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Chrysalis

von

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Letztes Jahr hatte er geheult wie ein Schlosshund, als es vorbei gewesen war. Dieses Mal konnte Shigeru sich nicht dazu durchringen, die Tränen zu vergießen, die in seinen Augen brannten. Er wollte sein Gesicht wahren. Vielleicht war es ihm auch einfach nur aus Prinzip peinlich. Er erinnerte sich noch daran, wie verheult damals ihre Drittklässler gewesen waren, und dass es niemanden gestört hatte, aber – er wollte trotzdem nicht. Kyoutani heulte auch nicht.

Watari heulte, aber das war etwas ganz anderes.

Seine stillen Tränen waren ohnehin kaum zu bemerken neben dem lauten Heulen, das aus Kindaichis Richtung kam.

Das war es. Ein paar Tränen. Ein paar Tage Frust. Das Gefühl, dass er immer noch trotz aller Bemühungen nicht erreicht hatte, was er eigentlich hatte erreichen wollen. Dass er Oikawa und die anderen doch wieder enttäuscht hatte.

Und dann würde das Leben weitergehen.

Nächstes Jahr das gleiche Spiel. Übernächstes Jahr noch einmal. Und dann wieder. Immer das Gleiche. Sie wussten es alle, wieso nahm es dann überhaupt noch mit? Es war lächerlich, und trotzdem konnte Shigeru sich nicht davon lösen.

 

Niemand schien so recht motiviert zu sein, voranzukommen. Sie trödelten. Shigeru überlegte, ob es nicht einen Hinterausgang gab, der ihm half, sich darum herumzumogeln, seinen ehemaligen Senpai in die Augen sehen zu müssen. Zumindest einige bekannte Gesichter hatte er auf der Tribüne entdeckt. Sie waren unter Garantie immer noch hier.

Trotz allem Herauszögern waren sie schließlich doch draußen im Eingangsbereich der Halle, und es dauerte keine zehn Sekunden, bis die Gruppe aus dem Zuschauerbereich sie gefunden hatte. Shido. Sawauchi. Hanamaki und Matsukawa. Shigeru war erleichtert, dass Oikawa nicht da war.

„Ihr wart gut“, kommentierte Hanamaki mit einem trägen Grinsen. Matsukawa nickte bestätigend, während niemand so recht geneigt schien, ihnen zuzustimmen oder zu widersprechen.

„Macht sie nächstes Jahr fertig.“

„Für einige von uns gibt es kein nächstes Jahr“, platzte Shigeru ganz unabsichtlich heraus. Ihm war bewusst, dass es nicht fair war, aber er wollte diese Worte nicht hören. Nächstes Jahr war ein Zauberspruch, der seinen Zauber schon lange verloren hatte. Er mochte das Volleyballspielen, aber hatte längst beschlossen, dass dieses Jahr sein letztes war. Er hatte ein ganzes Leben vor sich, das angefüllt sein würde mit tausenderlei anderen Dingen, die eine höhere Priorität als der Sport hatten.

Er bereute die Entscheidung nicht. Oder litt darunter. Er war nur enttäuscht, dass er sich selbst keinen zufriedenstellenden Abgang ermöglicht hatte.

„Aw. Shigeru-San, ehrlich?“

Kogamis Stimme klang überzogen bedauernd. Hinter dem Theater vermutete Shigeru aber tatsächlich so etwas wie Ehrlichkeit. Er zog desinteressiert die Schultern hoch und warf dem Anderen einen ablehnenden Blick zu – es war nicht seine Sache.

„Hab besseres zu tun.“
 

Richtig überraschend kam die Enthüllung auch irgendwie nicht. Niemand war wirklich überrascht. Shido ermutigte seine Entscheidung, immerhin war es Shigerus Leben und er musste wissen, was das Beste für ihn war. Watari verkündete sogar, dass er sich ebenfalls anschloss, weil er einen Studiengang anpeilte, der einfach zu viel Zeit fraß, um noch ernsthaft im Sport unterwegs sein zu können. Er würde wohl gelegentlich noch hobbymäßig spielen, aber nichts Ernstes mehr.

„Ich hätte auch aufgehört, hätte Oikawa uns nicht gezwungen, weiterzumachen“, war Matsukawas gutmütiger Beitrag zur Diskussion. Shigeru war froh, dass er niemanden hatte, der ihn zu solchen Dummheiten zwang, denn ehrlich – er wollte nicht. Er war zufrieden damit, nicht weiter zu spielen.

„Ganz egal, was wir Drittklässler machen“, wechselte er schließlich das Thema, weil es ihm zu viel wurde. Er war beeindruckt, dass immer noch keine Tränen flossen, „Ich erwarte, dass das Team nächstes Jahr eine weniger peinliche Performance abliefert! Ihr werdet es gefälligst wieder bis ins Finale schaffen, ihr Waschlappen!“

Kindaichi sah aus, als wolle er vor Rührung gleich wieder in Tränen ausbrechen. Shido tat es auch beinahe, zog die ulkigsten Grimassen dabei und kommentierte, wie unglaublich gerührt er darüber war, dass Shigeru sich so fürs Team einsetzte. Kusachi flennte sowieso. Könnte sein Tratschclub ihn gerade sehen, all ihre sorgfältig gestreuten Gerüchte würden in sich zusammenstürzen wie ein billiges Kartenhaus. Es war nicht Shigerus Ding, huh?

