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Unseen Souls

von

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Nach dieser einseitigen Blamage trennten sich unsere Wege. Während Lavi sich auf die Suche nach Bookman machte, lag mein Ziel in der Nähe und ein Seufzen entrann mir, als ich die Tür meines Zimmers hinter mir schloss. Mein Kopf sehnte sich nach einer Pause und so blickte ich mich nur um.

Dass ich selten hier war, bemerkte ich in dem Moment zum erneuten Mal.

Ich saugte an meinen Zähnen, wippte auf den Fußballen und spähte zum Schrank.

Er stand um ein Stück offen. Das lag an dem Hosenbein, das in der Tür klemmte und auch einen verlorenen Strumpf erkannte ich unter dem Bett. Es war irgendwie ernüchternd.

Die zerknitterte Bettdecke, das zu Boden gerutschte Kopfkissen. Auch die Kleider auf dem Stuhl hatten sich nicht lange gehalten. Ich stand vor einem Chaos, spähte zum Bild, das über meinem Bett prangte und begann kurz darauf zu schlendern. Vorbei an dem Schrank, vorbei an dem Stuhl und haltlos ließ ich mich dann neben das Bett sinken und fand in der Matratze eine angenehme Kopfstütze.

Ich rutschte tiefer, bettete mich bequem und streckte die Beine von mir. So starrte ich eine Weile vor mich hin und runzelte irgendwann die Stirn. Jetzt, wo ich Ruhe genoss, fiel es mir auf.

„Tim?“

Nachdenklich lauschte ich der darauffolgenden Stille.

Er war weg aber er tauchte schon wieder auf und so rückte ich mich zurecht und schloss die Augen.

Nur das leise Ticken der Uhr und die entfernten Geräusche draußen im Treppenhaus drangen zu mir. Diese Türen ließen nicht mehr durch, als man vertrug und mit geschlossenen Augen blieb ich liegen.

Ich stellte mir die Frage, was Komui zu diesem Zeitpunkt tat. Dass nicht nur ich nachdenklich sein dürfte, war nur natürlich aber im Moment wünschte ich mir, die Zeit vorspulen zu können bis hin zu dem Moment, an dem er uns die endgültige Entscheidung mitteilte und zeigte, ob er sich durch unsere Worte umstimmen ließ.

Eigentlich war es so offensichtlich.

Hier geschahen überall abnorme Dinge und nach geraumer Zeit kam ich unweigerlich auch zu diesem anderen Punkt. Er suchte mich einfach heim und grüblerisch spähte ich zur gegenüberliegenden Wand und bewegte die Füße.

Lavi redete ziemlich viel über Dinge, bei denen es genügte, nur so zu tun, als würde man zuhören.

Aber was er diesmal losgeworden war, beschäftigte mich nun doch.

Zugegeben, es geschah nicht oft, dass ich Kandas Meinung teilte.

Ich konnte nur von mir sprechen, denn verbale Zustimmung schien ihm nicht so zu liegen. Im Gegensatz zu seinem Verhalten war das, was dahinter lag, weder zu erdenken noch zu begreifen. Letztendlich blieben seine Entscheidungen oder die Art, wie er sie artikulierte, immer fragwürdig.

Vielleicht nicht akzeptabel, obwohl sich ein guter Wille und striktes, logisches Denken dahinter versteckten. Nicht so wie dieses Mal.

Wie nachvollziehbar war jedes Wort gewesen. Wie augenblicklich hätte ich zu jedem seiner Zweifel genickt. Wie hatte ich hinter ihm gestanden und wie sehr hatten wir letztlich zusammengearbeitet.

Es war irgendwie seltsam - dieses Wissen, dass sich seine Gedankengänge in diesen Momenten um keinen Deut von meinen unterschieden.

Eigentlich war es natürlich, dass wir stets in entgegengesetzte Richtungen spähten, dass wir der gegenteiligen Meinung waren oder die andere zumindest nicht vollständig teilten. Das war unsere Normalität. Das, woran wir uns gewöhnt hatten.

Ich bewegte mich in komischen Gefilden und mit zweifelloser Sicherheit war ich damit der Einzige.

Er hatte den Anschein gemacht, in Eile zu sein. Als hätte er bereits ein neues Ziel, in das er sich vertiefte. Auf seine strikte, zielstrebige und trockene Art, die ihm nicht erlaubte, gedanklich abzuschweifen.

