woche nach diesem Kampf, der etwas in Nerida veränderte, und vielen weiteren kleinen, siegreichen Auseinandersetzungen mit Störungen, war es soweit: sowohl ihrem Vater als auch ihrer Mutter war es gelungen, sich Zeit für einen Nachmittag mit Sabia zu nehmen. Sie waren weiterhin auf diese Freundin gespannt, so sehr, dass Nerida selbst inzwischen nervös geworden war. Ganz im Gegensatz zu Sabia, die sie an diesem Tag leise summend nach Hause begleitete.

Inzwischen war Nerida sich ihrer Freundschaft sicher, sie bezweifelte, dass irgendetwas bei ihr abschreckend wirken könnte. Doch es gab da eine Kleinigkeit, die sie Sabia bislang verschwiegen hatte: »Bevor wir da sind, sollte ich dir noch etwas sagen.«

Sie wandte Nerida den Blick zu. »Hmmm? Was denn? Gibt es ein Thema, das ich nicht ansprechen sollte, außer dieser Störbrecher-Sache?«

Nerida war sich nicht sicher gewesen, ob Sabia daraus ein Geheimnis machen wollte oder nicht, hatte ihre Freundin aber darum gebeten, es für sich zu behalten gegenüber ihren Eltern, vor allem ihrem Vater. Sie hatte ihr erklärt, dass Vane der Gedanke ans Kämpfen nicht behagte, besonders wenn die Person Spaß dabei empfand – und seit sie diesen Splitter erobert hatte, wuchs ihre Freude daran ebenfalls. So sehr sogar, dass sie in letzter Zeit ihre Hausaufgaben vernachlässigte. Ironischerweise wurde es dadurch zu einem Glücksfall, dass die Lehrer es vorzogen, so wenig wie möglich mit ihr zu tun zu haben, denn so trugen sie ihr bislang immer noch gute Noten ein, um sich nicht weiter damit befassen zu müssen.

Sabia schmunzelte plötzlich. »Oder hast du deine letzte Freundin umgebracht?«

Diese Frage brachte Nerida aus dem Konzept. Sie blinzelte verwirrt, was Sabia wieder lachen ließ. Es war nur ein Scherz gewesen, das hätte sie durchschauen müssen. In diesen sozialen Interaktionen war sie immer noch nicht so geschickt wie in den Kämpfen inzwischen.

»Nein, nein«, sagte Nerida schließlich. »Es ist nur ...«

Wie erklärte man einer anderen Person, worum es sich bei Athamos handelte? Es war ein Konzept, mit dem das Allgemeinwissen und der gesunde Menschenverstand überfordert war, besonders, wenn man zum ersten Mal davon erfuhr. Das Gebäude an sich, das so wandelbar und unfassbar war wie nichts anderes auf der Welt.

Wenigstens wusste sie bereits, dass es mehr auf der Welt gab, als nur das, woran die meisten Menschen glaubten, also sollte es nicht zu schwer werden.

»Weißt du, meine Familie wohnt nicht in einem normalen Haus, sondern an einem Ort, den man Athamos nennt. Das ist … quasi eine Schule für außergewöhnliche Menschen, die auch Dinge jagen.«

»Oh, wirklich?« Sabia wirkte ein wenig desinteressiert. »Was kann man denn noch jagen?«

Vieles. Aber das zählte sie lieber nicht alles auf, besonders da es ihre Freundin nicht wirklich zu kümmern schien.

»Albträume«, antwortete sie daher lediglich. »Die werden in Athamos hauptsächlich gejagt.«

Sie erwartete einen verwirrten Blick, eine Bitte um Erklärung, doch beides blieb aus. Es schien gar so als ob Sabia schon darüber Bescheid wüsste. Aber weswegen sollte sie dann fragen?

»Kennst du andere Jäger?«, hakte Nerida schließlich nach. »Es sieht nicht so aus, als ob dich das alles überrascht.«

Bislang kannte sie niemanden von außerhalb, dem sie je ein solches Geheimnis verraten hätte, deswegen war sich Nerida auch nicht sicher, welche Reaktion angemessen wäre. Sie hatte verpasst, Darien danach zu fragen, ob seine Erfahrungen – er hatte bestimmt irgendjemanden eingeweiht – anders verlaufen waren. Doch sie war überzeugt, dass Desinteresse nicht unter angemessen zu verstehen war.

Sabia sah sie an, sie lächelte dabei so zuversichtlich, als wäre die Frage nur ein kleiner Scherz gewesen. »Neri, wir sind Störbrecher. Denkst du nicht auch, dass es weniger verwunderlich ist, dass Leute Albträume oder so etwas jagen? Störungen sind schwerer zu verstehen.«

Das leuchtete Nerida ein – ihr Gesicht erhitzte sich ein wenig, als Sabia die Koseform ihres Namens aussprach –, eröffnete gleichzeitig aber ein weiteres Feld, das sie ergründen wollte: »Wie kamst du eigentlich auf die Brecher-Terminologie?«

Sie hatten bereits über die Chaosbrecher gesprochen, darüber, dass Sabia von diesen die Inspiration für den Namen bekam – aber so ganz erschloss es sich ihr noch nicht: andere Personen dachten doch sicher erst einmal an etwas Simples, wie eben Jäger. Sogar in Abteracht blieb man bei diesem Begriff, obwohl den beiden Anführern sicher auch etwas Ausgefalleneres einfallen könnte. Auch die Erklärung, dass ihr der Name gefallen hatte, nagte an Nerida, denn dafür war Brecher doch zu außergewöhnlich.

»Ist das nicht offensichtlich?«, erwiderte Sabia, milde überrascht. »Mit dem Vernichten der Störungen brechen wir regelrecht etwas in den Menschen, die wir retten. Also ist der Name gut gewählt, findest du nicht?«

Wenn sie es so betrachtete, vermutlich. Etwas in ihrem Hinterkopf bestand dennoch darauf, dass es eigenartig war und nagte weiter an ihr. Vorerst wollte sie aber nicht weiter darüber nachdenken und schob es weit von sich.

»Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«, fragte Sabia.

Nerida schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur nicht, dass du überrascht bist, wenn wir ankommen.«

Darauf sagte Sabia nichts mehr, weswegen sie ihren Weg in Stille hinter sich brachten.

Normalerweise ging Nerida ihren Schulweg mit Ronan – oder allein, wenn ihre Stundenpläne nicht übereinstimmten –, daher fühlte es sich ungewohnt an, eine andere Person neben sich zu wissen. Aber es war auch äußerst schön, einmal selbst dieses Gefühl kennenzulernen, von dem sie bislang nur in Büchern über Freundschaften gelesen hatte. Wie gut wäre es dann erst, wenn sie öfter gemeinsam zur Schule oder nach Hause gehen könnten? Und wo lebte Sabia eigentlich?

Diesen Gedanken nachhängend kamen sie schließlich an Athamos an. Von außen sah es aus wie ein ganz gewöhnliches Gebäude, was Sabia ihr auch sofort, ein wenig enttäuscht, mitteilte. »Ich dachte, es wäre etwas absolut Spannendes. Aber von hier draußen sieht es aus wie die Nachbarhäuser.«

Dabei deutete sie auf die anderen Bauten in der Straße, in denen sich Wohnungen und auch Geschäfte befanden. Letzteres fehlte bei Athamos, weswegen man es – auch aufgrund eines angebrachten Klingelschilds und den Briefkästen – durchaus für einen Teil dieser normalen Welt halten konnte. Aber das war nur Fassade.

»Innen ist es größer«, sagte Nerida, während sie die Tür aufschloss.

Sabia folgte ihr in die – überraschend normale – Eingangshalle (dieses unauffällige Aussehen diente laut Jii dazu, dass sich alle entspannten). Wie immer befanden sich zahlreiche Traumbrecher (teilweise noch in Ausbildung) hier und unterhielten sich miteinander. Für jeden Unbeteiligten klangen die Gespräche wie ein sanftes Flüstern, denn ein Schleier der Ruhe lag auf der gesamten Schule, vermutlich um Jiis Nerven zu schonen. Der angenehme Nebeneffekt war natürlich, dass auch alle anderen dadurch Frieden fanden.

Von der Halle gingen mehrere Gänge ab, die zu den wichtigsten Bereichen der Schule führten: das Direktorat, die Klassenzimmer, die Cafeteria und die Krankenstation. Wer allerdings eine Rundreise plante, konnte einfach irgendeinen Weg wählen, denn sie waren alle miteinander verbunden. Zu den Wohnungen kam man ebenfalls über jeden Gang, denn sie lagen – inzwischen – recht zentral und waren so am besten zu erreichen.

Sabias Blick wanderte über die anderen Anwesenden, die Wände und Decke, wo eine Beleuchtung angebracht war, deren Lichtquelle allerdings diffus und kaum zu beschreiben war. Für Nerida zählte nur, dass es nicht in den Augen brannte und auch für Albträume jeder Art angenehm zu fühlen war – und bislang war es auch so.

»Das ist interessant«, sagte Sabia. »Es ist innen wirklich größer aus als es von außen aussieht.«

Gemeinsam folgten sie einem der Wege bis zu den Wohnungen, wobei sie von einem verlockendem Duft nach Kuchen begleitet wurden. Dieser stamme, so erklärte Nerida, von Bernadette, einer der Traumbrecherinnen. »Sie kümmert sich um alle wie eine Mutter.«

Etwas in Sabias Augen verdüsterte sich, ihr Blick schien weit in die Ferne zu gehen. »Beneidenswert. Hoffentlich wissen sie, wie gut sie es haben.«

Es wäre ein guter Zeitpunkt, um sie nach ihrer Familie zu fragen, aber gleichzeitig wollte Nerida nicht kurz vor der Begegnung mit ihren eigenen Eltern die Stimmung herunterziehen. Noch dazu würden ihr Vater oder ihre Mutter ebenfalls Interesse an dem Thema zeigen, also könnte sie auch bis dahin warten – und hoffen, dass Sabia nicht allzu angegriffen davon war.

»Jii ist es sehr wichtig, dass die Traumbrecher sich alle wohlfühlen.«

Nach diesem Satz sah Sabia sie ratlos an, weswegen sie sofort erklärte, dass Jii der Direktor der Einrichtung war. Das schien die Verwirrung nicht unbedingt stillzulegen, doch weiteres konnte sie dazu nicht beisteuern, denn mehr gab es nicht.

An der Tür ihrer Wohnung angekommen, hielt Nerida wieder inne. »Hier sind wir.«

Ein wenig unsicher trat sie von einem Fuß auf den anderen. War sie wirklich bereit, ihren Eltern eine Freundin vorzustellen? Vor allem eine, mit der sie ein solches Geheimnis teilte? Würde jemand es herausfinden, weil sie nicht vorsichtig genug waren?

Plötzlich ergriff Sabia ihre Hand und drückte sie. »Keine Sorge, es wird schon alles gut gehen.«

Nerida blieb nur zu hoffen, dass es so war. Nach einem Nicken öffnete sie die Tür.

Ihre Eltern erwarteten sie bereits im Wohnzimmer, kurz hinter dem Eingang (ihre Brüder hatten es vorgezogen, dem Treffen erst einmal fernzubleiben). Nerida stellte sie alle einander vor – und bemerkte dabei, wie Sabias Augen auf Konia geheftet blieben. Das grüne Haar ihrer Mutter war zwar ein Blickfang, doch eigentlich hätte sie eher erwartet, dass ihr sehr großer Vater und dessen langes braunes Haar eher Aufmerksamkeit erregten.

Ihre Eltern bemerkten das offenbar nicht.

»Wollen wir uns setzen?«, fragte Vane schließlich, seine sanfte Stimme füllte sofort den gesamten Raum aus.

Doch auch davon schien Sabia nicht beeindruckt. Sie gab lediglich eine knappe Bestätigung, ehe sie sich jeweils zu zweit gegenüber auf die Sofas setzten.

Durch die Stimme ihres Vaters, deren Echo immer noch durch den Raum tanzte, konnte glücklicherweise kein verlegenes Schweigen eintreten. Noch ehe es verhallte, stellte Konia auch schon die erste Frage: »Also, Sabia, Nerida hat uns erzählt, dass ihr euch in der Schule kennengelernt habt. Wohnst du schon lange in der Stadt?«

Bislang war es Nerida nicht in den Sinn gekommen, aber da sie Sabia früher nicht gesehen hatte, musste es bedeuten, dass sie entweder erst hergezogen oder früher zumindest auf einer anderen Schule gewesen war. Sie verfluchte sich innerlich selbst dafür, nicht danach gefragt zu haben.

Sabias Lächeln zeigte jedoch keine Spur von Enttäuschung darüber. »Tatsächlich wohne ich erst seit kurzem hier. Ich hatte ein paar Probleme, hier Anschluss zu finden, bis ich Nerida begegnet bin.«

Sie schenkte der Erwähnten einen kurzen, warmen Blick.

Jemand anderes hätte vermutlich nachgehakt, wo sie vorher gelebt hatte, aber da ihre Eltern nicht sehr viel von der Welt außerhalb ihrer eigenen Stadt kannten, interessierte sie eine solche Frage nicht weiter. Nerida auch nicht.

»Ich bin sehr erstaunt, in was für einem Gebäude Sie hier wohnen«, bekundete Sabia. »Als Nerida mir hiervon erzählte, konnte ich es kaum glauben. Aber es zu sehen ist wirklich etwas ganz eigenes.«

»Normalerweise sollten Menschen hiervon auch nichts wissen«, sagte Vane. »Aber bei Freunden, denen unsere Kinder vertrauen, machen wir eine Ausnahme.«

Nicht zuletzt dadurch, dass sie Erinnerungen beeinflussen konnten, wenn es sein musste. Aber das war etwas, das sie nicht einfach erzählten, aus Gründen, die Nerida nicht wirklich verstand – jedenfalls wurde ihr so etwas in der Art stets als Erklärung genannt, wenn sie nachhakte.

»Sind Sie beide Traumbrecher?«, fragte Sabia, den Blick hauptsächlich auf Konia gerichtet.

Waren die grünen Haare wirklich derart faszinierend? Oder versuchte sie gerade, die Ähnlichkeit zu Nerida zu ergründen?

Vane und Konia tauschten einen kurzen Blick miteinander, vermutlich beide verwundert darüber, dass es in diesem Gespräch plötzlich um sie ging.

»Nein, nur ich«, sagte er, als er wieder Sabia ansah. »Aber ich bin auch nicht im aktiven Dienst, ich bin der Arzt in dieser Einrichtung. Konia erforscht die Albträume.«

»Oh, ich verstehe.«

Nerida legte eine Hand auf ihr Herz. »Ich werde Papas Nachfolgerin.«

Sabias Interesse entflammte sofort. Neugierig sah sie Nerida an. »Davon hast du mir gar nichts erzählt.« Das klang fast schon tadelnd.

Bei genauerem Nachdenken fragte Nerida sich, ob sich das mit ihrer Tätigkeit als Störbrecherin vertragen würde – und ob sie so lange überhaupt noch Störbrecher sein müssten. Irgendwann wären doch alle Splitter gefunden. Oder?

Sabias Miene wurde wieder ein wenig weicher. »Das hört sich jedenfalls schön an, dass du in seine Fußstapfen treten willst. Aber weswegen besuchst du dann eine normale Schule?«

Das war eine Frage, die Darien so lange gestellt hatte, bis er endlich in Abteracht aufgenommen worden war. Sie war immer noch fasziniert, wie besessen er sich bei diesem Thema zeigte.

»Wir müssen die notwendigen Dinge lernen, die jeder Mensch braucht.« Das war ihr stets gepredigt worden und sie hielt es für sinnvoll. »Und unter unserem Direktor gibt es ein Mindestalter für die Ausbildung zum Traumbrecher.«

»Klingt vernünftig«, sagte Sabia nach einem kurzen Moment.

Vane nickte darauf. »Das denke ich auch. Seit wir diesen Standard haben, gibt es viel weniger Verletzungen.«

»Aber hier soll es nicht um Traumbrecher gehen«, warf Konia ein, bevor sie noch weiter in dieses Thema abrutschten. »Erzähl uns mehr von dir, Sabia. Wir haben dieses Treffen immerhin arrangiert, um mehr über dich zu erfahren.«

»Oh, natürlich.« Sabia lachte entschuldigend. »Ich war nur so neugierig. So etwas erfährt man schließlich nicht jeden Tag.«

Vane und Konia nickten gemeinsam.

Nerida war lediglich erleichtert, dass ihre Eltern keinen Verdacht schöpften, dass Sabia nicht so fassungslos war, wie man es eigentlich sein müsste, wenn man so eine große Sache erfuhr. Hätten sie weitere Fragen gestellt, wäre mindestens Nerida sicherlich eingeknickt und hätte alles gestanden. Den Blick ihres Vaters, seine Enttäuschung, wollte sie sich nicht einmal vorstellen.

Im Moment wirkten ihre Eltern unsicher. Natürlich, normalerweise lernten sie keine Freunde kennen, die nicht bereits alles über diese geheime Welt wussten, was nicht selten bedeutete, dass sie auch schon die Familie dahinter kannten (mit der Familie von Amy, den Lanes, waren sie schließlich schon befreundet, bevor Amy und ihre Zwillingsschwester auf die Welt gekommen waren). So wussten sie nicht so recht, was eigentlich angebrachte Fragen wären.

Schließlich war es wieder Konia, die das Wort ergriff: »Was machen denn deine Eltern?«

Nerida sah Sabia mit neu erwachter Neugierde an. Ihre Freundin legte die Fingerspitzen aneinander, als müsste sie sich auf etwas konzentrieren, lächelte aber weiterhin, wenn es auch etwas traurig wirkte. »Meine Eltern sind leider letztes Jahr verstorben. Deswegen musste ich auch herziehen. Im Moment lebe ich allein in einer betreuten Wohnung.«

So war es also. Nerida war froh, dass sie es nicht im Vorfeld erfragt hatte, so musste Sabia diesen Schmerz nur einmal ertragen. Und in Zukunft könnte sie mehr Rücksicht darauf nehmen.

»Ich wusste gar nicht, dass es so etwas hier gibt«, meinte Konia, nachdem sie alle ihr Beileid bekundet hatten. Sie sah Vane an. »Vielleicht wäre das ja etwas für Darien.«

Er verzog sein Gesicht ein wenig. »Erzählen wir ihm lieber nichts davon.«

Nerida war es auch lieber, wenn ihr Vater und ihr Bruder sich zu Hause stritten. Sie mochte diese Stimmung dann zwar nicht, aber immerhin waren alle zusammen, das war schön.

»Darien ist dein Zwillingsbruder, oder?«, fragte Sabia. »Der Junge, den wir mal getroffen haben?«

Nerida nickte. Das weckte die Neugier ihrer Eltern. »Du kennst Darien?«

Sicher verwunderte sie beide, dass ihr Bruder davon noch nichts erzählt hatte. Sonst redete er immerhin auch gern über alles Mögliche, was geschah – besonders wenn er mal wieder Parthalan herausgefordert und sich recht gut geschlagen hatte. Nicht, dass Nerida das einschätzen könnte, dafür kannte sie sich damit nicht gut genug aus.

Sabia sah diese Frage als Aufforderung, mehr darüber zu erzählen und begann dann auch sofort damit: »Also, Neri und ich saßen eines Nachmittags in einem Café …«

 

Etwa zwei Stunden später war das Treffen wieder vorbei. Neridas Eltern mussten sich nun wieder um ihre Arbeit kümmern. Keiner ihrer Brüder war mittendrin aufgetaucht.

Sabia verabschiedete sich von Vane – »Bis dann, Dr. Belfond.« – und Konia – »Es war mir eine Freude, Konia.« – und verließ dann mit Nerida die Wohnung wieder. Im Gang wandte sie sich ihr zu. »Deine Eltern sind wirklich nett, du hast nicht gelogen.«

»Natürlich nicht.« Warum sollte sie so etwas auch tun? Ihr blieb nur noch zu hoffen, dass ihre Eltern sie ebenfalls mochten, aber im Prinzip sah sie darin kein Problem.

Sabia sah den Gang in beide Richtungen hinunter. »Ich denke, du solltest mich zum Ausgang begleiten. Das hier ist doch etwas verwirrend.«

Nerida wollte ihr das gerade bestätigen, als sie plötzlich eine andere, kindlichere Stimme hörte, die auf sie zukam: »Hoffentlich hat Lady Koni noch Eis für Abby.«

»Ich bin sicher, dass sie welches hat«, erwiderte jemand ruhig.

»Wenn nicht, fragst du sie dann, ob sie welches für Abby macht, Papa?«

Ehe er ihr eine Antwort geben konnte, kamen ein Mann und ein kleines Mädchen um eine Ecke. Das rosa Haar der Kleinen wirbelte regelrecht um ihren Kopf, als sie diesen wandte und Nerida entdeckte. Sie begann zu strahlen. »Neri!«

»Hallo, Abby«, sagte Nerida lächelnd. »Hallo, Kieran.«

Der Mann neigte den Kopf ein wenig.

Kieran Haze und seine kleine Adoptivtochter Abby waren zwei ganz besondere Personen – auch wenn Nerida nicht ganz klar war, was sie so außergewöhnlich machte. Sie wusste, dass Haze einmal einer der drei Weltenzerstörer gewesen war und dass er das aufgegeben hatte, um von Konia vernichtet zu werden, weil er sterben wollte, es aber nicht konnte. Als Nerida noch klein gewesen war, hatte sie eine besondere Bindung zu ihm verspürt, die noch immer existierte – doch seit er die kleine Abby adoptiert hatte, die einfach nicht weiter wuchs und immer ein Kind blieb, nahm Nerida sich ein wenig zurück. Wer auch immer Abby war, sie benötigte diese Liebe und Aufmerksamkeit wesentlich mehr. Außerdem war die Kleine selbst für sie viel zu niedlich, um sie wegen irgendetwas zu beneiden.

Nerida breitete die Arme aus, Abby hüpfte auf sie zu – hielt aber kurz vor ihr abrupt inne und starrte Sabia aus großen Augen an. Nerida folgte ihrem Blick, konnte jedoch nicht erkennen, was Abby so irritierte. Vielleicht weil sie eine Fremde war?

Sie ließ die Arme wieder sinken. »Abby, das ist meine Freundin Sabia. Du musst keine Angst vor ihr haben, sie ist echt nett.«

Die Kleine hörte nicht auf ihre gut gemeinten Worte, sondern versteckte sich lieber hinter den Beinen von Haze, der inzwischen nähergekommen war. Auch er musterte Sabia, in seinem Blick war wie üblich nichts zu lesen; seine Miene war vollkommen ausdruckslos.

Nerida stellte auch ihn vor, er nickte nur knapp.

»Interessant«, sagte Sabia. »Ich wusste gar nicht, dass du hier so viele Leute kennst. Aber das passiert wohl, wenn man hier auch wohnt, nicht wahr?«

Etwas schwang in ihrer Stimme mit, das Nerida nicht näher benennen konnte. Sie musste unwillkürlich an einen eifersüchtigen Darien denken. War Sabia das etwa auch?

»Ich bringe dich jetzt lieber zum Ausgang«, lenkte Nerida ein. »Es wird sonst spät.«

Daraufhin lächelte Sabia sofort wieder. Sie hakte sich bei Nerida unter und zog sie mit sich den Gang hinunter, weg von Haze und Abby. Die beiden sahen ihnen noch lange hinterher, das Mädchen ängstlich, er neutral. Aber sie glaubte, dass er die Stirn kaum merklich gerunzelt hatte, etwas, das einem nur auffallen konnte, wenn man ihn lange genug kannte, so wie Nerida es tat. Warum reagierten sie so auf Sabia?

Dann bog Sabia mit ihr um eine Ecke, so dass sie die beiden anderen nicht mehr sehen konnte. Aber ihre Blicke gingen Nerida nicht mehr aus dem Kopf. Auch dann nicht, nachdem sie sich von Sabia verabschiedet hatte und wieder auf dem Weg in ihre Wohnung war. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre Vernunft wollte dem auf den Grund gehen, aber etwas anderes, etwas Mächtigeres sagte ihr, dass Haze und Abby nur irritiert von Sabias Stärke waren. Wie könnten sie auch nicht? Sabia war eine Störbrecherin, etwas, das niemand kannte. Man musste doch einfach davon irritiert sein, das ging gar nicht anders. Vielleicht besaßen sie ja auch nur Störungen, denen sie sich irgendwann widmen müssten, das wäre auch ein Grund, sich an Sabia zu stören. Aber bis dahin musste sie nicht weiter darüber nachdenken, denn es war unwichtig. Sie musste auch keinen der beiden deswegen befragen, sonst würden sie nur misstrauisch werden und das half am Ende niemandem. Nein, für den Moment sollte sie alles so lassen. Es war alles in Ordnung.

Damit verwarf sie jeden Gedanken an ihre Blicke und begann stattdessen zu summen, während sie die letzten Meter hinter sich brachte.
 

Kapitel 13: Sabia ist meine Freundin


 

»Ich kann immer noch keine Form erkennen.« Sabia beugte den Oberkörper ein wenig vor, um die leuchtenden Splitter besser mustern zu können. Allerdings blieb der Versuch erfolglos, deswegen wandte sie sich Nerida zu. »Was ist mit dir?«

Sie hatte die Blase, die alles einhüllte, ebenfalls eine Weile betrachtet, konnte aber auch nur mit den Schultern zucken. »Bislang sieht es lediglich danach aus als wäre es eine relativ gerade Form.«

Zur Erklärung deutete sie auf einige Splitter, die in einem näheren Verhältnis zu stehen schienen und umeinander schwebten, ohne andere zu beachten, sich aber auch noch nicht miteinander verbanden. Entweder fehlten noch kleine Stücke oder sie wollten warten, bis alle zusammen waren.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete Sabia die Teile eine Weile, bis sie zu dem selben Schluss kam: »Du hast recht, das sieht aus, als könnte es ein gerades Stück sein.«

Angespornt von dieser Zustimmung, fuhr Nerida mit erhitztem Gesicht fort: »Es scheint recht dünn und lang zu sein. Ein paar der Stücke sehen aus als hätten sie scharfe Kanten. Ich denke, wir können fast sicher davon ausgehen, dass es ein Schwert ist.«

»Warum sollte so etwas hier existieren?« Mit einer Handbewegung schloss Sabia den gesamten Raum ein, in dem Nerida ihre Kraft bekommen hatte. Er sah immer noch genau wie beim letzten Mal aus: kreisförmig, hell, ein Podest in der Mitte mit der Blase und den Splittern, als ob dieser Raum nur hierfür erschaffen worden wäre; die unscheinbare kleine Tür in der Wand beachtete sie nicht weiter.

»Ich weiß nicht«, antwortete Nerida. »Dafür verstehen wir zu viele Dinge noch nicht.«

Unwillkürlich griff sie sich an ihr Kinn, dabei starrte sie auf die schwebenden Teile, die sich nicht an ihrer Anwesenheit störten, aber auch keine Erklärungen lieferten.

Sabia seufzte. »Sieht ganz so aus als müssten wir einfach weitermachen. Irgendwann finden wir dann schon die Antwort.«

Eine plötzlich, nie zuvor gekannte Furcht ergriff Nerida, als sie wieder an das Verhalten von Haze und Abby gegenüber Sabia dachte. Inzwischen war es zwei Wochen her und immer wieder musste sie daran denken, nur um es dann weit von sich zu schieben. Aber sie fand, es war angebracht, die Angst mit ihrer Freundin – allein der Gedanke, dass sie endlich eine Freundin hatte, ließ Neridas Herz schneller schlagen – zu teilen: »Was, wenn wir etwas ganz Furchtbares damit auslösen, dass wir es zusammenzusetzen?«

In Geschichten waren Schwerter, besonders mystische, meistens den Helden vorbehalten, aber es bestand doch die Möglichkeit, dass es sich bei diesem um nichts Friedliches handelte. Die roten Splitter wirkten sanft genug, so wie sie durch die Blase ihre Bahnen zogen, dennoch war das Potential nicht zu ignorieren.

