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Fliegen

von

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Detroit: Eisring. Mitternacht.

Der Eisring lag ruhig vor ihm. Die meisten der Besucher waren bereits nach Hause gegangen, hatten die glatte Fläche des Eises vor ihm zur Genüge malträtiert, um während der Nacht noch von Pirouetten und Axeln zu träumen und diese zu chreografieren. So war es ihm bis vor knapp einer Woche auch ergangen.

Er seufzte, löste die Schoner aus Hartgummi von seinen Kufen und lauschte dem Echo des Klackens, welches signalisierte, dass seine Füße wieder den Boden berührt hatten. Er nahm seine Brille vom Gesicht, rieb sich die Augen. Er war seltsam erschöpft; dabei hatte er die vergangenen Tage im Bett verbracht.

Er fühlte die Kälte der Eishalle beißend im Gesicht und beschloss, dass es doch nichts brachte, vor dem Eis zu stehen und nichts zu tun. Die Ruhe konnte nur von kurzer Dauer sein – immerhin war er nicht der einzige Eiskunstläufer an ihrem Institut. Nun, er war vermutlich der einzige, der jetzt, weit nach Mitternacht, noch wach war.

Yuri seufzte ergeben und legte die Brille neben seine Handschuhe. Diese nahm er auf, zog sie an, ging mit langsamen Schritten auf das Eis zu und fühlte das altvertraute Gefühl in sich aufsteigen, welches ihm nur das Eislaufen geben konnte. Es war seine Droge. Er konnte nicht ohne: Als eine zutiefst verunsicherte Person gab es für Yuri nur wenige Momente, in welchen er sich so vollkommen sicher und mit sich selbst eins fühlte wie auf dem Eis. Deshalb war der erste Schritt aufs Eis auch der aufregendste und beängstigendste Moment für den jungen Japaner in weiter Fremde.

Er atmete tief durch, hielt sich an der eisernen Bande fest und fühlte die Kälte des Metalls noch durch seine Handschuhe hindurch, während er zuerst die eine Kufe, dann die andere auf die glatte Oberfläche stellte. Die Kälte war ihm so vertraut wie der Morgentau im Hof, wenn er sich im Zwielicht auf den Weg zum Eisring machte. Nachdem alles so furchtbar schiefgelaufen war, war es irgendwo tröstlich, dass sich manche Dinge nicht so schnell änderten. Vielleicht bedeutete das auch, dass er seine Sicherheit nicht vollkommen verloren hatte. Er mochte immer noch die Küche seiner Mutter. Er war ein notorischer Frühaufsteher. Er konnte trotz allem noch Eislaufen.

Yuri entspannte sich etwas und atmete einmal tief durch – er hatte gar nicht bemerkt, dass er die Luft angehalten hatte. Sein Herz klopfte aufgeregt, beinah ungeduldig. Zugleich war er schrecklich nervös. Was, wenn er selbst bei einem Versuch, der nicht von Preisrichtern und Publikum beobachtet werden konnte, scheiterte?

„Daran darfst du noch nicht einmal denken!“, sprach er sich selbst Mut zu und schüttelte den Kopf. Dann stehst du einfach wieder auf und versuchst es nochmal, fügte er in Gedanken hinzu. In seinen Ohren rauschte es. Er ließ die Banden los und nun waren es nur noch seine Schlittschuhe, die ihn am Boden hielten, die sich auf festem Boden wie Ballast anfühlten. Auf dem Eis erdete ihn die altvertraute Schwere an seinen Füßen und verlieh ihm zugleich die Kunst zu fliegen.

Yuri lehnte sich leicht nach vorne, stieß sich ab und fühlte nichts mehr als das Rauschen in seinen Ohren, welches sich in seinen ganzen Körper ausbreitete. Er wollte an nichts Anderes mehr denken – er konnte an nichts Anderes mehr denken. Alles, was jetzt zählte, war das Eis und das Gefühl seiner Kufen, die auf einem dünnen Film aus Wasser dahinglitten. Die Welt, die er ohne Brille ohnehin verschwommen wahrnahm, verlor ihre sicheren Konturen und ließ ihn lächeln, während er den nächsten gleitenden Schritt nach vorne machte und Fahrt aufnahm.

Die Choreografie saß nicht mehr perfekt, doch seine Muskeln hatten sie verinnerlicht, er hatte die Musik seit Wochen im Ohr. Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm er schwung und hob ab, landete einen einfachen Axel, einen Sprung, drehte sich und breitete die Arme aus.

Der kalte Luftzug des Fahrtwindes bließ ihm ins Gesicht, ließ Nasenspitze und Wangen taub werden und kribbeln. Er lächelte, während er sich auf einen weiteren Sprung vorbereitete. Dieser war schwieriger – er hatte ihn so oft geübt und die Landung noch nicht sauber hinbekommen.
 

Es gab nichts Schöneres, als auf dem Eis zu sein.
 