Ein knappes Grinsen zog an meinem Mundwinkel.

Er hatte wirklich nicht gewusst, wovon ich sprach.

In gewisser Weise überraschte er mich nicht mehr. Nur heute gelang es ihm.

Vermutlich war ich es einfach nicht gewohnt, normal mit ihm zu sprechen. Wir foppten uns, wir stichelten und zumindest ich hatte dabei immer Spaß. Ich war seinen Zynismus gewohnt. Auch sein ablehnendes Verhalten, mit dem er mir gegenübertrat, mich verhöhnte und zur rechten Zeit doch ernst nahm.

Eine seltsame und außergewöhnliche Situation hatte uns heute zu einer neuen Ebene der Unterhaltung geführt. Dass ich ihn nicht nur während eines Kampfes auf meiner Seite hatte, sondern dass wir auch im Alltag dazu imstande waren, an einem Strang zu ziehen, war verblüffend und in diese Einsicht vertieft, juckte ich mir das Kinn.

Und nahm man zu dieser Kreation noch die Zutat des morgendlichen Vorfalles, bei dem ich seine Meinung bereits teilte, entstand da ein Gericht, das selbst ich nicht ohne weiteres runter bekam.

Ich juckte mich weiter und lugte zur Uhr.

Dieses Gebiet war mir zu ominös. Mich weiter vorzuwagen würde mir nichts bringen als endlose Irritation, in der ich letztendlich feststeckte.

Über Kanda zu sinnieren war lächerlich, denn im Grunde kannte ich ihn überhaupt nicht.

Ich kannte sein Verhalten in diesem Gebäude, auch das auf dem Schlachtfeld und mir gegenüber.

Was er gerne aß, das wusste ich auch, also am Ende so gut wie gar nichts.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto fremder wurde mir dieser Mensch und so entschied ich mich dazu, es bleiben zu lassen und mich von dieser endlosen Irritation fernzuhalten.

Nachdem ich weitere Minuten nur taten- und gedankenlos dort gelegen hatte, rappelte ich mich auf und stattete Jerry einen Besuch ab.

Durch den Hintereingang schlich ich mich in das Getümmel der Köche und der Dämpfe, die aus den köchelnden Töpfen drangen. Der normale Betrieb schien wieder aufgenommen worden zu sein. Es war der Alltag, der mir begegnete. Nichts zeugte mehr von dramatischen Besprechungen. Das Essen wurde bestellt und zubereitet und hatte ich eigentlich kurz den Willen gehabt, jemandem unter die Arme zu greifen, hatte ich plötzlich nur noch Appetit und keine Ambitionen, körperliche Arbeit zu leisten.

Vorerst beließ ich es dabei, an der Tür zu stehen und die Schufterei anderer zu verfolgen.

Hin und wieder sah ich auch Jerry in der Menge. Er war hektisch, hatte viel zu tun und so schlich ich mich zur Seite und in den hinteren Teil der Küche. Umgeben von Töpfen und Geschirr ging ich meiner Wege und wurde erst aufmerksam, als ich die Vorrats- und Zutatenregale erreichte.

Da gab es so einiges. Gewürze, Kräuter, und dann blieb ich stehen.

Den Hinterkopf in den Nacken gelegt, hatte ich dort oben etwas gesichtet und ohne zu zögern streckte ich mich hinauf. Mein Bauch schien förmlich zu reagieren bei diesem Anblick und konzentriert erwischte ich die Dose, zog sie aus dem Fach und machte mich sofort am Deckel zu schaffen. Versteckt und verborgen im hinteren Winkel des großen Raumes hob ich die Dose zur Nase und nahm einen tiefen Atemzug.

Das war es - das Ende meiner Suche und sofort machte ich mich ans Werk.

Dass Jerry gerade Besseres zu tun hatte, war nicht zu übersehen und so beließ ich es bei der Anfrage, ob ich mich hier in seinem Territorium bedienen durfte. Die gerührte Zustimmung schrie er mir durch den halben Raum zu und es verging keine lange Zeit, da trat ich in einen anderen Vorratsraum. Ein hölzerner Kasten mit Milchflaschen stellte mein Ziel dar und konzentriert klemmte ich mir drei von ihnen unter den Arm.

