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Chrysalis

von

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Es war eindeutig kein gutes Omen. Der Aushang, der die einzelnen Spielpaarungen präsentierte, ließ Koushi unzufrieden seufzen. Er hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass sie unglaublich leicht davonkommen würden, aber gleich im ersten Match…

„Sie sind stark“, kommentierte Daichi neben ihm. Obwohl seine Stimme fest klang, schwang etwas darin mit, das Koushi das Gefühl gab, dass er mehr noch sich selbst als ihn überzeugen wollte. Er lächelte flüchtig, warf seinem Freund einen besorgten Blick zu.

„Ich weiß.“

Es war nur deshalb nicht leichter.

Entschlossen, sich nicht noch weiter zu beunruhigen, straffte er die Schultern, wandte sich von dem Aushang ab, bevor er sich unnötigerweise noch mehr Sorgen machte über etwas, auf das er gar keinen Einfluss mehr hatte. Um sich abzulenken, drehte er sich lieber zu seinen Begleitern um: „Glaubt ihr, wir erwischen sie noch?“

Er wollte sie gerne vor dem Match sehen. Shimizu lächelte, Asahi sah eher aus, als würde er mit den Tränen kämpfen. Daichi lachte, und dieses Mal klang er wirklich optimistisch, als er sprach:

„Wir wissen es nur, wenn wir es versuchen!“

 

Es hatte einen Vorteil, dass Karasuno eines der lautesten Teams war. Sie mussten kaum durch den Eingangsbereich der städtischen Sporthalle irren, bis der vertraute Lärm an ihre Ohren drang. Koushi musste grinsen, als er Nishinoyas und Hinatas aufgeregtes Geschrei hörte. Neben sich hörte er Asahi leise, ein wenig verlegen lachen. Zwischen den Menschentrauben, die den ganzen Bereich ausfüllten, erhaschte er noch keinen Blick auf das Team, aber in der sicheren Gewissheit, die korrekte Richtung erwischt zu haben, stapfte Koushi trotzdem frohen Mutes durch das Gewühl.

Die Jungs hockten in einer Ecke größtenteils auf dem Boden, ein paar wenige von ihnen standen. Ennoshita war in ein Gespräch mit dem Coach vertieft. Nishinoya und Hinata rangelten mit dem großen Zuspieler-Erstklässler. Koushi war sich nicht ganz sicher, ob Tanaka da gerade mitrangelte, oder ob er versuchte, die Jungs auseinander zu bringen. Bei ihm konnte man sich einfach nie so ganz sicher sein, Vize-Captainpflichten hin oder her. Sie waren alle irgendwie beschäftigt, und vermutlich sowieso schon mit den Gedanken beim kommenden Match. Es wunderte ihn nicht, dass niemand sie bemerkte.

„Ihr wirkt munter für das, was euch bevorsteht.“

Daichis Gruß ließ das Team hochfahren. Mit einem freudigen Schrei stürzte sich Nishinoya auf ihn, nur um schon Halt zu machen, bevor er Daichi überhaupt erreichte – er hatte Asahi gesehen. Starrte ihn an, aus großen Augen, voller ungläubiger Begeisterung.

„Asahi-San!!!“

Und stürzte sich dann stattdessen auf ihn. Koushi lachte, der Laut ging völlig unter in Nishinoyas hektischem, freudigen Geplapper, mit dem er Asahis Haar kommentierte, dass er heute nur zu einem losen Pferdeschwanz gebunden trug – Nishinoya fand es völlig absehbar super cool –, bevor er schließlich dazu überging, ihn in den buntesten Farben von ihrem Wochenendtrainingscamp zu erzählen.

„Ich glaube“, kommentierte Daichi amüsiert, während er Ennoshita grinsend heranwinkte, „dass wir Asahi jetzt erstmal nicht mehr wiederkriegen.“ – „Das glaube ich auch…“

Koushi warf noch einen grinsenden Blick in die Richtung der Beiden. Asahi sah unglaublich glücklich und erleichtert aus. Es war ihm nahe gegangen, nicht mit zum Trainingscamp kommen zu können. Umso mehr freute Koushi sich, dass er nun hier war, und dass Nishinoya, ganz wie es eigentlich immer war, sofort nur noch Augen für ihn hatte.

Asahi war auch nicht der einzige, der belagert wurde: Tanaka stürzte sich ähnlich begeistert wie Nishinoya ins Getümmel, mit einem lauten Ruf von „Kiyoko-Saaaaaaan!“ – wie immer wich sie seinen Avancen nonchalant aus. Koushi sah das kleine Lächeln, das in ihrem Mundwinkel zupfte, als Tanaka begann, hektisch auf sie einzureden.

 

Es war seltsam tröstlich, dass sich einige Dinge einfach nicht änderten.

 

 „Ihr hättet nicht kommen müssen“, waren Ennoshitas erste Worte, als er herankam. Daichi schnaubte empört. Koushi hielt sich mit solchen netten Gesten gar nicht auf – er schlug mit der Handkante den Kopf des Jungen.

„Ennoshita, sag sowas nicht! Natürlich mussten wir herkommen, das ist unser Job. Wir müssen euch doch anfeuern.“

Er grinste breit, während Ennoshitas Lächeln eher hilflos aussah. Und ein bisschen resigniert. Koushi ahnte zumindest, was in ihm vorging. Er war unter Garantie nervös wegen ihrer Gegner. Vermutlich rechnete er sich keine großen Siegeschancen aus. Aber sie hatten Chancen, solange sie nur vor sich selbst nicht zugaben, dass sie nicht gewinnen konnten. Koushi mochte Daichis Leitspruch wirklich gerne.

„Es ist wirklich kein glückliches Match, hm?“, murmelte Daichi. Ennoshitas Lächeln verblasste. Wieder ernstgeworden schüttelte er den Kopf.

„Gewissermaßen Worst-Case-Scenario? Wir haben Chancen, aber es wird hart werden.“

Jetzt, wo es für ihn selbst vorbei war, ertappte Koushi sich dabei, wie er daran dachte, dass sie sonst doch immer noch eine Chance hatten dieses Jahr. Die Frühjahrsmeisterschaft kam schließlich noch, noch war nicht alles verloren, selbst wenn sie hier scheiterten. Aber die Erinnerung an sein eigenes letztes Schuljahr war noch frisch; er hatte einen unglaublichen Zeitdruck verspürt, einen tiefen Drang, zu gewinnen, weiterzukommen, etwas zu erreichen, bevor es zu spät war. Selbst, wenn man es ihnen nicht zu sehr ansah, es musste Ennoshita und den anderen Drittklässlern auch so gehen. Narita sah nervös und angespannt aus, und selbst Kinoshita sah ungewöhnlich ernst aus, während er inzwischen mit dem Coach sprach. Erste taktische Überlegungen zu seinem möglichen Einsatz, vermutete Koushi. Dass Yamaguchi ebenfalls dabei stand, verstärkte die Annahme noch.

„Ihr schafft es.“

Daichis ernstes Gesicht strahlte Zuversicht aus. Koushi wandte seine Aufmerksamkeit von den anderen wieder zu Ennoshita um und lächelte. Er hatte Vertrauen in dieses Team. Sie waren gut, er hatte es selbst gesehen. Ennoshita sah allerdings wenig überzeugt aus. Seinem Lächeln haftete immer noch dieser unsichere, eher pessimistische Zug an.

„Nun zieh nicht so ein Gesicht, Ennoshita! Hab Vertrauen in dich und dein Team!“

Daichi klopfte ihm auf die Schulter, und obwohl die Geste aufmunternd gemeint war, wirkte es vielmehr so, als würde er einknicken unter dem Gewicht der fremden Hand. Wenn es etwas gab, das Koushi Sorgen bereitete, dann war es nicht der mögliche Sieg, sondern Ennoshitas Selbstvertrauen. Es war nicht besonders weit her damit… Er konnte nur hoffen, dass das Spiel selbst ihm Grund geben würde, seine Zweifel beiseite zu werfen. Einen Captain, der nicht an sich selbst glaubte, konnte das Team nicht gebrauchen.

