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Chrysalis

von

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Zu sehen, wie Lev nicht patzte, war das absolut befremdlichste, das Morisuke seit langem gesehen hatte. Er war sprachlos. Er war wirklich und ohne jede Diskussion sprachlos.

Als sie sich vor Beginn der Vorrunden getroffen hatten, hatte Kenma erwähnt, dass Lev besser geworden sei. Morisuke hatte es geglaubt. Aber er hatte das Ausmaß entschieden verschätzt.

Er konnte den Blick nicht vom Spielfeld wenden, immer noch völlig fasziniert davon, dass Lev eine Annahme geschafft hatte, an der er absolut überhaupt nichts zu meckern fand. Das war – unglaublich. Überhaupt hatte Lev sich verändert. Seine ganze Ausstrahlung auf dem Spielfeld war viel weniger verspieltes Löwenjunges als ernstzunehmendes, wildes Raubtier. Er hatte ihn noch nie mit einer solchen Intensität spielen sehen.

Es war nicht nur Lev. Sie waren alle so viel besser geworden. Shibayama war ein großartiger Libero, und im Gegensatz zu den letzten Matches hatte er endlich Präsenz gelernt, Selbstvertrauen. Inuoka war nicht mehr einfach nur ein treues Hündchen, sondern konnte regelrecht gefährlich wirken – ein echter Wachhund eben. Kenma, dessen gelassene Souveränität noch gestiegen war. Yamamoto, der weniger hitzköpfig, aber dafür umso durchschlagskräftiger wurde. Es war ein großartiges Team, und Morisuke genoss es, ihnen zuzusehen.

Besonders Lev. Er wollte es nicht laut sagen, aber er war stolz auf ihn.

„Sie sind gut geworden“, kommentierte Kai neben ihm. Morisuke nickte abwesend. Er musste nicht einmal hinzusehen, um zu wissen, dass der Kerl zufrieden grinste. Er war selbst zufrieden, aber – eben überrascht! Von Lev hatte er wirklich nicht so viel erwartet. Und das wirklich wegen so einer Lächerlichkeit wie Liebe? Das war unfassbar. Es war absolut unfassbar, es passte nicht in sein Weltbild, es war total albern und dumm.

Aber so gern Morisuke sich einreden wollte, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte, es war nahezu unmöglich. So stolz, wie Lev ihm von seinen Fortschritten erzählt hatte, nur, um dann regelrecht in sich zusammenzusinken, als Yamamoto gehässig erwähnte, dass er immer noch kein Ass war, war es eindeutig. So hilflos-hoffnungsvoll, wie er ausgesehen hatte, als er erwähnt hatte, dass er spätestens nach der Meisterschaft ja das Ass sein würde, weil Yamamoto doch irgendwann aufhören musste. Es war sein Pech, dass er noch so lange warten musste. Sie hatten schließlich einen Deal! Wenn Lev seinen Teil nicht erfüllen konnte, musste er es eben aussitzen. Er hatte noch ein ganzes Schuljahr, um Ass zu sein.

 

Zumindest war das Morisukes grundlegender Gedanke gewesen.

 

Aber je länger er Lev da unten beim Spielen zusah, desto mehr musste er zugeben, dass der nervige, großkotzige Vollidiot ihn gerade ernsthaft beeindruckte. Gut, er hatte einiges an Zeit gehabt, um zu trainieren, aber nichtsdestotrotz war es eine immense Leistung, sich vom inkompetenten Idioten zu einem der fähigsten Spieler des Teams zu mausern. Und es stand ihm, diese neugewonnene Ernsthaftigkeit und Reife, die immer wieder durchschlugen und das nervige Grinsen verdrängten.

So, wie er da unten auf dem Spielfeld stand, war es unmöglich, ihn nicht ernst zu nehmen.

Wahrscheinlich hätte er ohne einen zweiten Gedanken zugesagt, hätte Lev ihn mit diesem Blick nach einem Date gefragt.

„Du schmachtest ganz schön“, spottete Kuroo irgendwann neben ihm. Morisuke hatte nicht bemerkt, wie er herangetreten war, hatte nicht gemerkt, wie der Kerl sich neben ihm aufs Geländer gelehnt hatte, und jetzt war er hier und grinste träge, dreist und unverschämt. Er schnaubte missgelaunt und wandte den Blick wieder ab, als könnte das die Verlegenheit verbergen, die sich auf seinem Gesicht breitmachte.

„Gib doch zu, dass du einfach nur frustriert bist, dass Nohebi am anderen Ende des Gebäude spielen.“

Kuroo lachte. Morisuke sah gar nicht hin, aber er hörte das Lachen in der Stimme des Anderen, gutmütig, viel zu wenig streitlustig und provokant.

„Ertappt.“

 

Das erste Spiel gewannen sie mühelos.

Morisuke hätte ihnen auch der Reihe weg in den Hintern getreten, wenn nicht! Es war nicht, als wäre ihr Gegner allzu stark gewesen. Wahrscheinlich hätten sie sogar mit der Ersatzbankaufstellung gewinnen können, wenn sie es drauf angelegt hätten. Nicht, dass Morisuke sich wünschte, dass die Ersatzbank zum Einsatz kam. Klar, er gönnte es ihnen, zu spielen, aber er wollte nicht, dass sich irgendjemand verletzte, und in der Regel ging beides eben stark miteinander einher.

Er ließ sich zufrieden zurück auf seinen Sitz plumpsen, als das Spiel vorbei war und die Teams abzogen, um den nächsten Kontrahenten Platz zu machen. Für Nekoma war jetzt erst einmal Pause angesagt, und die gerade spielenden Teams interessierten Morisuke nicht genug, um weiter über dem Geländer zu hängen und hinunter zu starren.