Sicher durch das Gedränge zu kommen war schwer aber irgendwann erreichte ich eine abgelegene Arbeitsfläche und richtete mich dort ein.

Es war genau das Richtige. Bei gewissen Sachen konnte man einfach abschalten und so begann ich den Kakao in ein großes Glas zu löffeln. Vier Löffel, fünf, sechs und erst als es halbvoll war, zog ich auch eine der Milchflaschen zu mir. Der Radau der Küche erreichte mich nicht mehr, als ich zu rühren begann und erst als sich eine bekannte Stimme in der Nähe erhob, löste ich mich von dem Glas. Überrascht blickte ich auf und versenkte den Löffel im Mund.
 

„Ist das lecker.“ Vergnügt nippte Linali an ihrem Kakao und bewegte die Beine in der Luft.

Die Ablage war bequem und friedlich saßen wir nebeneinander und taten in den ersten Momenten nicht viel mehr, als zu schlürfen und unserem Genuss nachzuhängen.

„Dazu kommt man viel zu selten.“

Sie lächelte immerzu, bekam das Glas kaum von den Lippen und zustimmend nickte ich, bevor ich die Dose zu mir zog und dem kümmerlichen Rest in meinem Glas noch etwas von dem Pulver beifügte. Vertieft löffelte und rührte ich und neben mir wurde geseufzt.

„Du hast auch etwas Abstand gebraucht, nicht wahr?“ Ich spürte, wie sie mich in Augenschein nahm.

„Und du?“ Beiläufig schob ich die Dose von mir, schwenkte die dickflüssige Masse im Glas und hob es zurück zum Mund. Linali bettete ihr Glas auf dem Schoß, blickte leicht betrübt zu Boden. Ich nahm ich sie in Augenschein, bewegte die Milch im Mund und suchte nach den Kakaoklumpen.

„Mein Bruder hatte es in letzter Zeit schwer“, hob sie an. „Er hat viel nachgedacht. Ich vermute, dass man ihn auf irgendeine Weise unter Druck gesetzt hat. Er hat kaum geschlafen.“ Wieder ein Seufzen, bevor sie mir ein brüchiges Lächeln offenbarte. „Bitte nimm es ihm nicht übel, ja? Es war bestimmt keine leichte Entscheidung für ihn.“

Natürlich. Er traf die Härtesten von uns allen aber es gab auch andere Gründe, die mich davon fernhielten, schlecht von ihm zu denken.

„Ich bin nicht wütend.“

„Danke.“ Etwas entspannter nahm sie einen weiteren Schluck und kreuzte die Beine. „Ich war auch überrascht aber mein Bruder wird die richtige Entscheidung treffen. Kanda und du haben ihm den Anstoß dazu gegeben.“

Konnte ich davon ausgehen, dass ihre Meinung sich nicht allzu sehr von unserer unterschied?

Vermutlich fiel es ihr schwer, die Stimme zu erheben, wenn es sich um diesen Gegenpart handelte.

Ich beließ es bei einem Nicken, setzte das Glas an die Lippen und leerte es.

„Aber schön wäre es schon.“ Beinahe lautlos erhob sich dieses Flüstern neben mir. „Stell dir das doch mal vor, Allen. Wenn das alles vorbei wäre.“

Kurz hielt ich in der Bewegung inne.

Nach der Milch hatte ich gegriffen und meine Augen drifteten versteckt zur Seite, bevor ich die Flasche zu mir zog.

Ja, was wäre wenn.

Schweigend schraubte ich und hielt das Glas zwischen den Beinen.

Wenn dieser Kampf endete. Wenn die Existenz der Akuma starb und jede Gefahr, die uns auf unseren Wegen begleitete. Wenn dieser mächtige Widersacher nicht mehr präsent wäre. So unvorstellbar der Sieg auch war, auch meine Gedanken und Vorstellungen konnten weit driften und schnell gelangte ich an den Punkt, an welchem all das für mich real wurde. Ungestörte Totenruhe.

Viele Sorgen wäre man los und ich stellte mir die Frage, in welche Richtung unsere Arbeit von diesem Punkt aus ginge. Die Milch gluckerte in das Glas und abwesend hob ich die Flasche und setzte den Deckel auf ihren Hals. Was wäre, wenn dieser entscheidende Krieg wirklich sein Ende fand. Ich spürte die flüchtige Regung meines Gesichtes.