Mit diesem Spiel war eindeutig der Moment gekommen, um aufzuhören. Er wollte nicht wie Oikawa und die anderen Ex-Drittklässler bis zum Jahresende dabei bleiben, das Unvermeidliche hinauszögern. Bei einem Anblick auf sein Team, das größtenteils gerade aus Heulbojen bestand, war er sich zwar nicht sicher, ob sie wirklich fähig wären, alleine zu überleben, aber – sie mussten es lernen.

 

Auch wenn ihre neue Captainriege noch weit davon entfernt war, überzeugend auszusehen.

 

Shido und die anderen blieben eine ganze Weile. Nachdem das erste lose Geplänkel vorbei war, meckerte Sawauchi mit so ziemlich jedem, der sich auch nur den kleinsten Patzer geleistet hatte. Seine barsche Art und die schroffen Rügen halfen irgendwie, über die Niederlage hinwegzukommen, zumindest trockneten sich so langsam so einige Gesichter.

Als die Gruppe sich zerstreute, war es schon so spät, dass sämtliche Spiele des Tages gelaufen waren und die Halle sich immer weiter geleert hatte. Shiratorizawa, das hatte deren beleberfleckter Außenangreifer spöttisch verkündet, war natürlich ins Finale gekommen. Shigeru hatte einen Moment gefürchtet, dass Kogami auf ihn losgehen würde, aber dann war Shirabu schon eingeschritten. Er entschuldigte sich eher gelangweilt klingend, bot Shigeru die Hand und erklärte, dass er es zutiefst bedauerte, nicht noch einmal gegen Seijoh spielen zu können.

Es hätte ihn beinahe wieder zu Tränen gerührt. Ehrlich. Aber Shigeru verkniff sich jede sichtbare Regung stur, nickte nur und wünschte seinem Rivalen alles Gute.

Dann tauchte Karasunos kleine, laute Nervensäge auf und verkündete freudenstrahlend, dass sie es bis ins Finale geschafft hatte. Shigeru blendete das Gespräch aus, so gut es ging, aber es war unübersehbar, dass es Kindaichis und Kusachis Laune hob, mit dem anstrengenden Springteufel zu reden. Weil er sich sicher war, dass er hier erst einmal nicht vermisst wurde, und weil er sowieso noch oft genug Gelegenheit haben würde, die Jungs aus seinem Team zu sehen, verabschiedete sich Shigeru mit einem knappen Gruß und ließ den neu erwachten Tumult einfach hinter sich.

Ihm war es zu deprimierend, über anderer Leute Erfolg informiert zu werden.

 

Er kam bis hinaus vor die Tür, ehe eine Hand mit seinem Rücken kollidierte und ihn ein paar Schritte nach vorn stolpern ließ. Als er sich umwandte, blickte er in Kyoutanis typisch verärgertes Gesicht, begegnete dem kalten, beinahe drohenden Blick des anderen Jungen.

„Versager haben nicht das Recht, aufzuhören.“

 

Weshalb es ausgerechnet dieses Worte waren, die Shigerus Selbstbeherrschung zerrissen und ihn doch zum Heulen brachten, blieb ihm unbegreiflich.

 

 
 

***

 

 

Kenjirou fühlte sich leer, als es vorbei war. Während des Spiels war er wütend gewesen. Verzweifelt. Aber kaum, dass der letzte Punkt gefallen war, war eine fast surreale Ruhe über ihn gekommen. Er fühlte sich wie in Watte gepackt, in einem ätzenden Traum, der mit dem Aufwachen aber auch wieder vergehen würde. Er musste sich krampfhaft daran erinnern, dass es so einfach nicht war.

Kawanishi, der neben ihm in den Eingangsbereich trottete, weinte. Immerhin hatte er den Anstand, es leise zu tun, während Goshiki so laut war, dass man ihn wahrscheinlich durch das ganze Gebäude hörte. Peinlich. Ninouchi schien um Fassung zu ringen, aber die Tränenspuren auf seinem Gesicht sprachen eine ganz andere Sprache als sein stoischer Blick. Fukumine grinste, während Sakase unwillig auf seiner Unterlippe herumbiss.

Sie alle waren Schuld an der Niederlage, immerhin waren sie nicht stark genug gewesen. Es war ihr Recht, wütend und enttäuscht zu sein, das verstand Kenjirou. Dass der Rest des Teams, der höchstens von der Bank aus zugesehen hatte, genauso elend dran war, war ihm heute wie die letzten Jahre immer noch unbegreiflich.

Für ihn ergab es keinen Sinn, über etwas wütend zu sein, auf das er keinen Einfluss gehabt hatte.

Er blieb stehen, als er ihnen gegenüber einen vertrauten, wilden, weinroten Haarschopf erblickte, neben ihm die vertraute Gestalt von Ushijima, der überlebensgroß wirkte hier in dieser Sporthalle.

 

„Yoooo~! Kenjirou, du siehst fit aus! Hey, Tsutomu, weg mit den Tränen, die lenken von deiner glorreichen Frisur ab!“

„T-Tendou-San!!! U-Ushijima-San!!!“

Tendou grinste. Ushijima sah aus wie immer. Kenjirous Magen krampfte, als er sich an dem ungläubig gaffenden Goshiki vorbeischob, um zu den beiden hochgewachsenen Männern aufzuschließen. Er holte tief Luft, straffte die Schultern, bereit, sich die Predigt abzuholen, die jetzt zweifelsohne kommen würde. Enttäuschung. Würde Ushijima ihn jetzt überhaupt noch an seiner Seite haben wollen? Er hörte Kanoos gutmütiges Brummen, mit dem er versuchte, Goshiki zur Ruhe zu mahnen. Es musste reichen; Kenjirou hatte besseres zu tun als ihr unnötig lautes Ass zu maßregeln.