Kuroo hatte sich schon aus dem Staub gemacht. Vermutlich rüber in die andere Halle, wo bald Fukuroudanis erstes Spiel stattfinden würde. Vielleicht suchte er auch gerade eher eine gewisse Schlange. Morisuke würde es ihm womöglich gleichtun und sich etwas anderes zu sehen suchen, wenn das folgende Spiel ihm zu langweilig wurde.

„Er ist sehr gut geworden, nicht wahr?“

Die fremde Stimme riss ihn aus der Überlegung, ob er nun bleiben wollte oder nicht. Er sah verdutzt auf und in das strahlende, vor Aufregung gerötete Gesicht von Levs Schwester. Unwillkürlich machte sein Magen einen Purzelbaum beim Anblick der hochgewachsenen Schönheit. Er lächelte behutsam.

„Haiba-San. Ja, das ist er.“

Sie lachte sanft, mädchenhaft. Sie schaffte es, selbst in dieser simplen Geste unglaublich schön auszusehen.

„Alisa bitte. Darf ich?“

Sie wies auf den leeren Sitz neben Morisuke. Er nickte vage und sah zu, wie sie sich neben ihm niederließ, ihre Bewegungen voll von einer selbstverständlichen Eleganz, die geradezu beneidenswert war. Erst nach einem langen Moment fiel ihm auf, dass der Anblick etwas seltsam Vertrautes hatte. Wenn Lev nicht gerade ein Idiot war, konnte er genauso beeindruckend aussehen.

Es war gut, dass er die meiste Zeit ein Idiot war, wenn Morisuke es recht bedachte. Die Vorstellung, dass Lev sich öfter auf seine natürliche Anmut berufen würde, war angsteinflößend für sein Herz und seine Nerven, ernsthaft. Er wandte verlegen den Blick ab, während er versuchte, seine Ohren dazu zu zwingen, mit dem Glühen aufzuhören.

 

„Ich bin stolz auf Lyovochka“, erzählte Alisa weiter, scheinbar gar nicht groß bemerkend, was bei Morisuke vor sich ging. Er war extrem dankbar darum, lächelte freundlich und hoffte, dass sein Gesicht ihn nicht noch einmal verraten würde.

Es war unübersehbar, dass sie stolz war, und so gern er dagegen gewettert hätte – sie hatte alles Recht und allen Grund dazu. Lev hatte sich zu einem beeindruckenden Spieler entwickelt, den man einfach respektieren musste.

Nur der Spitzname war irritierend.

„Bei Lev zu bleiben wäre kürzer“, kommentierte er amüsiert. Alisa lachte fröhlich auf. Es klang hübsch, und sie sah aus wie eine klassische Dame aus einem etwas älteren, westlichen Film. Es war wirklich beeindruckend. Ihre Augen blitzten fröhlich, als sie amüsiert mit dem Finger vor Morisukes Gesicht wedelte.

„Aber nicht halb so liebevoll, Yaku-Kun.“

In ihrer Stimme schwang ein amüsierter Tadel mit, der kaum ernst gemeint sein konnte.

Liebevoll, huh?

Morisuke würde so einen Spitznamen sicher nicht wollen! Sein Name war gut, wie er war, und er nahm einiges an Spitznamen und Kurzformen hin, aber es musste bitte nicht extra liebevoll und aufdringlich sein. Aber gut. Wenn man zur selben Familie gehörte, dann machte man das wohl einfach so. Seine Mutter war da doch auch nicht besser… oder seine Großmutter. Er seufzte resignierend.

Genug von den Namen.

„Wir sind alle stolz auf ihn.“

Im ersten Moment wurde Alisas Blick regelrecht überrascht. Dann kehrte das Lächeln zurück, und es war schöner und liebevoller als zuvor noch. Morisuke stellte sich unwillkürlich vor, wie dieses Lächeln auf Levs Gesicht aussehen würde anstelle seines nervtötend breiten Grinsens. Er bereute es augenblicklich.

„Er wird sehr glücklich sein, das zu hören.“

 

Morisuke hatte aber nicht vor, ihm das zu sagen!

 

(Vielleicht würde er es tun, wenn er damit so ein Lächeln provozieren könnte.)

 

 
 

***

 

 

In dem Moment, in dem sie ins Finale kamen, war alles andere egal. Sie hatten einen Platz für die Meisterschaft. Trotzdem wusste Keiji, dass das Finalspiel keinen Deut weniger anstrengend werden würde. Außerhalb des Feldes mochten sie und Nekoma durch Freundschaft verbunden sein, aber hier und jetzt waren sie erbitterte Rivalen, und keiner von ihnen würde den ersten Platz freiwillig aufgeben.

Er traute es nicht einmal Kozume zu.

Weil sie noch etwas Zeit hatten, bis das Spiel begann, hatten sie ihr Lager im Eingangsbereich aufgeschlagen, um noch mit ihren ehemaligen Senpai sprechen zu können. Natürlich war Bokuto gekommen. Dieses Mal hatte er Konoha und Komi mitgebracht, Washio, Sarukui und Anahori, selbst Shirofuku war da. Sie war schon seit Minuten mit Suzumeda am Quatschen, keinerlei Aufmerksamkeit mehr für die Jungs, die ihrerseits umeinander herum tummelten und schwätzten.

Bokuto sah zufrieden aus, wie er da mitten im Team stand. Er sah vor allem passend aus. Dazugehörend, immer noch, obwohl er nun bereits ein halbes Jahr nicht mehr dabei war. Es war gut.