Sabia klopfte ihr mit den Fingerknöcheln sanft gegen die Stirn. »Du machst dir nur unnötig Sorgen, Neri.« Sie lächelte so warm, dass sogar ihre Augen zu leuchten schienen. »Diese Dinger verursachen Störungen, die Menschen schaden. Wir können sie also nicht ignorieren, selbst wenn das bedeutet, dass wir etwas Schlimmes freisetzen.«

Die Worte beruhigten ihre aufgewühlte Seele, aber ein Rest Zweifel blieb hartnäckig: »Und was, wenn es wirklich passiert?«

»Das ist doch ganz einfach.« Sabia stemmte eine Hand in die Hüfte, die andere hob sie zur geballten Faust. »Dann machen wir es einfach fertig. Bis es soweit ist, sind wir garantiert unschlagbar! Du wirst sehen, alles wird gut.«

Jegliche Skepsis wurde von dieser Ansage zerschlagen und weggefegt. Wenn Sabia derart selbstsicher auftreten konnte, gelang das Nerida sicher auch. Sie nickte enthusiastisch. »Du hast recht. Zusammen werden wir das schaffen.«

Sabia ließ ihre Arme wieder sinken. »Na siehst du? Ich wusste, du kannst auch positiv denken.«

Es fühlte sich zwar ungewöhnlich an für Nerida, aber sie genoss es auch. Es war wesentlich schöner als sich die ganze Zeit Sorgen machen zu müssen. Vielleicht sollte sie das wirklich beibehalten.

Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, entfernte Sabia sich von den Splittern, nur um dann ein genervtes Schnauben von sich zu geben. »Es wäre wirklich schön, wenn es in diesem Raum ein wenig mehr geben könnte. Eine Sitzgelegenheit, zum Beispiel. Wir könnten hier dann tolle geheime Meetings abhalten.«

Neridas Blick wanderte sofort zu der kleinen Tür. »Ist dahinter vielleicht etwas?«

Ohne sie anzusehen, wusste Sabia offenbar sofort, wovon sie sprach: »Selbst wenn, ich sagte dir ja schon, dass sie verschlossen ist. Da können wir nicht einfach rein.«

Natürlich, sie erinnerte sich an ihren ersten Besuch hier. Selbst ausprobiert hatte sie die Tür nie, außerdem kam ihr der Durchgang immer noch zu klein vor. Was immer sich dahinter verbarg, konnte es nicht wert sein, dass man sich dafür den Rücken verrenkte.

Sabia wirbelte zu ihr herum. »Hey~. Nachdem wir uns angesehen haben, wie weit wir gekommen sind, sollten wir vielleicht wieder in ein Café gehen. Ich habe wahnsinnig viel Lust auf Tee und ein Stück Kuchen.«

»Klar, wieso nicht?«

Zufrieden über diese Antwort hakte Sabia sich bei Nerida unter. Sie verließen diesen Ort, ohne dass jemand in den angrenzenden Straßen bemerkte, dass gerade jemand quasi aus dem Nichts aufgetaucht war. Die Tür war für normale Menschen nicht sichtbar, genau wie Sabia es gesagt hatte.

Bis zu ihrem Stammcafé, das sie nach jeder erfolgreichen Mission besuchten, dauerte es nicht lange, es war nur wenige Blocks entfernt. Nerida mochte es für das helle positive Ambiente, Sabia wegen des Kuchens, der angeblich hausgemacht war. Inzwischen verband Nerida außerdem ein angenehmes Gefühl mit diesem Ort, als könnte sie alles erreichen, nur weil es ihn gab.

Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster, beachteten die vorbeiziehenden Menschen allerdings kaum, ganz so als existierten sie auf einer komplett anderen Ebene, die sich ihnen allen entzog – obwohl Nerida sich lieber vorstellte, dass Sabia und sie an einem Ort waren, den sich niemand anderes auch nur ansatzweise vorstellen konnte.

Die Bestellung ging schnell vonstatten, da sie beide genau wussten, was sie wollten. Dann sahen sie nach draußen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Hochhaus, das als Sitz für zahlreiche Anwälte galt. Hinter den Fenstern konnte Nerida hin und wieder Personen ausmachen, die eifrig in Telefone hineinsprachen und dabei wild mit dem freien Arm gestikulierten. Es musste ein anstrengender Beruf sein, besonders während die Störungen aktiv waren und für Unheil sorgten, das wiederum von Anwälten vor Gericht geklärt werden musste. Ihr war es lieber, die Störungen direkt zu beseitigen. Schon allein, weil es ihr mehr Macht verlieh.

Als Sabias Kuchen kam, trennte sie fein säuberlich ein Stückchen davon mit ihrer Gabel ab. »Ah, es ist immer viel zu lang, bis ich wieder eines bekomme. Wir sollten öfter jagen gehen.«

Während sie den abgetrennten Teil genießerisch in den Mund steckte und zu kauen begann, runzelte Nerida die Stirn. »Zweimal in der Woche ist wirklich nicht viel, aber du kannst den Kuchen doch auch so bestellen. So wie heute.«

»Awww, du bist süß«, sagte Sabia. »Doch eigentlich kann ich nicht so oft weg.«

Etwa von zu Hause? Sabia hatte ihr immer noch nichts von ihrer Familie erzählt, sie auch nicht zu sich eingeladen (Nerida bestand nicht darauf, aber es wäre schön gewesen, auch mal ihre Eltern kennenzulernen) und deswegen kam sie nicht umhin, an dieser Stelle nachzuhaken: »Ist deine Familie so streng mit dir?«

Sabia überlegte, während sie ein weiteres Stück kaute, dann überzeugte sie sich offenbar selbst davon, ihr Schweigen zu brechen und antwortete: »Mein Vater macht sich nur Sorgen. Meiner Mutter geht es seit einem Unfall nicht mehr sonderlich gut, deswegen hat er die Befürchtung, dass auch mir etwas passieren könnte.« Sie lächelte bedrückt. »Wenn er wüsste, dass ich Störungen bekämpfe, würde er umkommen vor Sorge.«

Damit konnte Nerida sich identifizieren. »Ja, mein Vater auch. Er versteht auch nicht, was alle so toll am Kämpfen finden. Bestimmt wäre er ziemlich wütend, wenn er erfahren würde, was ich mache.«

»Erwachsene verstehen es einfach nicht, oder?«, ereiferte Sabia sich mit neuer Energie. »Sie denken, sie beschützen uns, wenn sie uns in eine Seifenblase einhüllen, aber eigentlich sind wir stark genug, unseren eigenen Weg zu gehen.«

»Genau.« Nerida war erleichtert, dass Sabia es genauso sah. »Und wer außer uns soll sich denn darum kümmern?«

»Und wir erwarten dafür nicht einmal ein Danke.«

Sie nickten sich beide zu, zufrieden über ihre Einigkeit, die nur durch ihr gemeinsames Geheimnis möglich gemacht worden war.

Den Rest ihres Kuchens verspeiste Sabia schweigend, Nerida beobachtete sie dabei und nippte immer wieder an ihrem Eistee. Sie genoss selbst die Stille zwischen ihnen, die wesentlich angenehmer war als die mit anderen Menschen. Solange sie Sabia hatte, benötigte sie daher auch niemanden sonst. Alles war gut.

Kaum war der Teller leer, lehnte sich Sabia seufzend zurück. »Das hat echt gut getan.«

»Erlaubt dein Vater dir nicht einmal Kuchen?«

Sabia schloss die Augen und wiegte den Kopf bedenklich hin und her. »Ich sagte ja, mein Vater macht sich sehr viele Sorgen. Dazu gehört auch, dass er befürchtet, man könnte mich vergiften. Das ist natürlich komplett lächerlich, aber er lässt sich das nicht ausreden.«

»Er sollte sich mal mit meinen Eltern unterhalten. Vielleicht würde ihn das beruhigen.«

Abrupt öffnete Sabia ihre Augen wieder. »Ich denke nicht, dass das eine gute Idee wäre.«

Nerida wollte nachhaken, weswegen, doch da schnitt ihr eine andere Stimme bereits das Wort ab: »Was für ein Zufall, dich hier zu treffen, Nerida.«

Sie hob den Blick. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war ein großer, alter Mann an ihren Tisch getreten. Obwohl sein langes Haar weiß geworden war und er noch dazu einen Bart trug, war überaus deutlich, dass er mit Vane verwandt war. Sie besaßen dieselben kantigen Gesichtszüge, nur waren sie bei diesem Mann wesentlich grimmiger, die Brille vervollständigte nur das Bild eines strengen Anführers – lediglich der Hauch eines Lächelns, das seinen Mund umspielte, nahm etwas von diesem Eindruck.

»Opa!« Nerida sprang sofort von ihrem Platz auf, um ihn zu umarmen. »Wie schön, dich zu sehen!«

Er legte ebenfalls die Arme um sie, was sich bei ihm stets wie ein besonderer Schutz anfühlte. »Du warst in der letzten Zeit sehr beschäftigt, hm?«

Tatsächlich hatte sie aufgrund der Kämpfe mit Sabia keine Zeit gefunden, etwas mit ihm zu unternehmen und wenn es sich nur um eine gemeinsame Tasse Tee handelte.

Sie löste sich wieder von ihm. »Es tut mir leid, Opa.«

Dann deutete sie zu Sabia hinüber und stellte ihm diese vor. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sein Gesicht sich verfinsterte. Dennoch grüßte er das Mädchen höflich.

»Sabia, das ist mein Großvater, Gaith Belfond.«

»Schön, Sie kennenzulernen, Mr. Belfond.« Sabias Stimme war derart kalt, dass sie hätte Frostbrand verursachen können.

»Gleichfalls.« Seine Stimme wiederum war hart genug, um damit Diamanten zu zerschneiden.

Nach einem kurzen Blickduell erhob Sabia sich. »Ich muss langsam nach Hause. Neri, wir sehen uns dann morgen wieder. Und Ihnen noch einen schönen Tag, Mr. Belfond.«

Ohne auf eine Antwort von ihnen zu warten, huschte Sabia in Richtung der Theke davon, um zu bezahlen. Gaith sah ihr mit gerunzelter Stirn hinterher, bis sie zwischen den anderen Besuchern regelrecht verschwand. Dann setzte er sich auf ihren leer gewordenen Platz und bedeutete Nerida, sich wieder niederzulassen. Er wirkte dabei so ernst, dass ihr Inneres sich verkrampfte.

»Ist irgendetwas passiert?«

»Das sollte ich eher dich fragen.« Demonstrativ schob er Sabias Geschirr von sich. »Wer war dieses Mädchen?«

»Das habe ich doch schon gesagt: sie ist Sabia, meine Freundin. Ich habe sie vor ein paar Wochen in der Schule kennengelernt.«

Er sah in die Richtung, in die sie verschwunden war. »Was weißt du über sie?«

Diese Frage hatte sie nicht erwartet. Aber sie wusste auch nicht so recht, was sie darauf antworten sollte, weswegen sie mit einer Gegenfrage konterte: »Was genau meinst du?«

Sein darauf folgender tadelnder Blick ließ sie tiefer sinken. »Woher kommt sie? Wo wohnt sie? Wer sind ihre Eltern? Ihr werdet doch sicher miteinander reden, wenn ihr so viel Zeit miteinander verbringt.«

Tatsächlich wusste sie auf all das keine Antwort. Eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass es ihr egal sein sollte, solange sie endlich eine Freundin hatte, aber eine andere – wesentlich leisere – wollte sie davon überzeugen, dass es wichtig war, sich mit den Fragen ihres Großvaters zu beschäftigen. Dennoch fegte sie das mit einer lockeren Handbewegung beiseite. »Natürlich reden wir, aber nicht über so etwas. Man muss doch nicht jede Kleinigkeit übereinander wissen.«

»War sie bei dir zu Hause?«

Nerida nickte. Gaith sah sie so finster an wie bei ihrer ersten Begegnung, aber sie wollte nicht nachgeben, nicht wenn es um Sabia ging. Es dauerte auch nicht lange, bis Gaiths Blick wieder etwas sanfter wurde, doch ein besorgter Zug blieb. »Neri, was ist mit dir passiert?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.« Schlagartig fiel ihr wieder ein, dass ihr Großvater einst Anführer der Geisterjäger gewesen war. Gelang es ihm dadurch etwas wahrzunehmen, was sie nicht sehen konnte?

»Früher hättest du eine Person wie Sabia mehr hinterfragt, statt sie einfach so zu akzeptieren.«

Obwohl das zarte Flüstern von zuvor ihm beipflichtete, wollte die lautere Stimme das nicht einfach stehenlassen: »Was ist an ihr so falsch?«

Gaith presste die Lippen aufeinander, bis sie nur noch ein dünner weißer Strich waren. Hinter seiner Stirn glaubte sie Zahnräder mahlen zu hören. War da wirklich etwas mit Sabia, das er ihr nicht einfach so sagen konnte, oder-

Nein!, rief die laute Stimme in ihrem Inneren sie sofort zur Räson. Er weiß nicht, wovon er redet, will dich nur von ihr entfremden, damit du ihm gehören kannst. Du ähnelst seiner verstorbenen Frau, natürlich will er dich da nicht teilen.

Allein der Gedanke, dass ihr Großvater so etwas Hinterhältiges planen könnte, ließ ihr Inneres rebellieren. Saure Galle stieg ihren Hals hinauf. Obwohl sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, glaubte sie, sich gleich übergeben zu müssen.

Gaith schüttelte seufzend mit dem Kopf. »Ich kann es selbst nicht genau sagen. Da ist einfach etwas an ihr, das die Welt um sie herum zu verzerren scheint. Es wundert mich wirklich, dass du es nicht bemerken kannst.«

Die Welt verzerren. Das Flüstern schnaubte amüsiert. Lächerlich.

Nerida leerte den Rest ihres Glases, ehe sie aufstand. Sie trommelte allen Mut und alle Entschiedenheit zusammen, die sie aufbringen konnte und legte diese in ihren Blick. »Vielleicht benötigst du einfach eine neue Brille.«

Gaith sah sie fassungslos an; mit einer solchen Erwiderung hatte er bei jemandem wie ihr bestimmt nicht gerechnet. Aber sie war entschlossen, sich nicht mehr dem Eindruck der anderen zu beugen. Es gab inzwischen etwas viel Wichtigeres: »Sabia ist meine Freundin – und niemand von euch wird das ändern können.«

»Neri, ich wollte nicht-«

Sie ignorierte Gaiths Einwand, fuhr stattdessen herum und strebte mit großen Schritten dem Ausgang entgegen. Was auch immer er zu sagen gewusst hätte, konnte sie nicht von ihrer Entscheidung abbringen, Sabia zu vertrauen. Immerhin war es das, was man in Freundschaften tat: man vertraute und beschützte einander.

Zumindest flüsterten ihr dies die Stimmen in ihrem Inneren, während sie nach draußen trat.

Von der Wintersonne geblendet, kniff Nerida die Augen zusammen, hielt jedoch nicht inne. Innerhalb kurzer Zeit war sie zwischen der Masse an Menschen verschwunden und somit nicht mehr für Gaith auffindbar.

Und das, obwohl du um so vieles besser bist als diese anderen, diese Gewöhnlichen, sagten die Stimmen, die sie früher gefürchtet hatte. Doch nun gab es dafür keinen Grund mehr. Diese Stimmen gehörten zu ihr, waren Teil ihres Erbes und ihres Kampfes – und sie würden ihr helfen, Sabia vor allen zu beschützen, die ihr etwas antun wollten.
 

Kapitel 14: Das bin nicht ich


 

Zwei Tage nach ihrer Begegnung mit ihrem Großvater dachte Nerida nicht einmal mehr an diese. Ihre Prioritäten waren ihr klar, es gab nichts zu hinterfragen – und darum suchten sie nicht einmal die ihr bekannten Albträume heim. Eine Tatsache, die sie begrüßte. Auch an diesem Abend, als sie nach einer weiteren erfolgreichen Jagd gemeinsam mit Sabia nach Hause ging. Nerida war vollkommen zufrieden, Sabia jedoch nicht. Seit dem Ende des Kampfes wirkte sie schon genervt, aber erst als sie auf dem Heimweg immer noch derart in Gedanken versunken war, hakte Nerida nach.

Sabia hob darauf die Arme in einer Geste von leisem Frust. »Es erscheint mir ein wenig lächerlich, dass wir immer nur derart kleine Splitter finden. So sind wir ja noch in Jahren damit beschäftigt.«

Im ersten Moment klang das wirklich wie eine kaum zu schaffende Aufgabe, aber andererseits …

»Das bedeutet«, sagte Nerida, »dass wir nur umso mehr Zeit miteinander verbringen können.«

Sie lächelte Sabia an, innerlich hoffend, dass sie nun nicht vorschlug, weitere Personen mit an Bord zu holen. Diese Kämpfe, diese Momente, wollte sie mit niemand anderem teilen, sie gehörten nur ihnen beiden. Aber sie könnte auch nicht ablehnen, wenn dieser Vorschlag käme.

Nach einem Augenblick des Nachdenkens wurde Sabias Gesicht wieder ein wenig sanfter. »Du hast recht. Es gibt keinen Grund, dass wir uns beeilen müssten.«

Nerida fiel ein Stein vom Herzen. Sie würden das auch zu zweit schaffen, egal wie lange es dauerte. Außerdem könnte sie auf diese Weise sichergehen, dass Sabia sie nicht einfach verließ, denn solange bräuchte sie Nerida noch.

Allerdings wirkte Sabia immer noch etwas bedrückt, was sich in einem tiefen Seufzen äußerte. »Ich bin zurzeit nur ein wenig angespannt, weil ich viel Ärger mit meinem Vater habe.«

»Hat er jetzt etwa doch erfahren, dass du eine Störbrecherin bist?«

Sabia schüttelte mit dem Kopf. »Meine schulischen Leistungen haben nachgelassen, das gefällt ihm nicht. Also hat er mein Taschengeld gekürzt.«

Das Jagen nahm wirklich viel von ihrer Zeit in Anspruch. Es war nicht weiter überraschend, dass es bei jemandem zu schlechteren Leistungen führte.

»Wollen wir dann nicht mal zusammen lernen?« Neridas Noten hatten sich durch ihre Tätigkeit nicht verschlechtert, obwohl ihr der Unterrichtsstoff zunehmend überflüssig erschien; vielleicht war einfach noch nicht genug Zeit vergangen, um eine Änderung deutlich zu zeigen. »Und wenn wir nächstes Mal etwas essen gehen, lade ich dich einfach ein. Ich habe genug.«

»Vielleicht komme ich tatsächlich darauf zurück«, meinte Sabia. »Aber vorerst mache ich mir keine Sorgen, besonders nicht wegen dem Geld.«

Sie wollte nicht unhöflich sein und direkt fragen, deswegen ging sie einfach davon aus, dass Sabia sich ebenfalls Reserven angelegt hatte. Außerdem interessierte sie etwas anderes gerade weitaus mehr: »Ich könnte dich ja mal besuchen. Vielleicht merkt dein Vater dann, dass er sich keine Gedanken machen muss. Meine Eltern sind auch viel ruhiger, seit sie dich kennen. Normalerweise würden sie sich sonst Sorgen machen, wenn ich so lange unterwegs bin.«

Nicht unberechtigt, wie sie wusste. Als die Springer noch aktiv gewesen waren, hatten sogar Geister sie angegriffen, so war sie immerhin in Kontakt mit ihrem Großvater gekommen – und nun war er gegen ihre Freundschaft mit Sabia, obwohl diese ihr so viel geholfen hatte.

»Und wenn er will, lernen wir dann bei dir zusammen«, fügte sie hinzu. »Das sollte ihn noch mehr beruhigen.«

»Ich werde meinen Vater mal fragen, was er davon hält, dich zu treffen. Aber versprechen kann ich dir leider nichts. Wie gesagt, er ist ein wenig … exzentrisch

Ob ihr Vater im Endeffekt auch irgendeiner geheimen Gruppe angehörte? In einem solchen Fall sollte Nerida nicht weiter nachbohren, sonst bekäme Sabia wegen ihr nur Probleme und das wollte sie natürlich nicht.

»Reden wir lieber über dich«, beschloss Sabia plötzlich. »Lassen dich diese dämlichen Schnepfen in der Schule jetzt eigentlich in Ruhe?«

Seitdem sie in der Schultoilette von Orabela und Charity angegriffen worden war, hatte sie die beiden kaum noch gesehen. Aber selbst wenn sie ihnen über den Weg gelaufen war, schien Nerida Luft für sie zu sein. Es war angenehm, aber auch eigenartig.

»Was genau hast du eigentlich mit ihnen gemacht?«, fragte Nerida, nachdem sie die Frage bejaht hatte.

Sabia schmunzelte und legte einen Finger an ihre Lippen. »Etwas Gutes~. Du weißt doch, wie wir Störungen in Menschen brechen, damit es ihnen danach besser geht, nicht wahr?«

Ganz sicher war sich Nerida in letzterem Punkt nicht. Bernice hatte sie seit dem Vorfall nicht wiedergesehen, genauso wenig wie den Buchhändler oder andere, bei denen sie Störungen beseitigt hatten. Mitunter lag das aber auch daran, dass die Opfer danach oft lange im Krankenhaus lagen. Aber warum sollte Sabia deswegen lügen? Also nickte sie.

»Manchmal«, fuhr ihre Freundin fort, »sind es nur ganz kleine Störungen, die es zu beseitigen gilt, die keine Auswirkung auf das Opfer haben, dafür aber mehr auf uns.«

Sie schwieg erwartungsvoll, worauf Nerida die letzten Teile selbst zusammensetzte: »Du meinst, du hast deine Fähigkeiten bei ihnen angewandt? Damit sie mich in Ruhe lassen?«

»Genau!« Sabia nickte enthusiastisch.

Ein vorbeilaufender Passant blickte zu ihnen herüber, hielt jedoch nicht inne. Mit Sicherheit glaubte er, ganz normale Mädchen vor sich zu haben, die nur über triviale Dinge sprachen und nicht darüber, Leute zu beeinflussen.

»Ich habe einfach die Störungen gebrochen, die dafür sorgten, dass sie dich so mies behandeln.« Sabia sagte das derart vergnügt und mit stolzgeschwellter Brust, dass es wie eine richtig gute Sache klang – doch Nerida blieb skeptisch: »Kannst du das wirklich so einfach machen? Das klingt irgendwie … falsch.«

Sabia winkte jedoch sofort ab. »Erinnerst du dich, dass wir darüber sprachen, keinen Dank für unser Tun zu erhalten? Ich bin der Meinung, dass wir es uns verdient haben, unser Leben wenigstens etwas leichter zu machen. Und wenn das bedeutet, alle Störungen, die unseren Wünschen entgegenstehen, zu brechen, dann ist das eben so. Denkst du nicht?«

Abrupt blieb Nerida stehen. »Meinst du das ernst?«

Sabia hielt ebenfalls inne. Sie stemmte einen Arm in die Hüfte und blickte Nerida direkt in die Augen. »Natürlich. Wir schaden den Leuten ja nicht, wir korrigieren nur ihren eigenen Weg ein bisschen.«

So weit Nerida wusste, stimmte das sogar. Jedenfalls schienen weder Orabela noch Charity einen Schaden davongetragen zu haben. Vielleicht war es sogar für sie beide besser, wenn sie andere Schüler nicht mehr angriffen. Um genau zu sein war es für sie alle besser. Sabia hatte recht. So wie immer.

»Wie funktioniert das denn?«, fragte Nerida, statt weiter dagegen zu argumentieren.

Sabia hakte sich bei ihr unter und lief mit ihr weiter. »Das erkläre ich dir gern~. Dann kannst du dein Leben selbst so angenehm gestalten wie du möchtest.«

 

Als Nerida schließlich Athamos betrat, wusste sie genau, wie sie kleine Störungen beseitigen konnte. Das Beste daran war, dass es nicht einmal jemandem auffiele, wie Sabia ihr versichert hatte. Die Personen wären danach der Überzeugung, selbst zu ihren Entscheidungen gelangt zu sein. Demzufolge konnte es wirklich nicht derart schlimm sein, wie sie zuerst befürchtet hatte.

Mit federnden Schritten bewegte sie sich durch die Gänge – als sie plötzlich auf eine Stimme aufmerksam wurde: »Oh, sei nicht so. Das macht mich verlegen.«

Jedes einzelne Worte schien bis zu Nerida zu tanzen, obwohl sie weit voneinander entfernt waren. Es schmeichelte sich in ihre Ohren und wünschte sich, nicht vergessen zu werden. Aber ihr wollte der Name dieses Mädchens einfach nicht einfallen, dafür war die Stimme zu neu und anders.

An einer Ecke hielt sie schließlich wieder inne. Jenseits davon entdeckte sie zwei Mädchen, die sie schon sehr lange kannte. Die eine, mit dem auffallenden rosa Haar, war die Tochter von Jii – Zareen –, die andere war schwarzhaarig und somit viel weniger bemerkenswert. Ihr Name war Eri, ihre Mutter war die Vizedirektorin von Athamos – und Eri war diejenige mit dieser ungewöhnlichen Stimme.

»Du solltest stolz darauf sein«, erwiderte Zareen ihr gerade. »Deine Stimme ist jetzt so toll, das musst du unbedingt einsetzen~.«

Wann hatte Eri eine Taschenuhr bekommen? Und weswegen? Nerida war noch nicht einmal eine angeboten worden. Sie müsste Jii danach fragen, sobald sie ihn wiedersah. Bis dahin könnte sie sich überlegen, wie sie dieses Thema nebenbei einfließen ließ, ohne es zu auffällig erscheinen zu lassen.

Eri lachte verlegen; durch die Prägung klang es nun fast wie ein melodischer Chor. »So toll ist es jetzt auch nicht. Außerdem muss ich erst meine Schule beenden.«

Letzteres war für Jii bislang immer eine Mindestgrenze gewesen, um eine Uhr zu erhalten. Hatte er bei Eri eine Ausnahme gemacht, weil sie Iris' Tochter war?

Wenn sie so darüber nachdachte, gab es für Eri viele Differenzen. Angeblich war ihr Vater der Anführer der Chaosbrecher gewesen, weswegen viele sie heute noch deswegen mieden. Manche fürchteten wohl, dass sie die Bosheit dieses Mannes geerbt hatte oder dass er sie selbst im Tod noch als Katalysator für eine mögliche Rückkehr benutzte. Natürlich war das Unsinn, dennoch änderte es nichts daran, dass Traumbrecher ihr gegenüber vorsichtig waren und sie manchmal schärfer beobachteten als es sein musste. Nerida selbst machte sich nichts aus Eri, diese war immerhin fast vier Jahre jünger als sie, deswegen hatten sie nicht viel miteinander zu tun.

»Hey«, sagte Zareen plötzlich, »hast du dem Weltenwächter schon davon erzählt?«

Wie sollte das geschehen? Der Weltenwächter war für Abteracht fast schon eine religiöse Figur. Es hieß, er sei in einer anderen Welt einst ein Dämonenjäger gewesen, der sich gegen das System aufgelehnt hatte, um seine Mitstreiter vor einem furchtbaren Schicksal zu bewahren. Wie genau es dazu gekommen war, wusste Nerida jedoch nicht, denn die vielfältigen Geschichten unterschieden sich stark voneinander. Im Anschluss an diesen Erfolg sei es ihm gelungen, seine eigene Welt zu verlassen und nun jede einzelne von einem Ort außerhalb zu bewachen.

Nerida war weder ihm noch seinem sogenannten Vollstrecker begegnet, also wusste sie nicht, wie viel sie von diesen Erzählungen glauben sollte, obwohl ihre Eltern von seiner Existenz überzeugt waren.

Eri schüttelte mit dem Kopf. »Er war bislang noch nicht wieder in meinen Träumen. Aber sobald er auftaucht, erzähle ich ihm das bestimmt.«

Er besuchte sie in ihren Träumen? War der Weltenwächter dazu in der Lage? Wobei, was sollte ihn davon abhalten, wenn er so machtvoll war, wie alle glaubten? Aber wenn er das konnte …

Warum ist er dann nie in meinen?