Wahrscheinlich machte Koushi sich umsonst Sorgen. Ennoshita war zuverlässig, wenn es hart auf hart kam. Das war seine große Stärke. Er ließ sich nicht einfach so kleinkriegen. Und er hatte Tanaka, um ihm notfalls den Kopf zurechtzurücken.

„Ich hab Vertrauen“, protestierte Ennoshita schwach. Koushi schüttelte sanft den Kopf, als er an dem Jungen vorbeilief. Sanft stieß er ihm in den Rücken, zwang ihn damit, gerader zu stehen.

 

„Nur nicht in dich, huh?“

 

 
 

***

 

 

„Wenn du auch nur eine halbe Sekunde zu spät bist, bring ich dich um, du Idiot!“

Kageyamas Drohung hallte noch lange nach, selbst nachdem Shouyou schon zwei Gänge weiter war. Es war aber auch wirklich übertrieben! Er konnte nichts dafür, wenn er auf die Toilette musste. Und er hatte das Team deswegen noch nie hängen gelassen! Er konnte sie gar nicht hängen lassen. Er wollte aufs Spielfeld! Am liebsten jetzt und nicht erst in wenigen Minuten, und noch lieber gleich noch früher. Sein ganzer Körper kribbelte in freudiger Erwartung.

Er wusste, dass das Match hart werden würde. Richtig hart. Aber auf der anderen Seite hatte er nicht wirklich Angst davor – er wusste schließlich auch, wie verdammt gut Karasuno war. Sie hatten Kageyama. Kageyama war einfach unglaublich. Dem konnte niemand das Wasser reichen. Sie hatten Tsukishima. Der war zwar unglaublich ätzend, aber als Spieler leider auch viel besser, als Shouyou das manchmal gern hätte. Sie hatten Ennoshita, der einfach mega gut war, und vor allem so zuverlässig, dass Shouyou sich gar keine Sorgen darum machte, was in seinem Rücken passierte. Tanaka, der ein großartiges Ass abgab – noch! Bald würde Shouyou ihm den Platz geklaut haben, das stand außer Frage. Nishinoya, der sowieso einfach nur guwaaah war.

Sie konnten gar nicht verlieren!

…würde er gerne behaupten, trotzdem spürte er seinen Magen rumoren. Er war nervös, er konnte es nicht abstellen. Wenn sie verloren, war es vorbei. Ein einziges Spiel… Ein einziges Spiel, und sie konnten schon wieder dazu gezwungen sein, die Halle zu verlassen. Das Turnier wäre beendet. Einfach so. Nach maximal drei Sätzen. Er wollte nicht verlieren. Er wollte die Vorrunde überstehen, er wollte gegen Nekoma, oder Fukuroudani, oder Itachiyama, oder gleiche alle davon spielen! Vor allem gegen Nekoma. Nächstes Jahr war Kenma nicht mehr da, und Shouyou hatte immer noch nicht erreicht, was er sich so fest vorgenommen hatte.

Kenma war immer noch nicht begeistert genug vom Volleyball!

 

Völlig in Gedanken vertieft achtete er nicht besonders darauf, was sich rings um ihn befand, als er in die Männertoilette spazierte. Hätte er es doch getan, dann wäre er nicht in seinen Vordermann gelaufen.

„E-entschuldigung!“

Seijoh. Ausgerechnet. Er erkannte die Trainingsjacke. Mit einem panischen Quieken wich Shouyou ein paar Schritte zurück, doch – zu spät. Sein Gegenüber drehte sich um, fixierte ihn mit schmalen Augen und feixendem Grinsen.

„Hey, der Winzling! Da sieh mal einer an~ Du kannst ja echt froh sein, dass du nur in mich reingerannt bist.“

Er hob vielsagend die Augenbrauen, bevor er einen Schritt zur Seite trat und hinter sich deutete. Shouyou wollte dem Blick nicht folgen, aber er tat es rein aus Reflex trotzdem, erblickte an einem der Waschbecken den hochgewachsenen Kerl mit der Narbe, der sich gerade die Hände wusch.

Das Wasser im Waschbecken war voll rosiger Schlieren.

„Oh oh~“

Grinsebacke klang ernsthaft besorgt, als er zuerst zu Narbengesicht zurückblickte, dann wieder Shouyou ins Auge fasste. Sein Grinsen hatte fast etwas Mitleidiges, Entschuldigendes.

„Whoops. Das hättest du nicht sehen sollen, Kleiner… Sorry~“

Er klang beunruhigend. Shouyou schluckte, trat noch einen Schritt zurück. Sein Gegenüber kam näher. Shouyou mochte nichts daran – sein Magen auch nicht, der inzwischen schmerzhaft krampfte. Eine Hand landete auf seiner Schulter, der Griff fest und gnadenlos unnachgiebig, während Grinsebacke sich zu ihm hinabbeugte. Demonstrativ. In jeder anderen Situation hätte Shouyou getobt vor Empörung. Er war nicht so klein, der Kerl musste mal gar nicht so ein Theater veranstalten!

Gerade fand er aber keine Worte, sondern konnte wieder nur nervös schlucken. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und er war sich beinahe sicher, dass er gleich noch vergessen würde, wie man eigentlich atmete.

Vielleicht hatte er es schon vergessen.

„Pass auf. Du solltest das, was du hier gesehen hast, ganz schnell vergessen. Also. Wirklich schnell. Und erzähl niemandem davon.“

Grinsebackes Stimme klang beunruhigend leise, ernsthaft. Drohend? Shouyou fand, er klang bedrohlich, jedes Wort jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

„Du könntest Glück haben, wenn du Kusachi-Samas Aufmerksamkeit so bald nicht  mehr erregst. Du willst ihn nicht daran erinnern, dass du das hier gesehen hast, oder? Du willst ihn auch ganz sicher nicht verärgern, sonst könnte er… nun. Du weißt, wie das ist.“

Jetzt lachte er wieder. Der heitere Laut klang völlig falsch in dieser Situation – es erschreckte Shouyou nur noch mehr. Die fremde Hand klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Vor lauter Panik war Shouyou längst das Bedürfnis nach einer Toilette vergangen.

 

„Also, Chibi-Chan~ auf ein gutes Spiel!“

 

 
 

***

 

 

Die Tribüne war weit besser gefüllt, als Koushi sie in Erinnerung hatte. Neben den üblichen Verdächtigen des Nachbarschaftsverbands und diverser Geschwister fand er eine Menge Gesichter, die ihm unbekannt waren – und natürlich waren er, Daichi, Asahi und Shimizu auch eine neue Ergänzung, nicht wahr?

„Ist schon seltsam, euch jetzt hier zu sehen“, kommentierte Shimada liebevoll grinsend, während er der Reihe nach Hände zur Begrüßung schüttelte. Daichi lachte.

„Gewöhnen Sie sich an den Anblick. Wir kommen wieder.“ – „Haben wir nichts gegen! Nicht wahr, Tattsun? Wir freuen uns immer über Zuwachs zum Anfeuern. So im Vergleich ist und bleibt es mau…“

Er seufzte, stemmte die Hände in die Hüften. An einer anderen Ecke der Tribüne hatten sich die Fans von Karasunos Gegnern zusammengerottet: Wie immer war Seijohs Unterstützung überragend. Obwohl Koushi sich sicher war, dass er auch einige Schüler unter Karasunos Unterstützern fand, kam das kaum an Seijoh heran, die gefühlt ihre halbe Schule hinter sich stehen hatten.