 

„Ihr seid ganz schön gut geworden, hey hey hey!!!“

Er lachte, laut und dröhnend. Keiji sah Stolz auf vielen Gesichtern seines Teams, ein bisschen Verlegenheit – und die typische Ablehnung von Kurowa. Es ließ ihn unzufrieden die Mundwinkel verziehen, aber solange der Junge still blieb, sah er keinen Grund, ihn zu rügen. Er wollte keine weiteren Ausschreitungen gegen Bokuto, aber er wollte auch nicht lächerlich überdramatisieren. Statt sich auf Kurowas ablehnenden Blick zu konzentrieren, sah er lieber wieder zum Rest des Teams. Nishiame hüpfte regelrecht auf der Stelle, strahlend vor Stolz, Minamishima neben ihm kaum besser dran. Onaga und Shima tuschelten, und was auch immer sie flüsterten, es brachte sie nur dazu, noch breiter zu grinsen und noch glücklicher auszusehen.

Bokuto strahlte viel heller als sie alle zusammen.

„Also, viel besser als letztes Mal noch! Ich wusste doch, dass ihr das könnt! Diesmal gewinnt ihr die Vorrunden mit Sicherheit!“

„Wir geben uns jedenfalls Mühe!“, trällerte Nishiame vergnügt und machte noch einen kleinen Hüpfer, „Wir müssen euch doch stolz machen, wo ihr so zahlreich hier erschienen seid!“ – „Wir sind schon stolz“, gab Komi lachend zurück. Er stieß Konoha in die Seite. – „Stimmt’s, Konohan?“

Das missgelaunte Brummen, das die einzige Antwort war, war seltsam beruhigend in seiner Vertrautheit. Nishiame lachte, weil er Konohas Macken auch noch aus dem Vorjahr kannte, während Erstklässler Shima nur irritiert die Stirn runzeln konnte. Er wandte sich mit einem Blick an Minamishima, als wolle er fragen ist der immer so? Die Antwort, die er bekam, war ein herzliches Grinsen und ein Schulterklopfen. Man gewöhnte sich an Konohas oftmals genervt scheinendes Erscheinungsbild.

„Komiyan hat Recht!“, griff Bokuto den Gesprächsfaden wieder auf, immer noch breit grinsend.

„Wir sind total stolz auf euch, hey hey hey! Aber ihr könnt sicher noch mehr erreichen! Akaashi hat ein echt gutes Team trainiert!“

Es war nicht Keijis Verdienst, allerdings. Allein bedenkend, dass er derjenige war, der immer wieder einmal früher abhaute… Es war das erste Mal, dass er Kurowas spitzer Zunge zustimmen musste, als der Junge genau das wenig freundlich herausstellte:

„Der hat nichts getan, außer das Training zu schwänzen.“ – „Kurorin, du übertreibst!“

 

Er übertrieb natürlich, aber es steckte Wahrheit in seinen Worten. Keiji fühlte sich deshalb immer noch schuldig, aber andererseits – es hatte nicht geschadet, es hatte wirklich nicht geschadet. Und ihm selbst ging es auch besser, seit er hier und da mal etwas schleifen ließ, und stattdessen die Gelegenheit hatte, mehr Zeit mit Bokuto zu verbringen.

Das Gespräch lenkte dessen Aufmerksamkeit überhaupt erst auf Kurowa. Er sah den Jungen an, öffnete den Mund, um zu protestieren, und schloss ihn dann doch wieder. Seinem Blick nach zu urteilen war ihm etwas anderes – wichtigeres – eingefallen, das er nun dringend in Worte fassen musste. Wichtiger als Keijis Ehre. Ehrlich gesagt war Keiji neugierig darauf, was nun kommen würde, denn in der Regel ließ sich Bokuto keine Gelegenheit entgehen, sein strahlender Retter zu sein. Jetzt gerade aber rieb er sich nur nachdenklich das Kinn, dann zeigte er auf Kurowa und grinste.

„Du! Sohn-Kun! Nächstes Jahr wirst du das Ass werden!“

 

Keiji war so überzeugt, dass Kurowa einfach aus Prinzip eine bissige Retourkutsche von sich geben würde, dass er am Ende genauso sprachlos war wie der Junge selbst, nur aus ganz anderem Grund.

 

 
 

***

 

 

Der endgültige Sieger der Vorrunden der jährlichen Frühjahrsmeisterschaft in Tokyo war das Team der Fukuroudani-Akademie.

 

Nach dem Spiel war Morisuke heiser, und seine Finger taten weh, so sehr hatte er sie in das Geländer der Tribünen gekrallt. Es war so knapp gewesen! Viel knapper, als sie alle erwartet hatten, und zwischendurch war es knapp genug gewesen, dass Hoffnung aufkeimte. Nekoma hätte gewinnen können. Nur ein bisschen mehr. Ein bisschen weiter. Nur ein Punkt mehr. Trotzdem hatte es am Ende nicht gereicht.

Es war in jedem Fall aber ein Wahnsinnsspiel gewesen und Morisuke war unglaublich stolz auf sein altes Team.