Auch wenn sie aktuell keine Probleme mit diesen drei Wesen hatte, so waren sie vorhanden und das seit Jahren. Warum ließ er sie alleine leiden? War er zu beschäftigt für sie?

Eine eiskalte Hand griff direkt in Neridas Brustkorb, erschwerte ihr das Atmen. Auf ihrem Rücken prickelten dafür glühende Nadeln, wollten sie davon überzeugen, ihre Waffen erscheinen und den Weltenwächter selbst für diese Vernachlässigung büßen zu lassen, egal, wo er sich gerade aufhielt.

Nein, das war verrückt. Es konnte einige Gründe dafür geben, weswegen sie ihn nie gesehen hatte – oder vielleicht waren diese Besuche auch nur Eris Unterbewusstsein (Idiot, wer sollte ihr denn von ihm erzählt haben?), in dem Fall sollte sie sich lieber beruhigen und diese leise Stimme in ihrem Inneren ignorieren. Wenn sie hier auffällig wurde, erführen ihre Eltern, dass sie eine Störbrecherin war und das wollte sie nicht. Zumindest nicht auf diese Weise.

Sie atmete tief durch, konzentrierte sich vollkommen darauf, dass alles gut für sie war, schließlich hatte sie Sabia, wer brauchte da schon den Weltenwächter?

Gerade als sie sich endlich von den beiden Mädchen abwenden wollte, wurde sie wieder durch eine Frage von Zareen aufmerksam: »Hast du Vane schon gefragt, ob er dich ausbilden wird?«

Die kalte Hand kehrte zurück, umklammerte Neridas Herz mit einem stählernen Griff. Gleichzeitig fühlte es sich an, als hätte jemand ihr einen starken Schlag in den Magen versetzt.

»Nein, noch nicht.« Eris Worte tanzten in der Luft und erreichten Nerida als unheilvolle Prophezeiung. »Das hat ja auch noch Zeit. Aber spätestens wenn ich die Schule abgeschlossen habe, werde ich ihn danach fragen.«

»Dummerchen«, tadelte Zareen. »Du solltest ihn vorher schon fragen. Er freut sich bestimmt, wenn er weiß, dass er sich keine Sorgen machen muss und Athamos einen Arzt haben wird, selbst wenn er irgendwann in Rente geht.«

Arzt.

Eri wollte die Ärztin von Athamos werden. Genau wie Nerida.

Eri hatte bereits die Schall-Prägung, ideal für einen Arzt. Nerida besaß noch nicht einmal eine Taschenuhr.

Und zu allem Überfluss war Eri nur vier Jahre jünger als Nerida. Diese vier Jahre hielt ihr Vater bestimmt noch als Arzt durch, ehe es ihn in den Ruhestand zog.

Was, wenn Nerida nie eine Taschenuhr bekäme? Vielleicht wurde sie ja von allen Uhren Jiis abgelehnt. Oder wenn sie keine Fähigkeiten erhielt, die für den Beruf geeignet war? Es bestand immerhin die – winzig-kleine – Möglichkeit, dass sie sogar nur eine Koloss-Prägung in sich trug.

Und wenn all diese schlimmsten Fälle zusammentrafen, wurde sie dann überhaupt noch gebraucht?

Nein, flüsterte die leise Stimme in ihrem Inneren. Denn niemand hat dich je gebraucht. Nicht einmal dein Zwillingsbruder. Und selbst der Weltenwächter interessiert sich nicht im Mindesten für dich. Was willst du nun dagegen tun?

Die Schmerzen auf ihrem Rücken flammten wieder auf, verlangten von ihr endlich eine Entscheidung.

»Wir korrigieren nur ihren eigenen Weg ein bisschen«, hatte Sabia gesagt.

Konnte Nerida mit dieser Ausrede eine Störung brechen, die eigentlich gut für alle außer sie war?

Vor ihren brennenden Augen verschwamm Eris Gestalt. Verärgert wischte sie sich die Tränen weg, doch es kamen sofort neue nach. Etwas in ihr drängte darauf, nicht nur diese Störung, sondern Eri selbst zu brechen, sie zu vereisen, zu zerschmettern, ihre Existenz auszulöschen, so dass sie keine Gefahr mehr für Nerida darstellte.

Die Pistole der Störbrecher erschien bereits in ihrer Hand, ihre Finger schlossen sich um den Griff. Sie müsste nicht einmal aus ihrer Deckung hervorkommen, um zu schießen, niemand würde je erfahren, dass sie hier gewesen war. Sie müsste nicht einmal die Waffe benutzen, wenn sie das nicht wollte, es gab andere Möglichkeiten, kleine Störungen zu brechen. Viele davon. Sabia hatte ihr alle ausführlich erklärt, und wenn Nerida es lange genug versuchte, fand sie vielleicht sogar noch andere Methoden, die ihrer Freundin bislang nur nicht eingefallen waren. Warum nicht Eri zu einem Versuchssubjekt machen? Und Zareen noch dazu?

Tu es, flüsterte die Stimme in ihrem Inneren. Tu es jetzt.

Zareen und Eri unterhielten sich weiter miteinander, doch ein Rauschen in ihren Ohren übertönte dieses Gespräch. Aber sie behielt beide fest im Blick. Sie müsste nur noch-

Nein.

Dieses eine in ihrem Inneren widerhallende Wort befreite sie aus ihrer Trance. Sie wich von der Ecke zurück und ließ die Waffe wieder verschwinden.

Was dachte sie sich? Wie konnte sie nur auf die Idee kommen, irgendjemandem etwas antun zu wollen, selbst wenn es nur darum ging, Störungen zu beseitigen, die ihr nicht gefielen?

Nein, das bin nicht ich.

Das Flüstern war schlagartig verstummt, damit hatten sie auch ihre Kräfte verlassen. Ihre Knie waren derart weich geworden, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sie stützte sich an der Wand ab, um nach Hause zu kommen. Dass ihr Magen bei jedem Schritt rebellierte, half ihr nicht bei dieser Aufgabe. Womit hatte sie das nur verdient? Etwa, weil sie so schwach war? Selbst jetzt noch?

Sabia hätte damit sicher keine Probleme gehabt. Ihr wäre das gelungen.

Das war ein weiterer Grund, weswegen sie immer mit Sabia zusammen sein sollte. Ihre Freundin würde solche Dinge für sie erledigen, wenn sie das nicht konnte. Gemeinsam mit Sabia könnte alles gut werden für sie.

Der Gedanke an sie half Nerida, den restlichen Weg hinter sich zu bringen. Eri war schon wieder vergessen, als sie endlich an ihrer Tür ankam, genau wie Zareen und das ganze Gespräch zwischen den beiden. Nun zählte nur noch, dass sie Sabia am nächsten Tag wiedersehen und ihr davon erzählen könnte, dass es ihr nicht gelungen war, sie nachzuahmen, dass sie ihre Hilfe benötigte.

Sabia. Wir sehen uns morgen wieder, Sabia.

Damit bereits vollauf zufrieden, schloss Nerida die Tür auf und betrat ihre Wohnung, ohne auch nur an den Weltenwächter zu denken, der sie möglicherweise einfach im Stich gelassen hatte.

Alles war gut, denn sie hatte ja noch Sabia – und nur darauf kam es an.
 

Kapitel 15: Ich darf nicht zurückweichen


 

Ich war unvorsichtig, verriet Sabias Nachricht. Es dauert wahrscheinlich eine Weile, bis ich wieder in die Schule komme. Und bis ich wieder jagen kann.

Nerida zog die Stirn kraus. Allein zu gehen wäre zu gefährlich, deswegen würde sie schweren Herzens darauf verzichten müssen, obwohl dieses Gefühl von Macht, wann immer sie einen neuen Splitter errangen, sie stets aufs Neue zu verführen versuchte. Vielleicht, so sagte ihre Vernunft, war es unter diesen Umständen auch besser, erst einmal nicht mehr zu jagen.

Zuvor muss ich diese Erkältung ausstehen, erklärte Sabia weiter. Halt die Ohren steif und pass solange gut auf dich auf, Neri.

Die Nutzung ihres Kosenamens ließ Nerida wieder lächeln. Sie tippte rasch eine Antwort, um Sabia zu versichern, dass alles in Ordnung sei und ihr eine gute Besserung zu wünschen. Dann blieb ihr nur noch zu hoffen, dass Sabias Beeinflussung von Neridas Mitschülern selbst dann noch anhielt, wenn sie nicht in der Nähe war. Einen kurzen Moment überlegte sie, einfach zu schwänzen, aber sie wusste nicht einmal, was sie ansonsten den ganzen Vormittag tun sollte, und außerdem bekämen ihre Eltern dann garantiert einen Anruf. Es war sicherer, sich an die Routine zu halten.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, schloss sie sich ihrer Familie in der Küche an, um dort zu frühstücken. Sogar Darien war an diesem Morgen schon da, weswegen er sie mit einem überraschten Gesichtsausdruck musterte. »Du bist heute echt spät dran, Nerdia.«

Sie setzte sich, ehe sie sich ihm widmete. »Ich heiße nicht Nerdia, wie du weißt.«

Augenblicklich war auch die Aufmerksamkeit ihrer Eltern und die von Ronan auf sie gerichtet. Darien blinzelte irritiert.

Erst da wurde ihr bewusst, dass der Satz wesentlich ernster geklungen haben musste als geplant. Sie lachte, um die Situation zu entschärfen. »Hin und wieder muss ich ihn ja daran erinnern, oder?«

Zu ihrem Glück verzog ihr Zwillingsbruder seine Lippen zu einem Lächeln. »Gratuliere, du lernst langsam dich durchzusetzen. Das solltest du öfter tun.«

Damit widmeten sich ihre Mutter und Ronan wieder ihrem Frühstück, während Vane die Stirn runzelte. »Mir wäre es lieber, sie müsste sich nicht durchsetzen. Und dass du sie nicht so oft ärgern würdest, Darien.«

»Aber dafür sind Geschwister doch da, Dad.«

»Wer sagt das?«

»Alle.«

Über diese simple Antwort seufzte ihr Vater lediglich, dann konzentrierte er sich auch wieder auf sein Essen. Darien und Nerida folgten diesem Beispiel. Auch wenn es in ihrem Inneren noch rumorte, auf eine gute Weise jedoch. Sie hatte sich erfolgreich gegen einen Spitznamen gewehrt, der ihr nicht behagte, obwohl er von ihrem Bruder kam. Mit diesem neu gewonnenen Selbstbewusstsein dürfte ein Schultag auch ohne Sabia keine Probleme bei ihr verursachen. Aber wenn sie schon an diese dachte …

»Mama, glaubst du, es wäre eine gute Idee, wenn ich jemandem die Hausaufgaben bringe, wenn diese Person krank, aber gar nicht in meiner Klasse ist?«

Da Konia eine normale Schule besucht hatte, im Gegensatz zu Vane, war sie die passende Person für diese Frage – auch wenn sie Darien direkt wieder zum Ächzen brachte: »Du willst echt jemandem Hausaufgaben bringen? Die Person ist bestimmt glücklich, wenn sie mal nichts davon sehen muss.«

Nerida ignorierte ihn, genau wie ihre Mutter, die ihr dafür antwortete: »Sabia würde sich bestimmt darüber freuen. Aber weißt du denn, wo sie wohnt?«

Es wunderte Nerida nicht im Mindesten, dass Konia sofort wusste, wer gemeint war. Genauso wenig die Gegenfrage. Bislang hatte sie nie darüber gesprochen, dass sie einmal bei ihrer Freundin zu Hause gewesen wäre, also war Konias Schlussfolgerung vollkommen richtig, wie sie dann auch zugab, indem sie die Frage verneinte.

Glücklicherweise war das aber nicht genug für Konia, um ihr von dem Vorhaben abzuraten: »Du wirst ohnehin die Materialien von ihrem Lehrer holen müssen. Frag ihn dann am besten auch, wo sie wohnt. Für diesen kurzen Besuch wird Sabia bestimmt Zeit haben.«

Der Vorschlag klang vernünftig, so würde sie es versuchen.

Nerida bedankte sich bei ihrer Mutter und frühstückte schweigend weiter. Allein die Vorstellung, an diesem Tag möglicherweise endlich zu sehen, wo Sabia lebte, vielleicht sogar ihren Vater kennenzulernen und ihn zu überzeugen, dass sie ein guter Einfluss war, erfüllte sie mit einem Gefühl von überschäumendem Glück, so stark, dass sie ihr Lächeln nicht unterdrücken konnte.

 

Die Euphorie hielt den ganzen Vormittag an. Sie begleitete Nerida bis in die Schule, in den Unterricht, ließ jeden ihrer Schritte so leicht werden als befände sie sich auf Wolken. Selbst wenn sie noch Probleme mit ihren Mitschülern hätte, so wären diese am heutigen Tag an ihr abgeperlt wie Regentropfen an Fensterscheiben, davon war sie überzeugt.

Immerhin gab ihr dieses Gefühl auch den notwendigen Mut, um nach dem Unterricht ohne Umschweife an die Tür des Lehrerzimmers zu klopfen. Früher hätte sie sich das nicht so einfach getraut, allein schon aus Furcht vor einer möglichen Zurückweisung oder irgendeinem Fehler von ihrer Seite aus. An diesem Tag gab es aber nur ihr Klopfen und eine Aufforderung einzutreten.

Das Lehrerzimmer sah normaler aus als gedacht. Ein langer Tisch in der Mitte des Raums, voller Tassen und achtlos liegen gelassener Papiere, eine Küchenzeile an einer Wand, ein Sofa an der anderen und dann noch ein Regal mit mehreren Fächern, die für die einzelnen Lehrer bestimmt sein mussten. Direkt neben der Tür gab es auch eine Pinnwand, an der Stundenpläne und Flyer hingen, ihr Mathelehrer stand gerade davor und korrigierte irgendeinen Aushang mit einem Stift. Als er sie sah, nickte er ihr knapp zu, ohne seine Aufgabe zu unterbrechen.

Nerida erwiderte diese Begrüßung ähnlich. Ihre Zielperson saß jedoch am Tisch. Mrs. Brown war eine Frau in den mittleren Jahren, ihr krauses Haar, das einst blond gewesen sein musste, graute langsam aus. Wirklich bemerkbar machte sich ihr Alter hauptsächlich in den Falten ihres Gesichts, die sich besonders an ihren Augen und ihren Mundwinkeln konzentrierten. Die auf ihrer Stirn bildeten tiefe Schluchten, als Nerida sie ansprach. »Entschuldigen Sie, dass ich störe, ich wollte nur etwas fragen.«

Mrs. Brown musterte sie, versuchte offenbar, sie irgendwo einzuordnen und versagte dabei – Nerida war in keinem einzigen Kurs dieser Frau, aber Sabia hatte sie mehrmals erwähnt, deswegen war sie auch die einzige Person, die sie deswegen ansprechen konnte.

»Schätzchen«, kommentierte Mrs. Brown überraschend warm, »wie kann ich dir helfen?«

Nerida stellte sich knapp vor, ehe sie zu ihrer Frage kam: »Eine Freundin von mir ist in ihren Kursen, ist heute aber krank geworden. Ich wollte ihr deswegen die Hausaufgaben vorbeibringen.«

Mrs. Brown lächelte sofort, was ihre Stirn glättete, aber die Falten an ihren Augen verstärkte. »Das ist ja wirklich lieb von dir, Schätzchen.«

Nerida fragte sich, ob Mrs. Brown aus Gewohnheit so nett war – also keine Angst vor ihr hatte – oder ob sie nur abgewimmelt werden sollte. Sie wusste, dass es Menschen gab, besonders solche, die traumatische Situationen durchlebt hatten, die sich nicht vor Dämonenjägern oder Geißeln fürchteten. Ob das auf diese Frau zutraf?

Mrs. Brown wühlte bereits in einer Ledertasche, in der sie ihre Unterlagen aufbewahrte und redete munter weiter: »Viele Schüler haben heute ja gar kein Interesse mehr an der Schule, dabei ist sie jetzt um so vieles besser als zu meiner Zeit. Kinder ändern sich wohl nur schwer. Vielleicht liegt das aber auch an ihren Eltern. Die Liebe zum Lernen muss manchen wohl mitgegeben werden.«

Statt etwas zu sagen nickte Nerida nur unbehaglich.

Glücklicherweise förderte Mrs. Brown die Papiere zutage, die gebraucht worden waren. Triumphierend hielt sie diese in die Luft als wären sie ein Schatz. Nerida nutzte diese Sprechpause, um noch etwas zu fragen: »Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber ich kenne sie noch nicht sehr lange, und aufgrund ihres strengen Vaters wollte sie mir nicht ihre Adresse verraten. Können Sie mir da vielleicht weiterhelfen?«

Erneut musterte Mrs. Brown sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Du wirst auch keinen Unsinn damit anstellen, oder? Du bist doch ein gutes Mädchen, oder?«

Nerida fluchte innerlich. Sie hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, dass eine ihr fremde Lehrerin sich vielleicht weigern könnte, ihr die Adresse zu sagen – und sie wäre damit auch im Recht. Eigentlich musste es illegal sein, jemandem einfach Adressen anderer mitzuteilen. Warum hatte sie darüber nicht vorher nachgedacht und es selbst noch einmal mit einer Nachricht an Sabia versucht?

Die zuvor verspürte Euphorie fiel in sich zusammen und bildete nun die Ruinen ihres Selbstbewusstseins. Sie wollte sich gerade noch einmal entschuldigen und davonstürmen, da klärte sich Mrs. Browns Gesicht wieder auf: »Ach, du siehst wirklich nicht wie jemand aus, der die Regeln brechen würde. Wie heißt deine Freundin denn?«

Die Erleichterung war groß wie ein Gebirge, das samt und sonders von Neridas Herzen fiel. Sofort fühlte sie sich wieder leichter, zaghaft spähte die Euphorie aus den Ruinen hervor.

»Ihr Name ist Sabia. Sabia Agrona.«

Das gute Gefühl schwand sofort wieder, als Mrs. Brown den Kopf neigte. »Tut mir leid, Schätzchen, aber der Name sagt mir gar nichts.«

In einem ersten Impuls wollte Nerida sie anfauchen, ihr sagen, dass man Sabia nicht einfach vergessen konnte, nein, das nicht einmal durfte! Doch sie hielt sich selbst davon ab, atmete tief durch und versuchte es anders: »Etwas größer als ich, kupferfarbenes Haar, selbe Frisur, goldene Augen, immer ein wenig blass.«

Mrs. Brown schüttelte mit dem Kopf. »Nein, so jemanden habe ich hier noch nie gesehen.«

»Aber das kann nicht sein«, brachte Nerida leise hervor.

Offenbar bemerkte Mrs. Brown die beginnende Verzweiflung, denn sie wandte sich an Neridas Mathelehrer, der inzwischen an der Küchenzeile stand und sich einen Kaffee einschenkte: »John, du als Vizedirektor kennst doch jeden Schüler hier. Sagt dir diese Beschreibung etwas?«

Er wandte sich ihnen nicht einmal zu. »Nein, nie gesehen. Und jemand mit einem solchen Namen wäre mir bestimmt auch in den Akten aufgefallen.«

Neridas Brustkorb zog sich zusammen, ihr Herz brannte, das Blut rauschte in ihren Ohren. »N-nein ...«

Etwas in ihrem Inneren schien zu zersplittern.

Mrs. Brown sah sie wieder an. »Nun, tut mir leid, Schätzchen, aber offenbar hat deine Freundin dich angelogen.«

 

Sämtliche Gedanken in Neridas Kopf wirbelten durcheinander, ließen sich nicht mehr fassen und erlaubten ihr selbst auf dem Heimweg nicht mehr sich zu beruhigen.

Sabia hatte sie belogen. Sie ging gar nicht auf diese Schule. Die Bestätigung war von zwei Lehrern gekommen, die keinen Grund besaßen, ihr nicht die Wahrheit zu sagen.

Und wenn Sabia schon in dieser simplen Sache unehrlich gewesen war, in welcher dann noch?

Hieß sie vielleicht gar nicht Sabia Agrona?

Wusste sie doch mehr über den Ursprung der eigenartigen Splitter?

War überhaupt irgendeines ihrer Worte wahr gewesen?

Ihr unerschütterliches Vertrauen in Sabia war zerstört, aus den Bruchteilen bildeten sich nun all diese Zweifel, die sich nicht ignorieren ließen, denn sie hakten sich an ihr fest, verfingen sich in ihren Haaren und bohrten sich unter ihre Haut.

Was sollte Nerida tun?

Der Wunsch Sabia anzurufen und ihr all diese Dinge entgegenzuschleudern und Antworten zu verlangen, war groß, aber sie beherrschte sich. Es gab keinen Grund, warum Sabia ihr plötzlich wirklich die Wahrheit sagen sollte. Wahrscheinlich würde sie stattdessen erneut lügen und versuchen Nerida wieder zu umgarnen. Aber das durfte sie nicht noch einmal zulassen.

Also musste sie selbst herausfinden, was hier los war – ohne zu wissen, wo sie anfangen sollte.

Sie lief bereits durch die Gänge von Athamos, als sie diesen Entschluss fasste. Innerlich ging sie ihre letzten Wochen mit Sabia durch, suchte nach Hinweisen. Sie könnte ihren Großvater fragen, doch es kam ihr seltsam vor, ihn um Hilfe zu bitten, nachdem sie ihn letztes Mal derart abgewiesen hatte. Allein der Gedanke erfüllte sie mit Scham und Reue, sie müsste sich bald bei ihm entschuldigen.

Wer hatte Sabia noch gesehen? Ihr Bruder, Amy, ihre Eltern, doch keinem von ihnen war irgendetwas an ihr aufgefallen. Sollte sie dennoch einen von ihnen fragen? Vielleicht waren es nur kleine Dinge gewesen, denen man beim ersten Mal keine Bedeutung beigemessen hatte, doch wenn man genauer darüber nachdachte, fiel einem doch noch etwas ein.

Nein, da stimmt etwas nicht. Es gibt jemanden, der Angst vor Sabia hatte!

Sie fuhr abrupt herum und lenkte ihre Schritte in Richtung des Labors. Zu ihrem Glück war dort gerade niemand, ihre Mutter musste woanders beschäftigt sein. Im Moment stand ihr nicht der Sinn danach, Konia zu erklären, dass das mit der Adresse nicht so einfach war.

Einige der Dämonen, die in Käfigen an einer Wand lebten, hoben träge den Kopf, als sie vorbeilief. Allerdings erkannten sie ihren Geruch, weswegen die meisten von ihnen weiterschliefen, nachdem sie sichergestellt hatten, dass sie kein unbefugter Eindringling war.

Lediglich eines der Wesen, das ein wenig an ein weißes Kaninchen mit etwas zu langen Ohren erinnerte, stellte sich auf die Hinterpfoten und lehnte sich mit den vorderen gegen die Gitterstäbe. Es streckte seine kleine wackelnde Nase hindurch. Nerida hielt inne und stupste den kleinen Dämon an. »War Ronan noch nicht bei dir? Er kommt bestimmt bald.«

Ihr kleiner Bruder verbrachte viel Zeit im Labor, um die harmlosen Subjekte zu füttern, deswegen hatten sich manche, wie dieser Pseudo-Hase, schon extrem auf ihn fokussiert.

Er gab einen winselnden Ton von sich und setzte sich wieder. In dieser Position sah er so traurig aus, dass Nerida ihm am liebsten noch ein wenig mehr Zeit gewidmet hätte – doch Schritte aus Richtung der Krankenstation brachten sie dazu ihren Weg fortzusetzen. Gerade als sie die Tür hinter sich schloss, wurde eine andere im Labor geöffnet.

Ich vermeide Mama nicht gern, aber ich muss erst Antworten finden.

Nur wenige Meter den Gang entlang kam sie endlich an ihrem Ziel an und klopfte.

Ihr Herz schlug ihr inzwischen bis zum Hals, die Zweifel bohrten sich tiefer in sie hinein, wollten Wunden aufreißen und Verunsicherungen schaffen.

»Abby macht auf!«, rief eine fröhliche Stimme aus der Wohnung.

Im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Abby strahlte regelrecht, als sie Nerida erkannte und schlang sofort ihre Arme um sie. »Kommst du Abby besuchen?«

Mit einem gezwungenen Lächeln (das Mädchen trug keine Schuld an der Situation und sollte das nicht einmal ansatzweise zu spüren bekommen) tätschelte Nerida ihren Kopf. »Ja, das ist richtig. Ich wollte mit dir und deinem Papa reden.«

Abby löste sich von ihr, nahm ihre Hand und zog sie mit sich in die Wohnung. »Papa! Neri ist da!«

Kieran Haze saß in einem karg eingerichteten Zimmer, umgeben von verschiedenen Plüschtieren und Spielzeug, auf einem dunklen Sofa. Der gesamte Raum war erst Teil seines einst kleinen Zimmers geworden, als Abby zu ihm gekommen war. Davor hatte er lediglich ein Bett besessen, aber inzwischen brachte das kleine Mädchen ihn Stück für Stück zu anderen Dingen, sogar wieder zum Lesen.

Er blickte von seinem Buch auf, als die beiden eintraten, und grüßte Nerida mit einem knappen Nicken; es erinnerte sie so sehr an ihren Mathelehrer, dass sie ein wenig schmunzeln musste.

Abby wischte einige Holzbausteine beiseite, damit Nerida sich auf das Sofa setzen konnte. Dann nahm die Kleine den Platz neben ihr ein und schmiegte sich an sie. »Neri sagt, sie will mit uns reden, Papa~.«

»Worüber?«, fragte er tonlos.

Es war unnötig, Haze in Watte zu packen oder ihm in langen Erklärungen die Situation zu schildern, er hasste das. Also kam sie direkt zum Punkt: »Neulich habt ihr doch meine Freundin Sabia getroffen. Warum habt ihr so seltsam auf sie reagiert?«

Während Haze schwieg, dachte Abby einen Moment nach, ehe sie eine Gegenfrage stellte: »War das dieses unheimliche Mädchen?«

Haze warf ihr einen missbilligenden Blick zu, doch Nerida legte sofort eine Hand auf Abbys Haar.

»Richtig«, sagte sie, »das unheimliche Mädchen. Was war an ihr denn so schlimm?«

»Sie war wie du.« Abby neigte den Kopf ein wenig. »Und gleichzeitig ganz anders.«

Sie lieferte keine weitere Erklärung. Nerida sah hilfesuchend zu Haze, der wie üblich gelangweilt aussah. Aber zumindest verstand er, was sie von ihm wollte: »Deine Freundin hat eine ähnliche Aura wie du. Aber an ihr haftet nichts albtraumhaftes.«

Das ergab beides keinen Sinn. Sabia gehörte nicht zu ihrer Familie, vielleicht aber zu Dämonenjägern, möglicherweise zu solchen, die nicht wollten, dass sie kämpfte oder die keine guten Erfahrungen mit Athamos gemacht hatten. Doch das erklärte dann immer noch nicht, warum Haze und Abby sie als unheimlich ansahen, mit anderen Jägern gab es schließlich keine Probleme.

War sie nur hierher gekommen, um noch mehr Fragen aufzuwerfen? Haze schien jedenfalls nicht gewillt, noch mehr zu sagen. Vielleicht erachtete er das als unnötige Einmischung in eine zwischenmenschliche Beziehung, in die er nicht verwickelt werden wollte.

»Außerdem«, ergänzte Abby plötzlich und zog die Aufmerksamkeit wieder auf sich, »riecht sie nicht wie Neri oder die anderen hier in Athamos, sondern wie Papa und seine Freunde.«

Zuerst war Nerida ratlos, was das bedeuten könnte. Sabia war ähnlich wie sie, roch aber nicht wie sie oder die anderen hier?

Nein, ich muss mich konzentrieren. Nicht auf unsere Unterschiede, sondern auf die Gemeinsamkeit, die sie mit anderen hat.