„Ushijima-San.“

Der Blick des Anderen war unlesbar für ihn – wie immer. Stoisch schweigend sah er auf ihn hinunter, während im Hintergrund Goshikis, Kanoos und Tendous Stimmen in seinen Ohren dröhnten, nicht wirklich leiser als vorher, aber zumindest war Goshiki davon abgelenkt, Ushijima zu belästigen. Sakases Zetern mischte sich relativ bald mit in den Geräuschpotpourri, während Kenjirous Gegenüber immer noch still war. Hätte er selbst gewusst, was er sagen könnte, er hätte die Stille unterbrochen.

„Wir sind beide gescheitert“, war schließlich alles, was Ushijima verlauten ließ. Kenjirou wusste nicht, was die Botschaft ihm sagen sollte. Er runzelte kaum merklich die Stirn und schüttelte protestierend den Kopf.

„Es war Oikawa-Sans Schuld. Ohne ihn hättet ihr gewonnen.“

Es war eindeutig. Kenjirou hatte das Spiel zwar nicht sehen können, aber er hatte davon gehört, und für ihn gab es keine andere Erklärung, als dass Oikawas Patzer Auslöser des ganzen Debakels gewesen war. Trotzdem schüttelte Ushijima gerade den Kopf. Kenjirou konnte gar nicht anders, als ihn anzustarren, unverständlich, und plötzlich schmeckte sein Mund bitter. Er nahm Oikawa in Schutz? Passierte das gerade wirklich?

„Auch ich bin gescheitert.“

 

Nein. Tat er nicht. Nicht wirklich. Kenjirou stieß langsam die Luft aus, überfordert, aber doch erleichtert. Er war nicht fähig, zu interpretieren, was ihm Ushijima damit eigentlich sagen wollte, aber es klang wirklich nicht nach Schutz für Oikawa. Kurz war er versucht, Übersetzung von Tendou zu fordern, aber – nein. Dafür war er zu stolz. Und Tendou würde es ihm ewig unter die Nase reiben und ihn ewig damit aufziehen, darauf konnte er dann auch dankend verzichten.

„Jetzt ist es sowieso egal.“

Es war immerhin vorbei. Kenjirou nickte vage. Es war vorbei. Das letzte Match seines High-School-Lebens. Jetzt würde er endgültig nur noch damit beschäftigt sein, für die Aufnahmeprüfungen seiner Wunschuniversität zu lernen. Er hatte immer noch ein Ziel vor Augen. Eigentlich fühlte Kenjirou sich nicht danach, als sei er an einem Ende angekommen. Viel eher war es ein neuer Anfang. Ushijima sah ihn eindringlich an.

Er wirkte zufrieden.

„Tendou. Wir gehen.“ – „Waaaas? Wakatoshi-Kun, wir sind doch gerade erst gekommen~!“ – „Komm.“

Tendou gehorchte, ganz selbstverständlich, auch wenn er darüber jammerte. Kenjirou verfolgte sein Theater eher halbherzig, winkte ihm nur kurz, als er sich an Ushijimas Seite gesellte, um mit ihm wieder in der Menschenmenge zu verschwinden. Ushijima hob in einem knappen Gruß die Hand, sah einmal in die Runde.

Sein Blick blieb schließlich an Kenjirou hängen. Die Worte, die er sprach, waren ein Versprechen, das Kenjirou das Gefühl gab, schlussendlich wirklich rein gar nichts verloren zu haben:

 

„Nächstes Jahr.“

 

 
 

***

 

 

Frustfressen war Shou wie eine gute Idee erschienen nach der lächerlichen Niederlage gegen die lächerlichen Krähen. Jetzt, wo er vor einer fettigen Portion Pommes und einem Burger saß, fühlte er sich aber gar nicht mehr nach Frustfressen. Ein Blick zu Koharu zeigte, dass der die Idee dagegen wunderbar fand, die Hälfte seines eigenen Burgers war schon vertilgt. Mit dem großen Bissen im Mund, den er angestrengt zerkaute, sah er aus wie ein Hamster. Der Anblick ließ Shou unwillkürlich grinsen. Koharu funkelte, und kaum, dass er sein Essen heruntergewürgt hatte, fauchte er los:

Was?!“

„Du siehst aus wie ein Hamster“, gab er grinsend zurück. Koharu schien einen Moment versucht, ihm sein Essen an den Kopf zu werfen, ließ es dann aber doch bleiben und biss lieber noch einmal mit einer so herzhaften Intensität ab, dass Shou schon vom Zusehen alles wehtat. Mit dem kleinen Gör wollte er sich wirklich niemals ernsthaft anlegen. Spaßeshalber? Immer wieder. Er seufzte theatralisch.

„Es wird so leise werden ohne dich, Koharu~“ – „Du lässt es nicht gerade nach einem Verlust klingen.“

„Natürlich nicht. Stille ist etwas ganz Wunderbares.“

Koharu schnaubte. Sein Grinsen war beinahe süffisant und triumphierend. Es hätte ernsthaft nervig sein können, hätte der Ketchup in seinem Mundwinkel nicht wieder alles ins Lächerliche gezogen.

„Aber du wirst mich trotzdem vermissen.“

 

Shou sparte sich die Bestätigung, einfach, weil er wusste, dass sie unnötig war. Koharu wartete auch gar nicht auf Antwort, sondern stürzte sich auf seine Pommes, und erst, als die auch zur Hälfte vertilgt waren, hielt er wieder inne und sah mit hochgezogenen Augenbrauen auf.