Das war natürlich der einzige Grund, weshalb er, kaum, dass das Spiel abgepfiffen worden war, losgestürmt war, um hinunter in den Eingangsbereich der Halle zu kommen, dorthin, wo Nekoma gleich herauskommen würden. Er glaubte nicht, dass sie lange auf sich warten lassen würden, und er wollte sofort da sein, wenn die Jungs aus dem Sportlerbereich herausströmten, wollte–

Was er wollte, vergaß er augenblicklich, als er sie tatsächlich gerade herauskommen sah. Trotz der Niederlage waren sie munter, lachten, schwatzten miteinander. Dass sie stolz auf sich und ihre Leistung waren, war unübersehbar, und dass sie am Ende ohne Verlust gegen ein befreundetes Team gespielt hatten, spielte vermutlich auch stark in ihre gute Laune mit hinein.

Lev war so vertieft in ein Gespräch mit Inuoka und Shibayama – Morisuke hörte nur irgendetwas von „Gwah!“ und „Bämm!“ und „Sou, keiner versteht dich!“ –, dass er ihn überhaupt nicht bemerkte.

 

 „Lev!“

Der Blick des Anderen war pure Verblüffung, als er Morisuke erblickte. Ob er verblüfft über seinen Anblick war, oder über das Krächzen seiner Stimme, das ihn klingen ließ wie neunzig statt neunzehn, konnte er allerdings nicht abschätzen.

„Yaku-Sa–“

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, da hatte Morisuke die kurze Distanz zwischen ihnen schon komplett überbrückt. Ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, was er hier eigentlich tat, packte er Levs silberblonden Haarschopf und zog ihn zu sich hinunter. Ihre Lippen kollidierten mit zu viel Kraft, und Morisuke war schon im ersten Moment bewusst, dass es kein besonders eleganter Kuss war, aber er ignorierte es. Es störte Lev offensichtlich nicht, denn nach einem Moment, den er einfach nur erstarrt dagestanden hatte, schlangen sich lange Arme um Morisukes Körper, drückten ihn fester gegen den Riesen, und Levs Lippen drückten sich an seine.

Irgendjemand schnappte überrascht nach Luft. Es klang, als würde jemand anderes klatschen – oder abklatschen. Kuroo pfiff unnötigerweise, eine Geste, für die Morisuke ihn später noch treten würde, wenn er hier fertig war. Gerade waren sowohl seine Beine gut beschäftigt – mit stehen –, als auch seine Hände, die längst fest in Levs einstmals sorgsam gestylte Frisur gekrallt waren. Inzwischen dürfte sie völlig verwüstet sein, und es kümmerte Morisuke nicht im Geringsten.

 

Als er sich wieder von Lev löste, waren seine Lippen gerötet von dem nicht wirklich zärtlichen Kuss, und er sah völlig verblüfft und ungläubig aus – kurzum: Genau so, wie Morisuke sich selbst fühlte. Er war fassungslos, jetzt, wo die Realisation sackte, was er getan hatte. Er war fassungslos, und er hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte. Ein Teil von ihm erwog einen taktischen Rückzug, während ihm im Grunde längst bewusst war, dass das einfach nur lächerlich wäre. Jetzt war es auch zu spät, um es zurückzunehmen.

Er wollte es auch gar nicht.

Er wollte es nicht. Die Erkenntnis kam ihm ein bisschen zu früh, er fühlte sich noch nicht ganz bereit für die Implikationen, die sie mit sich brachte, aber jetzt musste er damit leben. Er holte tief Luft, fixierte Lev entschlossen. Dessen Blick war immer noch verwirrt, aber inzwischen mischte sich vor allem Hoffnung mit hinein.

„Yaku-San–?“

Er schnaubte, stemmte die Hände in die Hüften. Levs Mund verzog sich langsam zu einem Grinsen, und Morisuke vermutete, dass er es zum Erlöschen bringen könnte, wenn er ihm nur einfach einmal gegen das Schienbein trat. Es war verlockend, ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, denn es machte die Situation überhaupt nicht besser. Lev hatte keinen Grund dazu, so selbstüberzeugt und zufrieden auszusehen!

…aber eigentlich – vielleicht hatte er den ja eben doch. Er schüttelte den Kopf, fassungslos über sich selbst. Er konnte noch nicht so ganz glauben, was er hier tat, aber schlussendlich tat Morisuke es trotzdem:

 

„Also? Wann ist nun unser Date?“

 

 
 

***

 

 

„Ihr müsst euch langsam überlegen, wer nächstes Jahr euer Captain werden soll!“

 

Mit diesen Worten hatte Nishinoya sie einfach zurückgelassen. Er war aus dem Clubraum gewirbelt, hatte Tanaka hinterhergebrüllt, dass er gefälligst warten sollte. Alle jüngeren Teammitglieder waren noch versammelt, weil sie nach dem Training gemeinsam hier lernten.

Na ja, nicht, dass mit Lernen jetzt noch so viel war.

Tadashi schob mit einem leisen Seufzen sein Englischbuch von sich. Er wusste, dass das Thema im letzten Jahr auch aufgekommen war. Früher sogar. Bedeutend früher. Er wusste auch, dass die Entscheidung eigentlich ganz einfach gewesen war – aber dieses Jahr gab es kein ganz einfach, das sah er. Sie waren eine Gruppe, in der sich immer noch niemand wirklich durch Captainkompetenzen hervorgetan hatte. Natürlich würde er sofort für Tsukki stimmen! Aber grundsätzlich wusste er, dass Tsukki nicht zwingend ein guter Captain war. Er hatte sich gemausert, und er war längst nicht mehr so unverschämt gemein wie zu Beginn ihrer gemeinsamen High-School-Zeit, aber trotzdem hatte er Makel.

Nur, ehrlich, wer sonst? Tsukki war wenigstens intelligent.