„Ah! Aber wo wir grad alle hier sind“, begann Shimada, womit er Koushis Aufmerksamkeit von den Zuschauerblöcken wegholte, „Azumane hat erzählt, dass ihr beiden letztens auf einem Trainingscamp mit Karasuno und Seijoh gewesen seid? Wie ist eure Einschätzung – wie gut sind unsere Chancen?“

Die Frage hatte natürlich kommen müssen, aber das machte sie nicht angenehmer. Koushi seufzte still. Er trat zum Geländer und lehnte sich darauf, sah hinunter auf das Spielfeld, auf dem gerade noch das letzte Match vor Karasunos sein Ende fand.

„Schwer zu sagen“, begann Daichi neben ihm, „Man merkt, dass Oikawa weg ist. Seijohs neuer Zuspieler ist nicht halb so herausragend – aber man merkt auch, dass er Oikawas direkter Schüler war. Er hat genug von ihm gelernt, um gefährlich zu sein. Und der Rest des Teams ist wie gewohnt von hohem Kaliber. Karasuno ist selbst richtig gut dieses Jahr, aber…“

Er pausierte, hob die Augenbrauen. Schien Worte zu suchen. Koushi beschloss, dass er genauso gut übernehmen konnte, auch wenn er selbst nicht unbedingt bessere Worte haben mochte.

„Wir sind Rohdiamanten, denen der Schliff fehlt. Seijoh sind… vielleicht nicht ganz so wertvolle Edelsteine, aber dafür umso geschliffener. Karasuno hat ein riesiges Waffenarsenal zur Verfügung, aber es sind alles zweischneidige Schwerter, weil keine einzige wirklich bis zur Perfektion poliert ist. Trotzdem glaube ich, dass sie dieses Jahr das bessere Team sind. Wir können – nein. Wir werden gewinnen!“

 

Koushi wollte fest daran glauben. Shimada grinste, er schien zufrieden mit der Antwort zu sein.

„Ich bin auch sicher, dass sie gewinnen werden“, murmelte Shimizu leise. Koushi hatte gar nicht bemerkt, wie sie neben ihn getreten war.

„Hitoka-Chan erzählt viel. Nur Gutes.“

Sie lächelte sanft, in ihrem Gesicht stand unglaublich großer Stolz geschrieben. Und Sehnsucht. Koushi grinste schief, weil er wusste, dass sie alle diese gleiche Sehnsucht verspürten, jetzt dort unten zu stehen, wo endlich das Feld geräumt wurde. Gleich würde das Team in die Halle hinausströmen, und es war das erste Mal seit drei Jahren, dass Koushi nicht dabei war. Es fühlte sich immer noch fremd an.

Wenn er jemals noch ein ganz klares Signal dafür gebraucht hatte, dass seine Zeit vorüber war, dann hatte er es hiermit.

Er war hier oben, in Privatkleidung, in der er niemals Volleyball spielen könnte, und da unten lief gerade sein ehemaliges Team auf, um sich zum Spiel vorzubereiten. Ohne ihn. An seiner Stelle war da nun ein anderer zweiter Zuspieler, ein Junge mit braunem Wuschelhaar und strahlendem Lachen. Eine neue Generation.

„Es ist schwer“, murmelte Shimizu, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Ihre Augen schimmerten kaum merklich feucht in der grellen Hallenbeleuchtung. Sie schenkte Koushi ein flüchtiges, zaghaftes Lächeln, das sein Herz unwillkürlich zum Hüpfen brachte, ehe sie sich zurück nach unten wandte.

„Aber ich bin froh, hier zu sein.“

Und dann tat sie etwas, das Koushi niemals erwartet hatte:

 

Sie rief hinunter.

 

„Tanaka!“

Es hätte Koushi gewundert, hätte er es nicht gehört. Vermutlich hätte er sogar ein Wispern seines Namens gehört, solange es nur von Shimizu kam. Er lachte amüsiert auf, als Tanakas Kopf zu ihnen herumruckte, fast zeitgleich mit Nishinoya. Im Chor riefen sie ihren üblichen Gruß, als sie angelaufen kamen. Tanaka blieb unter der Tribüne stehen, während Nishinoya aufgeregt um ihn herumsprang als hoffte er, hoch genug zu kommen, um Shimizu zu berühren.

Vom Tumult angezogen kam auch Yachi heran, deren große, braune Augen sich mit Tränen füllten bei dem Anblick auf der Tribüne. Sie rief etwas zum Team hinüber, aber zu leise, als dass Koushi es verstand. Mit ihren Worten wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit ihnen zu. Das Stimmenpotpourri, das hinaufwehte, war kaum verständlich, aber die Freude auf allen Gesichtern kaum zu übersehen – Tsukishima zählte hier eindeutig wieder einmal nicht, wobei auch der Neuling Tatsuo ein verblüffend nichtssagendes Gesicht zeigte –, während sie plapperten und hüpften und durcheinanderwuselten, bis Ennoshita begann, sie an den Krägen zu ihrem Aufwärmen zurückzuschleifen.

Es war genau, wie Koushi es sich gedacht hatte – sie hatten herkommen müssen. Es war gut, dass sie gekommen waren.

„Viel Glück!“, ref Shimizu ihnen noch hinterher, ehe sie langsam einen Schritt vom Geländer zurücktrat. Sie bekam zur Antwort gerührte Rufe von Nishinoya und Tanaka, ein überwältigtes Winken von Hinata, ein paar letzte, glückliche Blicke, bevor das Team zur Routine zurückkehrte.

 

„Sie werden gewinnen.“

 

Koushi nickte, sein eigenes Vertrauen ins unermessliche gesteigert nach dem kurzen Austausch. Das war einfach die Wirkung, die Shimizu hatte, wenn sie einmal den Mund aufmachte. Wie konnten sie denn nach so einem besonderen Ereignis noch verlieren?

Zufrieden trat auch er ein Stück zurück. Als er sich umwandte, um sich auf einem Platz in der ersten Reihe niederzulassen, den Daichi ihm freigehalten hatte, erblickte er einen relativ vertraut gewordenen Haarschopf in der Nähe.

„Yuda-Kun!“

Angesprochener drehte sich fast augenblicklich um. Er strahlte übers ganze Gesicht, als er Koushi mit beiden Armen winkte.

„Koushi! Hey!“

Er war in Gesellschaft seiner Freunde. Zumindest einiger. Koushi erkannte Oikawa natürlich. Der große Kerl mit dem Schlafzimmerblick, genauso wie der mit dem kurzen, lachsbraunen Haar waren letztes Jahr Teil der Startaufstellung gewesen, da war er sich sicher. Nur der letzte im Bunde war ihm fremd.

„Daichi. Ich bin kurz da drüben.“ – „Bei Oikawa? Okaaaaay.“

Koushi lachte nur über Daichis Skepsis. Er würde ihm später ausführlich erzählen, dass er sich mit Yuda angefreundet hatte. Eine Neuigkeit, die bisher irgendwie untergegangen war, wie es schien. Das passierte wohl manchmal.

Yuda empfing ihn immer noch strahlend. Er sah unglaublich aufgeregt aus, rote Wangen und leuchtende Augen. Und natürlich vergingen keine paar Sekunden, bevor er das Plappern anfing.

„Issei und Takahiro kennst du noch, ne? Das hier ist Motomu!“

„Ah! Der Wettenverlierer.“

Koushi grinste, als besagter Motomu sich sofort empörte. Schlafzimmerblick hielt ihn davon ab, Yuda zu vermöbeln, indem er lässig einen Arm in den Weg hielt. Es reichte, um den jungen Mann wieder von allen Dummheiten abzuhalten. Er sah grimmig drein, nickte Koushi aber trotzdem zum Gruß zu.