„Wirst du aufhören?“

Die einzige Antwort, die Shou auf die Frage hatte, war ein Seufzen. Hörte er auf? Er wusste es selbst noch nicht so genau. Er mochte Volleyball, sonst hätte er nicht so lange gespielt, aber war ihm der Sport wirklich wichtig genug, ihn noch mit in die Universität zu nehmen? Tendenziell eher nicht. Andererseits würde wirklich etwas fehlen und er müsste sich eine andere Clubaktivität suchen. Und was? Er konnte sich nicht einmal etwas vorstellen. Grinsend stützte er das Kinn auf die Handfläche.

„Warum kümmert’s dich? Hoffst du drauf, dass ich in zwei Jahren noch da bin, wenn du zur Uni kommst?“

Für einen kurzen Moment sah Koharu ertappt aus, dann schnaubte er nur und mopste sich ein paar Pommes von Shous Tablett.

„Träum weiter, du Witzfigur.“ – „Wichsfigur? Wäre das nicht eher dein Mittelschulliebchen?“

 

„SHOU!!!“

 

Er lachte herzlich über Koharus Empörung, die sich in Form von eindeutiger Röte auf seiner sonnenbraunen Haut zeigte. Es sah immer wieder unterhaltend aus, wenn der Junge errötete, einfach, weil es bei dem dunklen Hautton doch schon einiges brauchte, um die Farbe hervorzulocken.

„Vielleicht wird er auf die gleiche Uni gehen wie ich. Stell dir das mal vor.“

Koharu stöhnte leidend und schüttelte den Kopf. Eindeutig wollte er sich das nicht vorstellen.

„Ich hätte Spaß mit ihm“, fuhr Shou unbekümmert fort. Er angelte nach einer Pommes und wedelte seine Worte akzentuierend damit herum, „Ich meine, er hat sicher wunderbare Geschichten über dich zu erzählen, meinst du nicht? Keine Sorge, ich erzähl sie dir dann auch alle brühwarm. Am Telefon. Oder per Chat. Vielleicht schick ich dir sogar nen Brief, damit du sie schwarz auf weiß hast. Soll ich den dann notariell beglaubigen lassen?“

„Hör auf mit dem Scheiß. Wenn der Pisser auf deine Uni geht, geh ich definitiv woanders hin!“

Shou grinste nur zur Antwort, ließ das Thema damit fallen, schob sich lieber die herumwabbelnde Pommes in den Mund. Er hatte nichts dazu zu sagen. Nicht zu Koharus Hass Schmiergesicht gegenüber, nicht zu Koharus Frage. Nicht zu der Überlegung, ob sie beide nun wohl die gleiche Universität besuchen würden oder nicht.

Wer wusste schon, ob sie sich in zwei Jahren überhaupt noch kannten? Schulfreundschaften waren nicht dafür bekannt, ewig zu halten, und zugegeben machte Shou sich da relativ wenig Hoffnung.

Keine Frage, er mochte Koharu, sonst würde er überhaupt nicht mit ihm abhängen, aber er war einfach – er war halt ein Schulfreund. Er war nicht Dreh– und Angelpunkt seines Lebens, oder so wichtig, dass er einen maßgeblichen Anteil an Shous Privatleben nahm. Wahrscheinlich würde er den Großteil des Teams nie wieder sehen. Um einige tat es ihm beinahe Leid, aber wenn er so an Ninouchi dachte, dann war er einfach nur froh darüber.

Na, man würde sehen. Jetzt drüber zu grübeln würde ihn auch nicht weiterbringen.

 

Gedankenverloren fischte er noch eine Pommes hervor, hielt sie Koharu hin. Der Kerl schnappte ganz wie erwartet nach dem Ding. Shou grinste flüchtig. Ja doch, er würde ihn vermissen, auch wenn er nur ein Schulfreund war.

„Wie wäre es mit einem Deal?“ – „Deal?“

Er grinste freundlich.

„Genau. Wir machen einen Deal. Ich mach weiter mit dem Volleyball, und dafür reißen wir diesem Schmiergesicht in zwei Jahren den Arsch auf.“

Koharu blinzelte. Dann schnaubte er, schlug nach Shous Hand. Er war knallrot vor Empörung.

 

„Der steht doch am Ende noch drauf!“

 

 
 

***

 

 

Nach den Vorrunden der Frühlingsmeisterschaft schien die Zeit wie im Flug zu vergehen. Das Training wurde noch härter, die Tage noch kürzer – ob das nun an der immer früher untergehenden Sonne lag oder an ihrem straffen Zeitplan, das sei einmal dahingestellt. Chikara hatte kaum noch Zeit zum Atmen!

Aber er war unglaublich glücklich. Sie hatten etwas geschafft, das er ehrlich gesagt niemals für möglich gehalten hatte. Mit Daichi als Captain? Sicher. Aber in dieser Aufstellung? Es war surreal, Chikara war immer noch völlig überwältigt. Er, als Captain, war scheinbar doch kein völliger Versager. Sie hatten gewonnen. Gegen Shiratorizawa, die auch ohne Ushiwaka immer noch furchteinflößend und übermächtig waren. Gegen Datekou, die nicht ungefährlicher wurden. Gegen Wakunan. Gewonnen.

Wie könnte er nicht glücklich sein?