Sobald wir die Präsenz des Grafen verloren, würde auch ich etwas Wesentliches verlieren.

Ich senkte den Kopf und vergrub den Löffel im Kakaopulver.

„Allen?“

„Mm?“ Sofort blickte ich auf und las ein seltsames Flehen in ihren Augen. „Ich weiß, dass es möglicherweise noch zu früh für Training ist.“ Schuldbewusst umklammerte sie ihr Glas und unter einem schwermütigen Seufzen sank sie plötzlich in sich zusammen. „Es ist genauso, wie Kanda es sagte. Ich darf niemandem eine Last sein. Und deshalb“, ihre Stimme senkte sich beschämt, „hielt ich es für das Beste, so hart an mir zu arbeiten.“

„Linali.“ Anteilnehmend lehnte ich mich zu ihr und sah sie den Kopf schütteln.

„Ich will nicht, dass ihr euch Sorgen macht.“

Gerührt nahm ich sie in Augenschein.

Nun, es lag nur an ihr, dafür zu sorgen, dass wir es nicht brauchten.

All das war nicht von uns abhängig. Wir taten es so oder so, wenn sie uns Grund dazu gab.

„Mach dir keine Sorgen.“ Aufbauend lächelte ich ihr zu. „Wenn du dir Zeit lässt, wird so etwas nicht passieren. Ich finde deine Entschlossenheit beeindruckend, also wirst du es schaffen.“

„Ja?“ Erleichtert richtete sie sich auf.

Es tat ihr gut und sofort nickte ich, setzte mich zurück und blieb doch nahe bei ihr.

„Und ich denke auch, dass Komui eine Entscheidung treffen wird, die uns allen mehr Zeit gibt. Also auch dir, um auf die Beine zu kommen. Aber wenn du es überstürzt, tust du dir keinen Gefallen.“

Und für uns blieben ein weiteres Mal nur die Sorgen.

Ihr folgendes Nicken wirkte weitaus nachdrücklicher und so nippte sie wieder an ihrem Kakao und offenbarte ein festeres Lächeln.

„Danke. Das hat mir wirklich geholfen.“ Ihre Miene verhärtete sich entschlossen, als sie die Faust hob. „Ich werde keine Last für euch sein und den Rückstand ganz schnell wieder aufholen!“

„Nur nicht übertreiben“, lachte ich und löffelte weiter, bis sich das Pulver auf der Milch häufte und ich es mit dem Löffel zu bändigen versuchte.

So verlor die Atmosphäre an Spannung. Es wurde leichter um uns herum und die Tatsache, dass sie wieder aufgerichtet neben mir saß, bereitete mir eine nicht zu unterschätzende Erleichterung.

„Ich wünschte, ich hätte Zeit gehabt, Kanda dasselbe zu sagen.“ Neben mir kratzte sie vertieft am Rand ihres Glases. „Dass er sich keine Sorgen zu machen braucht.“

„Hol es doch nach“, nuschelte ich in all das Pulver vertieft.

„Später. Er ist schon wieder aufgebrochen.“

Deshalb seine Eile.

Gemächlich rührte ich weiter.

„Ich hätte es aber auch schon eher tun können.“ Jetzt begann sie laut zu denken. Ihre Stimme nahm einen absenten Ausdruck an und endlich konnte ich es mir wieder schmecken lassen. „Eigentlich hat er immer Recht.“

Ich lugte zu ihr, spürte einen großen Klumpen auf der Zunge und ließ ihn platzen. Trocken verteilte sich der Kakao in meinem Mund und so war ich in den nächsten Momenten nur mit Schmatzen beschäftigt.

Dass Kanda zu Linali eine andere Bindung hatte als zu mir, war nur zu verständlich.

Wie gesagt, sein böser Wille war schon immer an ihr vorbeigedriftet. Etwas anderes hatte ich nie mitbekommen und konzentriert begann ich mit der Zunge an meinen Zähnen zu puhlen.

Alles klebte.

„Er hat ein Auge auf mich, seit wir klein waren.“ Es klang melancholisch aber als ich mich überzeugte, sah ich sie lächeln.