„Sawauchi Motomu. Sehr erfreut.“ – „Sugawara Koushi. Gleichfalls. Ich bin ein Studienfreund von Yuda-Kun.“

Sawauchi nickte noch einmal. Er warf Yuda einen grimmigen Blick zu, ehe er verkündete: „Übrigens gewinne ich Wetten in der Regel.“

Yuda lachte laut von dem Kommentar. Einen Moment war sich Koushi sicher, dass er zurücksticheln würde, doch er tat es nicht. Mit ein paar hüpfenden Schritten hatte er sich von seinem kleinen Grüppchen getrennt und neben Koushi postiert.

 

„Jungs, ich darf kurz mit Koushi alleine plaudern?“

 

Sie spazierten ein paar Schritte auf Entfernung, bis sie ungefähr in der Mitte zwischen Seijohs kleiner Ehemaligenbande und Karasunos Anfeuerungstrupp stehen blieben. Jetzt, getrennt von seinen Freunden, war Yudas Strahlen deutlich blasser geworden. Er schob die Hände in die Hosentaschen und hob unwohl die Schultern.

„Heisuke konnte nicht kommen, weil sein Bruder heiratet“, erzählte er, und erst jetzt wurde Koushi so richtig bewusst, dass die kleine Gruppe zu klein gewesen war. Da fehlten zwei. Er hob die Augenbrauen, wie auffordernd. Yuda seufzte schwer.

„Hajime hat gar nichts gesagt. Ich weiß nicht, ob er paukt, oder ob er einfach wütend ist. Tooru wollte sich bisher nicht bei ihm melden.“ – „Hast du mit ihm gesprochen?“

Die Antwort war ein Kopfschütteln. Yuda erzählte, dass er vorhin angerufen habe, aber Iwaizumi sei nicht ans Handy gegangen. Die geschriebene Nachricht hatte er auch ignoriert, also hoffte er eigentlich, dass Iwaizumi gerade sehr, sehr beschäftigt war und nicht nur schmollte, denn normalerweise ignorierte er seine Freunde nicht.

„Ich will ihn auch nicht bedrängen, eigentlich. Selbst wenn ich ihn dazu bekomme, mit Tooru zu reden… solange Tooru so ist, werden sie nur noch schlimmer streiten. Auch wenn er das jetzt sagt – am Ende ist es nicht getan damit, dass Hajime sich zuerst meldet. Oder entschuldigt, oder was auch immer. Das ist ne Sache, da muss Tooru jetzt drüberkommen. Und er will sich gar nicht helfen lassen.“

Er verzog unglücklich das Gesicht, zuckte mit den Schultern. Seufzte wieder schwer.

„Ich hoffe ja, dass das Spiel ihn irgendwie dazu bewegt, sich einen Ruck zu geben. Es ist das erste Mal, dass Hajime gar nicht dabei ist, glaube ich.“

Koushi schwieg einen langen Moment. Er verstand Yudas Logik, aber er sah nicht, wie das funktionieren sollte, wenn sie nur aussaßen, bis Oikawa sich wieder beruhigt hatte. Vor allem, wenn dieses Spiel auch noch symbolischen Wert hatte. Vielleicht…

„Ruf ihn an. So oft, bis er rangeht. Er wohnt doch auch hier in Sendai. Er soll vorbeikommen. Glaubst du nicht, es wäre für Oikawa-Kun ein absoluter Weltuntergang, wenn sein bester Freund nicht hier ist? Heute?“

Yudas beunruhigter Blick zeigte zur Genüge, dass er die Sorge tatsächlich teilte, selbst wenn ihm der Gedanke bisher nicht gekommen war. Er öffnete den Mund, wollte noch etwas sagen, doch der Anpfiff des Spiels unterbrach ihn. Er fluchte leise, raufte sich die Haare. Kurz sah er zu seinen Freunden hinüber, die ungeduldig nach ihm gestikulierten, schüttelte dann aber den Kopf und signalisierte mit einer Handbewegung, dass er noch ein paar Minuten brauchte.

 

„Ich sorg dafür, dass Hajime herkommt. Und wenn ich ihn selbst holen muss!“

 

 
 

***

 

 

„Etwas stimmt nicht“, sprach Daichi aus, was Koushi schon eine ganze Weile dachte. Es hatte keine fünf Minuten gedauert, bis er diesen Eindruck gewann. Zuerst hatte er nicht den Finger darauf legen können, wo genau das Problem lag, aber inzwischen, nachdem der erste Satz schon zu mehr als der Hälfte gelaufen war, hatte er auch das erkannt:

Es war Hinata.

Hinata, dessen rasend gute Reflexe ihn eigentlich zu einer wertvollen Waffe hätten machen sollen, machte viel weniger Punkte, als sein Fähigkeitenlevel rechtfertigte. Seine Schmetterbälle wirkten, so aus der Ferne gesehen, auf eine seltsame Art halbherzig, fast so, als habe er Angst vor ihnen. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Karasuno hatte bereits einmal um ein Time-Out gebeten. Koushi hatte beobachtet, wie das Team sich um Coach Ukai zusammengerottet hatte. Die Diskussion sah hitzig aus, Kageyama besonders hatte sich Hinata grob vorgeknöpft. Die beiden schienen zu streiten, doch als sie aufs Feld zurückmarschierten, wirkten sie entschlossener als zuvor.

Koushi hatte gehofft, dass damit das Problem beseitigt war. Es schien auch tatsächlich so. Hinatas nächster Schmetterball verfehlte sein Ziel nicht und holte einen Punkt. Der darauffolgende auch. Dann auch.

Plötzlich kippte es wieder. Koushi erkannte nicht einmal, warum, aber auf einmal schien Hinata wieder den Mut zu verlieren.

„Ich verstehe es nicht“, murmelte er, den Blick hinunter aufs Spielfeld gerichtet. Kageyama spielte immer weniger in Hinatas Richtung, nutzte lieber alle anderen Angreifer, die er zur Verfügung hatte. Einen guten Teil der Zeit klappte es, aber genauso oft scheiterte es. Niemand konnte das halsbrecherische Tempo aufbringen, in dem Hinata funktionierte. Diese Waffe nicht mehr zu haben, schlug sich sichtbar auf die Spielermoral nieder, und obendrein waren sie damit noch viel öfter Opfer des gegnerischen Blocks. Es war grausam mit anzusehen.

Seijoh machte mehr und mehr Punkte. Karasuno holte kaum noch auf. Es war im Grunde schon absehbar, dass Seijoh den ersten Satz für sich entscheiden würden.

 

Um sie herum wurde hitzig über das Spielgeschehen diskutiert. Ob Hinata krank sei. Ob es irgendeinen Grund gebe dafür, dass er so seltsam schlecht spielte. Wieso wurde er eigentlich nicht ausgewechselt? Wollte man wohl noch abwarten, ob er sich wieder fing, in der Hoffnung, ihn im zweiten Satz wieder effektiv einsetzen zu können? Wollte man ihm diese Chance geben, weil der erste Satz ohnehin verloren war? Konnten sie denn überhaupt noch gewinnen, wenn sie den ersten Satz verschenkten?

Koushi fühlte sich unwohl, wie er da auf der Tribüne stand und zusah. Ihm klingelten die Anfeuerungsrufe der Anderen in den Ohren. Tanakas Schwester war ganz besonders laut. Ausgerechnet Tsukishimas Bruder auch. Daichi neben ihm hatte die Arme krampfhaft verschränkt. Asahi kaute auf seinem Daumennagel herum, sichtlich nervös und beunruhigt. Wenn er so weitermachte, würde er sich blutig beißen.

Der Punktezähler bewegte sich wieder. Einundzwanzig zu sechzehn. Es war gar keine gute Bilanz.

Zweiundzwanzig. Koushi schluckte hart. Daichis Stimme murmelte leise Flüche, wie ein Mantra. Asahi gab keinen Ton von sich. Die Anfeuerungsrufe auf ihren Plätzen explodierten, als könnten sie das Ruder noch herumreißen, indem sie einfach lauter und lauter wurden.

Lauter.

Dreiundzwanzig.

Lauter.