Auch wenn ihm bewusst war, dass es nur der Anfang gewesen war. Letztes Jahr hatten sie ganz Japan nicht standhalten können. Dieses Jahr wollte Chikara besser abschneiden, jetzt, wo er neuen Mut gefasst hatte. Es war möglich. Kein Sieg, aber zumindest das Viertelfinale. Zu den vier besten Teams des Landes zu gehören… das war ein Traum, den Chikara nur zu gern erfüllen wollte. Und er war realistisch, befand er. Dafür fiel zwar eine immense Menge an Training an, aber was sprach dagegen? Keiner von ihnen war von dem Gedanken unbegeistert. Selbst Tsukishima hängte sich rein, soweit seine Persönlichkeit das eben zuließ.

 

Und trotzdem war es ausgerechnet Chikara, der das Intensivtraining vorgeschlagen hatte, der sich an diesem Tag eine Stunde früher verabschiedete, weil er noch Besuch erwartete.

Nächstes Wochenende komme ich vorbei! :D hatte Shidas Nachricht gelautet, kaum, dass Chikara ihm von ihrem Sieg berichtet hatte. Er hatte natürlich versucht, es ihm auszureden – immerhin hatte der Kerl eine Woche später selbst seine Vorrunden vor sich! Aber er war unbeirrbar dabei geblieben, und irgendwie hatte Chikara am Ende weder die Ausdauer, noch das dringende Bedürfnis gehabt, es wirklich durchzusetzen, dass er wegblieb. Er hatte Nishinoya und Tanaka zu babysitten und das war anstrengend genug, um all seine Nerven längst aufzufressen, da wollte er gar nicht noch an anderer Stelle mit irgendeinem unbelehrbaren Idioten diskutieren.

Schon alleine, weil jetzt, wo es langsam aufs Schuljahresende zuging, auch das Lernen wieder viel zu groß geschrieben wurde. Nishinoya war immer noch ein grauenhafter Schüler, aber Chikara musste ihm ehrlich positiv zusprechen, dass er es zumindest versuchte.

So irgendwie.

Er hatte wirklich keine Ahnung, wie Nishinoya auf der Uni überleben wollte, und ihm grauste es davor, dass der kleine Wirbelwind sich immer noch zu jeder sich bietenden Gelegenheit an ihn wenden würde, wenn er Hilfe brauchte, ganz getreu dem Motto Chikara, rette mich!

 

Aber immerhin blieben sie so sicher in Kontakt, huh?

 

In Gedanken versunken war der Weg durch den immer kühler werdenden Herbstabend nicht halb so lang, wie er hätte sein können. Chikara kam gerade rechtzeitig an der U-Bahn-Station an, als Shida aus der Bahn stolperte, breit grinsend und fröhlich wie immer.

„Herzlichen Glückwunsch zum Sieg!“, war seine Begrüßung, als sie aus dem lärmenden Pulk der Station herausströmten, um den Heimweg anzusteuern. Er lachte laut, klopfte Chikara ein bisschen zu fest auf die Schulter.

„Aber das war euer letzter Sieg! Nekoma macht euch fertig!“

Chikara lächelte müde.

„Natürlich. Träum weiter, Shida.“ – „Das ist kein Traum, das ist Wahrsagung! Hab ich heute Morgen im Bodensatz meines Tees gelesen!“

Er untermauerte seine Geschichte, indem er davon erzählte, wie er in den matschigen Teeblättern eine Krähe erkannt hatte, die gerade von einer Katze gefressen wurde. Chikara war eindeutig nicht fantasievoll genug, um sich auch nur vorzustellen, wie so ein Teesatz aussehen sollte, geschweige denn, um daran zu glauben, dass er existierte. Und er wusste, dass Shida ein viel zu schlechter Künstler war, als dass dessen Angebot, es ihm aufzumalen, irgendetwas besser machen würde.

Mitten in seiner Ausführung über den Wert seiner abstrakten Kunst hielt Shida plötzlich inne.

 

„Oh! Übrigens, ich hab dir was mitgebracht.“

 

Der jähe Themenwechsel kam unerwartet, ließ Chikara verwirrt blinzeln.

„Hast du?“ – „Ja! Es ist eigentlich sogar der Grund, wieso ich hergekommen bin. Warte kurz, ich such es.“

Und damit war er gewissermaßen in seiner Umhängetasche verschwunden. Beim Laufen. Es schien eine Nekoma-Angelegenheit zu sein, beim Laufen zu multitasken.

„Hm… wo hab ich dich nur hingesteckt? Heeey, komm raus, komm raus, wo immer du bist~“

Während er suchte, murmelte er unablässig vor sich her, den Blick kaum hebend. Er lief trotzdem nirgendwo gegen. Katzeneigenschaft, ganz eindeutig. Chikara hatte noch nie eines von Nekomas Teammitgliedern irgendwo gegenlaufen sehen, nicht einmal ihren Captain Kozume, dessen Blick nun wirklich immer auf dem Boden klebte. Oder seinem Handy. Trotzdem wich er Hindernissen genauso selbstverständlich aus wie Shida, der nicht einmal ins Straucheln geriet, obwohl er gerade viel zu enthusiastisch etwas aus seiner Tasche zog und hochhielt.

„Ta-dah~!“

Er grinste, während er seinen Fund Chikara in die Hand drückte.

„Für dich!“

 

Es war ein Button.

 

Ein schlichter, großer Button in grellem Gelb mit einem knallroten Kanji darauf. Mut. Chikara hob die Augenbrauen, sah seinen Freund fragend an.

„Das da! Ist dein Mut!“

Er lachte herzlich.