Abby sprach von Haze, Morte und Ares. Es gab nur eine Sache, die diese drei gemeinsam hatten und sie von allen anderen, die Abby kennen konnte, unterschieden. Für diesen Schluss benötigte Nerida keine Hilfe: »Sabia kommt aus einer anderen Welt ...«

 

Selbst mit dieser Erkenntnis hatte Nerida noch nicht zum Handy gegriffen, um Sabia anzurufen. Immer noch hegte sie den Verdacht, einfach erneut eingewickelt zu werden, wenn sie das täte.

Stattdessen hatte sie nach diesem Gespräch Athamos wieder verlassen, ohne erst nach Hause zu gehen. Deswegen stand sie nun mit ihrer Schultasche, deren Gewicht sie vor lauter tosender Gedanken kaum noch spürte, in dem Kreisraum, starrte auf die Splitter in der Blase und dachte nach, versuchte weitere Teile zu finden, um das Rätsel zu lösen.

Weswegen gab es diesen Raum? Was verband ihn mit Sabia? Wusste sie vielleicht doch, was aus diesen Bruchstücken einmal werden würde?

Es gab so viele Fragen, aber keine Antworten darauf. Und da war niemand, den sie darum bitten konnte, ihr zu helfen. Die Entschuldigung bei Gaith sollte unabhängig von jedem Hilfsgesuch sein, damit er ihre Aufrichtigkeit spüren könnte. Außerdem hätte sie jeden Besucher erst über die Natur dieses Raums aufklären müssen und dafür war sie nicht bereit. Niemand sollte wissen, wie sehr sie auf Sabia hereingefallen war, nur um endlich eine Freundin zu haben. Noch dazu könnte es gefährlich werden, sich hier genauer umzusehen, und dem wollte sie auch niemanden aussetzen.

Wie genau Sabia die Welten wechselte oder sogar wo sie herkam, hatte Haze natürlich nicht sagen können, auch nicht nachdem er ihre Aussage bestätigt hatte. Aber in Nerida war bereits ein Verdacht erwacht, deswegen war sie nun überhaupt im Kreisraum.

Sie wandte ihren Blick von den Splittern ab.

Die kleine Tür, die laut Sabia verschlossen war, wirkte weiterhin unscheinbar genug, um sie einfach sofort wieder zu vergessen. Doch Neridas Unterbewusstsein hatte sich damit von Anfang an nicht abfinden wollen und darauf bestanden, dass ein Geheimnis dahintersteckte. Dass sie möglicherweise vollkommen richtig lag damit, gefiel ihr dennoch nicht.

Was würde sie jenseits dieser Tür entdecken, sofern sie wirklich offen war? War es der Weg in Sabias Welt? Oder doch nur eine Attrappe, um sie von der Wahrheit fernzuhalten?

Noch dazu musste sie sich mit der Frage auseinandersetzen, ob Nerida stark genug war, ins Unbekannte vorzustoßen. Was immer sie dort erwartete war vermutlich nichts Angenehmes. Es gab niemanden, der ihr helfen könnte, wenn sie in Gefahr geriete. Sie müsste diese Situation alleine durchstehen, genau wie alles, was sie in der Schule durchmachte.

Und wovon Sabia mich erlöst hat. Doch zu welchem Preis?

Das Beeinflussen anderer Personen, um ein Ziel zu erreichen, behagte ihr immer noch nicht, selbst wenn es für sie gut gewesen war. Es musste auch anders funktionieren – und dafür könnte sie hier den ersten Schritt machen.

»Ich darf nicht zurückweichen«, murmelte sie, um sich selbst Mut zu machen. »Wenn ich nicht gehe, werde ich nie erfahren, was hier los ist, und wie ich es ändern kann.«

Mit diesen Worten griff sie nach dem runden Türknauf, ehe sie es sich doch anders überlegte. Er fühlte sich unangenehm warm an, fast glaubte sie, ein feines Vibrieren zu spüren, wie ein Puls, der durch ein Lebewesen bebte.

Vielleicht log Sabia nicht, zumindest in diesem Bereich. Nerida betete innerlich, dass abgeschlossen war, dass all das nur ein böser Albtraum war, der vom Sonnenaufgang verscheucht wurde – oder ein Missverständnis, das sich bereinigen ließe, sobald Nerida sie anrief.

Sie drehte den Griff und drückte.

Nichts. Die Tür gab keinen Zentimeter nach.

Sie wollte bereits aufatmen, das abhaken und nach diesem misslungenen Versuch erst mit Sabia reden, denn andere Spuren, denen sie nachgehen könnte, gab es für sie nicht.

Doch sie wusste selbst, dass das eine Lüge wäre. Noch gab es schließlich eine andere Richtung, die sie ausprobieren konnte. Davor durfte sie nicht aufgeben.

Die Hand, mit der sie den Knauf hielt, schwitzte.

Es war eine einfache Sache, nur eine kleine Bewegung, und doch fühlte es sich schwerer an als alles andere in ihrem Leben. Selbst das Mobbing hätte sie an dieser Stelle vorgezogen; ein abstruser Gedanke, den sie sofort verscheuchte.

Nerida atmete tief ein, drehte den Griff erneut und zog.

Die Tür öffnete sich.
 

Kapitel 16: Warum bist du zu mir gekommen?


 

Jenseits der Tür sah sie zuerst nur Dunkelheit. Nerida ging in die Knie, um einen besseren Blick ins Innere zu werfen. Bei genauerer Betrachtung entdeckte sie verschiedene Schuhe und Jacken, die an Kleiderbügeln hingen. Es war das Innere eines Schrankes.

Neridas Herz beruhigte sich ein wenig bei dieser Normalität. Eine Verbindung in eine andere Welt hätte sie sich jedenfalls ganz anders vorgestellt. Eine Höhle vielleicht oder zumindest ein dunkler Keller, aber nicht einen Schrank.

Sie lauschte. Niemand schien gerade da zu sein, also könnte sie durch die Tür gehen, um hoffentlich mehr herauszufinden. Solange Sabia nicht da war, gab es auch keine Möglichkeit, dass sie Nerida wieder beeinflussen könnte. Doch wenn sie erwischt wurde, wären die Konsequenzen vermutlich schlimmer als nur eine Standpauke.

»Was würde Darien tun?«, murmelte Nerida, obwohl die Antwort absolut klar war: »Er würde sagen, ich darf mich einfach nicht erwischen lassen.«

In einem solchen Moment wurde ihr wieder bewusst, wie unterschiedlich sie waren. Sein Optimismus und sein Aktionismus blieb ihr normalerweise nur zu bewundern – aber ausnahmsweise wollte sie es ihm nachmachen.

Ohne darüber nachzudenken kroch sie durch die niedrige Tür in den Schrank hinein. Sabias Geruch hüllte sie sofort ein, sie musste sich also in deren Zimmer befinden. Neridas Herz schlug wieder schneller bei der Vorstellung, dass sie nicht nur der Wahrheit näher kam, sondern dass sie auch endlich mehr über die Person erfuhr, die sie eine Freundin genannt hatte. Zu schade, dass es nun zu einer bittersüßen Erfahrung werden würde.

Nerida hielt inne, um ein weiteres Mal zu lauschen. Es war immer noch still.

Sie drückte eine der Schranktüren auf, zum Glück waren diese nicht abgeschlossen.

Als sie das Zimmer endlich betrat, konnte sie sich wieder aufrecht hinstellen. Ihre Augen huschten sofort in alle Richtungen, begierig, alles aufzusaugen und zu verarbeiten.

Der Raum war groß genug für ein Bett, einen großen Schreibtisch, ein Sofa daneben und den Schrank, alles war aufgeräumt und sauber. Es sah vollkommen normal aus, nichts wies darauf hin, dass es sich um eine andere Welt handelte. Das hatte sie aber auch nicht wirklich erwartet, schließlich war Sabia eindeutig menschlich, und sie fand sich in ihrer Welt gut zurecht, sie mussten sich also ähnlich genug sein.

Auf dem Tisch lag ein geschlossener Laptop, den sie nicht anfassen wollte, genauso wie die Schubladen; sie fühlte eine irrationale Furcht, dass ihre Fingerabdrücke sie verraten könnten. Ansonsten fand sie nichts, was hilfreich wäre. Keine Papiere, die frei herumlagen, keine Tagebücher, die praktischerweise nur darauf warteten, Hintergründe zu enthüllen.

Hinter dem Schreibtisch hingen Poster an der Wand, die Werbung für Filme machten, von denen Nerida noch nie gehört hatte, auch die Namen der Schauspieler sagten ihr nichts. Sabia hatte ihr gegenüber nie etwas von Filmen erwähnt.

Sie trat ans Fenster. Offenbar befand sie sich in einem normalen Haus, im ersten Stock. Draußen fuhren vereinzelte Autos auf einer Straße in der Nähe, im Nachbargarten rechte ein Mann gerade die Blätter auf seinem Rasen zu einem Haufen.

Weiter weg konnte sie Hochhäuser erkennen, die sie auch aus ihrer Heimatstadt kannte. Kein Wunder, dass Sabia sich so gut bei ihr zurechtgefunden hatte.

Was war der Unterschied zu ihrer Welt? Warum war Sabia zu ihr gekommen?

Immer noch ohne etwas anzufassen ging Nerida in Richtung der Tür. Kurz davor hielt sie inne, da ihr Blick auf die Wand daneben fiel. Dort hing ein einziges eingerahmtes Foto. Es zeigte Sabia, mit offenen Haaren, vermutlich als sie noch ein wenig jünger gewesen war. Neben ihr stand ein ernst aussehender Mann. Seine Haare waren braun, er trug formelle Kleidung und eine Brille. Aber das Auffälligste an ihm waren seine Augen: das rechte war grün, das linke golden.

»Iris-Heterochromie«, murmelte sie.

Davon hatte sie bereits gelesen, aber normalerweise sah sie etwas Derartiges nur in Filmen.

Viel wichtiger war aber, dass sie glaubte, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Es war nur eine ferne, kaum zu fassende Erinnerung, tief in ihrem Inneren, die sie nicht einzuordnen wusste. Vielleicht irrte sie sich auch, weil der Tag ihr bislang so viele Erkenntnisse gebracht hatte und sie damit ein wenig überfordert war.

War dieser Mann Sabias Vater?

Nerida wandte sich von dem Bild ab und trat näher an die Tür. Sie legte ihr Ohr an das Holz. Aus dem Rest des Hauses war nichts zu hören. Das gab ihr den Mut, auf den Flur hinauszutreten.

Ein heller Teppich bedeckte den Boden des engen Ganges, auf den nur wenig Licht fiel. Weitere Fotos von Sabia hingen an den Wänden, auf diesen war sie aber meist allein zu sehen. Eine kleine Sabia bei ihrer Einschulung, mit ihren Mitschülern auf einer Feier, mit verschiedenen Personen auf einer Theaterbühne. Es war, als gäbe es in diesem Haus nur Sabia. Bislang hatte Nerida keinerlei Bilder von ihrer Mutter gefunden oder ein weiteres von ihrem Vater.

Mehrere Türen gingen von diesem Gang ab, eine geschwungene Treppe führte nach unten. Weitere Räume hier oben zu durchsuchen, erhöhte nur die Chance, erwischt zu werden. Vielleicht war in einem der Zimmer sogar jemand, der bislang nur noch nicht auf sie aufmerksam geworden war, das wollte sie nicht herausfordern. Im Erdgeschoss gab es außerdem mehr Fluchtmöglichkeiten, falls sie entdeckt wurde, also wählte sie die Treppe.

Auf jeder einzelnen Stufe hielt sie für eine Sekunde inne, stellte sicher, dass sie kein Geräusch verursachte und auch nichts hören konnte. Draußen lachten Kinder, während sie sich langsam vom Gebäude entfernten.

Neridas Blut rauschte inzwischen in ihren Ohren, was es ihr erschwerte, andere Dinge zu hören. Aber sie glaubte, dass es im Haus immer noch ruhig war.

Schritt für Schritt folgte sie der Wendung der Treppe, bis sie endlich unten stand. Von hier aus konnte sie direkt ins offene Wohnzimmer sehen. Auf der anderen Seite des Sofas stand ein gut gefülltes Bücherregal, direkt daneben hingen kompliziert aussehende Bilder an der Wand, die auf den ersten Blick nur willkürliche Linien zu sein schienen; nach der anfänglichen Verwirrung fiel ihr jedoch auf, dass es sich dabei um Zeichnungen von Neuronen und verschiedenen Zellen handelte.

Ihre Augen wanderten weiter nach rechts, wo sie ein Erkerfenster entdeckte, davor stand ein Schaukelstuhl – und darin saß jemand.

Nerida entfuhr ein überraschter Laut. Sie schlug die Hände über ihren Mund, unfähig den Blick abzuwenden. Ihr Herz schlug sofort schneller, die Aufregung wühlte ihren Magen auf.

Die Person im Schaukelstuhl – eine grauhaarige Frau – bewegte sich nicht, sie starrte einfach nur aus dem Fenster hinaus. Neben ihr befand sich ein Infusionsständer, sie musste krank sein.

Da keine Reaktion erfolgte, beruhigte Nerida sich langsam wieder. Das Profil der Frau kam ihr bekannt vor, sie erinnerte sich, dass Sabia erzählt hatte, ihre Mutter sei sehr krank. Es war nicht überraschend, dass sie hier saß.

Nerida wollte langsam nach links weggehen, um ihre Suche im Esszimmer fortzusetzen, als sie eine schwache Stimme aus der Richtung der Frau hörte: »Bist du schon zurück, Hiwa?«

Das war der Geißel-Name ihres Vaters. Warum wurde er von dieser Unbekannten ausgesprochen?

Nun wirklich neugierig geworden, näherte Nerida sich dem Schaukelstuhl. Mit jedem Schritt wurde deutlicher, dass diese Frau nicht einfach nur krank war: ihre Haut hatte sich gräulich verfärbt und unterschied sich damit kaum noch von ihrem Haar, auf ihrem rechten Arm lag eine Kruste, die fast wie Stein aussah, ein wenig davon kroch auch bereits ihren Hals hinauf. Keine der Nerida bekannten Krankheiten verursachte das in einem Menschen, lediglich manche Arten von Dämonen erlitten diese Versteinerungen, wenn sie schwächer wurden, um sich zu schützen.

Schließlich blieb Nerida direkt vor der Frau stehen, sie sah in ihre grünen Augen, die durch sie hindurchzustarren schienen, vollkommen unberührt, dass jemand ihre Aussicht störte.

Sie kannte diese Augen, hatte sie erst am Morgen zuletzt gesehen, doch da waren sie aufmerksam und voller Elan gewesen, nicht so eingesunken und mit dunklen Schatten gesäumt wie hier.

Von ihrer Erkenntnis überwältigt sank Nerida in die Knie, ohne den Blickkontakt zu brechen. »Mama?«

Konia – das, was von ihr übrig geblieben war jedenfalls – lächelte ein wenig. »Neri, willkommen zurück. Wie war die Schule?«

Ihre Stimme klang rau, erinnerte kaum noch an die von Neridas Mutter. Doch sie konnte es nicht leugnen, besonders nicht nachdem sie derart angesprochen worden war.

»Was ist passiert?«

»Das Essen ist gleich fertig.« Konia wandte den Blick von ihr ab, das Lächeln erlosch sofort. »Wasch dir die Hände. Wenn dein Vater hier ist, werden wir essen.«

Nerida wollte ihre Hände nehmen, ihr beim Aufstehen helfen und sie fortbringen. Aber das hier war nicht ihre Mutter, ermahnte sie sich selbst. Es war die Konia dieser Welt. Irgendetwas Furchtbares musste mit ihr geschehen sein, deswegen war sie an diese Infusion angeschlossen. Ihr wurde bereits geholfen, Vane würde seine Frau niemals im Stich lassen.

Doch im selben Moment wurde Nerida etwas anderes bewusst: Vane war nicht hier. Konia hatte von ihm gesprochen, doch das bedeutete nichts, wenn sie nur weggetreten war. Außerdem waren sie auch nicht in Athamos. Und Sabia lebte in diesem Haus. Wie passte das alles zusammen?

Nerida folgte dem Infusionsschlauch von Konias linker Hand bis zur kleinen Glasflasche zurück, die am Ständer befestigt war und aus der es beständig tropfte. Auf dem Etikett erkannte sie das Wort Laudanum. Das ergab noch weniger Sinn. Warum sollte man ihr als Dämon Opiate verabreichen, besonders wenn sie bereits derart geschwächt war? Es sei denn …

»Sie betäuben dich?«, hauchte Nerida.

Konia reagierte darauf nicht.

Was sollte sie tun? Nerida konnte sie nicht einfach hier lassen, doch gleichzeitig war das nicht ihre Mutter, nicht ihre Welt, wo sollte sie Konia denn hinbringen? Es war unmöglich, sie mit sich zu nehmen – schon allein, weil sie Vane dann die ganze Wahrheit erzählen musste, denn wer sonst sollte sich um sie kümmern?

»Was machst du da?!«

Nerida zuckte zusammen und wich zurück. Sie sah zur Eingangstür, wo der Mann stand, den sie bereits auf einem der Fotos gesehen hatte. Sein Blick war derart finster, dass Nerida noch ein wenig weiter zurückwich.

»Wie bist du hier hereingekommen?«, fragte er.

Sie konnte ihm nicht sagen, wie sie hergekommen war. Vermutlich würde er es nicht einmal glauben, selbst wenn es ihr gelänge, es ihm zu erklären.

Glücklicherweise kam in diesem Moment Sabia aus dem Gang, der zur Küche führte. Im Gegensatz zu sonst trug sie einen dunkelgrünen Blazer über einem weißen Hemd, dazu einen knielangen schwarzen Faltenrock; es wirkte wie eine Schuluniform. Sie sah Nerida überrascht an, fing sich aber schnell wieder. »Oh, hier bist du also.«

Dann wandte Sabia sich an den Mann: »Das ist eine Freundin von mir, Vater. Es tut mir leid, dass ich dir nichts davon erzählt habe. Das war eine sehr spontane Sache.«

Seine Mimik wurde ein wenig weicher, als er seine Tochter ansah. »Ich verstehe.«

»Ich war nur kurz in der Küche«, erklärte Sabia weiter, »da muss die Neugier sie gepackt haben. Aber wir gehen jetzt in mein Zimmer.«

Sie winkte Nerida zu sich, diese folgte ihr nur zu gern, vorbei an dem unheimlichen Mann, der jede ihrer Bewegungen musterte. Als sie neben Sabia stand, nahm diese ihre Hand, doch die Stimme von Sabias Vater ließ sie beide noch einmal innehalten: »Sind wir uns schon einmal begegnet?«

Hilfesuchend sah Nerida zu Sabia, die sofort lachte. »Also wirklich, Vater. Diese Frage ist ein Klischee, denkst du nicht? Wie solltest du sie je getroffen haben?«

Er sagte nichts mehr, wandte sich ab und ging zu Konia hinüber. Sabia zog Nerida mit sich die Treppe hinauf, bis in den Raum, in dem sie bereits gewesen war. Erst nachdem sie sichergestellt hatte, dass die Tür geschlossen war, ließ sie Neridas Hand wieder los.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell herausfindest, wo ich wohne«, gab Sabia lächelnd zu.

Sie wirkte nicht wütend, eher vergnügt.

»Ich fühle mich geehrt«, fuhr sie fort, »dass du dir so viel Mühe gemacht hast, mich zu finden.«

Nerida hätte ihr widersprechen können, schließlich war es recht einfach gewesen, dahinter zu kommen, welchen Weg Sabia wohl benutzte. Doch einerseits war sie nicht schlagfertig genug, und andererseits war da etwas anderes: »Was ist hier los? Warum ist meine Mutter hier?«

»Das ist nicht deine Mutter«, erwiderte Sabia. »Sie ist meine

»Du weißt, wovon ich rede.«

Sabia hob die Hände. »Ich beantworte dir gern alles, wenn du mir vorher etwas sagst. Wie bist du so früh darauf gekommen, dass ich aus einer anderen Welt komme?«

Also erzählte Nerida ihr in knappen Worten, wie sie mit den Lehrern und dann mit Haze und Abby gesprochen hatte. »Dass diese kleine Tür etwas damit zu tun hat, war mir sofort klar. So oft wie du abgelenkt hast, sobald ich sie angesprochen habe, war das durchaus verdächtig.«

Sabia lächelte. »Oh, das hätte ich mir denken müssen. Du bist eben intelligenter als ich.«

Vermutlich sollte sie sich davon geschmeichelt fühlen, doch Nerida wartete noch auf die Beantwortung ihrer Fragen. Aber Sabia sagte nichts weiter, sie lächelte nur.

Nerida verschränkte die Arme vor der Brust. »Kannst du jetzt dein Versprechen einhalten?«

»Natürlich, verzeih.« Sabia bot Nerida einen Stuhl an, dann setzte sie sich ebenfalls an den Schreibtisch, dabei wirkte sie eigenartig vergnügt. »Oh, wie soll ich anfangen?«

Die wachsende Ungeduld ließ Nerida ein leises Schnauben ausstoßen – das Sabia zum Lachen brachte: »Das ist wirklich neu. Aber du hast recht, ich sollte mir nicht so viele Gedanken machen. Also, wir haben bereits über die Chaosbrecher gesprochen, nicht wahr?«

Nerida nickte. Zu wissen, dass es etwas mit dieser Gruppe zu tun hatte, gefiel ihr jedoch nicht.

»In deiner Welt« – Sabia zeigte auf sie – »haben sie damals verloren. In dieser hier haben sie jedoch gewonnen.«

Das kam derart unerwartet, dass Nerida die Augen aufriss.

Sabia nickte erfreut. »Ja~. Es ist gar nicht so schlimm, unter der Herrschaft von Armas. Jedenfalls wenn man sich nicht gegen ihn stellt. Vater und ich tun das nicht, also leben wir gut.«

»Was ist mit Athamos und Abteracht?«

»Anscheinend waren die Albträume sehr von Armas' Plänen angetan«, erwiderte Sabia. »Ich habe gehört, dort, wo Athamos früher war, hausen nun nur noch Nachtmahre.«

Sie zuckte mit den Schultern, als wäre das vollkommen trivial für sie. Für Nerida war das jedoch ein Schlag in die Magengrube. Was bedeutete das für alle, die dort gelebt hatten? Für ihr Gegenstück in dieser Welt und ihrer Familie?

»Abteracht ist dagegen der größte Widersacher der Chaosbrecher. Die Mitglieder wurden als Terroristen eingestuft und deswegen immer wieder verhaftet.«

Sabia klappte ihr Notebook auf und fuhr es hoch. »Ich weiß nicht genau, wie es dazu kam, dass meine Mutter hier mit meinem Vater endete, ich frage solche Dinge nicht. Vermutlich hat es irgendetwas damit zu tun, dass er den Chaosbrechern zu einem bestimmten Zeitpunkt geholfen hat, so als Dankeschön, nehme ich an.«

Dass Sabia nicht erkennen konnte, wie falsch das klang, jagte kalte Schauer über Neridas Rücken. Sie sprach so locker darüber, als erzähle sie lediglich von einem Film, den sie irgendwann einmal gesehen und der sie mild beeindruckt hatte.

Auf dem Monitor des Notebooks erschien das Bild einer einfachen Winterlandschaft, nur wenige nichts-sagende Verknüpfungen existierten auf dem Desktop, alphabetisch geordnet sogar. Sabia klickte bereits auf einige, während sie weiterplauderte: »Meistens versuchen die Mitglieder von Abteracht, sich ein wenig bedeckt zu halten, weil sie gesucht werden. Vor kurzem wurde dann ein bestimmtes Mitglied gefasst, eine Frau, die den Chaosbrechern im letzten Jahr viele Verluste zugefügt hat. Willst du raten, wer es ist?«

Nerida kannte nicht viele Leute in Abteracht, und von denen, die sie kannte, kam ihr nur eine Frau in den Sinn, die einen solchen Effekt ausüben könnte: »Seline?«

Lachend machte Sabia eine wegwerfende Handbewegung. »Die spielt schon lange keine Rolle mehr. Nein, nein, es ist jemand ganz anderes.«

Schließlich schien sie gefunden zu haben, was sie suchte. Sie klickte auf eine Datei, worauf sich ein Video öffnete. Es war die Aufzeichnung einer Nachrichtensendung, wie sie an dem Ticker in der unteren Bildschirmhälfte erkennen konnte; dieser verriet ihr auch, dass es sich bei dem gezeigten Ereignis um die Festnahme einer Terroristin handelte. Es wirkte als wäre es von einer Drohne aus der Luft aufgenommen worden.

Zuerst sah man nur eine verlassene Straße hinter einem Einkaufszentrum, wie die Laderampe und eine dunkle Stahltür verrieten. Im nächsten Moment wurde eben diese Tür von innen aufgeworfen und knallte gegen die Außenwand. Zwei Männer zerrten eine Frau heraus, die sich zwar nicht wehrte, aber auch keine Anstalten machte, mit ihnen Schritt zu halten. Sie trug Jeans, dazu eine dicke Jacke mit Fellbesatz an der Kapuze, ihr braunes Haar war zu einem unsauberen dicken Zopf geflochten. Nerida hatte das Gefühl, sie zu erkennen, aber ihr wollte kein Name einfallen. Erst als die Kamera an das Gesicht der Frau zoomte, sie deren grüne Augen sah und das blasse Gesicht, das verhärtet schien, wusste sie, wen sie da beobachtete; ihre Brust zog sich zusammen und raubte ihr die nötige Luft zum Atmen.

Das stumme Video zeigte als nächstes ihre Fahndungsbilder, sie blickte finster in die Kamera, das Antlitz einer Rebellin, die sich durch nichts von ihrem Ziel abbringen ließ.

Sabia wandte sich ihr mit leuchtendem Gesicht zu. »Ist sie nicht großartig? Als ich sie das erste Mal gesehen habe, wusste ich einfach, dass ich meine Halbschwester kennenlernen musste

Bislang hatte Nerida nicht einmal darüber nachgedacht, es vermutlich verdrängt, weil sie sich nicht einmal vorstellen wollte, was dieser Mann ihrer Mutter angetan haben könnte. Doch sie musste sich dem stellen: in dieser Welt war ihr Gegenstück die Halbschwester von Sabia.

»Warum bist du zu mir gekommen?«, fragte Nerida. »Ich bin nicht sie.«

Sie wusste ja nicht einmal, wie irgendeine Version von ihr zu einer Widerstandskämpferin werden konnte. In ihrer Realität würde sie sich vermutlich in einer Ecke zusammenrollen, sollte sie jemals in eine solche Situation kommen.

»Ich konnte schlecht einfach auf die Polizeistation gehen, und sie dort treffen, oder?« Sabia rollte mit den Augen. »Aber dann traf ich diesen Mann, der mir anbot, mir einen Wunsch zu erfüllen.«

Nerida fühlte sich innerlich inzwischen derart unruhig, dass ihre Beine zu zittern begannen. Glücklicherweise nur ein wenig, so dass es kaum auffallen dürfte. Sie wagte nicht, Sabia zu unterbrechen, selbst wenn sie nicht verstand, wie man einfach so einer Person wie diesem Mann begegnen könnte.

»Ich wünschte mir, der Nerida einer anderen Welt zu begegnen – und darauf öffnete sich ein Portal in meinem Schrank, so wie du es gefunden hast.«

Sie sah zu dem Möbelstück hinüber, ihr Blick war geradezu leidenschaftlich. »Natürlich bekam ich das nicht umsonst. Ich musste dafür als Störbrecherin arbeiten und diese Splitter sammeln. Dich durfte ich aber auch dafür anheuern~.«

Inzwischen schien es Nerida lächerlich, dass sie sich Sorgen gemacht hatte, dass Sabia sie ersetzen könnte. Selbst ohne all das zu wissen, hätte sie ahnen müssen, dass etwas nicht stimmte. Wie dumm hatte sie sein können?