Vierundzwanzig.

Als der Ball das nächste Mal übers Netz flog, von Seijohs Libero beinahe mühelos angenommen wurde, um zum Zuspieler zurückgespielt zu werden, schloss Koushi die Augen. Defensiv gesehen war es gerade Karasunos schwächste Aufstellung, die sich auf dem Feld befand. Genau diese Aufstellung hatte sie schon einige Punkte gekostet.

Seijohs Zuschauerbereich brach in lauten Jubel aus, der das Pfeifen des Schiedsrichters bei weitem übertönte.

 

Der erste Satz war vorbei.

 

 
 

***

 

 

Chikara war übel. Das war nicht, wie dieses Spiel hatte laufen sollen. Sein Blick glitt zitternd über die Gesichter seiner Kameraden. Alle waren still. Der Coach hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sein Blick war verkniffen, verärgert. Takeda sah in erster Linie besorgt und verständnislos aus. Yachi schien kurz vor dem Heulen zu sein. Yamaguchi war an Tsukishimas Seite getreten, kaum, dass sie sich nach dem Satz zusammengefunden hatten, Kinoshita und Narita standen beide verkrampft schweigend da. Die Zwillinge saßen nebeneinander, die Blicke auf ihre im Schoß verkrallten Hände gesenkt.

Kageyama sah aus, als hätte ihn jemand geschlagen. Isshiki sah überfordert aus, die hellen, farblosen Augen weit aufgerissen, fast schockiert. Nishinoya war still. Er regte sich nicht, aber sein ganzer kleiner Körper vibrierte vor angestauter, höchstwahrscheinlich aggressiver Energie. Tanaka stand neben ihm, bei allem eigenen Unglück scheinbar stets bereit, seinen kleinen Freund im Zaum zu halten, wenn es nötig wurde.

Chikaras Sorgenkind war Hinata. Den Kopf gesenkt, die Hände zu Fäusten geballt stand er da, zitternd, die Schultern hochgezogen. Obwohl absehbar war, dass Kageyama kein nettes Wort für ihn übrig haben würde, stand er direkt neben ihm. Fast als warte er nur darauf, dass Kageyama explodierte und seinen Ärger über ihm entlud. Ein bisschen war Chikara auch nach Wüten. Das da draußen war eindeutig nicht die Leistung gewesen, die Hinata normalerweise erbrachte.

Er verstand es nicht.

Niemand verstand es, das sah er in den Gesichtern der anderen. Selbst der Coach musste ratlos sein, sonst hätte er sich längst eingemischt.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendjemand den Mund aufmachte. Und dann würde die Hölle losbrechen.

 

„Hört mal–“

Takeda war es, der den Bann brach. Kageyama fuhr auf, wirbelte herum, bis er Hinata am Kragen packen konnte.

Was zur Hölle war das?!“, brüllte er, laut genug, dass auch Chikara davon zusammenschrak, obwohl er nicht im Geringsten gemeint war. Alle Augen richteten sich auf das ungleiche Paar. Hinata sah winzig aus in Kageyamas Griff, das Gesicht des Rotschopfs war zu einer unglücklichen, gequälten Grimasse verzogen. Weniger Wut, als… Schuldbewusstsein. Etwas übles, bitteres stieg in Chikara auf, während er sich fragte, ob Hinata wirklich bewusst war, was er da getan hatte.

„Ich mach das nicht mit Absicht!“, fauchte der Junge, aber es klang ertappt und defensiv, nicht nach jemandem, der sich tatsächlich keiner Schuld bewusst war. Kageyama gab einen aggressiven Laut von sich, ehe er Hinata von sich stieß.

„Dann erklär mir, was das sollte!“

„Das Narbengesicht–“ – „Was?!“, blaffte Kageyama, trat nun doch wieder einen verärgerten Schritt vor. Er bebte vor Zorn. „Was hat dieser Typ damit zu tun?!“

Hinatas Mund öffnete und schloss sich ohne einen Ton. Öffnete sich noch einmal. Um ihn herum wurden ratlose Blicke getauscht.

Er kam gar nicht zum Reden.

„Kageyama.“

Tsukishimas Stimme war leise. So leise, so kalt, dass sie Chikara einen Schauer über den Rücken jagte. Sein Blick huschte zu dem Jungen hinüber. Hinter der Brille glühten Tsukishimas Augen wie Eis. Yamaguchis verängstigter Blick war beinahe noch besorgniserregender – Tsukishima war wütend.

Allein, dass er Kageyamas Namen benutzte, war schon beunruhigend genug.

„Erinnerst du dich ans Trainingscamp? Bei unserem ersten Spiel gegen Seijoh?“

Zuerst sah es aus, als erinnere Kageyama sich nicht. Dann, ganz langsam, erhellte Erkenntnis sein Gesicht. Er sah Tsukishima ungläubig an. Der Blondschopf zuckte desinteressiert mit den Schultern.

„Eben auch. Nachdem der Grinsetyp einen Kommentar gemacht hat, hat der kleine Scheißer hier wieder angefangen, hinzurotzen.“

 

Chikara verstand nicht, worum es ging. Kageyama verstand es. Seine Augen, lodernd vor Wut und Ärger, blickten von Tsukishima zu Hinata hinüber, der bleich geworden war und ihn aus riesig weit aufgerissenen Augen ansah.

„WILLST DU MICH VERARSCHEN?!?!“

Hinata schüttelte den Kopf. Er trat einen Schritt zu Kageyama hin, machte damit den Fehler, in seine Reichweite zu gelangen und wurde sofort wieder am Kragen gepackt und näher gezogen.

„Bist du völlig verblödet?!“

Hinata schüttelte wild, verzweifelt den Kopf. Er sah völlig überfordert aus. Ein Teil von Chikara hatte Mitleid mit ihm, ein anderer Teil hoffte einfach nur, dass Kageyamas schroffe Behandlung noch einmal helfen würde, damit sie das Ruder noch herumreißen konnten.

„Völlig egal, ob er verblödet ist oder nicht“, mischte Tsukishima sich wieder ein. Seine Stimme klang scharf wie eine Spiegelscherbe, „Aber er ist ein Klotz am Bein, wenn er so weitermacht. Willst du überhaupt spielen?“

„Natürlich will ich spielen!!!“

Kageyama und Tsukishima tauschten Blicke. Chikara sah sprachlos zu, und unwillkürlich kam ihm der Gedanke, dass er es unglaublich verstörend fand, wenn die beiden friedlich miteinander waren. Am Ende ihres kurzen, stummen Austausches ließ Kageyama Hinata so abrupt los, als wäre er vom Blitz getroffen worden.

„Nein.“ – „Was–?“

„Du willst nicht spielen“, erklärte er eisig. „Würdest du spielen wollen, würdest du es tun.“

Er wandte sich ruckartig ab. Hinata protestierte, doch seine Worte fielen bei Kageyama auf taube Ohren. Er stapfte zum Coach hinüber, blieb steif vor ihm stehen.

„Wechseln Sie Hinata aus! Wir brauchen keinen Spieler, der das Spiel nicht ernstnimmt. Ich werde nicht mehr zu ihm spielen.“

Hinata sah aus, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen; pures Entsetzen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Niemand sonst war wirklich verwundert, aber glücklich war genauso wenig jemand. Es erstaunte Chikara nicht, dass der Coach kommentarlos zustimmte. Er stieß unzufrieden die Luft aus, überbrückte die kurze Distanz bis zu Tsukishima, dessen Worte schlussendlich das ganze Drama angetreten hatten.

„Tsukishima. Ich will eine Erklärung.“

 

Als die Erklärung kam, wurde Chikara wirklich wütend.

 

 
 

***

 

 

Der Gedanke tat Koushi leid, aber in dem Moment, in dem Narita statt Hinata aufs Spielfeld trat, war er fest überzeugt davon, dass es vorbei war. Er starrte hinunter, weigerte sich, auch nur zu blinzeln, denn er könnte doch den einen Moment verpassen, der schlussendlich doch zeigte, dass Karasuno noch nicht verloren hatten. Seine Augen brannten.