Es fiel mir nicht schwer, mich als ‚unerfahren’ zu bezeichnen, sobald ich mich mit ihm verglich. Während meine Hände ausschließlich mit Karten und Dreck in Berührung gekommen waren, hatte an seinen schon das Blut des Feindes gehaftet. Er und Linali waren unter den ersten gewesen. Es brauchte mich also nicht zu wundern, dass ich Kandas Entschlüsse und Verhaltensweisen nicht immer nachvollziehen konnte.

Er hatte schon mehr gesehen, als ich. Schwer vorstellbar.

„Es war noch nie ein Fehler, auf das zu hören, was er mir rät.“ Ihre Hände begannen das Glas zu drehen. „Er meint es ja immer gut mit mir und macht sich auch nur Sorgen.“

„Mm.“ Gedankenlos entwich mir dieses Brummen.

Ich könnte selbst nicht sagen, was es zu bedeuten hatte. Ob ich zustimmte oder nur einen Laut von mir geben wollte. Ich wusste nur, dass ich eine gewisse Verblüffung spürte. Über Dinge, die offensichtlich waren. Dass er ihr oft mit Rat zur Seite stand. Dass er es war, den sie aufsuchte, um uns nicht mit ihren Sorgen zu belasten. Anscheinend konnte er ihn tragen. Einen Teil ihrer Last.

Warum wunderte es mich, dass Kanda für sie ein offenes Ohr hatte?

Sie kannten sich lange und auch dass er im Grunde kein schlechter Mensch war, war mir nicht neu.

Ich denke, es fiel mir nur schwer, mir diese Szenerie vorzustellen. Ich kannte keinen Kanda, der Ratschläge erteilte oder sich Zeit für die Belange anderer nahm.

‚Ist nicht mein Problem’, sah ich ihn vor meinem geistigen Auge murren.

„Na ja“, Linali lachte, „ich muss gestehen, meistens dränge ich mich ihm wohl etwas auf.“

Ach. Ich schloss mich ihrem Grinsen an.

Jetzt nahm die Szenerie allmählich Gestalt an. Ab diesem Punkt konnte ich es mir bildlich vorstellen.

Sich ihm aufdrängen also. Versuchen sollte ich es trotzdem nicht. Höchstwahrscheinlich würde er mir statt einem Rat eher etwas erteilen, das Prellungen hinterließ.

„Oh.“ Plötzlich neigte sich Linali nach vorn.

Sie hatte etwas entdeckt und sofort folgte ich ihrer Beobachtung.
 

„Mm!“ Der Genuss schien Lavis ganzen Körper zu lähmen. Nach dem ersten Schluck streckte er sich, rollte mit dem Kopf und fuhr sich über den Mund. Direkt neben mir hatte er seinen Platz gefunden. Unsere Beine baumelten, unsere Gläser hoben sich fast synchron und beinahe schwappte mein Kakao über, als mich sein Ellbogen erwischte.

„Weißt du was?“, gluckste er und hielt mir sein mit Pulver verschmiertes Glas unter die Nase. „Wir sollten so etwas öfter machen.“

„Was meinst du?“, erkundigte sich Linali, während ich das Glas von mir schob.

„Gemeinsames Kakaotrinken.“

Ich löste das Glas von den Lippen. „Ja, lass uns Komui fragen und sowas in den Tagesplan integrieren.“

Neben mir brach Linali in Lachen aus und kaum hatte ich mich ihr zugewandt, fand ich mich in einer festen Umarmung wieder. Lavis Arm umschlang meinen Hals und nur notdürftig gelang es mir, den Kakao auszubalancieren, als er mich zu sich zerrte.

„Wir laden alle ein!“, verkündete er und reckte feierlich seinen Kakao in die Höhe. „Yu auch!“ Er klopfte meine Schulter. „Das übernimmt unser Allen hier.“

„Hah?!“ Entsetzt schrie ich auf. Er wollte mich wirklich loswerden.

Unentwegt erhob sich Linalis Lachen. Sie hielt sich den Bauch, als sie sich nach vorn neigte und wütend streckte ich mich Lavi entgegen.

„Warum machst du das nicht?!“

„Ich? Ich bin doch nicht verrückt! Willst du etwa, dass mir etwas passier… au!“

Deftig traf ich seine Schulter und als er sich eilig vor dem Sturz von der Arbeitsfläche bewahrte, schwappte es aus seinem Glas.