Da Sabia nichts weiter sagte, sie dafür aber wieder ansah, traute Nerida sich endlich, eine Frage zu stellen: »Was wird passieren, wenn alle Splitter versammelt sind?«

Die andere zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es wirklich nicht. Er hat es mir nicht gesagt, aber es interessierte mich auch nicht. Mir ging es nur darum, dich zu treffen.«

Unvermittelt ergriff sie Neridas Hände. »Du musst dich nicht als Ersatz fühlen! Ich respektiere, dass du einmalig bist – und ich bin froh, gerade dich getroffen zu haben! Du bist perfekt!«

Die Heftigkeit dieser Aussage weckte in Nerida einen Fluchtinstinkt. Sie versuchte, Sabia ihre Hände zu entziehen, doch diese hielt sie nur umso fester.

»Gemeinsam«, fuhr Sabia fort, ihre Augen glitzerten fiebrig, »werden wir diese Splitter zusammensetzen und herausfinden, was geschehen wird – und selbst wenn es den Weltuntergang bedeutet, werden wir zusammen sein.«

»Lass mich los!« Nerida zerrte weiter, doch der Griff wurde nur umso fester.

»Verstehst du denn nicht, was für eine großartige Sache das ist?!« Sabias Stimme wurde schriller. »Das Schicksal hat uns zusammengeführt, damit wir die Welten verändern!«

Mit der Macht der Verzweiflung versuchte Nerida sich ein weiteres Mal zu befreien, diesmal mit einem heftigen Ruck – im nächsten Augenblick fuhr ein brennender Schmerz durch ihren Oberkörper, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Nur undeutlich erkannte sie Sabia, die sich auf sie setzte. Ihr Gesicht wirkte verzerrt, eine Fratze, die Nerida zum Schluchzen brachte.

»Ich will nach Hause, bitte.«

»Shh, shh, shh~.« Sabia strich ihr mit einer Hand über das Gesicht. »Keine Sorge, alles wird gut werden. Du wirst schon sehen.«

Mit kraftlosen, zitternden Armen versuchte Nerida sie runterzuschieben, doch Sabia kümmerte sich nicht einmal darum. »Wehr dich doch nicht, wir ...«

Sie hielt inne und sah zur Seite. Nerida folgte ihrem Blick. Ihre Schultasche lag auf dem Boden – und darin bewegte sich etwas.

Plötzlich sprang der hasenähnliche Dämon heraus. Er stieß ein hohes Kreischen aus, dann stürzte er sich auf Sabia. Davon überrascht stolperte sie zurück und fiel von Nerida herunter. Auf dem Rücken liegend kämpfte sie darum, das Wesen aus ihrem Gesicht zu bekommen, während es immer wieder mit den Krallen ausholte und ihr neue Kratzer verpasste.

Nerida robbte rückwärts davon, während sie sich aufsetzte, das Ereignis fassungslos anstarrend, ohne wirklich zu verstehen, was hier gerade vor sich ging. Wie durch Watte hörte sie Sabia schreien, doch es war derart dumpf, dass sie die Worte, falls welche vorhanden waren, nicht verstand. Sie stieß mit dem Rücken gegen die Schranktür, zog sich an ihr nach oben.

Dann hörte sie Schritte auf dem Gang – Sabias Vater musste aufmerksam geworden sein.

Neridas Fluchtinstinkt meldete sich wieder. Ihr blieb keine Zeit nachzudenken.

Sie ergriff ihre Tasche, tauchte in den Schrank hinein, kroch an der Kleidung und den Schuhen vorbei, durch das kleine Portal, bis ihr gesamter Körper auf der anderen Seite war. Dort richtete sie sich wieder auf, ohne auch nur zurückzublicken.

Jemand stürzte in Sabias Zimmer.

Der kleine Dämon hoppelte an Neridas Seite, als sie herumfuhr und in einer fließenden Bewegung die Tür zutrat. Eine dicke Schicht von Eis bildete sich darüber, um zu verhindern, dass sie so schnell wieder geöffnet werden konnte.

Kaum war das geschehen, sank Nerida wieder in die Knie. Der Hase hüpfte zu ihr hinüber und schnüffelte an ihren Armen. Lächelnd strich sie dem Wesen über den Kopf. »Wie bist du nur wieder aus deinem Käfig herausgekommen? Und warum hast du dich diesmal in meine Tasche verirrt?«

Natürlich bekam sie keine Antwort von ihm, er gab nur einen Ton von sich, der als Schnurren durchgehen könnte. Seine Anwesenheit verdankte sie vermutlich einer ganzen Jahresladung an Glück, das sie nun restlos aufgebracht haben dürfte.

Nerida sah wieder die Tür an. »Was soll ich jetzt machen?«

Für immer konnte sie diese Eisbarriere nicht aufrecht erhalten. Außerdem konnte sie nicht vor ihrer Verantwortung davonlaufen. Sie hatte einige dieser Splitter beschafft, ohne zu wissen, was geschah, wenn sie alle fanden.

Sie musste gut über ihre nächsten Schritte nachdenken, und hoffen, dass Sabia sich wieder genug beruhigte, um ein vernünftiges Gespräch darüber zu führen. Wenn sie erst einmal klar sah, wurde ihr bestimmt bewusst, dass sie nicht mehr für diesen Unbekannten arbeiten konnte, ohne dessen Beweggründe zu kennen. Als ihre Halbschwester müsste Sabia klug genug sein, um das einzusehen.

Vorerst musste sie aber erst hier weg. Ihre Beine fühlten sich noch immer viel zu schwach an, im Großen und Ganzen wollte sie sich nur noch hinlegen und schlafen – nachdem sie ihre Mutter eine Weile umarmt hatte.

Nerida öffnete ihre Tasche. »Komm, spring wieder rein, dann gehen wir nach Hause.«

Der Dämon folgte ihrer Aufforderung sofort, vermutlich, um endlich zu Ronan zu kommen. Mit ihm sicher verstaut, erhob sie sich erneut. Ein letzter Blick auf das Eis, das im Licht schimmerte, und ihr versicherte, dass ihre Welt erst einmal sicher war.

Dann wandte sie sich ab, um diesen Ort zu verlassen und endlich nach Hause zurückzukehren.
 

Kapitel 17: Ich bin nicht so anders


 

Trotz der Spinnen, die auf dem Tisch herumkrabbelten, stützte Nerida ihre Ellenbogen darauf ab, um ihre Stirn auf ihre gefalteten Händen legen zu können. Sie starrte auf die fleckige Oberfläche hinab, ohne sie wirklich zu sehen, weil zu viele Gedanken durch ihren Kopf rasten. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, mit wem sie darüber reden könnte. Niemand wäre in der Lage, das zu verstehen, man würde ihr Vorwürfe machen, wie sie so dumm hatte sein können. Auch die Erklärung, dass Sabia sie beeinflusst hatte, war nicht ausreichend. Nichts war hilfreich.

Eine der drei Gestalten seufzte, dann sprach Glas in einem süffisanten Ton: »Oh, armes kleines Verräterkind~. Dachtest du wirklich, irgendjemand würde dich einfach so mögen?«

Nerida hob den Blick ein wenig. Glas saß kerzengerade auf dem Stuhl, den Kopf etwas in den Nacken gelegt, um sie von oben herab anzusehen. Derart zufrieden war sie noch nie gewesen. Vielleicht sollte Nerida sich einfach für sie freuen, dann ginge es ihr besser – aber sie war nicht wirklich dazu imstande.

»Ich verstehe nicht, warum niemand mich mögen sollte«, erwiderte Nerida mit schwacher Stimme.

»Meinst du das im Ernst?« Näherin kaute auf einem Kuchenstück, während sie das sagte, deswegen waren die Worte derart undeutlich, dass Nerida etwas länger benötigte, um darauf zu antworten: »Ich bin nicht so anders im Vergleich zu anderen Personen. Selbst wenn ich halb Dämon, halb Albtraum bin, andere sind doch auch … manchmal unheimlich.«

Da musste sie nur an die drei Mädchen denken, die sie so sehr gemobbt hatten, bis zu Sabias Eingreifen. Für Nerida waren sie wesentlich furchteinflößender gewesen als jede andere Person, die ihr jemals begegnet war. Selbst manche der Dämonen, die im Labor ihrer Mutter lebten, waren friedlicher als diese Mädchen. Und wenn sie das so wahrnahm, konnte sie doch nicht die einzige sein.

Glas schnaubte; der Tee, der aus ihren Wunden floss, schoss dabei geradezu heraus und spritzte auf den Boden. »Nur weil Menschen für jemanden wie dich ein wenig unheimlich sind, stehst du nicht auf einer Stufe mit ihnen.«

Nerida war nicht wie die anderen, das war ihr schon immer bewusst gewesen. Aber weswegen musste sie sich von diesen herabsetzen lassen? Warum konnte sie nicht eine eigene Rolle erfüllen, die mit ihnen gleichgestellt war? Sie wollte ja nicht einmal besser sein. Es war unfair – besonders weil die drei Albträume dieses Denken in ihr auch noch bestärkten.

»Du hast Macht«, übernahm Mumie plötzlich das Wort. »Inzwischen bist du mehr als nur ein kleiner Mischling, entstanden durch einen Verrat. Du hast eine neue Macht erhalten, die kein anderer in dieser Welt besitzt. Warum nutzt du sie nicht?«

Die anderen beiden nickten, doch Nerida sah ratlos zwischen ihnen umher, schon allein weil diese Form der Unterstützung sie verwirrte. »Was sollte ich damit tun?«

»Die Intelligenz hast du offenbar nicht von deinen Eltern geerbt«, meinte Näherin.

»Viel gab es da ohnehin nicht zu erben«, erwiderte Glas lachend.

Mumie warf den beiden nur einen kurzen Blick aus ihrem rot-leuchtenden Auge zu, damit sie wieder verstummten. Dann konzentrierte sie sich erneut auf Nerida, als wolle sie diese so verglühen lassen. Das Mädchen sank ein wenig tiefer auf seinem Stuhl, wandte jedoch nicht sein erhitztes Gesicht ab. Mumie schüttelte resignierend den Kopf. »Du kannst deine Macht benutzen, um die Menschen um dich herum zu beherrschen. Wenn du es richtig machst, wird niemand dir widerstehen können, niemand wird dich aufhalten.«

Das entbehrte für Nerida jeglicher Logik. Egal, wie sie es sich vorstellte, irgendjemand käme garantiert dahinter und würde sie aufhalten, bevor sie weit gekommen wäre. Das teilte sie auch direkt den drei Albträumen mit, allerdings war keiner von ihnen überzeugt davon.

»Du suchst nur nach Ausreden«, konterte Näherin.

Glas stimmte mit ein: »Das ist nicht sehr großartig von dir. Du solltest deine Kräfte nicht so verkommen lassen.«

»Ich glaube nicht, dass ich sie noch einmal benutzen möchte«, widersprach Nerida.

Störungen zu brechen bedeutete im Endeffekt Leute zu täuschen. Sabia hatte behauptet, sie halfen damit den betroffenen Personen, doch Nerida war nie wieder einem von ihnen begegnet. Vielleicht geschah ihnen doch mehr als eine normale Änderung.

»Wenn du dir solche Gedanken darum machst«, sagte Mumie, »solltest du die Betroffenen vielleicht aufsuchen, um mehr herauszufinden.«

Näherin hatte gerade ein großes Stück Kuchen auf ihre Gabel aufgenommen, doch bei dieser Aussage ihrer Gefährtin schwang sie ihr Besteck derart schwungvoll, dass das Gebäck geradewegs an die Wand hinter ihr klatschte. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, empört zu schnauben: »Das klingt fast so als wolltest du sie unterstützen! Dabei sollte sie doch gerade als kleiner Mischling unsere Ideale mehr denn je vertreten und die Welt in Chaos stürzen! Nur um sich uns gegenüber zu beweisen.«

Glas nickte enthusiastisch.

Nerida war ebenfalls verwirrt. Es war das erste Mal, dass zumindest zwei Albträume genauso wenig verstanden wie sie, und allein diese Tatsache war irritierend.

Mumie stieß ein Seufzen aus, in dem alle Frustration der Welt zu stecken schien; Nerida glaubte sogar, darin ein Echo hören zu können. »Ob Chaos oder Herrschaft, am Ende zählt nur, dass die Verrätertochter uns die Freiheit ermöglicht – und die Menschen werden uns willkommen heißen.«

Ihr rotes Auge glühte fiebrig vor Erwartung. Die anderen beiden gaben verstehende Laute von sich.

»Das wäre auch gut für dich.« Bedächtig ließ Glas ihre Teetasse kreisen, dabei schwappte ein wenig Flüssigkeit über den Rand und ertränkte eine Spinne auf dem Tisch.

»Du wärst uns dann los.« Näherin stützte den Ellenbogen auf dem Tisch und ließ ihre Gabel rotieren, immer wieder schleuderte sie damit eine panisch umherkrabbelnde Spinne in die Dunkelheit davon.

Das erste Mal empfand Nerida Mitleid für diese kleinen Wesen. Genau wie sie hatten sie sich nicht ausgesucht, hier zu sein – und genau wie sie wurden sie von den Albträumen herumgeschubst, in einem Versuch, die Kontrolle über sie zu gewinnen und sie dazu zu bringen, das zu tun, was sie wollten.

Genau dasselbe, was Sabia mir antat.

Eine dünne eisige Schicht bildete sich auf ihrer Haut.

Die drei Albträume unterhielten sich weiter, diskutierten darüber, wie Nerida ihre Macht einsetzen könnte, wie sie diese drei und andere befreien könnte, wie alles so einfach sein könnte, wenn sie nur tat, was man ihr sagte.

Könnte, könnte, könnte, könnte! Ich habe es satt!

Nerida fuhr hoch, der Stuhl fiel dabei mit einem Krachen zu Boden und brachte die Albträume zum Verstummen. Nerida schlug die Hände auf den Tisch, der sofort vereiste. Scharfkantige Frostspitzen erwuchsen daraus, hielten jedoch direkt vor den drei Albträumen inne – ein stilles Mahnmal zu schweigen.

»Es reicht!«, verkündete Nerida mit einer derart festen Stimme, dass sie selbst überrascht war. Doch sie ließ sich das nicht anmerken, sondern sprach einfach weiter: »Ich werde mir von keinem von euch mehr anhören, wie ich mein Leben zu führen habe!«

Die drei Wesen starrten sie an. Keiner von ihnen schien sich daran zu stören, dass ihre Arme auf dem Tisch festgefroren waren – abgesehen von Mumie, die nach wie vor in Bandagen gewickelt war. Selbst als es sacht zu schneien begann, kümmerte sie das nicht.

»Ich werde tun, was ich will! Und ich werde meinen eigenen Platz finden. Ohne euch!«

Mühelos löste Nerida sich vom Tisch, die dadurch entstandenen Lücken wurden sofort von einer neuen Eisschicht aufgefüllt. Sie wartete darauf, dass die anderen sie für ihre Widerworte bestraften, so wie schon einige Male zuvor – doch diesmal blieben sie stumm.

Erst bei genauerem Hinsehen fiel Nerida das Glitzern auf der Haut der Albträume auf; sie waren ebenfalls in ihrem Eis gefangen. So waren sie nur noch eingefrorene Monumente, eine Erinnerung an das, was sie so lange das Fürchten gelehrt hatte.

Neridas Mundwinkel zuckten, ehe sie leise lachte. »Endlich … endlich seid ihr einmal still.«

Und es war eine geradezu königliche Stille, eine, nach der sie sich so lange gesehnt hatte. Zum ersten Mal wusste sie, wie es sich anfühlte, einen schönen Traum zu erleben.

Sie müsste ihn nur noch hinter sich lassen, ehe sie doch wieder in die düsteren Wünsche dieser drei Wesen gezogen werden würde.

Inzwischen war der Boden von Schnee bedeckt, sie hinterließ Spuren darin, die von den Flocken schnell wieder gefüllt wurden.

Ein letzter Blick zurück zeigte ihr weiterhin die erstarrten Albträume von denen keinerlei Gefahr mehr ausging. Im Moment war ihr sogar egal, ob sie tot waren, solange sie Nerida endlich in Ruhe ließen, am besten für immer.

Sie öffnete die Tür und trat in das helle Licht, das sie willig in sich aufnahm, um sie dann wieder in die Realität zu entlassen.

 

Als Nerida die Augen öffnete, fühlte sie sich das erste Mal seit langem wieder richtig erholt von ihrem Schlaf. Sie streckte sich ausgiebig, dann stellte sie fest, dass sie sogar früher als notwendig aufgewacht war. Da es sich nicht lohnte, sich für eine halbe Stunde noch einmal hinzulegen, stand sie auf und zog sich an. Aus Furcht, schlafen zu gehen, hatte sie bereits in der Nacht zuvor alle Hausaufgaben erledigt und ihre Schultasche gepackt. Da also nichts zu tun war, verließ sie ihr Zimmer und ging in die Küche, aus der bereits geschäftige Geräusche erklangen.

Konia stand an der Spüle, damit beschäftigt, Kaffee aufzubrühen. Ihre Stirn war leicht gerunzelt, während sie scheinbar unter höchster Konzentration heißes Wasser durch den Filter laufen ließ.

Euphorie durchströmte jede Zelle Neridas, als sie sich sagte, dass sie nie wieder auch nur daran denken musste, wie Sabias Mutter ausgesehen hatte. Ihre Konia war gesund, alles war in Ordnung. Deswegen nutzte Nerida die Chance, als Konia gerade darauf wartete, dass die Flüssigkeit weit genug abgelaufen war, um nachzugießen, und umarmte ihre Mutter.

Überrascht sah Konia auf sie hinunter und legte automatisch einen Arm um ihre Schulter. »Hey, Liebes. Du bist ja schon wach. Alles okay?«

Nur widerwillig löste Nerida sich wieder von ihr, sie nickte. »Es ist alles bestens. Endlich.«

Ihre Mutter neigte den Kopf ein wenig, hinterfragte das jedoch nicht, sondern lächelte. »Das ist schön. Ich bin hier noch eine Weile beschäftigt, leiste deinem Vater doch ein wenig Gesellschaft.«

Nerida stimmte dem zu und bewegte sich rückwärts zur Tür zurück. Konia war bereits wieder vollkommen in das Aufbrühen des Kaffees vertieft als wäre es ein besonders empfindliches Experiment. Sie liebte das an ihrer Mutter, dass sie sich trotz – oder gerade wegen – ihrer Intelligenz selbst an den einfachsten Dingen so begeistert festbeißen konnte. Hoffentlich blieb das für immer so.

Im Wohnzimmer fand sie ihren Vater auf dem Sofa sitzend vor. Sein Gesicht war ernst, aber entspannt, er las ein Sachbuch über psychische Krankheiten, vermutlich, um den Traumbrechern besser helfen zu können. Oder weil er einfach nur neugierig war.

Er bemerkte sie, bevor sie ihm zu nahe kommen konnte, und lächelte sie an. »Guten Morgen, Neri.«

»Guten Morgen, Papa.«

Er musterte sie aufmerksam, ehe er eine Feststellung machte: »Du siehst heute nicht mehr so blass aus wie gestern. Der Schlaf muss dir gut getan haben.«

Sie nickte und wollte gerade noch etwas sagen, als sie einen kurzen Nachrichtenton eines Handys hörte. Es war ihres.

»Oh ja.« Vane griff nach dem Telefon, das auf dem Wohnzimmertisch lag und ihr bislang gar nicht aufgefallen war. »Das musst du gestern hier vergessen haben.«

Sie erinnerte sich, ihr Handy nach ihrer Heimkehr einfach abgelegt und danach nicht mehr daran gedacht zu haben. Könnte sie es nur weiter ignorieren.

Dankend nahm sie ihrem Vater das Gerät ab. Das Display war wieder dunkel, doch Nerida war vollkommen klar, von wem diese Nachricht gekommen sein musste. All ihre neu gefundene Selbstsicherheit war schlagartig verschwunden, am liebsten hätte sie sich wieder in ihr Bett verkrochen, vielleicht sogar in den Raum der drei Albträume. Ihre tadelnden Witze über Neridas Selbstüberschätzung wären ihr in diesem Moment lieber als sich noch einmal mit Sabia auseinandersetzen zu müssen.

War ihre Antwort nicht klar genug gewesen? Erwartete Sabia nach all den Enthüllungen des Vortages wirklich eine Änderung ihrer Meinung? Was sollte sie tun, falls das Mädchen sie nicht in Ruhe lassen würde? Wenn ihr Vater schon die Konia seiner Welt in Gefangenschaft hielt, was könnte Sabia dann mit ihr anstellen?

Erst die Stimme ihres Vaters holte sie wieder aus ihren Gedanken: »Alles in Ordnung?«

Nerida atmete tief durch und nickte. »Mir ist gerade nur eingefallen, dass ich noch etwas für die Schule erledigen muss.«

Mit dieser Ausrede huschte sie wieder in ihr Zimmer zurück. Schwer atmend lehnte sie sich gegen die geschlossene Tür, ihren Blick vollkommen auf das dunkle Display konzentriert.

Weitere Fragen drängten sich ihr auf.

War das Eis vor dem Portal bereits geschmolzen? Oder war es Sabia möglich, Nachrichten über die Dimensionen hinweg zu verschicken und auch zu erhalten? Wie genau mochte das funktionieren?

Unter anderen Umständen hätte sie besonders die letzte Frage ausführlich erkundet und mit zahlreichen Theorien zu erklären versucht, doch dafür war sie an diesem Tag nicht in der Stimmung – und außerdem gab es wichtigere Dinge zu tun.

Je länger ich es hinauszögere, desto schlimmer wird es.

Mit ihrem Fingerabdruck entsperrte sie das Handy. Das Display leuchtete auf, im Hintergrund sah sie ein Foto von ihr und Sabia, das letztere gemacht hatte. Als sie es nun sah, fiel ihr das erste Mal auf, dass Sabias Lächeln fast übertrieben fröhlich schien, geradezu manisch. Wie hatte sie das vorher nie erkennen können?

In der Mitte war ein halb-transparentes weißes Fenster geöffnet, offenbar hatte sie zehn Nachrichten versäumt. Sabias Name stand an Stelle des Absenders jeder einzelner. Heiße und kalte Schauer wechselten sich darin ab, Neridas Rücken hinunterzufahren. Ihr flauer Magen drohte bereits damit, sich umzustülpen.

Es ist meine eigene Schuld. Wenn ich nicht so verzweifelt eine Freundin gewollt hätte, wäre ich nicht in dieser Situation. Jetzt muss ich mich dem stellen.

Besonders wenn sie sich an das halten wollte, was sie den Albträumen gesagt hatte. Niemand sollte ihr mehr vorschreiben, wie sie leben sollte, nicht einmal Sabia oder ihr eigenes Gewissen.

Sie wählte die Nachrichten an, die ihr sofort geöffnet wurde. Die erste war noch vom letzten Abend, Sabia hatte sich für dieses Treffen entschuldigt, als wäre das etwas, was man einfach so aus der Welt schaffen könnte.

Im Laufe der Nacht waren sieben weitere Texte von ihr angekommen. Weitere Entschuldigungen, in einem flehte Sabia sogar regelrecht um Verzeihung. Wenn der Anblick der unter Drogen stehenden Konia nicht noch so frisch in Neridas Gedächtnis wäre, hätte Sabia ihr sogar fast leid getan. Aber unter diesen Umständen war es ihr nicht möglich. Wenn das Mädchen nur halb so schlimm wie der Vater war, durfte Nerida nie wieder auch nur in ihre Nähe kommen.

Die letzte Nachricht war schließlich von diesem Morgen – und der Ton war ein vollkommen anderer. Als wäre Sabia bewusst geworden, dass alles Flehen nichts brachte und beschlossen hatte, endlich ihr wahres Selbst zu zeigen.

Nerida sank zu Boden, sie griff sich an ihre Augen, die so sehr brannten, dass es ihr vorkam als stünden sie in Flammen.

Was habe ich mir nur angetan?

Tränen ließen ihren Blick verschwimmen und machten es ihr nur umso schwerer, Sabias letzte Nachricht, und die Drohung darin, noch einmal zu lesen: »Nun gut, wenn du mir nicht antworten willst, bleibt mir nichts anderes übrig. Ich mache alle Änderungen an deinen Mitschülern rückgängig. Du hast eine Woche, um dir noch einmal zu überlegen, ob du mir nicht doch vergeben und deine Kräfte weiter benutzen willst. Ich weiß genau, dass deine netten Klassenkameraden helfen werden, dich von mir zu überzeugen. Viel Spaß in der Schule, Neri~.«
 

Kapitel 18: Du kennst mich doch gar nicht


 

Der erste Tag nach Sabias Warnung verlief noch harmlos. Man beachtete sie wieder, tuschelte hinter ihrem Rücken über sie, aber niemand tat etwas, worüber sie erleichtert war. Zumindest ein wenig, denn sie wollte sich nicht freuen, bevor sie sich nicht sicher sein konnte, dass sie auch zukünftig in Ruhe gelassen wurde.

Einen weiteren Tag später schien ihr Glück nämlich auch schon zu enden.

Nach einem ereignislosen Vormittag in der Schule begab sie sich auf den Weg nach Hause. Nach wie vor von Sabias Worten verunsichert, sah Nerida sich immer wieder um, damit sie nicht von hinten überfallen werden konnte. Niemand verfolgte sie, doch ihre Furcht wollte sie nicht in Ruhe lassen, bevor sie nicht wieder zu Hause wäre, in Athamos, wo sie in Sicherheit war, weil niemand, der ihr etwas Böses wollte, sich dort befand.

Bist du dir da so sicher?, fragte eine innere Stimme.

Nerida verscheuchte diesen Zweifler in ihrem Kopf, damit sie sich nicht auch noch damit herumschlagen musste. War es nicht schon genug, dass sie Angst hatte?

Die meisten Straßen, auf denen Nerida in Richtung Athamos lief, waren auch an diesem Nachmittag bevölkert. Aufgrund der Kälte liefen die Menschen in dicke Mäntel gehüllt mit schnellen Schritten umher, um sich der Wärme schnellstmöglich zu nähern. Keiner von ihnen achtete auf sie, die lediglich deswegen warm gekleidet war, um kein Aufsehen zu erregen. Ihr wurde nicht kalt, doch selbst wenn, so war ihr das wesentlich lieber als die Hitze, die in manchem Sommer diese Stadt in Beschlag nahm und der sie erst in Athamos wieder entgehen konnte, sobald sie bei ihrer Mutter war. Vielleicht lag es deswegen also an ihrer hohen Toleranz für diese niedrigen Temperaturen oder ihre fehlende Fitness, dass sie wesentlich langsamer lief als alle anderen – und dass sie kaum reagieren konnte, als jemand sie plötzlich am Arm packte und in eine Seitengasse hineinzog.

Ihr entfuhr lediglich ein leiser Schrei, jemand drückte sie gegen die Hauswand.

»Hallo, Belfond~«, säuselte eine Stimme.

Neridas Inneres schien sofort zu gefrieren, aber auf eine äußerst unangenehme Art. Es war Orabela, die sie mit einer Mischung aus Spott und Verachtung musterte. »Hast du uns vermisst? Ich weiß nicht, was die letzte Zeit mit uns los war, dass wir dich komplett vergessen haben, aber das war doch ziemlich unhöflich, oder?«

Charity, die Nerida gegen die Wand drückte, nickte. Statt etwas zu sagen, kaute sie provokant auf ihrem Kaugummi, der einen leichten Duft von Erdbeeren verströmte.

Nerida wollte mit dem Kopf schütteln, doch schon die Andeutung einer Bewegung führte dazu, dass Charitys Griff sich wie ein Schraubstock enger um ihr Handgelenk legte. Sie presste die Zähne zusammen, um keinen weiteren Laut von sich zu geben.

»Natürlich haben wir dich nicht vergessen«, sagte Orabela. »Auch nicht, was du mit Bernice angestellt hast. Wie auch immer jemand wie du sie ins Krankenhaus befördern konnte.«

War sie noch dort? Nerida hatte nie nachgeforscht, nie auch nur daran gedacht, danach zu fragen. Hätte sie das doch nur getan – obwohl sie bezweifelte, dass dann etwas an dieser Situation anders wäre. Vielleicht wäre sie sogar nur früher darin gelandet.