Hinata war charismatisch, und obendrein beneidenswert talentiert, mitreißend. Er war vielleicht geeignet, aber andererseits erinnerte er Tadashi in seiner Art oft an Nishinoya, und den konnte er sich, obwohl er ein hervorragender Support für das Team war, partout nicht als Captain vorstellen.

Kageyama war – Kageyama. Er war ein brillanter Spieler, aber ihm fehlte immer noch oft das Verständnis dafür, dass normale Menschen andere Grenzen hatten als er. Als Captain war er kaum geeignet, wenn man allein auf diesen Aspekt achtete. Spielerisch hingegen wäre er natürlich eine gute Wahl. Aber seine Persönlichkeit stand ihm im Weg.

Sich selbst sah Tadashi nicht in einer Position, um Captain zu sein. Nicht einmal Vize-Captain. Suga hatte es auch gekonnt, obwohl er wenig Zeit auf dem Spielfeld verbracht hatte, aber – nein. Tadashi wollte es nicht einmal. Das war nicht sein Platz.

 

Mehr Zweitklässler gab es doch nicht einmal. Und die Erstklässler waren nun auch nicht unbedingt geeignet. Isshiki war ein vernünftiger Junge, und er war freundlich und hilfsbereit, aber er war nicht durchsetzungsstark genug. Die Zwillinge hatten beide für sich allein zu viele Macken. Im übernächsten Jahr mochten sie ein gutes Captain-Duo abgeben, wenn sie da noch ein bisschen herausgewachsen waren, aber aktuell sah Tadashi keinen von ihnen in einer Autoritätsposition.

Sie waren auch einfach zu jung.

Es war eine Sache, mitten im zweiten Schuljahr mit dem Captaintum zu beginnen, weil die Drittklässler schon frühzeitig aufhörten, aber eine ganz andere, schon mit Beginn des Jahres plötzlich die Zügel in der Hand zu halten.

Tadashi seufzte noch einmal. Dass es still war, machte die ganze Situation nicht wirklich besser. Spätestens Hinata hätte längst laut in der Gegend herumplärren sollen, so wie immer. Aber stattdessen sah ausgerechnet Hinata aus, als machte er sich die intensivsten Gedanken um Nishinoyas Worte. Als er Tadashis Blick auffing, grinste er flüchtig, als wolle er ihn beruhigen, verfiel dann aber wieder in sein Brüten.

Wenn sie eh nicht redeten, könnte Tadashi genauso gut weiterlernen, oder? Andererseits wollte er nicht einmal lernen. Er starrte sein Englischbuch unwillig an. Wieso musste diese Sprache auch mit jedem Jahr komplizierter werden? Man sollte meinen, so lange, wie er schon paukte, würde es einfacher werden!

Und konzentrieren konnte er sich auch nicht.

 

„Also.“

Osamus Stimme durchbrach die Stille schließlich. Der unruhige Haufen Schulsachen, den er zum Pauken hervorgeholt hatte, türmte gefährlich wackelnd vor ihm auf dem niedrigen Tisch. Beinahe routiniert hob Tatsuo ein Buch herunter, das hinabzufallen drohte – sein Bruder nahm nicht einmal Notiz von der Unterbrechung, während er grinsend in die Runde sah.

„Was sagt ihr? Ich meine, klar, Tatsu, Isshiki und ich können auch unseren Senf dazugeben, aber ihr habt nen besseren Überblick?“

Er lachte unbekümmert. Letztes Jahr hatte sich Tadashi auch nicht besonders beteiligt. Eigentlich waren es nur die jetzigen Drittklässler gewesen, die die Diskussion geführt hatten. Nächstes Jahr würde es vermutlich genauso sein, wobei er sich vorstellen konnte, dass Osamu den Rest der Gruppe einfach zwang, mitzumachen.

Seine Worte brachten Hinata wieder dazu, aus seiner Starre zu erwachen. Er sah auf, und da war dieser Blick, den Tadashi immer noch in erster Linie mit dem Volleyballfeld assoziierte, der so völlig ungewöhnlich ernst und aufmerksam war, so intensiv. So gar nicht Hinata eben. Es war gruselig, und er war froh, dass er nicht Opfer von Hinatas aufmerksamen Augen war. Er wollte wirklich nicht mit Osamu tauschen gerade.

„Wieso überlegen wir da überhaupt?“, fragte er, und seine Frage klang so selbstverständlich rhetorisch, dass sich Tadashi selbst dumm damit fühlte, überlegt zu haben. Ja, wieso grübelten sie überhaupt? Die Antwort lag doch auf der Hand.

Scheinbar.

Tadashi fand sie trotzdem nicht.

Osamu auch nicht, denn dessen Augenbrauen hoben sich nur fragend.

„Erleuchte uns, Hofnarr“, spöttelte Tsukki. Er klang nicht ganz so feindselig, wie Tadashi erwartet hätte, ein Umstand, der ihn flüchtig grinsen ließ. Versteckt, denn wenn Tsukki es sah, würde er nur unnötig genervt davon werden.

 

„Kageyama wird unser Captain. König. Captain. Ist doch einerlei.“

 

„Was.“

Sehr zu Tadashis Überraschung war es nicht einmal Tsukki, der am Entgeistertsten war, sondern Kageyama. Der sah Hinata an, als hätte er gerade verkündet, er wolle einen Volleyball heiraten. (Hinata war es doch zuzutrauen.)