„Man, Allen! Wie kannst du nur so herzlos sein!“ Empört schüttelte er die Hände, versuchte sich von der klebrigen Flüssigkeit zu befreien und schnitt Grimassen, während ich mich wieder meinem Kakao hingab.

Ächzend rappelte sich Linali auf, zitterte unter dem Lachen, das sie nicht mehr loswurde und strich sich keuchend die Nässe aus den Augen.

„Ihr beiden“, stieß sie dann aus, schüttelte den Kopf und strahlte dabei über das ganze Gesicht.
 

Die Zeit verging und bald griff ich wieder nach der Flasche und füllte mir das nächste Glas.

Meine Konzentration war die alte und nur kurz blickte ich skeptisch zu einem Punkt, bevor ich mich meiner Arbeit zuwandte und vor Lavi in Acht nahm. Ich befürchtete, er könnte mich anrempeln, wenn ich mit der Flasche hantierte. Der Erfolg wäre gewaltig aber er blieb manierlich und ein weiteres Mal spähte ich zu der Stelle, schob die Flasche zurück und tastete in meinem Rücken nach der Dose.

Auf der einen Seite schlürfte Lavi an seinem zweiten Glas, auf der anderen strich Linali das Kakaopulver vom Rand ihres Glases. Um ihre Stimmung brauchte man sich keine Sorgen mehr zu machen. Aber über etwas anderes schon. Ich runzelte die Stirn, löffelte den Kakao in die Milch und dann kapitulierte ich.

„Was hat dich eigentlich hierher verschlagen?“

„Bitte?“ Abrupt blickte Crowley auf. Seit kurzem saß er vor uns und auf einem Schemel und löffelte eine Suppe. Sicher war der Teller auf seinen Knien gebettet, während er zurückstarrte. Neben mir schlürfte es weiter.

„Ich kam zufällig vorbei“, hauchte er gerührt von diesem Beisammensein.

„Was für Zufälle.“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf.

Jetzt saßen wir also hier, löffelten, schlürften und waren außerdem noch völlig untätig und nutzlos.

Wir waren die Streitmacht, von der alles abhing. In solchen Momenten wünschte ich mir, Kanda würde tatsächlich vorbeikommen. Auf sein Gesicht und die folgende Bemerkung wäre ich gespannt.

Ich grinste und genauso verträglich ging es auch weiter, bis Lavi die Beine auf die Ablage zog. Er setzte sich in den Schneidersitz und rückte sich zurecht.

„Wollen wir trainieren?“, murmelte er und stemmte sich zurück.

Nachdenklich leckte ich den Löffel ab, versenkte ihn in der Brusttasche meines Hemdes und begann zu trinken. Und als würde mein Körper die Antwort übernehmen, spürte ich meinen prallen Bauch. Sofort stellte ich mir die Frage, wie viele Gläser ich eigentlich getrunken hatte aber letztendlich wusste ich nur, dass ich von oben bis unten mit Kakao gefüllt und somit nicht nur bewusst träge sondern auch bewegungsunfähig war.

Vorerst beließ ich es bei einem Brummen und trank weiter. Es schien trotzdem verständlich gewesen zu sein, denn Linali meldete sich zu Wort. Leicht verlegen zupfte sie an einer ihrer Haarsträhnen.

„Nach dem Training heute Morgen schone ich mich jetzt lieber etwas“, meinte sie lächelnd und schickte mir einen gewitzt erwartungsvollen Blick. Lobend und den Mund noch am Glas, hob ich den Daumen und neben mir erhob sich ein Ächzen. So fielen unsere Blicke auf Crowley, doch dieser reagierte schnell. Seine Miene nahm einen Hauch von Leid an und bedauernd streckte er sein Bein, wies auf seinen Fuß.

„Ich“, hob er an, „habe mir den Knöchel verstaucht.“

„Ach man, ihr seid ja bloß faul.“ Stöhnend rieb sich Lavi den Bauch. „Was bin ich müde. Ich kann mich gar nicht mehr bewegen.“

Vermutlich war ihm diese allgemeine Ablehnung gar nicht so ungelegen gekommen.