Orabela seufzte gekünstelt. »Selbst jetzt kannst du nichts dazu sagen, was?«

»Es ist doch ohnehin egal«, erwiderte Nerida leise.

Darauf leuchteten Orabelas Augen förmlich auf. »Oh, wie gut du uns durchschaut hast, Belfond. Es ist mir nämlich tatsächlich egal, was du denkst. Und Charity auch. Bist du jetzt stolz auf dich?«

Nerida schwieg. Wenn sie wollte, so viel war ihr klar, könnte sie sich einfach befreien. Sie müsste die beiden Mädchen nur einfrieren und dann ihrer Wege gehen. Mit Sicherheit bekäme sie in diesem Fall Probleme mit Abteracht, aber solange sie aufpasste, dass keine der beiden direkt erfror, dürfte sie mit einem blauen Auge davonkommen. Doch was dann? Die beiden würden nicht vergessen, was sie getan hatte, stattdessen wäre es nur ein weiterer Grund, sie auszugrenzen und ihr vielleicht noch schlimmere Dinge anzutun. Und selbst wenn sie ihre Fähigkeiten vergaßen, weil Abteracht nachhalf, änderte das nichts an ihrer täglichen Situation. Vielleicht würde sie dann nur dazu gezwungen werden, auch Dämonenjäger zu werden, um zu lernen, wie sie verantwortungsvoll mit ihren Fähigkeiten umging.

Natürlich könnte sie auch die Störbrecher-Kräfte einsetzen, so wie Sabia es getan hatte – aber genau dieser Gedanke hielt sie davon ab. Sie wollte nicht wie Sabia sein, nicht ihr Können dafür einsetzen, um Menschen zu ändern, nur weil sie ihr so besser gefielen.

Orabela tippte ihr hart gegen die Stirn. »Nicht träumen, Belfond. Wir haben dir noch gar nicht gesagt, was wir eigentlich von dir wollen. Du hast aber auch noch gar nicht gefragt, wie unhöflich!«

»Ja, richtig unhöflich!«, betonte Charity. »So behandelt man keine alten Freunde!«

Nerida drückte sich von der Mauer weg, kämpfte gegen Charitys Kraft, die ihr viel zu groß für einen Menschen vorkam. »Können wir das nicht in der Schule bereden?«

»Nein, können wir nicht!« Charity presste sie fester gegen die Wand, als wolle sie Nerida damit verschmelzen lassen, egal, was es kostete.

Ihr Blick huschte zur Seite, an Orabela vorbei. Auf der Straße liefen immer noch Menschen umher, keiner von ihnen sah in die Gasse oder verlangsamte auch nur mal seine Schritte, weil er etwas Eigenartiges wahrnahm. Als wären sie losgelöst von der wirklichen Welt. Jemanden von ihnen anzusprechen war mit Sicherheit unnütz, Erwachsene kümmerten sich nicht um die Streitigkeiten von Kindern oder Jugendlichen.

Orabela sah sie aufmerksam an. Um weiteren Schmerzen zu entgehen fragte Nerida: »Was wollt ihr von mir?«

»Von dir gar nichts«, erwiderte Orabela. »Wir müssen uns immerhin dafür entschuldigen, dass wir so lange brauchten, uns wieder Zeit für dich zu nehmen.«

»Und dafür«, sagte Charity, »haben wir sogar Freunde mitgebracht.«

Alarmiert sah Nerida in die andere Richtung. Sie war so sehr von den beiden Mädchen abgelenkt gewesen, dass ihr nicht die beiden Kerle aufgefallen waren, die nun näherkamen. Sie waren ebenfalls auf ihrer Schule, sie hatte sie schon oft in den Gängen gesehen, aber sie waren älter als sie, deswegen kannte Nerida ihre Namen nicht; im Moment trugen sie Jogginganzüge, als kämen sie gerade von irgendeinem Training.

»Das ist sie also?«, fragte einer von ihnen, der größere mit rasiertem Kopf. »Kann mich nicht erinnern, die mal gesehen zu haben.«

»Umso besser.« Der andere, kleiner, dafür stämmiger, dem sogar die ersten Bartstoppeln wuchsen, zuckte mit den Schultern. »Wenn nicht mal wir uns an sie erinnern, tun das auch alle anderen nicht, also wird ihr keiner zuhören, wenn sie petzen geht.«

»Das wird sie schon nicht«, sagte Orabela. »Sie sollte eher froh sein, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen – und das als Entschuldigung~.«

Die Gedanken in Neridas Inneren wirbelten einem Sturm gleich durcheinander, immer wieder unterbrochen von der Aufforderung, dass sie endlich ihre Kräfte freisetzen sollte, um sich aus dieser Situation zu befreien, die sie noch nicht verstand – nein, die sie nicht verstehen wollte. Was auch immer diese Kerle mit ihr vorhaben könnten, sie wollte nicht einmal im Ansatz darüber nachdenken, denn sobald es ihr erst einmal bewusst wurde, käme sie nicht umhin, ihre Kräfte einzusetzen, um jemanden umzubringen. Jedenfalls war das die Meinung ihres rationalen Verstandes, der sie vor der emotionalen Seite bewahren wollte. Einfach nicht darüber nachdenken, nur so kommt es zu keinem Mord.

Charity zog sie von der Wand weg, verdrehte ihre Arme so schmerzhaft, dass Nerida leise keuchte. Ihr Puls schoss in die Höhe, als sie auf die Knie gezwungen wurde, ihre Atmung beschleunigte sich. Sie sollte etwas sagen, sich wehren, ohne dabei jemanden zu töten. Aber die Worte steckten in ihrem Hals, ihr bewegungsloser Körper glich einem Reh im Scheinwerferlicht. Nicht einmal die Stimme in ihrem Kopf brachte irgendeinen Einwand oder Vorschlag, der über Nicht nachdenken hinausging.

Der Große lachte. »Die Kleine wehrt sich nicht mal. Sieht eher aus, als könne sie es gar nicht erwarten, dass wir anfangen.«

Mit ausgebreiteten Armen trat Orabela zurück in Richtung Straße. »Dann lasst sie nicht länger warten, Jungs. Wir haben sie viel zu lange ignoriert, das müssen wir wiedergutmachen.«

Der Blonde trat einen Schritt vor, gleichzeitig sammelte sich Kälte an Neridas Händen. Sie müsste die Energie nur loslassen, nicht einmal zielen oder sonst etwas, einfach nur … loslassen. Und das müsste schnell geschehen, bevor sie darüber nachdenken könnte und noch ehe die Jungs ihre scheußlichen Pläne in die Tat umsetzen könnten.

Sie schloss die Augen, sie wollte nicht mitansehen müssen, was sie gleich täte – als plötzlich eine neue Stimme hinter ihr erklang: »Hey! Was tut ihr da?!«

Die Jungs vor ihr fluchten, Orabela ließ sich dagegen nicht aus der Ruhe bringen: »Das ist eine private Angelegenheit, Sir.«

Innerlich flehte sie die Person an, nicht einfach weiterzugehen, sondern ihr zu helfen. Bei seinen folgenden Worten atmete sie erleichtert auf: »Willst du mich verarschen?! Lasst das Mädchen in Ruhe und haut gefälligst ab!«

Für einen Moment schwiegen alle, was dem Mann nicht zu gefallen schien: »Wird's bald?!«

Schlurfende Schritte entfernten sich widerwillig von Nerida. Jemand beugte sich zu ihr herunter, direkt neben ihr Gesicht. »Noch mal Glück gehabt, Belfond.« Ein Hauch von Erdbeere. »Aber es wird nicht immer irgendein Ritter für dich da sein.«

Dann ließ sie Nerida los, weitere Schritte entfernten sich von ihr. Dennoch traute sie sich noch nicht, die Augen wieder zu öffnen oder gar aufzustehen. Stattdessen sank sie noch tiefer in sich zusammen und legte die taub gewordenen Hände auf ihre Ohren. Wenn sie nichts mehr wahrnahm, nie wieder, könnte sie vielleicht selbst verschwinden. Alles wäre so schnell zu Ende, wenn sie ihre Kräfte einfach auf sich selbst anwandte. Was hielt sie eigentlich davon ab?

Nun, im Moment war das tatsächlich ihr Retter, der sich zu ihr beugte. »Hey, alles okay?«

Als er mit ihr sprach, klang seine Stimme anders, besorgt, sanft, keine Spur von der Aggressivität, die er den anderen entgegengebracht hatte. »Die Idioten sind weg, du bist wieder sicher.«

Sie konnte sich nichts antun, wenn jemand da war, der sich solche Gedanken um sie zu machen schien, besonders wenn sie sich nicht zuvor für seine Hilfe bedankt hatte. Also öffnete sie ihre Augen wieder und sah den Mann an. Er wirkte noch recht jung, trotz des bitteren Zugs um seine dunklen Augen, der durch seine zusammengezogenen Brauen noch mehr hervorstach.

Sie bedankte sich murmelnd, versicherte ihm, dass es ihr gutging und ließ sich von ihm aufhelfen. Sein musternder Blick lag selbst dann noch auf ihr, als sie sich den Schmutz von ihrem Rock klopfte. Ihr Herz schlug immer noch viel zu schnell, aber sie war dem schlimmsten entkommen – vorerst. Wie Charity gesagt hatte, nichts würde sie an anderen Tagen von ihrem Vorhaben abhalten, außer vielleicht das Einsetzen ihrer Kräfte. Aber sollte sie das an ihnen tun oder an ihr selbst? Letzteres würde ihr sicher weniger Ärger einbringen.

»Hey, Kleine«, sagte der Mann, um sie wieder auf sich aufmerksam zu machen.

»Ich bin wirklich okay«, sagte sie, mit etwas mehr Nachdruck diesmal.

Dennoch wandte er sich nicht von ihr ab. Als sie ihn irritiert ansah, schnippte er mit den Fingern. »Jetzt weiß ich es!«

Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Er imitierte ihre Bewegung in die andere Richtung und hob die Hände. »Woah, tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe nur die ganze Zeit überlegt, woher ich dich kenne – und jetzt ist es mir eingefallen.«

Nerida ballte eine Hand zur Faust und hielt diese hinter ihren Rücken. Ihr Arm zitterte, ihr Blut rauschte in ihren Ohren. Falls das ein Anmachspruch – wie Darien es nennen würde – sein sollte, so konnte sie damit nichts anfangen, besonders nicht nach dem, was gerade fast geschehen wäre, worüber sie immer noch nicht nachdenken wollte. Diesen Mann, diesen Fremden, würde sie einfrieren, sofern er ihr auch nur zu nahe kam. Das hatte er glücklicherweise aber auch nicht vor, stattdessen stellte er ihr eine Frage: »Du bist die kleine Belfond, nicht wahr? Konias Tochter?«

Sie stutzte, betrachtete ihn nun selbst mit gerunzelter Stirn. Ihren Nachnamen hätte er noch von den anderen aufschnappen können, aber nicht den ihrer Mutter. »Woher wissen Sie das?«

»Na ja, ich hab auf den Familienfeiern manchmal Bilder von dir gesehen.« Er legte eine gespreizte Hand auf sein Herz. »Ich bin der Cousin von Amy und Mya, Farran Lane.«

 

Lanes waren vertrauenswürdig, das wusste jeder, der irgendetwas mit einer der drei Schulen zu tun hatte. Deswegen legte Nerida jegliches Misstrauen (oder zumindest das meiste) ihm gegenüber ab und ließ sich von ihm in einem nahegelegenen kleinen Park zu einem Getränk einladen. Sie wusste nur wenig über Farran, weil er mit kaum einem Familienmitglied wirklich Kontakt hielt; er war derjenige, der mit einem gequälten Lächeln irgendwo im Hintergrund saß, wenn auf den Feiern Fotos gemacht wurden, er redete kaum, kam als letzter und ging als erster; Amy oder Mya sprachen quasi nie über ihn. Aus verschiedenen Geschichten, die ihr erzählt worden waren, wusste Nerida lediglich, dass Farran vor vielen Jahren etwas Schlimmes getan hatte, weswegen er nicht nur eine Haftstrafe in Abteracht verbüßt (als erster Gefangener der Schule überhaupt), sondern sich auch von der Familie abgekapselt hatte. Außerdem wusste sie, dass er zu den Fängern gehörte, jener elitären Gruppe Abterachts, die Dämonen lebendig einfingen, damit sie erforscht werden konnten.

Bislang hatte sie nie wirklich über diesen Mann nachgedacht, aber wäre sie danach gefragt worden, hätte sie angegeben, dass sie sich eine Person mit einem solchen Lebenslauf als arroganten Draufgänger vorstellte, der keinen Blick für jemanden wie sie übrig hatte.

Aber nun saß sie neben dem leibhaftigen Farran auf einer Bank, in der Hand eine kleine Flasche Mineralwasser, die er ihr an einem Kiosk gekauft hatte. Er nippte an einer Coladose, sein Blick ging in die Ferne, verlor sich zwischen den Bäumen und den Arbeitern, die deren abgefallenes Laub zu kleinen Haufen harkten. Selbst dabei war der bittere Zug auf seinem Gesicht deutlich. Würde sie irgendwann auch einen solchen haben? Oder war es schon zu spät und ihr fiel es nur nicht mehr auf, weil sie sich jeden Tag im Spiegel sah?

Plötzlich nahm er einen großen Schluck, ehe er sich ihr zuwandte. »Okay, Nerida, also … diese Personen vorhin, kanntest du die?«

»Flüchtig.«

»Machen die so was öfter mit dir?«

Sie nickte schweigend, erwartete, dieselben hilfreichen Ratschläge zu hören, die sie bereits in verschiedenen Medien gelesen hatte. Ignorier sie einfach oder Melde sie einem Lehrer mochten sich nett anhören, aber in der Realität waren sie nutzlos. Sie zu ignorieren führte dazu, dass sie immer krassere Methoden anwandten, wie sie nun festgestellt hatte, sie dem Lehrer zu melden war mit viel Glück lediglich nutzlos, mit viel Pech sorgte es ebenfalls für eine Verschlimmerung.

Aber Farran überraschte sie mit seiner Reaktion: »Als ich jung war, wurde ich auch gemobbt. Ich hätte den Abstellraum meiner Schule als neuen Wohnsitz anmelden können, so oft wie ich dort eingesperrt wurde. Und meistens wurde ich davor noch übel verprügelt – oder danach, wenn ich mich zu schnell befreien konnte.«

Es fiel ihr schwer, sich das vorzustellen. Sie kannte nicht viele Dämonenjäger – und Fänger schon gar nicht – aber Darien, Amy und Mya hatten zumindest keine Probleme mit anderen. Bislang war sie deswegen davon ausgegangen, dass es nicht nur an ihrer anderen Ausstrahlung lag, sondern auch an ihrem introvertierten Verhalten – und der Tatsache, dass sie ein perfektes Opfer abgab. Aber Farran konnte sie sich nicht als solches vorstellen. Natürlich wusste sie nichts darüber, wie er als Kind gewesen war, aber es erschien ihr unmöglich, dass er damals so anders gewesen war.

»Warum haben die das getan?«

Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht war ihnen einfach langweilig und sie glaubten, wenn sie den einen Kerl verprügeln, der nicht zu ihrem Freundeskreis gehört, wäre das eine sinnvolle Beschäftigung.«

In seiner Stimme war keinerlei Verbitterung wahrzunehmen. Dieser Teil seiner Vergangenheit war also nicht das, was ihn so sehr leiden ließ, es schien ihn nicht einmal mehr zu stören, sie fragte sich, warum. Geschah das, wenn man älter wurde? Oder waren ihm in der Zwischenzeit noch schlimmere Dinge geschehen? Und waren das dann jene Dinge, die ihn bitter werden ließen?

»Du warst doch ein Junge«, erinnerte sie ihn. »Warum hast du dich nie gegen sie gewehrt?«

Bislang war sie der Meinung gewesen, dass es für Jungs einfacher sein musste, sich gegen Mobbing zu wehren. Stimmte das etwa nicht?

Er griff sich mit einer Hand an den Hinterkopf, fuhr sich dort durch das schulterlange schwarze Haar, das nur zu einem Teil in einem unordentlichen Knoten festgebunden war. »Na ja, ehrlich gesagt war mir das zu viel Stress. Natürlich hätte ich sie einfach fertigmachen können, aber was das alles nach sich gezogen hätte …«

Also waren es ähnliche Überlegungen wie ihre gewesen. Selbst Farran wäre von Abteracht zur Rechenschaft gezogen worden.

»Außerdem«, fuhr er fort, »hatte ich Jahre davor schon etwas getan, was mich befürchten ließ, dass ich die Kontrolle verlieren könnte, wenn ich meine Kräfte gegen Menschen einsetzte.«

Erleichterung durchströmte Nerida, sie atmete überrascht ein. »Die Befürchtung habe ich bei mir auch. D-deswegen wehre ich mich ebenfalls nicht.«

Er lächelte sie an. »Das ist irgendwie viel beruhigender, oder? Als ich in deinem Alter war, hatte ich eine Freundin, die einfach nicht verstehen konnte, warum ich mir das gefallen ließ, egal, wie oft ich es ihr erklärte.«

So ähnlich wie Sabia, sie konnte das auch nicht verstehen. Aber es war wirklich angenehm, jemanden zu treffen, der dieselbe Befürchtung hegte wie sie, nachdem sie sich so lange unverstanden gefühlt hatte.

»Wie hat das schließlich geendet?«, fragte Nerida.

»Ich bin nach Abteracht gegangen.«

Sie verzog ihr Gesicht bei dem Gedanken. Parthalan hatte sie gefragt, ob sie mit Darien ihre Ausbildung beginnen wollte, aber nach Abteracht zu gehen war für sie keine Option. Sie hegte kein Interesse daran, Dämonenjägerin zu sein – und für ihre Ausbildung in Athamos musste sie erst die normale Schule beenden, das war Jiis Regel.

Er interpretierte ihren Gesichtsausdruck richtig: »Ich wollte ursprünglich auch nicht nach Abteracht. Aber die Umstände führten dann dazu, dass ich es doch tat.«

»Ein Lane, der nicht nach Abteracht wollte?«

Ihr Unglauben entlockte ihm ein bitteres Lachen. »Unvorstellbar, was? Ursprünglich wollte ich gern viele andere Dinge tun, aber ich nahm dann doch keinen anderen Weg. Und jetzt bin ich eben ein Fänger.«

Sie hatte ihn wirklich komplett falsch eingeschätzt. Er schien nicht im Mindesten stolz auf seine Position, sogar nun hingen seine Schultern kraftlos nach unten, während er auf den Boden blickte. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie sogar, den blauen Umriss einer Frau neben ihm sitzen zu sehen, aber nach einem Blinzeln war die Erscheinung wieder fort.

Sollte sie ihn nach den Umständen fragen, die dazu geführt hatten? Oder hätte er diese bereits genannt, wenn er das wollte? Im Grunde war sie ja eine Fremde für ihn, warum sollte er ihr das also erzählen? Nein, es war mit Sicherheit nicht angebracht, ihn zu fragen, obwohl sie neugierig geworden war.

»Hast du deinen Eltern eigentlich mal von diesen Mobbern berichtet?«, fragte er.

»Nein.« Sie seufzte schwer. »Sie haben genug Probleme mit ihren Sorgen um Darien und ihrer Arbeit, da will ich ihnen nicht noch das aufbürden.«

Außerdem könnten sie auch nichts tun – außer dass Vane vielleicht seine Schall-Prägung einsetzen könnte, aber das wäre dasselbe Prinzip wie bei Sabias Vorschlag. Nerida wollte nicht, dass irgendwer seine Kräfte einsetzte, um jemanden zu ändern, sie wollte, dass Orabela und die anderen von selbst damit aufhörten, nur dann wäre sie wirklich frei von ihnen. Das war aber natürlich eine unsinnige Hoffnung.

Farran nickte verstehend. Offenbar war es bei ihm ähnlich gewesen. Außerdem kannte Nerida seinen Vater, Lowe, ein wenig. Er war stets ausgelassen, fröhlich und wirkte nie wirklich bedrückt, als wären alle Probleme der Welt fern von ihm. Jemandem wie ihm konnte man keine weltlichen Schwierigkeiten darlegen und dann hoffen, dass er sie löste oder auch nur verstand.

Farran nahm wieder einen großen Schluck aus der Coladose, danach wirkte er sofort ein wenig besser gelaunt, als er sich ihr zuwandte: »Ich nehme mal an, du wirst diese Gruppe vorhin morgen wieder in der Schule treffen.«

Daran hatte sie noch nicht einmal im Entferntesten denken wollen. Ihre Augen brannten ein wenig, deswegen senkte sie nun selbst den Blick. Sie drehte die inzwischen warm gewordene Flasche in ihren Händen, konzentrierte ihre Kräfte, um sie wieder etwas zu kühlen. Er zog daraus seinen eigenen Schluss: »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin überzeugt, dass sie dich in Ruhe lassen werden.«

Sie drehte den Kopf ein wenig. »Was macht dich da so sicher?«

Statt zu antworten zwinkerte er ihr nur zu. Sie hoffte, dass er nichts Dummes tun würde, nicht wegen ihr. Sie wollte nicht, dass er Ärger bekam, nur weil er meinte, ihr helfen zu müssen. Doch als sie ihm das mitteilte, schüttelte er mit dem Kopf. »Wie gesagt, mach dir keine Sorgen. Ich weiß schon, worauf ich mich einlasse.«

Er griff in seine Tasche und zog eine Karte heraus, die er Nerida in die Hand drückte. Darauf stand sein Name und seine Handynummer. Auf ihren fragenden Blick lächelte er ein wenig. »Falls du nochmal Probleme hast, ruf mich einfach an.«

»Warum tust du das? Du kennst mich doch gar nicht.«

Er hatte sie einmal gerettet, weil er zufällig in der Gegend gewesen war, das verpflichtete ihn aber zu nichts, auch nicht, dass ihre Familien befreundet waren.

»Warum nicht?« Er zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, ich hab Ähnliches durchgemacht. Mir hat damals niemand geholfen, aber das bedeutet nicht, dass es dir genauso ergehen muss. Wenn du also reden willst, ruf mich einfach an. Gerade weil wir uns quasi gar nicht kennen, musst du keine Rücksicht auf mich nehmen und kannst mir einfach erzählen, wenn du Stress hast.«

Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch er schnitt ihr das Wort ab: »Ich garantiere dir, dass du nie stören wirst. Wenn ich arbeite, gehe ich nicht ran, aber dann sprich mir einfach auf die Mailbox und ich rufe so schnell wie möglich zurück. Und hey, vielleicht hilft es dir ja schon, dir das einfach nur von der Seele zu reden. Mir hätte es damals jedenfalls manchmal echt den Tag gerettet.«

Mit heißen Wangen senkte sie den Blick auf die Karte. Möglicherweise hatte er ja recht, sie benötigte jemanden, der ihr zuhörte, der ihre Situation nachvollziehen konnte. Gerade wegen letzterem konnte sie nicht den Therapeuten besuchen, der mit ihrer Familie befreundet war; als Geißel hatte er nie eine Kindheit oder Jugend durchlebt, er war in der Schule nicht gemobbt worden, nicht fast …

Übelkeit stieg in ihr auf, als sie wieder daran dachte, was geschehen wäre, wenn Farran die anderen nicht weggejagt hätte. Das Mindeste, was sie als Dank dafür tun konnte, war, die Karte einzustecken und ihm zu versichern, dass sie anrufen würde, selbst wenn sie es nie täte. Aber vielleicht wäre sie doch irgendwann dazu bereit und dann könnte sie ihm sogar von Sabia erzählen.

»Danke, Farran.«

Als er diesmal lächelte, wirkte es wesentlich ehrlicher als zuvor, sogar der bittere Zug um seine Augen ließ dafür nach. »Dann ist es abgemacht.«

Er warf einen Blick auf seine Uhr und seufzte. »Okay, ich muss dann mal los. Ein paar Papageien warten schon auf mich.«

Sie blinzelte irritiert, er ignorierte das und stand auf. In derselben Bewegung nahm er einen besonders langen Schluck seiner Cola, dann warf er die Dose kommentarlos in die Mülltonne neben der Bank. Er wandte sich ihr noch einmal zu. »Mach's gut, Nerida. Und denk daran, mich anzurufen, falls irgendwas ist.«

Mit erhobener Hand drehte er sich weg und ging schließlich mit großen Schritten davon. Im Gegensatz zu zuvor war sein Rücken nun durchgestreckt, seine Schultern gerade. Es sah fast so aus, als ob er einen neuen Plan gefasst hätte, den er nun unbedingt durchführen wollte. Ihr blieb nur zu hoffen, dass es kein Unsinn war, der mit ihr zusammenhing.

Wieder sah sie auf die Karte hinab, neben der Flasche das einzige, was sie nun noch an diese Begegnung erinnern konnte. Bei jeder anderen Person wäre sie misstrauisch geworden – aber er war ein Lane, der Ähnliches durchgemacht hatte wie sie, der sie deswegen verstand. Sie wollte glauben, dass sie ihm trauen konnte, nur damit sie nicht mehr allein in dieser Situation war. Deswegen steckte sie die Karte ein, damit sie ihn irgendwann zumindest anschreiben könnte, falls ihr danach sein sollte.

Zuerst müsste sie aber endlich nach Hause und versuchen zu vergessen, was geschehen war. Dafür stand sie selbst auf, wählte einen der Wege und folgte diesem. Dabei behielt sie stets die Wasserflasche in der Hand, aus der sie noch nicht einmal einen Schluck genommen hatte, in der nun aber ein wenig Eis glitzerte.
 

Kapitel 19: Er kennt mich doch nicht einmal


 

Nach Farrans Ankündigung, dass sie sich keine Sorgen machen müsste, war Nerida gespannt, was er damit meinte. Sie war weiter der Meinung, dass er sich wegen ihr nicht in Schwierigkeiten begeben sollte, aber er hatte ihr ja versichert, nichts Schlimmes zu tun. Deswegen konnte sie sich nichts darunter vorstellen und war zum ersten Mal aufgeregt, als sie am nächsten Tag in die Schule kam. Das, was beinahe geschehen wäre, nagte immer noch an ihr, wenn sie es nicht mit aller Macht von sich wegschob, aber genau deswegen wollte sie auch wissen, was Farran getan hatte. Nur um sicherzugehen, dass es nichts Schlimmes gewesen war.

Vor dem Unterricht begegneten ihr weder Orabela noch Charity, auch die Jungs konnte sie nicht sehen. Das war nicht verwunderlich, zumindest von den Mädchen wusste sie, dass sie manchmal erst nach der zweiten Stunde kamen. Geduldig wartete sie bis zur Mittagspause, die sie wieder in der Bibliothek verbringen wollte. Auf dem Weg dorthin entdeckte sie schließlich alle vier, die am Fuß der Treppe standen und sich miteinander unterhielten. Immer wieder wanderten ihre Blicke umher – bis der von Charity schließlich auf Nerida fiel. Ihre Augen weiteten sich, sie bedeutete den anderen, in ihre Richtung zu sehen. Kaum hatten auch diese sie erkannt, senkten sie die hochroten Köpfe und liefen eilig davon, um zwischen den anderen Schülern zu verschwinden, so schien es. Nerida folgte ihnen mit ihrem Blick, bis sie keinen von ihnen mehr sehen konnte.

Was hatte Farran mit ihnen getan? Der Gedanke, dass er sie genau wie Sabia beeinflusst haben könnte, ließ einen schmerzhaften Knoten in ihrem Inneren entstehen. Sie musste ihn unbedingt danach fragen, darum nahm sie, kaum, dass sie an einem abgeschiedenen Platz in der Bibliothek saß, ihr Handy zur Hand. Schon am Abend zuvor hatte sie Farrans Nummer eingespeichert, für den Fall der Fälle, so konnte sie direkt die Messenger-App öffnen und sein Profil unter den ihr angebotenen heraussuchen. Sein Avatar zeigte zwei Katzen – eine schwarze und eine weiße –, die wie das Yin und Yang Symbol auf einem Sofa lagen. Sie kannte das Bild nicht aus dem Internet (dabei hatte es Meme-Potential, wie Darien sagen würde, weswegen ihr Bruder es ihr bestimmt gezeigt hätte), also ging sie davon aus, dass Farran es selbst geschossen hatte. Genau wie sie ihren eigenen Avatar, der einfach nur ihr Lieblingsbuch zeigte.