„Oi, Hinata, was soll das?!“ – „Was?! Ich sag doch nur, wie es ist! Du bist unser König! Es ist doch nur logisch, dass du der Captain wirst! Wer soll das denn sonst machen?“

„Du.“

Es war das erste Mal, dass sich Tatsuo an diesem Gespräch beteiligte. Sein Blick war nichtssagend, als er Hinata betrachtete, der seinerseits dafür völlig entgeistert war. Sein Lachen war gleichermaßen geschmeichelt wie verlegen. Dabei war es wirklich naheliegend. Hinata hatte das nötige Charisma, und er war sympathisch genug, um nicht, und sei es nur von außen, als Tyrann dazustehen, obwohl er manchmal sogar radikalere Trainingsideen hatte als Kageyama.

Sie waren einfach beide bescheuert.

Hinata aber lachte nur noch einmal auf, dann schüttelte er den Kopf.

„Oh nein! Das ist überhaupt nicht mein Ding! Captains haben viel zu viel Verantwortung! Mein Magen würde ständig gwah und umpf und wie soll ich so denn spielen?!“

Sein Blick wurde wieder ernst, alle heitere Leichtigkeit verschwand hinter leidenschaftlicher Intensität.

„Ich brauche alles, was ich habe, für das Spiel. Ich bin kein Captain.“

 

Tadashis erster Gedanke war, dass er erwachsen geworden war. Vor einem Jahr hätte Hinata den Captainposten sicher ohne zweiten Gedanken angenommen, hätte er das Angebot bekommen. Auf eine Art aber hatte er mit seiner konfusen Erklärung sogar Recht. Er hatte sicherlich nicht genug Aufmerksamkeit und Verstand, um Captain zu sein. Er konnte viel, und er überraschte oft mit verblüffend klugen Spielzügen, aber eben das war es – sein Kopf war immer nur im Spiel. Captain zu sein bedeutete aber mehr als das, das war Tadashi auch bewusst, ohne dass er auch nur die geringste Erfahrung hatte.

„Gibt es irgendwelche Einwände dagegen, seine Majestät offiziell zu krönen?“

Osamu schüttelte sofort grinsend den Kopf.

„Kageyama-Senpai ist gruselig, aber cool! Es wäre mir eine Ehre, so einen krassen Captain zu haben! Mal im Ernst, Leute, da wird doch jedes Team vor Angst erzittern, wenn sie uns sehen!“ – „Kein Einwand“, gab auch Tatsuo zurück. Isshiki schüttelte ebenfalls nur den Kopf, so breit grinsend, dass seine Mundwinkel an seine Segelohren heranzureichen schienen.

„Yamaguchi?“ – „Ah! Ehm, nein!“

Tadashi blinzelte hilflos. Er hatte geantwortet, ohne darüber nachzudenken. War es wirklich in Ordnung für ihn? Kageyama als Captain war eine unheimliche Vorstellung. Und wer würde sein Vize sein? Hinata? Er schien keine Machtposition zu wollen. Tadashi konnte und wollte auch nicht. Aber… Tsukki? Tsukki, der immer noch regelmäßig mit Kageyama zankte, einfach nur, weil es ihm Freude bereitete.

Sie würden ein unglaublich verstörendes Team sein nächstes Jahr. Entweder unglaublich gefürchtet, oder die größten Lachnummern, die der High-School-Volleyball je gesehen hatte.

„Dann ist es ja geklärt“, fasste Hinata mit einem zufriedenen Nicken zusammen.

„Kageyama wird unser neuer Captain. Und Tsukishima wird sein Vize!“

 

Obwohl er sich sicher war, dass Tsukki auf den Gedanken selbst schon gekommen war, immerhin war es der einzig logische, verzog er so angewidert das Gesicht, dass Tadashi für einen Moment fürchtete, er würde ablehnen. Nur aus Prinzip, weil er Hinata widersprechen wollte. Er ließ es schlussendlich aber doch bleiben, schnaubte nur und rückte sich die Brille zurecht, eine Geste, die zumindest im Ansatz von Verlegenheit getrieben war. Tadashi grinste ihn flüchtig an und kassierte dafür einen vernichtenden Blick.

„Sorry, Tsukki!“

Tsukki entschuldigte natürlich nicht, und es war völlig in Ordnung. Tadashi gab sich Mühe, nicht  mehr zu grinsen, als er wieder in eine andere Richtung sah.

Was sagte Kageyama nun dazu? Ein Blick zu ihm zeigte das typisch griesgrämige Gesicht, das eigentlich immer angepisst aussah, selbst wenn er schlief. Er runzelte kurz die Stirn, doch er sah nicht eine Sekunde lang so aus, als wollte er widersprechen. Er nickte nur, langsam, bedächtig.

„Es ist die beste Lösung.“

Es war trotzdem seltsam. Gerade im Vergleich zu den Captains der letzten beiden Jahre. Sawamura und Suga. Ennoshita und Tanaka. Sie waren genau das Gegenteil von dem, was Kageyama und Tsukki nächstes Jahr sein würden. Gruselige Vorstellung. Hinata grinste so wild, als könnte er es kaum erwarten – für ihn musste es ein Traum sein, unter zwei wahnsinnigen, ehrgeizigen Überfliegern zu spielen, huh?

Tadashi hoffte, er würde das Training überleben. Aber was das anging vertraute er doch relativ gut auf Tsukkis Faulheit.

„Okay!“

Mit seinem Ausruf sprang Hinata auf die Beine und grinste breit. Tadashi fragte sich, ob, was auch immer er jetzt vorhatte, auch dazu diente, um weiterhin vom Lernen abzulenken. Nachdem Hinatas Bücherstapel noch unordentlicher war als Osamus, war es gar nicht einmal so unwahrscheinlich.

Er würde sich nicht beschweren. Englisch war gerade wirklich nicht seine Priorität.