„Walker?“ Nur undeutlich erreichte mich das weit entfernte Keuchen. Das Stöhnen und die Trägheit um mich herum hielten an, als ich mich in die Höhe reckte und durch die Regale hindurch etwas zu erkennen versuchte.

„Ich suche Walker!“, ertönte es da wieder und endlich entdeckte ich zwischen den Töpfen und anderen Utensilien den Mantel eines Finders, der sich erschöpft in die Küche lehnte.

„Hier!“ Ich streckte den Arm und verbunden mit weiterem Ächzen ließ der Finder die letzte Distanz hinter sich, trat hinter dem Regal hervor und hob die Hand. Dabei blieb es auch, denn er stemmte sich auf die Knie und rang nach Atem. Scheinbar hatte er es sehr eilig gehabt. Schulbewusst drifteten meine Pupillen zur Seite und vorbei an Lavi, der den Finder mitleidig in Augenschein nahm.

Vielleicht hatte er es sogar sehr lange sehr eilig gehabt, seit ich neuerdings ohne Golem unterwegs war.

„Ein Glück!“ Vor uns rappelte er sich wieder auf. „Komui möchte Sie sprechen.“

In den ersten Momenten tat ich nicht vielmehr als die Brauen zu heben und mich über diese Eile zu wundern. Wenn ich mich nicht irrte, lag die Besprechung nicht länger zurück als zwei Stunden.

Auch meine Zeitgenossen waren erstaunt und in den nächsten Augenblicken tauschten wir Blicke.

Nachdenklich rührte Crowley in seiner Suppe.

„Sag bloß, die Entscheidung ist getroffen.“ Lavi war es, der zuerst zur Sprache zurückfand. Neben mir schöpfte Linali tiefen Atem und kurz nahm ich die Bewegung des Finders wahr. Er kratzte sich nervös an der Kapuze.

„In dem Fall würde er uns allen Bescheid geben.“ Nachdenklich nahm ich mein Glas unter die Lupe.

„Vielleicht nur eine Mission?“, schlug Linali vor und Schulterzuckend machte ich mich daran, mich von all dem Kakao loszureißen, schob mich von der Arbeitsfläche und strich meine Hose glatt.

„Ich finde es gleich heraus.“

„Mm.“ Lavis Beine begannen zu wippen, langsam rollte er sein leeres Glas zwischen den Händen und bevor ich mich abwandte, riss er sich meines unter den Nagel. Es wurde ihm vergeben. Ich bekam keinen Schluck mehr runter und kurz hob ich die Hand, bevor ich dem Finder folgte.
 

„Tut mir leid.“ Reumütig trat ich zu ihm in den Flur. In meinem Bauch gluckerte es unaufhörlich und ich rieb ihn mir, während vor mir hastig mit den Händen gestikuliert wurde.

„Ich bitte Sie!“ Ein nervöses Lachen brach aus dem jungen Mann heraus und ohne weitere Zeit zu verschwenden setzten wir uns in Bewegung. „Sie müssen sich doch nicht entschuldigen!“

Allmählich stellte ich mir wirklich die Frage, wo Tim abgeblieben war.

Verschwinden tat er nicht oft und wenn es passierte, dann versah ich mich kaum, bevor er wieder neben mir flatterte. Nachdenklich sah ich mich um, grübelte in diesen Momenten aber schon über die nächste Begebenheit.

Die Verwunderung über Komui ließ mich nicht los. Dass er mich jetzt schon zu sich rief, ließ mich meine Schritte verschnellern und ich zögerte auch nicht, bevor ich an jede Tür klopfte, sie öffnete und in das Büro des Abteilungsleiters trat. Knitternd und raschelnd bewegte sich das Papier unter der Tür und es brauchte einen kraftvollen Ruck, um sie wieder zu schließen.

„Allen“, kaum hatte ich sie in das Schloss gedrängt, wurde nach mir gewunken.

Wenn ich mir Komui jetzt besah, wirkte er beinahe gelöst. Obwohl die Besprechung und die damit verbundene Aufregung nicht lange zurücklagen, saß er recht entspannt hinter seinem Schreibtisch. Die Beine von sich gestreckt, die Tasse erhoben, sah er mich näherkommen, blies über die dampfende Oberfläche des Kaffees und wies mit einer knappen Kopfbewegung auf das Sofa.