„Also. Ein Symbol davon! Damit du nie vergisst, dass du ihn wiedergefunden hast! Oder vielmehr… dass er schon immer da war.“

Er grinste breit, strahlend, verschwörerisch. Chikara erwiderte sein Grinsen ganz unabsichtlich, und er konnte nicht fassen, dass Shida diese alberne Zauberer-von-Oz-Referenz wirklich so lange durchgezogen hatte.

Eigentlich hatte er gar nichts für Buttons übrig. Das war Tanakas Ding. Oder Nishinoyas, manchmal. Aber ihm waren sie zu grell, zu auffällig, zu bunt, zu wenig unscheinbar. Trotzdem heftete er seinen neuen Schatz sofort an seine Tasche, brachte Shida damit nur dazu, noch breiter zu strahlen.

 

Bei Gelegenheit würde er ihm ein Diplom ausstellen. Für grenzenlose, liebenswerte Dummheit.

 

 
 

***

 

 

Tetsurou sollte besseres zu tun haben. In zwei Tagen waren die Vorrunden der Frühlingsmeisterschaft in Tokyo, und er hätte sicherlich tausend andere Dinge gefunden, die er mit seiner Freizeit hätte tun können, damit angefangen, sein liebes ehemaliges Team in den Hintern zu treten, auf dass es diesmal wieder durch die Vorrunde kam, aber er tat es nicht. Er saß hier in einem schnucklig harmlosen, kleinen Café, Suguru ihm gegenüber, und nippte an einem heißen Tee.

Er schuldete ihm zwar eigentlich ein Essen, aber weil es unangenehm kühl war und sie beide dann doch weniger Hunger hatten als erwartet, hatten sie spontan auf einen Kaffee – oder Tee – umgesiedelt.

 

Vielleicht würde Tetsurou das mit dem Essen noch nachholen. Rein aus Prinzip. Er war schließlich ein Mann, der seine Wettschulden makellos beglich.

 

„Sag mal“, begann sein Gegenüber, stellte die Kaffeetasse wieder auf den Tisch. In seinen Ringen reflektierte das warme Deckenlicht, „Habt ihr deinen Freund vor seinem Unglück retten können?“

Tetsurou lachte leise, ein wenig kläglich.

„Kommt drauf an. Wenn es zählt, dass wir die ganze Nacht dumme Alienfilme geguckt haben und Süßigkeiten in uns reingestopft haben, bis Bokuto beinahe gekotzt hätte, dann ja, haben wir ihn wohl gerettet. Wir haben ihn zumindest abgelenkt und dafür gesorgt, dass er für ein paar Tage ordentliches Essen im Gefrierfach hat, aber… na ja. Die Wurzel allen Übels konnten wir nicht ziehen.“

Wie sollten sie auch? Tetsurou hatte zwar kurz mit dem Gedanken gespielt, aber er glaubte nicht, dass es helfen würde, Iwaizumi an den Haaren heranzuziehen und zu Oikawa zu schleifen. Es gab Dinge, die musste man aus eigenem Antrieb heraus tun, und wenn Iwaizumi den nicht hatte, dann konnte Tetsurou da nicht helfen. Auch wenn er es ehrlich gern getan hätte, denn Oikawa und sein Drama waren anstrengend. Auf eine mitleiderregende Art, die Tetsurou wünschen ließ, niemals selbst in so einer dummen Situation zu stecken. Das wünschte er nicht einmal seinem ärgsten Feind!

Er seufzte leise, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Die ganze Nacht war wirklich ein einziges, kunterbuntes Chaos gewesen, aber er bereute trotzdem nicht, dass sie hingefahren waren. Irgendwie hatte es sich gelohnt, auch wenn einiges schief gelaufen war.

„Eigentlich wollte er dann mitten in der Nacht Aliens jagen gehen. Aber dann hat er sich daran erinnert, dass er das sonst nur mit seinem besten Freund tut und hat effektiv das Heulen angefangen.“

 

Suguru sah ihn ungläubig an, dann schnaubte er leise, erheitert.

„Sorry“, murmelte er hinter vorgehaltener Hand, um sein Grinsen zu verbergen. Es gelang nicht – seine Augen funkelten immer noch voller Amüsement. Tetsurou schüttelte den Kopf, und er musste sich selbst bemühen, nicht zu schmunzeln.

„Lach ruhig. Es ist auch bescheuert. Ehrlich, der ganze Trip war irre. Bokuto hat die ganzen Aliengeschichten natürlich geglaubt, und dann hat er erstmal tagelang noch Paranoia geschoben, dass irgendwo Undercover-Aliens in seiner Nähe sein könnten. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, aber scheinbar hat Akaashi es ihm irgendwie wieder ausgeredet. Ich bin ihm dankbar dafür! Es ist anstrengend, beweisen zu müssen, dass man kein Alien ist.“

Jetzt lachte Suguru wirklich, laut und herzlich und es war – Tetsurou weigerte sich, den Gedanken zu beenden. Er grinste verloren, sein eigenes Amüsement längst wieder abgeebbt, weil ihm gerade schmerzhaft bewusst wurde, dass er ein Idiot war. Wenn er es Kenma erzählte, würde der ihm höchstens einen desinteressierten Blick zuwerfen, ehe er völlig selbstverständlich spöttelte, wie Tetsurou das denn erst jetzt hatte auffallen können. Und natürlich war er sich immer zu fein gewesen, einfach mal etwas zu sagen!