 

„Wann krönen wir jetzt unser Königspaar?“

 

 

***

 

 

Auf dem Brief war kein Absender. Die Handschrift auf dem Umschlag war aber absolut eindeutig erkennbar – Yudacchi. Tooru musterte das unscheinbare weiße Papier mit den genauso unscheinbaren blauen Kugelschreiberschriftzeichen, runzelte die Stirn. Yudacchi hatte keinen Grund, ihm zu schreiben. Es war nicht sein Geburtstag. Es war auch sonst kein Feiertag in der Nähe, der einen altmodischen Brief rechtfertigen würde. Briefe waren überhaupt eigentlich Shicchis Ding, deshalb war es nur noch fragwürdiger, dass Yudacchi ihm einen schickte. Kurzum: Es ergab keinen Sinn.

Er seufzte unzufrieden. Es war nicht schwer, zu erahnen, was Yudacchi von ihm wollte. Er hatte ihn schon die letzten Wochen nicht mehr in Frieden gelassen mit dem Iwa-Chan-Thema, also war das hier zweifelsfrei etwas, das dazugehörte. Aber was? Hatte er beschlossen, dass er schreiben wollte, nachdem Tooru ihn beim letzten Telefonat knallhart aufgelegt hatte, nachdem er zu viel nervte? Der Brief fühlte sich gar nicht dick genug an für die Flut an Wörtern, die Yudacchi ihm vermutlich zu sagen gehabt hätte.

Letztlich würde er es nicht herausfinden, wenn er den Brief nicht öffnete. Er trottete den Weg zum Fahrstuhl des Wohnhauses, ließ sich bis zu seiner Wohnung hochfahren und schlüpfte missmutig hinein. Er durfte sich inzwischen wieder ohne Krücken bewegen, netterweise. Hatte ja auch nur beinahe einen Monat gedauert. An Volleyball war trotzdem kaum zu denken, und selbst wenn – er merkte deutlich, dass er in seinem Team nicht mehr erwünscht war, nicht von Ushiwakas Seite aus zumindest. Die anderen behandelten ihn herzlich, hatten sich nach seiner Gesundheit erkundigt und immer wieder versucht, ihn aufzuheitern, aber das war für Tooru wenig wert, wenn er genau wusste, dass er keine Chance mehr hatte, auf dem Spielfeld zu stehen.

Es war abartig.

 

Einmal Schuhe und Jacke abgelegt warf er sich aufs Sofa, schaltete den Fernseher ein. Es lief irgendeine dämliche Kinderserie, die er sogar noch aus seiner eigenen Kindheit kannte. Der Nostalgie wegen ließ er sie einfach laufen, während er den Briefumschlag umständlich auffriemelte, längst in Gedanken wieder dabei, wieso Yudacchi ihm von allen Menschen einen Brief schicken sollte.

Es war auch keine Antwort auf Shicchis letzten Brief, die er aber unbedingt auch mit Tooru teilen musste, warum auch immer. Manchmal machte Yudacchi das. Wie eine Gruppen-E-Mail, aber per Brief. Völlig bescheuert, aber so typisch für ihn, dass es schon wieder liebenswert war.

Im Briefumschlag befand sich nur ein Bogen dünnes Papier. Nicht einmal hübsches, schweres Briefpapier, sondern das billige Zeug, das man in jedem Drucker oder Kopierer fand und da zu Hauf mopsen konnte. Ein weiterer Blick zeigte, der Brief war sogar tatsächlich kopiert. Tooru rümpfte angewidert die Nase. Pah. So wenig war er Yudacchi neuerdings wert? Was hatte er denn da kopiert? Eine Broschüre übers Freundschaftenkitten? Hmpf.

Trotzdem war er neugierig genug, um sich das Ding näher anzugucken. Das Datum war… alt. Vom Jahresanfang. Im Februar. Toorus Magen krampfte. Er hatte das Datum nicht vergessen, wie könnte er?

Hatte er seinen Brief damals datiert? War das wirklich–?

 

Ich kann es nicht fassen, dass ich diesen Unsinn mitmache waren die ersten Worte auf der von oben bis unten zugeschriebenen Seite. Das waren mit absoluter Sicherheit nicht Toorus Worte.

Das war nicht einmal Toorus Schrift.

Ein dicker, schwerer Klumpen setzte sich in seinem Hals fest, um den er nicht einmal mehr schlucken konnte, Tränen ließen das Geschriebene vor seinen Augen verschwimmen, bis er glaubte, er sähe es durch eine Wasseroberfläche hindurch. Als würde man das Papier in einen See legen und zusehen, wie es langsam zum Grund sank.

Er wollte das nicht lesen.

Er konnte das nicht lesen! Und vor allem – wenn Yudacchi ihm diesen Brief geschickt hatte, war dann sein eigener…? Er wollte nicht einmal darüber nachdenken. Reflexartig griff er nach seinem Handy, starrte hilflos auf das Display, das ihm keinerlei Antwort auf die tausend ungestellten Fragen gab. Seine Finger klammerten so fest um das kleine Gerät, dass sie schmerzten, aber immerhin lenkte dieser Schmerz ihn von den Magenkrämpfen und dem Tränenkloß im Hals ab.

War Iwa-Chan schon zuhause? Hatte er seine Post schon eingesammelt? War sein Briefträger vielleicht einfach langsamer? Würde er den Brief erst morgen bekommen? Wie dumm wäre das, wenn Tooru ihn nun anrief, und ihm verbot, etwas zu lesen, das er noch gar nicht hatte!