Er wusste nicht, was da unten passiert war, doch er hatte Kageyamas Brüllen gehört, hatte zumindest an der Körpersprache der Jungs erkannt, dass sie alle angespannt und aufgebracht waren. Nicht helfen zu können war eine Qual. Hilflos umklammerte er das Geländer, schüttelte den Kopf. Es konnte doch nicht so schnell vorbei sein! Das war nicht fair! Sie hatten so hart trainiert, dessen war Koushi überzeugt, ohne dabei gewesen zu sein.

Es schien, als würde selbst das härteste Training hier nicht reichen.

 

Sie wurden allerdings tatsächlich besser. Ohne Hinata in ihrer Mitte, der offenbar nur Unruhe mit sich gebracht hatte, funktionierte das Team besser, stabiler. Es half ein bisschen. Es verlangsamte Seijohs Tempo, aber es hinderte sie nicht daran, weiter und weiter zu punkten. Der Vorsprung wurde nie kleiner. Wurde größer, je länger der Satz anhielt. Koushi traute sich nicht einmal, sich nach seinen Freunden umzusehen.

Die Blicke auf ihren Gesichtern, die zweifelsohne inzwischen von Enttäuschung überschattet waren, wären zwar nicht an ihn gerichtet, aber er konnte sich ihnen trotzdem nicht stellen. Er wollte auch nicht, dass sie sahen, wie enttäuscht er selbst war. Koushi wusste, dass es gemein war. Dass er kaum wusste, was da unten passierte und passiert war. Dass er sich kein Urteil bilden durfte über das Geschehene, denn er war nicht Teil davon und konnte es nicht beurteilen. Er wusste es, aber das änderte nichts daran, dass er sich unglaublich und zutiefst verraten fühlte.

Wären wir dabei, wäre das nicht passiert. Die Worte waren eine ewige Dauerschleife in seinem Kopf. Daichi hätte es nicht so weit kommen lassen. Asahi wäre stark genug gewesen, um dem Druck standzuhalten und das Team zu stützen. Koushi hätte früh erkannt, wo das Problem lag, und helfen können, es zu beheben.

Es war wirklich ungerecht. Ennoshita war genauso gut wie Daichi, und er hatte auch ein Talent dafür, die Stimmungen seiner Kameraden zu lesen. Tanaka hatte sich den Titel Ass wirklich redlich verdient.

In Koushis Augen waren sie gerade trotzdem alle – nicht gut. Nicht so gut, wie sie hätten sein können. Sein müssen.

Sollte das das Team sein, das sie hinterlassen hatten? Streit und Schwächeleien bei der ersten Hürde? War es das, wofür sie das ganze letzte Jahr über mit Schweiß und Tränen gekämpft hatten? War das ihr Erbe?

Was er da vor sich sah waren nicht die Krähen, die letztes Jahr mühselig das Fliegen gelernt hatten, um empor zu steigen und nie wieder zu Boden zu stürzen.
 

Diesen hier hatte man die Flügel gerupft.

 

Sie verloren das Spiel, ohne einen einzigen Satz für sich entschieden zu haben.

 

 
 

***

 

 

Ein Teil des Teams hatte verkündet, dass sie zurückbleiben und den Rest des Turniertages sehen wollten. Osamu hatte seinen Bruder mit sich geschleift, Isshiki war hinterhergetrottet. Kinoshita. Narita. Yamaguchi, ohne Tsukishima, der geblieben war, genau wie Kageyama und Hinata. Tanaka. Nishinoya. Chikara war bewusst, dass die, die gegangen waren, einfach nur jeder weiteren Konfrontation aus dem Weg gehen wollten.

Niemand wollte die enttäuschten Gesichter ihrer ehemaligen Senpai sehen.

Chikara wollte es auch nicht. Aber als Captain war es seine Pflicht, sich dem zu stellen. Als Captain. Ohne, dass irgendjemand es ihm sagen musste, war ihm bewusst, dass er versagt hatte. Weder hatte er überhaupt gemerkt, was Hinatas Problem war, noch hatte er rechtzeitig gehandelt, um größerem Schaden vorzubeugen. Wenn man jemandem alleinig die Schuld an der Niederlage geben wollte, dann war eindeutig Chikara der Schuldige. Nicht Hinata, selbst wenn der den sichtbaren Fehler gemacht hatte.

Chikara hatte es nicht einmal geschafft, sein Team irgendwie wieder aufzubauen, ihnen Mut zuzusprechen. Er hatte auf dem Feld gestanden, hatte sich dabei ertappt, wie er daran dachte, wie viel einfacher es wäre, wegzulaufen. Er hatte es schon einmal getan. Wieso also nicht?

Auch jetzt wollte er weglaufen.

Es war nicht, als wäre er ein guter Captain für das Team. Er konnte sich aber auch nicht vorstellen, wer seine Nachfolge antreten sollte. Kageyama vielleicht? Tsukishima? Eigentlich sah er niemanden, der gerade Captain sein zu können. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, dass er auf diesem Platz gut aufgehoben war, oder dass er im Team wirklich einen Platz hatte. Sie würden das Team auch ohne ihn effektiv auffüllen können. Vielleicht waren sie sogar besser dran ohne die letzten Überbleibsel der Generation Hoffnungslos.

 

Daichi, Suga, Asahi und Shimizu erwarteten sie in der Eingangshalle nahe dem Ausgang. Shimizus Gesicht war unlesbar, Asahi sah enttäuscht und bedrückt aus, Suga besorgt und unglücklich, und Daichi einfach nur streng. Vielleicht wütend?

„Das war–“, begann Daichi. Weiter kam er nicht, bis Tanaka ihn unterbrach – „Beschissen. Wir wissen es.“

Es war so unangenehm. Chikara konnte keinem von ihnen in die Augen sehen. Er wollte ihnen nicht zuhören, hatte Angst vor ihrem Urteil, das vernichtend ausfallen musste, denn etwas anderes hatten sie gar nicht verdient.

„Ja. Das war es.“

Sugas Stimme war so leise, dass sie tonlos klang. Chikara vermutete, dass das primär daran lag, dass er seine Emotionen bewusst verbergen wollte. Rücksicht, noch in dieser Situation. Er wollte sie nicht hören lassen, wie abgrundtief enttäuscht er war.

„Ihr habt eine Chance verspielt. Ich hoffe, ihr hattet einen guten Grund dafür.“

Er konnte noch so tonlos klingen, wie er wollte. Die Enttäuschung war beinahe greifbar. Ein Teil von Chikara wollte, einfach nur, weil es einfacher war, bejahen, dass sie einen guten Grund gehabt hatten, die ganze Geschichte so hindrehen, dass ihr Scheitern nicht ganz so erbärmlich und lächerlich wirkte. Weglaufen. Die absolute Stille um ihn herum, die sich beschämt ausbreitete, gab ihm das Gefühl, dass er da nicht der einzige war. Er spürte Blicke auf sich. Er war der Captain. Er hatte die Verantwortung. Es war seine Entscheidung. Es würde vermutlich nicht auffallen. Suga hoffte, etwas zu hören, das ihm ein bisschen die Enttäuschung nehmen konnte. Wenn es nicht an den Haaren herbeigezogen war, würde er es glauben.

Im Vergleich zur Wahrheit konnte es nicht einmal an den Haaren herbeigezogen wirken.

Er ballte zitternd die Hände zu Fäusten.

 

„Nein.“

 

Nishinoya klang rau und auf eine völlig fremde Art verwundbar. Trotzdem hatte er den Mut zur Wahrheit aufgebracht, hatte den Mut, vor Suga zu stehen, ihm in die Augen zu sehen, mit gestrafften Schultern.