Ich hatte ihn gemustert, nur kurz und trotzdem ließ mich dieser Anblick zuversichtlich werden. Er verschaffte mir eine gewisse Ruhe, während ich mich niederließ. Das beklemmende Gefühl schien sich gemildert und die angespannte Atmosphäre an Kraft verloren zu haben.

Komui sah nicht aus, als stünden ihm unangenehme Mitteilungen bevor.

„Mm.“ Er setzte sich keiner Hast aus, genoss den Schluck und tat es etwas schneller, als ich die Stirn runzelte. Seine Hand hob sich, wortlos bat er mich um Geduld. Dann wurde er die Tasse auf dem Schreibtisch los und schien nach etwas zu suchen. Von einer Seite spähte er zur anderen.

„Wo ist Tim?“

„Ah.“ Unentschlossen richtete ich mich auf. „Bin nicht sicher. Hat sich wohl kurz aus dem Staub gemacht.“

„Ist das so?“ Unter einem tiefen Durchatmen schüttelte Komui den Kopf. „Nun gut, finde ihn nur schnell wieder.“

Ich war damit ja auch nicht zufrieden.

Sofort nickte ich und wurde erneut in Augenschein genommen. Diesmal war es eine feste, zielstrebige Aufmerksamkeit, die ich erwartungsvoll erwiderte.

„Ich möchte noch einmal auf die Besprechung zurückkommen.“ Somit faltete er die Hände und begutachtete die Unterlagen, die sich zu all seinen Seiten stapelten. „Mit Kanda habe ich schon gesprochen und mich unter anderem für diese überstürzte Planung entschuldigt.“

Langsam neigte ich mich nach vorn. Meine Ellbogen senkten sich auf meine Knie und ich musste zugeben, dass mich diese Wendung doch überraschte.

Bedeutete es, dass Entschlüsse rückgängig gemacht wurden?

Was hatte Kanda ihm nur unter vier Augen noch alles gesagt?

„Es ist mir wichtig, dass ihr mich versteht“, fuhr Komui in diesem Moment fort. „Und dass ihr wisst, dass ich euch niemals leichtfertig auf so eine Mission geschickt hätte.“

Natürlich. Zumindest ich wusste es und Komui schien es in meinem Gesicht zu lesen, denn er begegnete meinem Schweigen mit einem langsamen, durchaus zufriedenen Nicken.

„Es war eine überstürzte Entscheidung. Vielleicht auch etwas zu selbstgerecht. Druck wird immer ausgeübt aber ich darf euch nicht benutzen, um ihn loszuwerden. Am Ende wären mir nur Vorwürfe geblieben.“ Er lächelte bedauernd. „Bestenfalls.“

Ich hatte es mir gedacht. Während er sich bemühte, viele Missionen unter ein entspanntes Licht zu stellen und uns nicht verbittert auf Erfolge zu trimmen, war die Last auf seinen Schultern nicht gering. Er als unser Vorgesetzter unterschied sich so immens von denen, die ihm vorgesetzt waren. Es entsprach meinen Vermutungen und wie gesagt, einen Gräuel hatte ich ihm gegenüber nie gehegt.

Letztlich tat er sein Handwerk gut und brachte viel Menschlichkeit in die Welt, in der wir lebten.

„Ich bin euch dankbar.“ Somit fand er zu einem glaubwürdigen Lächeln zurück und nur knapp erwiderte ich es.

Es war in Ordnung aber ich brauchte es nicht zu sagen.

„Wie geht es jetzt weiter?“ Ich ließ ihn nicht weiter in diese Richtung schweifen.

„Wie gehabt“, antwortete er. „Unsere bisherige Arbeitsweise hat uns Erfolge gebracht und so werden wir vorerst weitermachen.“

Es gefiel mir. Soviel mehr als die absurde Idee, all das zu beenden.

„Was gibt es zu tun?“

Zurück zum Alltag und zu den Fragen, die ich oft stellte.

Eine Mission kam mir gelegen. Ich war bereit aber Komui winkte ab, bat mich um Geduld.

„Zu tun gibt es genug aber diesmal nicht für dich alleine.“

Entspannt bettete ich den Ellbogen auf der Lehne, wippte mit den Füßen und schöpfte tiefen Atem.

Alles pendelte zurück auf den Weg, auf dem ich mich sicher fühlte.
 

-tbc-



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