Flugs tippte sie eine kurze Nachricht, in der sie ihm noch einmal für die Hilfe dankte, ehe sie zu ihrer eigentlichen Frage kam: Was hast du denn mit den vier angestellt?

Während sie auf die Antwort wartete, schlug sie eines ihrer mitgebrachten Bücher auf, um solange zu lernen. Allerdings wanderten ihre Gedanken immer wieder davon, fragten sich, wie Sabia auf eine mögliche Veränderung ihres Plans reagieren würde. Es gab die Möglichkeit, dass sie dann eine noch aggressivere Variante probierte – oder dass sie es sein ließ, doch das bezweifelte Nerida. Sabias Vater hatte ihre Mutter mit Drogen an sich gebunden, warum sollte die Tochter dann vor ähnlich radikalen Maßnahmen zurückschrecken? Woher kannte dieser Mann Konia überhaupt? War er auch ein Dämonenjäger? Arbeitete er immer noch in Abteracht?

Wenn sie so darüber nachdachte, war es am besten, sie redete mit irgendjemandem darüber. Aber wem? Schließlich müsste sie auch erklären, dass sie ebenfalls gekämpft hatte, also waren ihre Eltern außen vor, besonders ihr Vater. Mit ihrem Großvater wäre es vielleicht möglich, doch dazu müsste sie sich erst bei ihm entschuldigen, und das fiel ihr immer noch schwer, nachdem sie sich derart für ihre vermeintliche Freundin eingesetzt hatte. Vielleicht wollte er jetzt auch gar nichts mehr mit ihr zu tun haben und fühlte sich von ihr verraten. Allein das zu denken ließ ihr Herz schwer werden.

Das Vibrieren ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Farrans Antwort bestand aus einem lächelnden Smiley, gefolgt von Mach dir keine Sorgen, ich hatte nur ein nettes Gespräch mit den Jungs und den Eltern der Mädchen.

Während sie sich noch fragte, was das bedeuten sollte, kam eine weitere Nachricht: Ich dachte mir, es wäre besser, nicht selbst mit den Mädchen zu reden, das wäre irgendwie seltsam gewesen.

Das beantwortete immer noch nicht wirklich ihre Frage, weswegen sie diese wiederholte: Aber was genau hast du ihnen gesagt?

Vor allem angesichts der Tatsache, dass es nicht schlimmer geworden war, wie sie ja eigentlich erwartete, wenn Erwachsene sich einmischten. Hoffentlich hatte er keine fragwürdigen Kräfte eingesetzt, das war das Letzte, was sie wollte.

Du bist aber neugierig. ;) Na ja, jedenfalls hab ich den Jungs nur geraten, dir nicht mehr zu nahe zu kommen.

Das klang, als hätte er sie bedroht. Begeistert war sie davon zwar nicht, aber es war besser, als sie durch seine Fähigkeiten zu beeinflussen – und vielleicht gab es manchmal keinen anderen Weg, mit Mobbern umzugehen. Er hatte Erfahrungen damit, also sollte sie ihm da lieber vertrauen, vor allem, da es zu wirken schien.Außerdem hätte er ihr nicht helfen müssen, hatte es aber dennoch getan, da sollte sie ihm dankbar sein, statt zu misstrauisch.

Und die Eltern der Mädchen … na ja, einer der Väter wusste, für wen ich arbeite, da war es ziemlich einfach, ihn zu überzeugen, dass seine Tochter nichts Gutes mit dir im Schilde führt, und er hat dann mit den anderen Eltern geredet.

Wenn einer der Väter wusste, dass Farran für Abteracht arbeitete, musste das bedeuten, er war Polizist oder ein sonstiger Beamter. Soweit es Nerida jedenfalls bekannt war, wussten nur bestimmte Berufsgruppen von den Schulen und ihren Aufgaben. Es erstaunte sie, dass so jemand eine solche Tochter großziehen könnte.

Es dauerte nur wenige Sekunden, dann kam von Farran noch eine Frage hinterher: Haben sie dir etwas getan?

Sie erklärte ihm rasch, dass sie sogar vor ihr geflohen waren, ließ aber ihre Sorgen vor dem Einsatz seiner Kräften unter den Tisch fallen. Glücklicherweise reagierte er dafür auf unausgesprochene Bedenken von ihr: Falls sie daran denken sollten, sich an dir zu rächen, vereis sie einfach. Ich hab mit meinem Vorgesetzten darüber gesprochen, und er legt ein besonders gutes Wort für dich ein, wenn es sein muss.

Sie bedankte sich bei ihm, musste aber wieder nachhaken: Er kennt mich doch nicht einmal. Wie kann er da für mich ein gutes Wort einlegen?

Die Geschwindigkeit mit der Farran ihr antwortete, verriet ihr, dass er entweder frei hatte oder ebenfalls Pause machte, denn es dauerte wieder nur wenige Sekunden: Er vertraut mir eben. Wenn du also Mist baust, krieg ich großen Ärger mit ihm. :,D

Dann konnte er von Glück sagen, dass sie kein Interesse daran hegte, irgendetwas anzustellen. Schon allein, dass er ihr so viel Vertrauen entgegengebrachte, obwohl er nur ihre Mutter kannte, sorgte dafür, dass sie das gar nicht hintergehen wollte. Hoffentlich stellte sich nicht irgendwann heraus, dass er auch nur irgendwelche Hintergedanken hegte, so wie Sabia. Auch wenn er ein Lane war, ging ihr diese Furcht nicht aus dem Kopf.

Genau, er war ein Lane! Damit wusste er vielleicht sogar etwas über Sabias Vater. Wahrscheinlich war es sinnlos, mehr über ihn zu erfahren, weil ihr das nicht mit ihrem Problem helfen würde. Aber vielleicht käme sie irgendwann auch in eine Situation, in der sie das Wissen gebrauchen könnte. Falls ihr Vater Dämonenjäger war (und davon ging Nerida aufgrund verschiedener Details aus), dürfte Sabia als vollwertige Dämonenjägerin geboren worden sein, was wiederum hieß, dass sie noch mehr Kräfte besäße als ohnehin schon. Darauf sollte Nerida als Mischling immerhin vorbereitet sein. So begründete sie für sich selbst ihre Neugier, als sie Farran fragte, ob er zufällig einen Jäger mit jener Beschreibung kannte.

Woah, kam von ihm zurück. Das kommt jetzt plötzlich. Hast du mit Jarl etwa auch Probleme? Sollte ja eigentlich nicht möglich sein. Aber dem ist alles zuzutrauen.

Jarl. Der Name sagte ihr gar nichts. Sie konnte sich auch nicht erinnern, dass ihre Eltern ihn jemals erwähnt hatten. Deswegen fragte sie Farran danach. Diesmal dauerte die Antwort länger. Sie glaubte schon, er hätte keine Zeit mehr oder wolle darüber gar nicht reden. Aber gerade als sie die Hoffnung aufgab, vibrierte ihr Handy erneut.

Das ist eine längere Geschichte. Ich hab keine Lust, das alles zu tippen. Hast du Zeit zum Telefonieren?

Sie blinzelte und las die Nachricht noch einmal. Er wollte ihr wirklich Antworten geben? Normalerweise waren Erwachsene doch so verschlossen, um Kinder und Jugendliche nicht zu beunruhigen. Aber er wollte reden. Um das Angebot entsprechend zu würdigen, verließ sie die Bibliothek sofort wieder, dabei teilte sie ihm mit, dass sie gerade nichts zu tun hatte. Ihre Nachricht war nur wenige Sekunden fort, und sie erst auf dem Gang, da klingelte das Handy bereits. Aufgeregt nahm sie den Anruf entgegen, noch bevor sie sich für eine Begrüßung entschieden hatte, hörte sie bereits ein lockeres »Hey«, das ein wenig müde, aber zumindest gut gelaunt klang.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell geht«, fügte er hinzu. »Aber umso besser, dann ist das Thema schneller vorbei. Also, hast du irgendein Problem mit Jarl?«

Sollte sie darauf die Wahrheit sagen? Nein, dann müsste sie nur zu weit ausholen. Darauf war sie auch heute nicht vorbereitet.

»Nicht direkt«, antwortete sie daher. »Es ist schwer zu erklären.«

Sie verstummte. Normalerweise kannte sie es, dass Erwachsene nun darauf warteten, es dennoch erklärt zu bekommen – aber Farran lachte darauf lediglich. »Das ist vieles, was man in Abteracht erlebt. Aber na ja. Ich geh mal nicht davon aus, dass Konia oder dein Vater dir was von Jarl erzählt haben, oder?«

»Nein, ich … habe ihn nur durch Zufall gesehen, und dachte, er kommt mir bekannt vor.«

Das war im Prinzip die Wahrheit. Vielleicht spürte er das, denn er fragte nicht weiter, sondern begann zu erzählen. Es war eine Geschichte von einem Dämonenjäger namens Jarl, der einst mit Konia zusammengearbeitet hatte, bis sie erst Ärztin und dann Forscherin in Abteracht geworden war. Doch in Jarl war eine Obsession für Konia erwacht, eine giftige Leidenschaft, der er seine Integrität opferte, um Konia für sich zu gewinnen, egal mit welchen Mitteln. Selbst die Entführung ihrer Babys war ihm nicht zu schade gewesen.

Erinnere ich mich deswegen an ihn? Weil er uns mal entführt hat?

»Schließlich hat Cerise seinen Dämon entfernt«, erzählte er weiter.

Sie war inzwischen im Hof ihrer Schule angekommen. Da gerade Mittagspause war, saßen die meisten Schüler auf den bereitgestellten Bänken oder sogar an den Tischen, um zu essen, sich zu unterhalten oder die Chance noch einmal zum Lernen zu nutzen. Das alles war so normal, dass es ihr geradewegs surreal vorkam, einem Dämonenjäger zuzuhören, wie er ihr von Dingen erzählte, von denen diese Leute nicht einmal etwas ahnten. Dabei war sie in derselben Welt wie er aufgewachsen, eigentlich sollten ihr diese Menschen seltsam vorkommen, statt ihr Gesprächsthema.

»Die gewaltsame Extraktion eines Dämons ruft so gut wie immer einen Gedächtnisverlust hervor. Bei Jarl ist das ebenfalls passiert. Seitdem arbeitet er als einfacher Laborassistent am anderen Ende des Landes. Parthalan stellt regelmäßig sicher, dass er wirklich keine Gefahr mehr ist.«

Das war zumindest eine gute Nachricht.

Nun wusste sie außerdem auch, warum dieser Mann ausgerechnet ihre Mutter in der anderen Welt gefangen hielt, sie mit Drogen gefügig machte und so an sich band. Dass sie aber auch in diese Sache hineingezogen wurde, gefiel ihr absolut nicht. Wenn Sabia nur halb so war wie ihr Vater, müsste Nerida damit rechnen, nicht einfach in Ruhe gelassen zu werden. Falls das der Fall sein sollte, müsste sie sich etwas einfallen lassen.

»Danke, dass du mir das erzählt hast.«

»Kein Problem«, erwiderte er. »Aber tust du mir dafür einen Gefallen?«

Ihr Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Was könnte jemand wie er von jemandem wie ihr wollen? Für den Bruchteil einer Sekunde blitzten die schlimmsten Vorstellungen durch ihre Gedanken – doch dann sprach er bereits weiter: »Jetzt erklärst du mir, wie du Jarl gesehen haben willst, wenn er am anderen Ende des Landes ist. Und glaub mir, ich bin mir sehr sicher, dass er gerade dort ist.«

Jeder andere hätte vermutlich erst einmal nachgehakt, wie er sich da so sicher sein konnte, um Zeit zu gewinnen oder ihn aus dem Konzept zu bringen. Aber Nerida war selbst verunsichert, weil er ihre Lüge so schnell durchschaut hatte – und noch dazu war sie eine schlechte Lügnerin, deswegen konnte sie auch nicht so schnell denken, wie sie eigentlich wollte.

»Ähm, also ...«

Am liebsten hätte sie panisch aufgelegt, aber das erschien ihr zu unhöflich. Außerdem war sie ihm immer noch dankbar für seine Hilfe und wollte ihn deswegen erst recht nicht vor den Kopf stoßen.

»Es ist eine verrückte Geschichte«, sagte sie. »Wahrscheinlich wirst du sie nicht einmal glauben.«

»Versuch es einfach.« Er klang immer noch locker, nicht so streng wie ein Erwachsener.

Sie atmete tief durch und beschloss, ihm eine kurze Version von allem zu erzählen: »Durch besondere Umstände war ich neulich in einer Art … Parallelwelt zu dieser. Da habe ich ihn mit meiner Mutter gesehen. Deswegen war ich neugierig.«

Würde ihm das genügen? Würde er ihr glauben?

Der Knoten in ihrem Inneren zog sich weiter zusammen, während sie auf seine Antwort wartete – nur um schlagartig gelockert zu werden.

»Klingt gar nicht so verrückt«, erwiderte er. »Ich hab dir ja gesagt, wenn man in Abteracht ist, gewöhnt man sich an so seltsame Dinge. Bleib zukünftig aber lieber in dieser Welt, ist besser.«

»Das habe ich vor, keine Sorge.«

Sie atmete tonlos auf. Das war besser gelaufen als sie gedacht hätte. Erlebte man wirklich so viele seltsame Dinge, wenn man in Abteracht war? Würde es Darien irgendwann auch so gehen? Falls ja, wäre das bestimmt nach seinem Geschmack, deswegen wünschte sie ihm genau das, damit ihm nie langweilig wurde.

»Prima. Okay, meine Pause ist gleich vorbei, ich muss den Anruf also beenden.«

Der Anflug eines schlechten Gewissens meldete sich in ihr. »Du hättest deine Pause nicht damit verbringen müssen, mich anzurufen.«

»Oh, komm schon. Du tust so, als wäre es eine Strafe, mit dir zu sprechen. Und sag mir jetzt nicht, dass es so ist. Denn das ist es nicht, okay?«

Sie verstand nicht, warum er sich Gedanken darum machte, was sie fühlte. Vielleicht tat er das, weil er ein Lane war. Oder er war unabhängig davon ein guter Mensch.

»Okay«, sagte sie.

Er lachte leise. »Gut. Merk dir das ruhig. Und melde dich, wenn du wieder Probleme hast. Oder wenn du einfach reden willst. Also, alles wie ich gestern schon sagte.«

Sie versprach ihm das noch einmal, worauf er ein zufriedenes Geräusch von sich gab. »Dann hab noch einen schönen Tag, Nerida Belfond. Bis bald.«

Mit dieser Verabschiedung endete das Telefonat.

Nerida lehnte sich an eine Säule und sah auf ihr Handy hinab. Das Gespräch hatte ihr vielleicht geholfen, mehr von den Hintergründen von Sabias Vater zu erfahren und ihr klarzumachen, in welcher Gefahr sie sich möglicherweise befand, aber sie wusste immer noch nicht genau, wie sie dagegen vorgehen sollte. Wenn Sabia weiter darauf bestand, sie zu ihrer Schwester zu erklären und bereit war, dafür sogar Gewalt anzuwenden, müsste Nerida sich mit dem Gedanken anfreunden, darauf mit Gegengewalt zu antworten. Mit Worten schien man Jarl nicht erreicht zu haben, dann würde das bei Sabia auch nicht funktionieren. Oder?

Nein, sie müsste es auf jeden Fall versuchen. Sobald sie Sabia wiedersah, müssten sie darüber reden. Vielleicht könnte sie Sabia ja davon überzeugen, dass das alles sinnlos und merkwürdig war und sie für sich und ihren Vater Hilfe suchen sollte. Selbst wenn das nichts bringen sollte, könnte ihr am Ende niemand vorwerfen, dass sie es nicht versucht hätte.

Am liebsten wäre es ihr aber, wenn Sabia sich einfach nie mehr melden würde. Sie sollte Nerida am besten vergessen und ohne sie weiterleben. So wie sie es am liebsten umgekehrt täte.

Das einzig Gute an dieser Bekanntschaft bislang war, dass sie nun auch Farran kannte – und es konnte nie schaden, einen Lane zu kennen, gerade wenn er so anders war als andere Erwachsene.

Die Schulglocke klingelte, um den Nachmittagsunterricht anzukündigen. Nerida stellte sich aufrecht hin und atmete noch einmal durch. Dieser Tag verlief bislang gut – und das würde sie sich von niemandem mehr nehmen lassen.
 

Kapitel 20: Dann sind wir fertig


 

Triff mich um 18 Uhr auf der Baustelle in der Verdin Straße. Wir müssen reden.

Neridas Ruhe hielt lediglich wenige Tage an, dann war diese Nachricht gekommen. Deswegen war sie kurz vor 18 Uhr wirklich auf dem Weg zur Baustelle, ohne jemandem Bescheid zu geben.

Vielleicht, so dachte sie, hätte Farran sich dafür interessiert, aber andererseits wusste er auch nichts über die Situation mit Sabia, also hätte sie ihm das nur erzählt, um sich selbst besser zu fühlen. Und dafür wollte sie ihm nach wie vor nicht seine Zeit stehlen – außerdem hätte er sie bestimmt davon abgehalten. Aber sie wollte wenigstens noch einmal mit Sabia reden, der einzigen Person, die sie für ihre Freundin gehalten hatte.

Die Baustelle war am Ende der Straße. Irgendwann sollte daraus vermutlich ein weiteres Hochhaus werden, aber im Moment war es noch eine schlammige Grube, in der vor allem Eisenstreben und Metallrohre gelagert wurden. Auf einer Ansammlung von solchen Rohren thronte Sabia, vor Selbstsicherheit strotzend, den Rücken durchgedrückt. Ihre Gesichtszüge, die Nerida am Anfang noch aristokratisch vorgekommen waren, wirkten nun eher wie die eines Raubtiers. Dass Sabias Augen geradezu glitzerten, als sie Nerida entdeckte, bestätigte sie darin nur noch mehr.

»Du bist wirklich gekommen~.« Sabia stand auf und sprang in einer eleganten Bewegung auf den Boden hinunter.

Bevor Nerida es verhindern konnte, wurde sie bereits von Sabia umarmt. »Ich bin so glücklich~.«

Neridas Körper versteifte sich augenblicklich. Das letzte Mal hatten sie sich bei Sabia zu Hause gesehen, als sie so unheimlich gewesen war, so anders, so … furchtbar.

Allein bei der Erinnerung wurde es Nerida flau im Magen. Aber heute war Sabia wieder so wie früher, wie eine echte Freundin. Zumindest glaubte sie, dass sich das so anfühlen musste.

Nach viel zu vielen Sekunden ließ Sabia sie wieder los und sah sie strahlend an. »Ich habe dich so vermisst. Hast du mich auch vermisst?«

Sie war so von dieser Frage überrumpelt, dass Nerida erst mit Natürlich antworten wollte. Doch dann fiel ihr wieder ein, was wegen Sabia fast geschehen wäre – und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie dabei wirklich Wut in ihrem Inneren, die viel zu heiß schwelte. Demonstrativ trat Nerida einen Schritt zurück. »Nein, habe ich nicht!«

Keuchend griff Sabia sich an die Brust, als wäre sie von einem Projektil getroffen worden.

»Wegen dir wäre ich fast vergewaltigt worden!« Es auszusprechen war widerwärtig und zementierte die Tatsache in ihr Bewusstsein, aber es war notwendig, um die gesamte Wut zu kanalisieren und Sabia die Augen zu öffnen.

Doch Sabia blinzelte nur. »Wegen mir? Das bezweifle ich sehr. Ich habe niemanden dazu aufgefordert, das haben diese Leute für sich selbst entschieden.«

Sie setzte wieder ein strahlendes Lächeln auf, ohne noch etwas zu sagen. Nicht einmal ein Wort des Beileids oder der Anerkennung, dass Sabia diese Tat als verabscheuenswert empfand.

Natürlich nicht, fuhr es Nerida durch den Kopf, immerhin macht ihr Vater genau dasselbe mit ihrer Mutter.

»Unabhängig davon«, fuhr sie fort, »hast du mich von Anfang an belogen und ausgenutzt! Wie sollte ich mich da freuen, dass du das selbst jetzt noch versuchst?«

Sabia stemmte die Arme in die Hüfte und rollte mit den Augen. »Ich habe dich nicht belogen, ich habe dir nur einige Dinge nicht erzählt, das ist ein Unterschied. Und um fair zu bleiben: du hast auch nie weiter nachgefragt.«

Das stimmte zwar, aber Nerida glaubte nicht, dass sie dazu verpflichtet gewesen wäre, Sabia nach allen möglichen und unmöglichen Eventualitäten zu befragen.

»Du willst, dass ich dir vertraue«, erwiderte Nerida, »aber unter diesen Umständen kann ich das nicht. Nicht, nach dem, was ich gehört und gesehen habe.«

Zu wissen, dass Sabias Vater ihre Mutter gefangen hielt, sie unter Drogen setzte und für seine eigene Zwecke missbrauchte – und Sabia das auch noch in Ordnung zu finden schien – war nur ein Ast des Baumes, der Nerida an dieser ganzen Sache nicht gefiel. Dass sie von Anfang nur als Ersatz dienen sollte (trotz Sabias Beteuerung, dass sie Nerida nie so betrachtet hatte), war ein weiterer Zweig. Und Sabias Verhalten an sich – schon allein als sie sich selbst damals verletzte – hätte ihr Warnung genug sein sollen, um die Zeichen zu erkennen.

Sabia senkte den Blick. »Ich verstehe. Du hast also kein Interesse mehr an unserer Zusammenarbeit. Oder unserer Freundschaft.«

»Es war ohnehin keine wirkliche Freundschaft«, erwiderte Nerida, auch wenn sie auch nicht sehr glücklich über diese Feststellung war. »Sei wenigstens einmal ehrlich: Weißt du wirklich nicht, was aus den Splittern werden wird, wenn sie wieder vereint sind? Und wofür dieser Gegenstand gebraucht wird?«

Es war bestimmt ein Schwert. Aber warum war es zersplittert? Weswegen verursachten die Splitter Störungen in dieser Welt? Und was geschah, wenn das Schwert wieder in einem Stück war? Darüber hatten sie sich schon mehrmals unterhalten, ohne zu einer Antwort gekommen zu sein. Aber inzwischen bestand auch die Möglichkeit, dass Sabia einfach gelogen hatte, und diesen Punkt wollte Nerida nur noch einmal ausschließen. Nur um sicherzugehen, dass das, was sie bislang getan hatte, keine Bedrohung für die Welt war, dass sie keine Bedrohung war.

Sabia seufzte. »Ich bin dieses Thema langsam leid. Ich habe dir gesagt, dass ich es nicht weiß – und natürlich habe ich ihn nicht danach gefragt. Man hinterfragt keine Wunder.«

Es wurmte Nerida, dass sie keine Antwort darauf bekäme, aber daran ließ sich nichts ändern. Ihr blieb also nur zu hoffen, dass dieses Schwert keine Gefahr für ihre Welt darstellte.

»Dann sind wir fertig.« Die Worte waren so endgültig, so cool, dass Nerida auf sich selbst stolz war; schade, dass niemand außer ihnen das gehört hatte. »Kehr in deine Welt zurück und vergiss einfach, dass es dieses Portal gibt.«

Damit wollte sie sich abwenden, doch Sabias Lachen ließ sie innehalten.

»Denkst du wirklich, ich würde so einfach aufgeben?« Sabias Augen schienen regelrecht zu glühen. »Wenn du mir nicht mehr helfen oder meine Freundin sein willst, dann werde ich dich eben dazu zwingen.«

Es war dumm. Bei jedem anderen hätte Nerida das nicht ernst genommen, auch nicht, als Sabia sich verwandelte und dann ihre Pistole zog. Aber sie wusste, was ihr Vater mit ihrer Mutter getan hatte – und deswegen wusste Nerida, dass sie das nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.

Sie sprang zurück, als Sabia auf sie schoss. Im selben Moment verwandelte sie sich ebenfalls, das Schild an ihrer linken Hand wehrte den Schuss ab.

Sabia verwandelte die Pistole in die Reitgerte und setzte Nerida nach. Diese wehrte jeden Angriff ab oder wich ihm aus, aber ihr wurde schnell klar, dass sie das nicht ewig aufrechthalten könnte. Selbst angreifen wollte sie aber auch nicht. Sabia zu verletzen lag ihr fern, sie wollte nur, dass sie endlich einsah, dass sie diese Sache aufgeben musste. So würde das aber wohl nichts werden.

Als sie mit dem Rücken an einige Metallstangen stieß, wich sie zur Seite aus – und beobachtete fassungslos, wie Sabias Reitgerte mühelos durch die einzelnen Stangen schnitt, als wären sie weiche Butter. Ihre Augen glühten weiterhin voller Entschlossenheit, mit einem geradezu irren Wahn, der tausend Schauer über Neridas Rücken jagte.

»Willst du dich nicht endlich wehren?«, fragte Sabia lachend. »Oder willst du weiter ewig weglaufen? So wie schon dein ganzes Leben?«

Natürlich wusste sie das, Nerida hatte ihr alles erzählt. Das konnte sie nicht ungeschehen machen, aber sie durfte nicht zulassen, dass sie das nun runterzog, sie musste weiter ausweichen, verhindern, dass sie so endete, wie die Konia in Sabias Welt.

Doch ihre Bewegungen wurden langsamer, unkoordinierter, ihre Atmung schmerzhafter, sie war einfach nicht dafür gemacht. Vielleicht sollte sie Darien nach Trainings-Tipps fragen, wenn sie erst einmal wieder zu Hause war – aber dafür musste sie nach Hause kommen.

Sabia ließ die Gerte auf sie niedersausen. Nerida riss den Arm hoch und fing den Angriff mit dem Schild ab. Die Wucht sandte Schockwellen bis in ihre Schulter und ließ sie leise ächzen.

»Erstaunlich«, sagte Sabia lächelnd, fast voller Liebe. »Der Kampf ist wohl wirklich nicht deine Stärke. Aber das werden wir schon richten. Zusammen bekommen wir das hin~.«

Dachte sie wirklich, es gäbe irgendeinen Weg, dass sie noch einmal zusammen arbeiten würden? Aber dafür war Nerida nicht bereit, nie wieder.

»Vergiss es! Ich werde dir nicht mehr helfen!«

Sabias Lächeln wandelte sich um eine Nuance, die Nerida wieder einen Schauer über den Rücken jagte.

»Du weißt nur noch nicht, wie sehr du mir helfen willst, meine kleine Nerida~«, flötete Sabia. »Aber du wirst mir noch dankbar sein~.«

Sie musste hier weg, sofort – und sie sah nur noch eine Möglichkeit. Also konzentrierte sie ihre Energie auf ihre freie rechte Hand, dann stieß sie diese vor und setzte die Magie auf einen Schlag frei. Dutzende feine Eiskristalle explodierten in der Luft, erzeugten einen in der Sonne glitzernden Staub, der Sabia zurückweichen und den Blick abwenden ließ.

Nerida nutzte diese Gelegenheit, um zu fliehen, möglichst lautlos. Sie könnte die Baustelle nicht verlassen, so schnell war sie nicht, deswegen suchte sie Schutz hinter aufgetürmten Metallrohren. Dort kauerte sie sich zusammen und presste die Hände auf ihren Mund, um kein verräterisches Geräusch von sich zu geben. Nun blieb ihr nur noch zu hoffen, dass Sabia nicht nach ihr suchen würde. Oder zumindest nicht zu gründlich.