„Wir haben keinen guten Grund.“

Er klang so bitter.

„Noya-San–“ – „Ryuu! Es ist so! Wir haben auf dümmste Art verkackt! Wir alle!“

Nishinoya wirbelte herum, klein und überlebensgroß zugleich, breitete die Arme aus. Es kümmerte ihn nicht, dass sie mitten im Weg standen. Oder dass einige Leute sich schon nach ihnen umgedreht hatten. Vermutlich sah er das alles einfach nicht. Chikara sah es, und es war ihm unangenehm, und trotzdem konnte und wollte er den Jungen nicht unterbrechen.

„Das hier war nicht Shouyous Schuld alleine. Oder Chikaras! Wir sind ein Team! Wir hätten alle etwas tun müssen! Kei! Du hättest früher etwas sagen können, du hast es doch gemerkt! Tobio! Du bist klüger, als einfach hinzunehmen, wenn dein Partner sich bescheuert benimmt! Shouyou! Du musst doch über deine Probleme reden, verdammt! Chikara!“

Die großen, bernsteinfarbenen Augen glühten, schienen durch Chikara hindurchzusehen. Es gab ihm das unangenehme Gefühl, dass Nishinoya viel zu genau wusste, was in seinem Kopf vor sich ging.

„Vergiss nicht, dass du zurückgekommen bist!“

Lauf nicht wieder weg.

Niemand sagte etwas. Niemand wagte zu widersprechen. Chikara wusste überhaupt nichts zu sagen. Wie sollte er Nishinoya auch davon überzeugen, dass es manchmal womöglich besser war, nicht zurückzukommen?

„Ich bin genauso Schuld wie jeder andere hier! Ich hab ja auch nichts gemacht! Wir haben verkackt.“

Nishinoya schnaufte. Noch ein Blick glitt über den Rest seines Teams, ehe er ihnen wieder den Rücken kehrte. Er stand völlig gerade, das Kinn vorgereckt da – und dann, völlig abrupt, verbeugte er sich tief.

„Entschuldigt bitte, dass wir euch enttäuscht haben! Nochmal wird das nicht vorkommen!“

 

Chikara lagen tausend Worte auf der Zunge und doch gar keines. In seinen Augen prickelten Tränen. Er war nicht der einzige, zeigte ein verstohlener Blick zur Seite. Hinata heulte schon, den Kopf gesenkt, die Augen zusammengekniffen. Tanaka war kurz davor, sich ihm anzuschließen. Er war nach jeder ergreifenden Nishinoya-Rede kurz davor.

Lauf nicht weg.

Entschlossen trat er neben Nishinoya, legt eine Hand auf seine Schulter. Er war immer noch vorgebeugt. Chikara tat es ihm gleich.

„Entschuldigt bitte unser Versagen!“

Was die anderen taten, sah er nicht. Aber schnell genug hörte er die nächste Entschuldigung, dann die nächste. Am Ende endete die Welle in Tsukishimas leisem Murmeln.

Selbst Tsukishima entschuldigte sich.

Es war surreal.

 

„Werdet ihr draus lernen?“

Suga klang immer noch tonlos. Chikara holte tief Luft. Nishinoyas Schulter unter seiner Hand fühlte sich klein an, aber gleichzeitig stark. Er war sich sicher, das Team war besser ohne ihn dran. Er war kein guter Captain. Unwillkürlich packte er fester zu.

„Chikara“, murmelte der Junge neben ihm. Er sah nicht auf, regte sich kaum. „Captain.“

Chikara holte tief Luft. Ruckartig richtete er sich wieder auf. Sugas Blick war genauso nichtssagend wie seine Stimme, aber Chikara war sich immer noch sicher, dass hinter der Fassade unglaubliche Enttäuschung brodelte. Es war ein grausamer Blick.

„Werden wir“, versprach er. Er schaffte einen viel festeren Tonfall, als er erwartet hätte. Auch wenn er fest davon überzeugt war, dass das Team ohne ihn besser dran war, solange sie ihn als Captain wollten, konnte er sie nicht alleine lassen. Er konnte Nishinoya nicht hängen lassen, nachdem er gerade die ganze Bürde der Wahrheit für das Team geschultert hatte. Er wollte sie auch nicht hängen lassen. Es war leichter, wegzulaufen. Es war verlockend.

Aber es würde ihm so viel wegnehmen.

Suga nickte. Immer noch ernst. Dann entspannte sich sein Gesicht und er lächelte, auch wenn er traurig dabei aussah. Seine Hand landete auf Chikaras Schulter, die andere auf Nishinoyas, der sich unter der Berührung wieder gerade aufrichtete.

 

„Beim nächsten Mal – macht uns stolz.“

 

 
 

***

 

 

Das Match lief seit einer gefühlten Ewigkeit. Es war schon zu Beginn des vorherigen Spiels gewesen, dass Yudacchi verkündet hatte, er müsse mal dringend für kleine Heulbojen. Seitdem war er nicht wiedergekommen. Tooru machte sich nicht wirklich viel daraus – es war Yudacchis Sache, wenn er alles verpassen wollte. Später würde er angepisst sein, aber gerade war er zu sehr auf das Spiel fixiert.

Karasuno war entgegen aller Erwartungen ein absoluter Witz gewesen. Tooru begriff nicht, warum das Team sein Potential so sehr verschwendete, und obwohl Seijoh gewann, zog er wenig Befriedigung daraus. Es sollte nicht so einfach sein, Tobio zu besiegen. Es sollte nicht so einfach sein, jemanden zu besiegen, der seinerseits Tooru geschlagen hatte. Er fühlte sich persönlich beleidigt davon!

Dagegen war Seijohs zweites Match, gegen Shiratorizawa, um einiges interessanter anzusehen. Shiratorizawa war weit stärker als Karasuno sich präsentiert hatte, das Spiel eine Herausforderung. Und obwohl Tooru eigentlich wusste, wie sein altes Team sich entwickelt hatte, es war etwas ganz anderes, sie jetzt hier in einem ernsthaften Spiel auf Leben und Tod zu erleben.

Kyouken-Chan war viel besser geworden. Kontrollierter. Yahaba harmonierte überraschend gut mit ihm. Tooru hatte auch noch nach dem Trainingscamp daran gezweifelt, dass Yahaba wirklich in der Lage war, das Beste aus seinem Vize zu holen, aber hier stand er nun und belehrte Tooru eines Besseren – dabei war es wirklich unglaublich anstrengend, mit jemandem wie Kyouken-Chan auszukommen. Auch die anderen Spieler wusste Yahaba gut zu nutzen. Er war weit von Toorus Level entfernt, aber er war zufrieden mit seinem Erben.

Es war mehr als deutlich spürbar, dass beide Teams ungefähr wussten, was sie voneinander erwarten konnten. Es ging nicht mehr darum, den  Gegner zu überraschen oder aus der Reserve zu locken, es ging nur darum, zu versuchen, bekannte Schwächen auszunutzen und irgendwie einen Vorteil zu erkämpfen, während man schon unzählige Schritte vorausplante, weil man doch genau wusste, wozu der Gegner fähig war.

Es war spannend. Voraussetzungen, unter denen Tooru selbst gern auf dem Feld gestanden hätte.

Das war kein Volleyball.

Das war Schach.

 

„Shiratorizawa hat sich völlig verändert ohne Ushiwaka.“

 

Toorus Herz setzte einen Schlag lang aus. Er verkrampfte sich auf seinem Platz, doch er weigerte sich, nach hinten zu sehen, in die Richtung der Stimme. Er konzentrierte sich lieber auf ihre Worte, blendete alles andere aus.