Würde Iwa-Chan es überhaupt lesen wollen, wenn er merkte, was es war? Oder würde er es ungesehen in den Müll werfen, zerknüllt und zerknittert? Tooru wollte nicht zerknüllt und zerknittert werden!

 

Sein Handy klingelte.

 

Tooru erschrak so sehr, dass er es fallen ließ. Hektisch bückte er sich nach dem Ding, purzelte dabei vom Sofa und stieß sich die Schulter am Couchtisch, aber er erreichte das verdammte Ungetüm, bevor das Klingeln endete. Er schaute nicht einmal darauf, wer ihn anrief. Er wusste es. Er wollte sich zumindest fest einreden, dass einmal im Leben die nicht existente telepathische Verbindung zwischen ihnen wirklich funktionierte.

„Iwa-Chan!“

„Ich werde das nicht lesen, Oikawa“, drang vom anderen Ende der Leitung herüber. Tooru fielen Steine vom Herzen, die er bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Er schluchzte unwillkürlich auf, presste die freie Hand auf den Mund, um den Laut zu ersticken. Das war Iwa-Chan. Das war wahrlich und wahrhaftig Iwa-Chan, der ihn da gerade anrief, ohne, dass irgendjemand ihn direkt dazu gedrängt hatte. Obwohl Tooru ein abartiger Bastard zu ihm gewesen war bei ihrem letzten Treffen.

Und Iwa-Chan wahrte sein Briefgeheimnis, hatte Respekt vor Tooru und seinen Geheimnissen, genug Respekt, dass er seinen Stolz hinunterschluckte und anrief, nur um ihm das zu sagen.

Er wusste wirklich nicht, ob er lachen oder weinen sollte – oder gleich beides zusammen tun.

„Ich auch nicht“, presste er angestrengt hervor. Er schluckte, lachte, heulte gleichzeitig, und Tränen tropften von seinem Gesicht hinunter auf seine Hose, hinterließen kleine, runde, nasse Flecken. Yudacchi war ein Mistkerl. Ein absoluter, unfassbarer Mistkerl! Tooru würde ihn gehörig fertigmachen für dieses ganze Theater. So ging man doch nicht mit seinen engsten Freunden um!

Iwa-Chan atmete laut und unruhig. Es war seltsam beruhigend, weil Tooru so trotz der Stille wusste, dass er immer noch da war. Dass er nicht einfach wieder auflegte, weil sie sich am Ende doch nichts zu sagen hatten. Auch wenn es gerade irgendwie stimmte – Tooru hatte nichts zu sagen. Er war so voll von Worten, dass kein einziges herauskommen wollte, dass er absolut unfähig war, auch nur einen Gedanken irgendwie so zu verpacken, dass er verständlich bleiben würde.

Er wollte sich entschuldigen, im gleichen Maße, in dem er Iwa-Chan anschnauzen wollte für alles, das er ihm angetan hatte. Er wollte heulen und klagen, weil Ushiwaka ein Bastard war, er wollte Iwa-Chan sagen, wie schrecklich Volleyball ohne ihn war und dass es ein großer Fehler gewesen war, sich zu trennen, und gleichzeitig wollte er einfach nur still bleiben, weil er Angst hatte, dass jedes Wort diesen zerbrechlichen Frieden zwischen ihnen wieder zerschlagen würde.

 

Es dauerte minutenlang, bis ihm über alle Tränen und alles schlecht erstickte Schluchzen klar wurde, dass der Grund, weshalb Iwa-Chans Atmen so laut und unruhig durch das Handy drang, die Tatsache war, dass es ihm genauso ging. Es war unglaublich dumm, und vielleicht war es genau deshalb, dass Tooru sich gerade keine bessere Kommunikation hätte vorstellen können. Es war dumm. Es war einfach. Tränen verstand Tooru, selbst wenn er sich selbst kaum noch verstehen konnte.

Das war eine Botschaft, die kam an.

 

Irgendwann lachte Iwa-Chan leise auf. Es klang verschnupft, erstickt, nicht wirklich fröhlich, aber vor allem auch nicht mehr halb so unglücklich, wie es hätte sein können.

„Du siehst scheiße aus“, lachte er barsch. Tooru war für einen langen Moment komplett sprachlos. Sie hatten sich nicht ausgesprochen, nicht im Geringsten. Noch weniger als beim letzten Mal, das eine Aussprache gefehlt hatte.

Aber… brauchte er das denn überhaupt?

War es nicht gut genug, wie es war? Sie konnten noch miteinander reden. Tooru wollte gar nichts aussprechen gerade. Sie kannten ihre Fehler, zumindest war Tooru sich sehr sicher, dass Iwa-Chan genauso klug war wie er, was das anging. Auch wenn seine Noten natürlich nie an Toorus herankommen würden, aber an akademischer Intelligenz mangelte es ihm dann eben doch. (Nicht wirklich, aber hey.)

Schnaubend ließ er sich gegen das Sofa zurücksacken, legte den Kopf in den Nacken. Die Zimmerdecke war verschwommen unter seinem Blick.

„Aber du liebst mich so, Iwa-Chan!“

Niemand liebt dich, Shittykawa war die übliche Antwort auf diese Worte. Tooru war fest überzeugt, dass sie kommen würde. Es gehörte dazu. Sie waren wieder zu ihren alten Mustern zurückgekehrt, wieso sollte es also anders sein? Sie waren wieder Freunde. Wie es sein sollte.

Iwa-Chan lachte. Sanft, warm, und es war so ein wunderbarer Laut, dass Toorus Herz in seiner Brust anschwoll, bis sein Brustkorb zu bersten drohte.

 

„Ja.“



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