Die Sekunden dehnten sich zu einer Ewigkeit, in der nichts geschah. Nerida befürchtete bereits, dass Sabia jeden Moment einfach neben ihr auftauchte, um sie zu erschrecken und sie dann doch noch mit sich zu ziehen.

Doch das passierte nicht. Stattdessen hörte sie einen frustrierten Laut aus der Richtung, in der sie Sabia zurückgelassen hatte, gefolgt von ihrer Stimme: »Du kannst nicht ewig weglaufen! Irgendwann wirst du einsehen, dass ich nur dein Bestes will! Selbst wenn ich erst einmal nachhelfen muss.«

Der letzte Satz klang dermaßen verheißungsvoll, dass sich Neridas Inneres mit Eiswasser füllte. Auch wenn sie Kälte eigentlich mochte, war dieses Gefühl eher unangenehm.

Schritte entfernten sich von ihr. Nerida wartete, bis sie nicht mehr zu hören waren. Dann wartete sie noch länger. Nur um sicherzugehen.

Insgesamt waren es fast fünfzehn Minuten, bis sie sich, in ihrer normalen Gestalt, wieder aus ihrem Versteck traute. Die Baustelle war verlassen, sie war allein hier.

Sie atmete nicht wirklich erleichtert auf, in der Hoffnung, dass der Druck auf ihre Brust nachließ. Aber stattdessen schien sich ihr Hals nur noch mehr zuzuziehen. Sie hatte gehofft, die Sache mit Sabia endgültig klären zu können, aber nicht mit ihrem Wahnsinn gerechnet. Was sollte sie tun?

Diese Frage ließ sie den ganzen Heimweg über nicht los. Immer wieder sah sie über ihre Schulter, erwartete Sabia plötzlich vor sich zu sehen, aber zu ihrer Erleichterung war dem nicht so. Sie bekam auch keine Nachricht von ihr. Beides Dinge, die sie eigentlich erleichtern sollten, aber sie nur nervöser werden ließen. Plante Sabia schon etwas, um ihr das Leben noch schwerer zu machen? War es nun endlich Zeit, mit jemandem darüber zu reden, um sich Hilfe zu suchen? Wenn sie nur diese Tür verschließen könnte, durch die Sabia immer hierherkam …

Als sie Athamos betrat, fühlte sie sich endlich etwas sicherer. Der Druck ließ nach. Sabia konnte unmöglich hier sein, also war alles gut. Zu Hause könnte sie sich dann in Ruhe etwas überlegen.

Zu ihrem Glück sprach niemand sie an, während sie sich durch Athamos bewegte. Kaum, dass sie in der Wohnung angekommen war, atmete sie noch einmal auf, diesmal wesentlich ehrlicher, der Druck löste sich endlich vollkommen.

Sie war in Sicherheit, alles war gut.

Mit beschwingteren Schritten ging sie durch den Flur ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern saßen, beide mit gerunzelter Stirn in Vanes Handy vertieft. Das war ein ungewohnter Anblick, der Nerida sofort innehalten ließ. Sicher, ihr Vater bekam manchmal Nachrichten, die ihn verwirrt zurückließen, nicht zuletzt von Darien, aber dann lächelte ihre Mutter meist nur sanft und ermahnte ihn, sich nicht zu viele Gedanken zu machen. Nun blickte sie aber genauso besorgt, vielleicht sogar ein bisschen verärgert auf das Handy. Was könnte die beiden zu einer derartigen Reaktion bringen?

»Ich bin wieder da«, sagte Nerida, leise, als wolle sie eigentlich gar nicht stören.

Die Köpfe der beiden schossen sofort nach oben, ihre Blicke fixierten sich auf sie. Nerida ging davon aus, dass sie wissen wollten, wo sie so spät noch gewesen war, da sie gegangen war, ohne etwas zu sagen, aber stattdessen stand ihr Vater plötzlich auf. So finster, wie er auf sie herabsah, wirkte er in diesem Moment sogar noch größer als sonst.

Der Druck kehrte schlagartig wieder zurück, erschwerte ihr das Atmen. Er konnte unmöglich so wütend sein, weil sie das Abendessen verpasst hatte. Darien war so oft nicht zu Mahlzeiten erschienen und bei ihm gab es auch keinen Ärger, also warum sollte er bei ihr anders reagieren?

Hilfesuchend sah Nerida zu ihrer Mutter, doch Konia erwiderte ihren Blick mit einer bedrückten Verwirrung.

»Nerida ...« Vanes Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn. »Wo warst du?«

Vielleicht hatten sie sich nur Sorgen gemacht, weil sie einfach verschwunden war. Möglicherweise war gleichzeitig irgendwem in der Stadt etwas passiert und sie waren deswegen besorgt gewesen. Ja, das musste es sein. Das war alles. Doch der Druck in ihrer Brust blieb.

»In der Bibliothek«, antwortete sie mit möglichst ruhiger Stimme. »Tut mir leid, dass ich-«

»Warum lügst du uns an?«

Die Frage kam so unvermittelt, dass Nerida verstummte. Sie war noch nie gut im Lügen gewesen, deswegen wusste sie auf Anhieb nicht, wie sie reagieren sollte und sah ihn einfach nur an.

Er hob das Handy, um ihr zu zeigen, was er und Konia sich zuvor angesehen hatten. Es war ein Video, das scheinbar in einer Endlosschleife lief. Nerida glaubte zu spüren, wie jegliches Blut ihr Gesicht verließ, als sie erkannte, dass dieses Video auf der Baustelle aufgenommen worden war. Wie Sabia das geschafft hatte, ohne dass Nerida es bemerkte, wusste sie nicht, aber es war eindeutig ein Video ihres Kampfes, und sie war wesentlich deutlicher zu erkennen als ihr lieb wäre.

»Also?«, fragte Vane. »Möchtest du uns das erklären?«

Nerida löste den Blick vom Handy, um ihren Vater anzusehen. Im selben Moment bereute sie es bereits. Noch nie zuvor hatte er sie derart finster angesehen, so verurteilend, dass alles in ihrem Inneren sich zusammenzog. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erzählen, zu erklären oder zu widersprechen, sie war sich nicht sicher, wusste nicht einmal, wie sie anfangen sollte.

Vane verlor langsam offenbar die Geduld, denn er setzte mit einer Frage nach: »Warum sieht es aus, als würdest du kämpfen? Weswegen siehst du so aus?«

Seine Stimme klang finster, fast anklagend. In diesem Augenblick war er nicht mehr ihr Vater, er war die Person, die sie für ihre Geheimniskrämerei und auch das Kämpfen verurteilte, diese war ihre größte Furcht – und nun stand sie in Gestalt ihres Vaters vor ihr.

Diese Erkenntnis erschwerte ihr die Atmung und löste etwas in ihr aus – so dass sie Sekunden später durch die Wohnungstür stürzte, auf der Flucht vor ihrem Vater, ihrem Gewissen und dem, was aus ihr geworden war: einer möglichen Bedrohung ihrer Welt.

 
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Letztes Kampf-Kapitel für eine laaaange Zeit. Zurück zur Story, die ich jetzt gern vorantreiben würde. :,D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das Kapitel voller Twists, die man nur versteht, wenn man das ganze Universum kennt. :,D Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von: abgemeldet
2019-02-08T18:45:56+00:00 08.02.2019 19:45
mh... interessant... dieses Prolog. Macht Lust, weiter zu lesen. =D

Gruß, Thomas =)
Antwort von:  Flordelis
08.02.2019 20:04
Danke für den Kommentar, Thomas. ^^
Der Prolog war ein kleines Experiment, es freut mich, wenn er seine Funktion erfüllt. =)
Von: Platan
2017-11-18T19:09:46+00:00 18.11.2017 20:09
Bevor es mit dem Kommentar hier losgeht, muss ich vorher eine wichtige Sache dringend loswerden:
Awwwwwwwwww, Ronan ist auf diesem Steckbriefbild sooo verdammt knuffig! (づ。◕‿‿◕。)づ
Dieser Charakter passt einfach zu gut zu Ronan. ♥ Aber ich bin natürlich auch schon gespannt, wie er wirkt, wenn ich ihn endlich selbst gezeichnet habe. :3

> »... und ich denke, das hat etwas mit dem kommenden Winter zu tun.«
Keine Ahnung warum, aber irgendwie mag ich diese Einleitung total. XD
Vielleicht weil ich den Winter an sich immer schön finde~. ♥
Ferris: Aber das heißt nicht, dass zu dieser Jahreszeit keine schlimmen Dinge passieren.
Ich: ...
Ferris: ... Was? D:
Ich: Nichts, lass mich nur eine Kleinigkeit deinem Namen hinzufügen. D:
Emo-Ferris: (;一_一)

> Nerida hörte Ronan nur mit einem Ohr zu, während sie neben ihm in Richtung ihrer Schule lief.
Ronan: Mich stört das nicht, ich rede ich einfach weiter. Ich weiß, Neri nervt das nicht. =)
Btw. finde ich es total schön, dass die beiden zusammen zur Schule gehen. ♥ Aber das macht es auch umso trauriger, dass Darien nicht mehr dabei sein kann, weil er ganz woanders hin muss. ;<
Darien: Ich bin eh kein richtiger Teil dieser Familie. *mit den Schultern zuck*
Ich: ... *seufz* Okay, halt kurz auch mal still.
Emo-Darien: Huh? Warum de-, oh, was, ernsthaft jetzt? (;一_一)

> Er liebte es, zu reden, selbst – oder gerade wenn – es dabei immer nur um Amy gegangen war.
Wenn Darien redet, muss sich das für andere echt immer nur so anhören:
Darien: Amy, Amy, Amy. Amy! Amy. Amy, Amy. Amy~. Amy!!! =D
:,D
Tut mir einerseits auch für sein Umfeld irgendwie voll leid, aber wir wissen ja, warum er so stark auf Amy fixiert ist. >_<

> Es musste schön sein, verliebt zu sein.
In-love-with-Amy-Darien: Und wie~. :3
Emo-Ferris: Muss das mit den bescheuerten Titeln vor dem Namen echt sein? >_>;
Ich: Seit ich dich mit Ciar shippe, bist du voll anders geworden. :<
Emo-Ferris: Ich halte meine Depressionen eben nur nicht mehr zurück, selbst schuld. =_=
Ich: Ich vermisse den alten Ferris. (ಥ﹏ಥ)

> Mit einer Hand hatte er seinen Schal, den er stets um den Hals und die untere Partie seines Gesichts wickelte, ein wenig nach unten gezogen, um deutlicher zu sprechen
DIESES kleine Detail finde ich echt SO großartig! ♥♥♥ Es ist so supersüß! X3

> das Ausweichen überließ er lieber allen anderen Passanten.
Ronan: Die sehen doch schließlich, dass ich gerade nicht nach vorne schaue. D:

> Dabei sehnte sie sich diese Kälte bereits herbei.
Sie ist ja auch Konias Tochter, natürlich liebt sie da den Winter. :3
Oh! Ob Konia mit den Kindern dann wohl Schlittschuh läuft? :D
Nerida muss das bestimmt sehr gut können. ♥
Good-old-times-Ferris: Na, dann hat sie ja schon mal etwas, um ihre zukünftige Liebe zu bezirzen. ;D
Emo-Ferris: Eines muss ich Ciar lassen ... er bleibt wenigstens vernünftig.

> warfen ihnen beiden irritierte Blicke zu
Passant A: Seltsam.
Passant B: Ja, warum sind die Kinder zusammen unterwegs? Sie sind doch eindeutig unterschiedlich alt!
Passant C: Vielleicht ist das Mädchen pädophil.
Passant A: Sei nicht albern, es könnten auch Geschwister sein.
Passant B: Waaas? Und dann gehen die so friedlich zusammen zur Schule?!
Passant C: Wie unnormal. Jeder weiß, dass Geschwister sich immer nur streiten und einander umbringen wollen!!!11elf
Passant A: Sollten wir die Polizei anrufen?
Passant B: Nee, lieber nicht. Die Eltern könnten sich sonst rächen oder so.
Passant C: Hast recht, lass einfach weitergehen und so tun, als wäre nichts.
... Sorry, für den Einwurf, aber so sind Leute halt echt drauf. Kommt mir jedenfalls manchmal so vor, wenn ich die Blicke von Fremden sehe. :,D
Außerdem frage ich mich wirklich, warum die beiden irritiert angeschaut werden. Sind doch ganz normale Kinder. >_<
Emo-Ferris: Schon mal daran gedacht, dass Nerida sich da auch nur etwas einredet? So wie ich oder du immer?
Ronan: Es liegt eher daran, dass wir etwas Unheimliches ausstrahlen, weil wir die Kinder eines Alptraums und einer Dämonin sind. =/

> »Sie sind hektischer als früher. Gereizter.
Emo-Ferris: Ronan, das sind Menschen IMMER.
Ronan: Nein, man merkt da durchaus noch feine Unterschiede. :<

> »Vielleicht. Aber ich frage mich, warum sie dann erst in diesem Jahr damit anfangen. Und auch noch so früh.«
Ronan ahnt schon das Unheil, das sich in dieser Geschichte ereignen wird. SCHNELL! Benachrichtige alle Schulen darüber und beschütze Nerida vor diesem Unheil! DX

> Sie sah ihrem Bruder nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte; er war ohne Probleme hineingekommen.
Owww, klingt so, als hätte Nerida Sorge, dass man Ronan auch mobben könnte, noch bevor er überhaupt im Gebäude ist. :<
Ronan: Dafür haben die anderen zu viel Angst ... vor meinem ernsten Blick. ú_ù

> Etwas, das sie nicht nachvollziehen konnte, obwohl ihre Eltern das Getränk auch liebten. Aber vielleicht kam das noch.
Darien: Also bei mir jedenfalls bestimmt nicht. Ich hasse Kaffee. Würg! DX
Ronan: Ich mag Kaffee ... ich darf nur noch nicht so viel davon trinken. D:

> Früher hatte sie sich quasi hinter Darien versteckt, da sein Spind neben ihrem gewesen war.
Mir war bis zu diesem Kapitel gar nicht klar gewesen, wie wichtig Darien tatsächlich eigentlich für Nerida ist. :(
Ich bin sicher, hätte er das gewusst, wäre ich nicht so distanziert zu ihr geworden. Q___Q

> Sie war stolz auf ihn, sowohl was seinen Mut als auch seinen Ehrgeiz anging, dennoch vermisste sie ihn hier als ihren Schutzschild.
Awwwwwwwwwwwwwwww ... Q///Q ❤

> Außerdem war im Moment alles verklebt, mit Honig, wie der Geruch ihr verriet.
Darien: BOAH, solche Schlampen! DX
Ich: Darien! o_Ô
Darien: Ist doch wahr, ey! Hätte ich das mitbekommen ... denen würde ich mal richtig eine für ihre Bosheit scheuern, damit die etwas klarer im Kopf werden, auch wenn ich damit einen Schulverweis riskiert hätte. ò_ó
Ronan: Damit hättest du Neri aber vielleicht nicht wirklich geholfen, sondern es nur schlimmer gemacht. .___.

> Derartige Dinge geschahen ihr schließlich fast täglich, es half nichts, sich daran aufzuhängen.
Ich finde es tragisch, wie man irgendwann mit solchen Dingen leben lernt, als wären sie wirklich normal. :(

> Als sie diese erwiderte, nickte er ihr zu, setzte aber sonst seinen Weg fort.
Toller Hausmeister. =___=;
Hauptsache raushalten und sich so zusätzliche Arbeit und Stress ersparen.
Emo-Ferris: Er ist eben der Hausmeister, nicht der Therapeut.

> Auch in seinen hellblauen Augen glaubte sie immer, Wissen entdecken zu können
Ich muss mir auch diesmal vorstellen, dass das Gaith ist. XDDD
Gaith: Ich würde mich niemals für solch einen Job melden. ಠ_ಠ
Ich: Ich weiß ja, aber das Aussehen passt so gut und die Vorstellung ist zu amüsant. XD
Gaith: Das ist einfach nur kindisch und lächerlich.

> Zahlreiche abgebrannte Streichhölzer fielen ihr entgegen, erst dann bemerkte sie den noch in der Luft liegenden Feuergeruch.
Darien: AAALTER, ich fackel mal die Haare dieser Idioten ab! Mal sehen, ob sie dann auch noch lachen! DX
Emo-Ferris: Ich wäre auf der Stelle tot umgefallen, hätte so etwas jemand mit mir gemacht ...

> Zu ihrem Glück mussten die Streichhölzer sofort wieder ausgegangen sein, als sie durch die Schlitze geworfen worden waren.
Alter, diese dummen Blagen hätten, mit viel Pech, die ganze Schule abfackeln können. Idioten. >_>;

> In Athamos, wo auch ihre Eltern arbeiteten, wurden Traumbrecher ausgebildet.
Hm ... mir wird gerade bewusst, dass Athamos ihre Traumbrecher dann offenbar viel später als Abteracht ihre Jäger. °_°
Wie ärgerlich, das hätte Nerida die restliche Schulzeit mit diesen Mobbern erspart. :(

> aber gleichzeitig wurde ihr dadurch nur noch mehr bewusst, wie unbedeutend sie eigentlich war.
Alter, das ist genau so, wie Kieran sich wegen Cathan fühlt! Q____Q
*will die beiden gleich shippen*

> die drei waren selbsternannte Fashionistas,
Das alleine sagt schon echt alles über diese Tussis aus ... >_>
Aber gleichzeitig bringt mich dieses Wort zum Lachen, weil es die Lächerlichkeit solcher Leute noch mehr unterstreicht. :,D

> »Sie hat nur eine 2- bekommen! Wie erklärst du dir das, Belfond?!«
Orrrrrr ... ich fasse es nicht. Dass sich diese faulen Miststücke echt deswegen beschweren, unglaublich. >_>;
Richtig typisch für Mobber, die sich für etwas Besseres halten.
Emo-Ferris: In den Augen der Gesellschaft sind sie das vermutlich, weil sie sich besser einfügen. Wir sind der seltsame Abschaum, der besser nicht existieren sollte.

> Sie hatten schon genug Probleme, da müssten sie sich nicht auch noch mit denen von Nerida herumschlagen.
Aber Vane würde dir sofort mit all seinen Kräften helfen! Q____Q

> Du könntest, flüsterte eine Stimme tief in ihrem Inneren, sie auch einfach in Eisstatuen verwandeln. Dann wärst du sie für immer los.
Darien: Mach das, verdient hätten diese Tussen es allemal! ò___ó Ich nehme die Schuld auf mich!
Ich: ... Du kannst doch gar kein Eis beschwören, oder? :,D
Darien: Wenn ich es behaupte, dann kann ich es! DX

Ich befürchte, dass diese Gedanken womöglich erste Anzeichen dafür sind, dass Nerida dabei ist zu brechen. Q___Q

Puh, also dieses Mobbing hast du insgesamt viel zu gut erzählt. Ich fühlte mich selbst in meine Schulzeit versetzt. Zwar hatte ich nie solche Probleme wie Nerida, aber jede Art von Mobbing ist unerträglich. :(
Es ist zu bewundern, dass Nerida die Stärke hat, das so lange auszuhalten, auch wenn sie das selbst nicht so sehen wird. >_<
Ich möchte sie auf jeden Fall umarmen und beschätzen. Q___Q
Ich bin außerdem erstaunt, dass du den drei Mädchen sogar eigene Namen gegeben hast. Ganz ehrlich, für mich wäre das bei denen zu schade gewesen. D; Oder hast du mit denen noch etwas Größeres vor? An sich haben mir die Namen nämlich total gefallen.
Das war ein guter Einblick in Neridas Alltag und erklärt schon mal zum großen Teil, warum es ihr so schlecht geht. Ich erwarte dann mit einer Mischung aus Begeisterung und einem flauem Gefühl im Magen Kapitel 2, das mich schon beim Betalesen so umgehauen hat. :D
Antwort von:  Flordelis
18.11.2017 21:53
Danke für deinen Kommentar, liebste Mea. <3
Ich mag deine neue Betitelungs-Macke, das ist so awesome! <3

> Good-old-times-Ferris: Na, dann hat sie ja schon mal etwas, um ihre zukünftige Liebe zu bezirzen. ;D
Nerida: °///////°

Natürlich hat Nerida Angst, dass jemand Ronan mobben könnte, er ist doch ihr kleiner Bruder. X3
Lustigerweise hat Nerida Darien diese Wichtigkeit nie gestanden, weil sie befürchtete, er könnte glauben, sie will ihn nur als Schutzschild missbrauchen.
Ich hatte mir so ziemlich gedacht, dass Jii wohl eine grundlegende Schulausbildung garantiert haben möchte, weswegen er Traumbrecher fortan erst ab 16 oder gar 18 annimmt. Schließlich muss man da auch keinen inneren Dämon zu bändigen lernen, also können die Leute es auch später lernen. :,D

Kieran x Nerida? ... Hmmmmmm.
Kieran: Oh Mann, ich kenne den Blick. >_>

Ich muss ja ehrlich sagen, ich war mir nicht sicher, ob der Grad an Mobbing "genug" ist. Es ist schwer zu erklären, aber manchmal saß ich halt beim Schreiben da und dachte "Ist das jetzt wirklich schlimmes Mobbing oder hat sie da noch Glück und stellt sich nur an?" (sie wird ja auch nicht wirklich geschlagen oder sowas). Weil das heute so auch als Schlagwort genutzt wird, empfinde ich es inzwischen als super-schwer, da überhaupt noch eine vernünftige Grenze zu ziehen. Und von außen sieht es ohnehin immer nochmal harmloser aus.
Das klingt jetzt total dämlich, aber wenn einem bei eigenen Mobbing-Erfahrunen gesagt wurde, man sei einfach nur "empfindlich", wird man da schnell unsicher.
Von: Platan
2017-11-16T16:58:36+00:00 16.11.2017 17:58
Da ist es! (づ ̄ ³ ̄)づ
Wer hat nur dieses unverschämt gute Cover gezeichnet? >:3 XD
Der Störfilter über dem Bild sieht so cool aus und auch der Schriftzug gefällt mir echt total! *___* ♥
Ich freue mich so sehr, dass die Belfond-Zwillinge bei uns so beliebt sind. ♥ Aber es macht mich auch traurig, dass die beiden jeweils mit so schweren Problemen zu kämpfen haben. Q///Q (Sie müssen ja aber an etwas wachsen können.)
Hey, du hättest ruhig was sagen können, dass du das gern im RPG spielen wolltest! (ಥ﹏ಥ) Ich verstehe aber, dass man sich das einfach nicht traut. Wenn ich das bei meinen OCs dann doch tue, schäme ich mich kurz darauf und handle alles ganz schnell ab. :,D

Ich schweife ab, zurück zur Story:
Willst du jetzt in jeder neuen auf EV hinweisen? XD
(Auch wenn Ciar das bestimmt voll freut ... und mich natürlich auch. X3)
Selbst wenn ich Nerida und das RPG nicht kennen würde, wäre ich schon von der Inhaltsangabe sehr angetan und würde die Geschichte auf jeden Fall trotzdem verfolgen. Klingt einfach nach etwas, das genau meinen Geschmack trifft. :D
Ich hassliebe Drama so sehr. TT___TT
Und hey, die Aufmachung der Steckbriefe kommt mir bekannt vor. ❤ ◕‿↼

Zum Prolog:
Ich finde ihn nach wie vor genial. Sicher, er wirkt simpel, aber ist vom Stil her mal etwas ganz anderes und leitet Neridas Geschichte irgendwie so schön märchenhaft ein (Da die richtigen Märchen damals ja eh eigentlich voll düster und brutal waren, passt das zu einer dramatischen Geschichte.). Es hat eben diesen kleinen Hauch von einem gewissen Etwas, bevor es richtig losgeht, was mir persönlich voll zusagt.
Und ich leide jetzt schon mit Nerida mit. (ಥ﹏ಥ) *cries Emo-Tears of Sadness*

Ich bin so stolz und glücklich, was für Wellen das RPG geschlagen hat. Es ist unglaublich, dass ich davon ein Teil bin. ♥
Antwort von:  Flordelis
16.11.2017 18:11
Danke für deinen Kommentar, Mea~.
Ja, wer hat nur dieses tolle Cover gezeichnet, das ich dann total geklaut habe? >;3
Ich wollte ja nicht prinzipiell das hier ausspielen, eher allgemein mehr mit Nerida, aber ich mache mir da immer Sorgen, wenn ich sie zu sehr ins Rampenlicht rücke.

Ich fand, in diesen beiden Dramen passte der Verweis auf EV einfach. XD
Nicht emo-tears of sadness weinen. Q^Q *Tränchen abwisch*

So viel zu "Da kommen nie mehr als 50 Postings zusammen". ;3
Von:  WrightGerman
2017-11-16T00:17:57+00:00 16.11.2017 01:17
Ein sehr eigenwilliger Prolog, von dem ich nicht weiß, wie ich ihn jetzt beurteilen soll. Obwohl die Informationen schon ausreichend sind, um einen Eindruck von dem Mädchne zu erhaschen, über das du schreibst, kann ich dennoch nicht sagen dass ich jetzt wirklich viel erfahren habe. Alles was ich erst einmal sagen kann ist, dass ich mal dran bleiben und schauen werde, ob mich die Geschichte bis zum Schluss hält. Denn offen gesagt bin ich kein Freund der Tags, die du für diese Geschichte angegeben hast. Aber ich versuche es und sage mal, dass ich mich schon auf Kapitel 1 freue. ^_-
Antwort von:  Flordelis
16.11.2017 02:02
Danke für deinen Kommentar. ^^ (Obwohl ich bei meinen für deine FF soooo weit zurück liege Q_Q)
Ich sag mal, viel zu beurteilen ist da wirklich nicht. Leute außerhalb des RPGs, die den Charakter nicht kennen können, dürften damit schließlich nicht viel anzufangen wissen. Finde es deswegen aber schön, dennoch Leute angesprochen zu haben, ein wenig zumindest. Am Samstag folgt dann auch noch das erste Kapitel, vielleicht ist da mehr Beurteilung möglich.
(Ich wollte im Prolog direkt Neridas Charakter und ihre Zerrissenheit ausloten, so als Einstimmung.)
Für zukünftige Kapitel kann ich aber sagen, Horror wird eine große Rolle spielen (hauptsächlich im psychologischen Bereich), Splatter muss aber nicht befürchtet werden.
Nochmal danke für deinen Kommentar~. Ich bin gespannt, wie lange es dich bei der Geschichte hält. ^^
Antwort von:  WrightGerman
16.11.2017 06:18
Ach, ich kommentier auch nur Fics, wenn sie mich interessieren, gräm dich also nicht.^^
Was die Zerissenheit angeht, die ist dir jetzt schon gut gelungen. Und ich denke mal, dass der Figur im Laufe der Geschichte sicherlich noch weitere Eigenschaften offenbart werden, anstatt sie hinter dem RPG unter Verschluss zu halten, von daher denke ich, dass ich mit ihr schon warm werde.
Was den Horror angeht, so ist es nicht dieser Tag, dem ich mich fernhalte. Horror in Schriftform herzustellen ist in meinen Augen eh eine Kunst für mich und jene die es können, erhalten den höchsten Respekt von mir. Nein, es sind Suizid, Tod und Drama, die mir immer Herzflattern bereiten. Etwas das impliziert, dass man zu versuchen anstrebt, mir das Herz zu zerreißen. Nichtsdestotrotz will ich deine Geschichte gern versuchen. Wenn ich Dandelos Version eines düsteren My Little Pony Universums verkraftet habe, dann krieg ich wohl auch das hin. Hoffe ich. xD
Antwort von:  Flordelis
16.11.2017 14:36
Ja, keine Sorge, ich habe nicht vor, irgendwas im RPG zu verbergen, sobald es für diese Geschichte von Belang ist. Deswegen hoffe ich, dass Nerida gut ankommt.
Ah, gut, das war mein zweiter Verdacht. XD
Aber keine Sorge, ich bin für meine Happy Ends bekannt (vielleicht hilft das ja, mir zumindest gibt das immer Trost), es wird nur zwischendurch explizit über all das gesprochen werden. Deswegen warne ich da lieber vor.


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