Manchmal war Tetsurou wirklich erschüttert davon, was für furchtbare Menschen seine besten Freunde waren. Dann erinnerte er sich wieder daran, dass er selbst nicht besser war, ließ den Gedanken Gedanken bleiben und erfreute sich lieber weiter an ihnen.

Als er Suguru wieder ansah, war auch der wieder ruhig geworden, das Lachen aus seinem Gesicht verschwunden, ersetzt durch behutsame Ernsthaftigkeit.

 

„Was ist denn mit diesem besten Freund, dass seine Existenz so ein Drama ist?“

Der Blick in seinen Augen schien vorsichtig nachfragen zu wollen, ob da jemand verstorben war. Tetsurou war sehr, sehr erleichtert, dass das nicht der Fall war. Allein die Vorstellung ließ seinen Magen ein paar wilde Drehungen vollführen. Wie eine Waschmaschinentrommel.

„Streit“, war die einzige Antwort, die er hatte. Suguru nickte langsam, verstehend, widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder seiner Kaffeetasse. Tetsurou sah abwesend zu, wie er das Ding an die Lippen hob und trank, blieb wieder einmal an einem der Ringe hängen, nachdem die Piercings in seiner Unterlippe gerade verdeckt waren.

Einige Minuten herrschte Stille zwischen ihnen. Tetsurou fand es angenehm. In letzter Zeit war er oft still in Sugurus Gegenwart. Früher hatten sie ihre Zeit dauerhaft damit verbracht, einander anzuzicken und zu beleidigen, dagegen war es einfach eine willkommene Abwechslung, einvernehmlich ruhig sein zu können. Es war außerdem ein sehr charmanter Kontrast zu Bokuto, der dafür Tetsurous lebhafte Seite ganz wunderbar bediente.

Klar, fürs Stillsein hatte er Kenma, aber der hatte gerade ja nicht einmal genug Zeit, um zufriedenstellend gemeinsam still sein zu können!

„Haben sie noch Chancen, sich zu vertragen?“

Es war eine Frage, die Tetsurou nicht beantworten konnte. Er zuckte ratlos mit den Schultern. So, wie das klang, gab es da keine Chance, aber andererseits konnte er nicht glauben, dass eine jahrelange Freundschaft so einfach verschwinden sollte, also – doch? Nicht, solange beide Parteien zu stur waren, aufeinander zuzugehen, aber darüber hinaus war es sicherlich möglich, zu einer Einigung zu finden.

Wobei Sturheit doch oftmals ein viel zu großes Hindernis war, und Stolz war selten etwas Gutes, wenn er zwischen einer Freundschaft stand.

 

„Vielleicht. Ich wünsche es ihnen.“

 

Suguru gab einen vagen Laut von sich. Sein Blick ging hinaus in die Ferne, aus dem Fenster des Ladens. Tetsurou folgte abwesend, sah einen Moment hinaus in den trüben Novembertag, beobachtete die Menschen, die dort draußen über die Gehwege hetzten. Letztlich war Sugurus Gesicht aber interessanter und ziemlich schnell betrachtete er stattdessen lieber die Piercings in seiner Unterlippe.

Er bemerkte erst, als er wieder aufsah, dass Sugurus Blick schon auf ihm lag.

„Willst du’n Foto?“, fragte er spöttisch, grinsend, „Kriegst auch ein Autogramm, wenn du möchtest.“

„Lass stecken. Das Original ist abschreckend genug. Das ist wie ein Autounfall, Suguru. Nicht hübsch anzusehen, aber man kann einfach nicht wegsehen.“

Der Mistkerl lachte nur. Offensichtlich glaubte er Tetsurous Worte nicht. Tetsurou glaubte sie selbst nicht, so richtig übelnehmen konnte er es ihm also nicht. Sagen würde er das aber niemals, er war kein Idiot.

Das Lachen verschwand viel zu bald wieder von seinem Gesicht und Suguru wurde ernst, stieß langsam die Luft aus. Er stellte seine Tasse ab, behielt die Hände aber um die weiße Keramik gelegt. Er hatte hübsche Finger.

„Mika-Chan hat nen Neuen.“

 

„Oh.“

 

Tetsurou fiel nichts anderes zu dieser Enthüllung ein. So sehr er auch verstand, dass es Suguru mitnahm, zu wissen, dass seine Ex-Freundin endgültig andere Wege eingeschlagen hatte, so verstimmend war das Thema und die daraus resultierende Erkenntnis, dass ihm noch einiges an dem Mädchen lag.

An sich verständlich; Mika war ein nettes Ding.

Tetsurou musste das trotzdem nicht gefallen.

Obwohl er nicht zuhören wollte, hörte er zu. Suguru hatte es am Tag der Vorrunden zur Interhigh erfahren. Der Grund, weshalb er so geknickt gewesen war. Der Grund, wieso Tetsurou ihn eingeladen hatte, etwas trinken zu gehen. Sollte er Mika dankbar sein? Wäre das nicht gewesen, wären sie einfach im Streit auseinandergegangen und –geblieben.

Vielleicht wäre es sogar besser gewesen. Einfacher.

Es war schon Monate her! Und Suguru hing ihr immer noch nach. Tetsurou schüttelte den Kopf.