Yuri setzte zum Sprung an – er flog. Zumindest für einen kleinen Moment, ehe die Schwerkraft ihren Tribut forderte und ihn zurück aufs Eis zwang.
 

Yuri stolperte bei der Landung, fiel auf die Knie und richtete sich wieder auf, diesmal dafür entbrannt, diesen Sprung besser zu machen als zuvor. Er musste ohnehin an seinen Landungen arbeiten. Entschlossen richtete er sich auf und machte sich bereit für den nächsten Moment der Schwerelosigkeit. Dies allein bewies ihm, dass sein Gefühl ihn nicht getrügt hatte: Um nichts in der Welt würde er diesen Sport aufgeben. Noch nicht.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  konohayuki
2017-07-23T14:29:00+00:00 23.07.2017 16:29
Hey :)

Es ist ein Weilchen her, seit wir geschrieben haben. Aber ich bin gerade über dieses kleine Ding hier gestolpert und war ehrlich gesagt mal ganz erfreut, was zu finden, was keine Pairing-Geschichte ist (nicht, dass ich was gegen die habe. Ich lese halt nur gerne auch mal zwischen durch Gen ^^').

>[...]um während der Nacht noch von Pirouetten und Axeln zu träumen und diese zu chreografieren.
Da hat sich ein kleiner Tippfehler eingeschlichen, beim "choreographieren" fehlt noch ein "o" ;)

Ich mag, wie ruhig du Yuri darstellst, meiner Meinung nach passt das - vor allem in der Zeit, in der wir uns da gerade befinden - sehr gut zu ihm.

> Er war seltsam erschöpft; dabei hatte er die vergangenen Tage im Bett verbracht.
Eine sehr subjektive Krittelei: Ich denke, ein Komma würde es hier statt dem Semikolon auch tun. Ich bin generell kein Freund des Semikolon.

> Als eine zutiefst verunsicherte Person gab es für Yuri nur wenige Momente, in welchen er sich so vollkommen sicher und mit sich selbst eins fühlte wie auf dem Eis.
DAS finde ich sehr bezeichnend für Yuri. Seine Charakterisierung ist dir wirklich sehr, sehr gut gelungen.

>[...]während er zuerst die eine Kufe, dann die andere[...]
Ich weiß, ich bin heute pingelig, aber hier hätte ich es schöner gefunden, wenn die "Kufe" nach "andere" stehen würde. Einfach vom Klangbild.

>Die Welt, die er ohne Brille ohnehin verschwommen wahrnahm, verlor ihre sicheren Konturen und ließ ihn lächeln, während er den nächsten gleitenden Schritt nach vorne machte und Fahrt aufnahm.
Was für ein gelungener Satz! Der transportiert so viel, obwohl er ja gar nicht so lang ist. Gefällt mir wirklich sehr, sehr gut.

>Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm er schwung und hob ab,[...]
Da hat sich ein Tippfehler eingeschlichen: "schwung" müsste "Schwung" sein.

>Dieser war schwieriger – er hatte ihn so oft geübt und die Landung noch nicht sauber hinbekommen.
Um den Kontrast zwischen dem oft üben und der verpatzten Landung noch deutlicher herauszuheben, wäre es vielleicht hier sinnvoll, das "noch" durch ein "doch" zu ersetzen? Ist mir gerade beim Lesen in den Sinn gekommen, das gäbe dem Ganzen noch ein wenig mehr Nachdruck.

Hach, ich bin froh, dass ich über den One-Shot gestolpert bin. Er ist so herrlich ruhig, melancholisch und ich finde, du hast Yuri sehr gut getroffen. Vielen Dank für dieses zwar kurze, aber in sich wirklich runde und gelungene Lesevergnügen. Gerne mehr in die Richtung :)

Liebe Grüße,
kono
Für mehr Kommentare auf Animexx
Antwort von:  FreeWolf
14.11.2019 16:25
Liebe kono,

ich stelle mit Erschrecken fest, dass ich dir nie geantwortet habe: Das tut mir unendlich Leid, vor allem, weil ich mich schon als du kommentiert hast, wahnsinnig über deinen Kommentar gefreut habe und immer noch freue. Du hast dir so große Mühe gemacht, das finde ich so toll und will ich auch entsprechend wertschätzen - ich hoffe also, du fühlst dich hier nachträglich auch wertgeschätzt. :)

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich die FF geschrieben habe: Ich habe Yuri on ICE in zwei Tagen durchgesuchtet und Yuri hat es mir angetan, weil er auf dem Eis eine derart tsarke Wandlung durchmacht. Das wollte ich einfangen. Danke für dein Lob und auch für die punktuelle Diskussion der kleinen sprachlichen Feinheiten, auf die ich jetzt nicht groß eingehen werde, sondern stillschweigend korrigieren. :)

Vielen Dank für diesen tollen Kommentar! <3

Ganz liebe Grüße
Wolfi


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