Es stimmte; Shiratorizawa war ein ganz neues Team geworden. Ohne Ushiwaka als Dreh– und Angelpunkt ihrer Offensive hatten sie einen viel ausgeglicheneren Stil entwickelt. Sie hatten aufgehört, völlig auf eine Person konzentriert zu existieren, hatten ein besseres Kräftegleichgewicht hervorgebracht. Inzwischen hatten sie nicht mehr einfach nur eine Kampfmaschine, sondern eine Vielzahl an herausragenden Spielern, die alle in gleichem Maße genutzt wurden. Es machte sie weniger vorhersehbar, weniger linear. Die Tatsache, dass sie kein absolut durchschlagendes Ass mehr hatten, machte sie auf einer anderen Ebene wiederum schwächer.

„Yooo. Iwaizumi, du bist spät.“

Makkis Stimme ließ Toorus Herz erneut einen unangenehmen Stunt vollführen. Er hörte Iwa-Chans Stimme antworten – eine barsche, knappe Antwort, dass er noch etwas zu erledigen gehabt hatte. Andere Stimmen mischten sich ins Gespräch, dem er krampfhaft nicht zuzuhören versuchte. Ucchi. Yudacchi.

Yudacchi.

Hatte er–?

Der Gedanke konnte keine Form annehmen, Toorus ganze Aufmerksamkeit mit einem Mal zerschlagen, als Iwa-Chan sich neben ihn auf einen leeren Sitz warf, als wäre es die normalste Sache der Welt. Es war die normalste Sache der Welt, es war schließlich Iwa-Chans Platz, aber genau deshalb brachte es Tooru aus der Fassung. Es war nichts mehr normal zwischen ihnen.

„Du hättest wenigstens fragen können, ob hier frei ist~“, neckte er in einem Tonfall, der viel leichtherziger war, als er sich fühlte. Es war eine gewöhnliche Neckerei, augenscheinlich, aber versteckt war es vor allem eine Kritik an Iwa-Chans Verhalten. Iwa-Chan würde verstehen, vermutete Tooru. Die Tatsache, dass seine Antwort zuerst nur ein verstimmtes Schnauben war, bestätigte seine Annahme.

„Was? Hab ich gerade Ushiwaka seinen Platz geklaut?“

 

Tooru war versucht, es einfach zu bejahen. Er war eigentlich sogar schon dabei, den Mund aufzumachen, um genau das zu tun, als ihn ein Stoß im Rücken traf. Er musste nicht zurückgucken, um zu wissen, dass es Yudacchi war, der ihn da belästigte. Er musste auch kein Genie sein, um die Botschaft darin zu lesen.

Iwa-Chan, egal, ob aus eigenem Antrieb, oder geführt von Yudacchi, war hier. Es war ein Schritt in die richtige Richtung, und egal, wie wütend und verletzt Tooru noch war, das sah selbst er. Iwa-Chan ließ sich nicht herumschubsen, wenn ihm die Sache, um die es ging, nicht auch wichtig war. Es war ihm wichtig. Volleyball. Das Team. Seine Freunde. Es war ihm wichtig, deshalb war er hier.

Tooru war ihm wichtig, deshalb saß er hier auf seinem altangestammten Platz.

Mit ein paar Worten konnte Tooru das wortlose Signal annehmen, oder völlig zerschlagen. Yudacchi stieß ihm noch einmal in den Rücken, diesmal weniger mahnend als auffordernd. Langsam stieß er die Luft aus, lehnte sich dann zurück und legte betont entspannt einen Arm auf die Rückenlehne von Iwa-Chans Sitz.

 

„Ushiwaka hat hier keinen Platz, Iwa-Chan.“

 

 
 

***

 

 

Obwohl Yahaba aussah, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, streckte er Kenjirou eine Hand hin und grinste flüchtig.

„Gut gespielt.“

Einen langen Moment sah er auf die Hand hinunter. Sie zitterte leicht, vermutlich der Preis dafür, dass Yahaba es noch schaffte, die Tränen zu unterdrücken. Kenjirou ergriff sie schließlich, drückte einmal fest zu.

„Ihr auch.“

Aber sie hatten gewonnen. Sie hatten gewonnen, trotz der schlechten Performance beim Trainingscamp. Trotz Ushijimas Vorhersagen, dass sie dieses Jahr keine großen Chancen hatten. Sie hatten gewonnen. Unwillkürlich ging sein Blick hinauf zur Tribüne. Ushijima war längst gegangen. Es reichte Kenjirou, dass er wusste, dass der Andere es gesehen hatte. Mit einem letzten Blick auf Seijoh, auf frustrierte Tränen und unglückliche Gesichter, wandte er sich ab und machte sich ebenfalls daran, den Sporthallenbereich zu verlassen. Für heute hatten sie Feierabend.

Morgen würde es weitergehen, in einem Finale gegen ein Team, das vermutlich überhaupt keine Herausforderung sein würde. Ob es Losglück oder –Pech war, war wohl diskutabel.

 

Das Team um ihn herum war viel zu laut. Im Siegestaumel konnte Kenjirou es ihnen nicht einmal übel nehmen, trotzdem nervte ihn Goshikis Gebrüll, genauso sehr wie das schon wieder eingetretene Gezänk zwischen Sakase und Fukumine. Keine fünf Minuten Ruhe…

Eine Hand landete schweigend auf seiner Schulter. Kenjirou schnaubte amüsiert. Lass dich nicht ärgern war die Botschaft, die hinter der Geste stand. Natürlich ließ er sich nicht ärgern. Genervt zu sein war schließlich etwas anderes, nicht wahr?

„Du kannst wieder loslassen, Taichi.“

Taichi gehorchte, aber nicht, ohne ihm dabei einen unnötigen Stoß zu verpassen, der ihn beinahe gegen einen fremden Spieler stolpern ließ, der gerade mit seinem Team den Sporthallenbereich betreten wollte. Kenjirou für seinen Teil war froh, wenn sie hinaus waren.

Er war erschöpft.

 

„Yoooo! Tsutomu! Du und dein Pottschnitt wart ja richtig cool!“

 

Kenjirou verkniff sich ein Stöhnen, als sie, kaum draußen auf dem Gang, über Tendou stolperten. Er verkniff es sich auch nur, weil Ushijima bei ihm war und der Anblick des Älteren ihn von Tendous nerviger Existenz und Goshikis überenthusiastischem Gebrüll ablenkte. Er würde nie verstehen, wie Ushijima so völlig ignorant all dem Tumult gegenüber sein konnte. Es war bewundernswert und etwas, das Kenjirou sich nur zu gerne aneignen würde.

Ushijimas Blick, der gerade noch auf Tendou und Goshiki geruht hatte, wandte sich ihm zu. Er nickte kaum merklich.

„Ihr habt gewonnen.“ – „Ja. Wir werden dich nicht enttäuschen, Ushijima-San.“

Nicht noch einmal. Nicht nach der Pleite Trainingscamp. Kenijrou würde es nicht zulassen, dass das Team noch einmal so vergleichsweise schlecht abschnitt. Er würde nicht zulassen, dass Ushijima jemals wieder Grund fand, ihnen ein Scheitern zu prophezeien.

Er sah zufrieden aus, soweit man in dem stoischen Gesicht überhaupt lesen konnte.

„Tendou, wir gehen.“ – „Waaas? Wakatoshi-Kun! Wir sind doch gerade erst angekommen~!“ – „Wir gehen.“

Es war so typisch Ushijima, dass Kenjirou sich bei aller Enttäuschung nicht dazu bringen konnte, es ihm übel zu nehmen. Er lächelte müde, nur für einen kurzen Moment. Goshiki machte seiner Enttäuschung dafür umso lauter Luft. Das halbe Team plapperte. Ushijima ignorierte sie. Kenjirou hätte sie auch gerne ignoriert. Er sah zu, wie Ushijima sich zum Gehen umwandte. Er sprach noch einmal, als er ihnen schon den Rücken zugekehrt hatte. Im allgemeinen Tumult hörte Kenjirou ihn kaum.

 

„Du hast sie gut geführt.“



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