„Findest du nicht, du hast ihr bald lang genug nachgeweint?“ – „Ich weine ihr nicht nach.“

Suguru verzog das Gesicht zu einer verärgerten Grimasse, „Ich finde nur, sie hätte ruhig ein bisschen länger leiden können!“

„Natürlich. Und jetzt? Lass sie doch, das ist ihr Leben. Leb lieber deins, statt dich dran aufzuhängen. Such dir eine Neue, dann brauchst du nicht mehr jammern.“

Sein Gegenüber verdrehte nur die Augen. Immerhin sparte er sich die neuerliche Lüge, dass er nicht jammern würde; das stille Eingestehen machte alles aber nur noch seltsamer. Und jetzt standen diese Worte zwischen ihnen. Tetsurou erwartete, dass sein Freund ihm wieder über den Mund fahren und ihn anschnauzen würde, und er verstand es sogar, immerhin war er unsensibel bei einem sensiblen Thema – aber es passierte nicht. Sugurus Blick war dunkel, als er unter halbgeschlossenen Lidern zu ihm hinübersah. Tetsurou zog kaum merklich die Schultern hoch, sein Nacken kribbelte unangenehm.

„Ich hab erstmal genug von Mädchen.“

„…“

Er schluckte. Er musste sich daran erinnern, wie man atmete, und erst, als er sicher war, dass er es nicht spontan wieder vergessen würde, lehnte er sich grinsend, provokant vor.

 

„Dann such dir halt einen Neuen?“

 

„Bietest du dich an?“

 

 
 

***

 

 

Er wusste, dass es Verrat war. Er wusste es, und trotzdem stand er hier mit einer kleinen Schaufel in der Hand, fühlte sich wie ein Verräter und Verbrecher, und tat es trotzdem. Die Erde unter seinen Fingern schien ihn auch anklagen zu wollen, das Geräusch der Schaufel, die das Erdreich durchbrach, war wie tausend Stimmen, die ihm Pest und Seuche an den Hals wünschten.

Kaneo wusste, dass das, was er tat, ein purer Akt der Verzweiflung war.

Aber was sollte er tun?! Wenn Hajime und Tooru nicht miteinander reden wollten, musste er doch etwas anderes machen! Diese beiden dummen Sturköpfe mussten es lernen! Kaneo hatte es lange genug versucht. Er hatte auf Tooru eingeredet, hatte Hajime traktiert, hatte vermittelt und geschlichtet, bis er sich den Mund fusselig geredet hatte. Tooru war beleidigt. Hajime verletzt. Beide waren an einem Punkt angekommen, an dem sie sagten, sie konnten nicht mehr miteinander reden.

Es war Unfug. Sie mussten sich nur einen Ruck geben!

Oder, in diesem Fall, Kaneo musste ihnen einen Ruck geben.

 

Er hatte es natürlich mit den anderen besprochen. Nicht Hajime und Tooru, aber den anderen Jungs. Heisuke hatte am Telefon geheult, nachdem er es erst beinahe eine halbe Stunde zu unterdrücken versucht hatte. Motomu hatte ihn angeblafft, dass das doch nicht seine Entscheidung war, und Kaneo tun konnte, was er wollte – es war auch Einverständnis! –, und Takahiro und Issei hatten ihn in seiner Idee tatsächlich sogar bestärkt.

Er fühlte sich trotzdem schlecht damit.

Richtig schlecht.

Unglücklich sah er auf die Plastikbox hinunter, in der ihre Vergangenheit lag, die eigentlich noch viele Jahre ungesehen bleiben sollte. Sie sah vorwurfsvoll aus im fahlen Licht seiner Taschenlampe.

„Sorry“, murmelte er tränenerstickt, ehe er den erdverkrusteten Deckel löste. Er zog die Handschuhe aus, die er zum Buddeln getragen hatte, und mit jetzt wieder sauberen Fingern griff er hinein und versuchte, zu finden, was er suchte, während er gleichzeitig nicht nah genug hinsah, um noch irgendetwas allzu ausführlich zu erkennen. Er wollte nicht. Nicht ohne seine Freunde.

Es dauerte so unnötig lange, aber schließlich hatte er beide Briefe in der Hand. Tooru und seine Schönschrift. Hajimes schmale, aber ordentliche Handschrift auf dem anderen Umschlag. Er schluckte. Er würde sie nicht lesen. Er würde sie kopieren. Die Kopien an Hajime und Tooru schicken. Die Originale wieder verbuddeln. Es war rein gar nichts dabei. Er schnüffelte nicht in ihren Nachrichten.

 

Aber auch, wenn er kein Tooru war, und wenn er die beiden nur ein paar Jahre kannte, er wusste mit absoluter Sicherheit, dass beide über den jeweils anderen geschrieben hatten in ihren Nachrichten an ihr zukünftiges Ich, die sie mitsamt einiger anderer Erinnerungsstücke in dieser Zeitkapsel vergraben hatten. Er wusste es.

Und sie konnten noch so sauer aufeinander sein. Sie würden gar nicht anders können, als sich davon berühren zu lassen. Es ging gar nicht anders! Es war Kaneos letzte Hoffnung, ehe er kapitulieren musste. Und er wollte einfach nicht kapitulieren.

Niemals.

Er schniefte, wischte sich entschlossen mit dem Ärmel über die Augen. Die Plastikbox wurde sorgfältig verschlossen und wieder in ihr Erdloch zurückgesetzt. Er schippte die Erde nur lose drauf; er war schließlich nicht lange weg. Einen Copyshop finden, die Briefe kopieren, zurückkommen. Kaneo fühlte sich nicht wohl, solange die Nachrichten nicht an ihrem rechtmäßigen Platz waren.

Aber es war okay. Es musste okay sein, denn es würde helfen.

 

Damit sie in sieben Jahren wirklich wieder gemeinsam hier stehen konnten.



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