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Unseen Souls

von

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Ein langer und beschwerlicher Weg lag hinter uns, bevor sich vor unseren Augen die schwarzen Umrisse des Turmes erhoben. Nur leicht hob er sich vom wolkenlosen Himmel ab und in zielstrebigen Schritten zog ich unter den Schatten der Golem hindurch. Beinahe lautlos bewegten sie sich über unseren Köpfen, bis wir das Tor erreichten und nach dem Donnern der schweren Pforte den stürmischen, dunklen Innenhof des Komplexes.

Es war eine neue Nacht, in der wir unser Ziel erreichten. Hinter uns lag ein Tag und das monotone Rattern des Zuges, während es hinter den Scheiben des Abteils nur noch kälter wurde. Jetzt spürte ich es. Ich fühlte die Gänsehaut auf meinen Armen und die Lust auf warme, helle Räume. In letzter Zeit hatte ich den Tag genutzt, um zu neuen Kräften zu finden, sonst permanent die Nacht vor mir gesehen und deren Erschwernis, mit Gefechten umzugehen.

Der Kies des Vorplatzes knirschte unter den Sohlen meiner Stiefel und während sich der Finder frierend in seinen Mantel vergrub, sah ich dieses weitere Tor näherkommen. Nur kurz drifteten meine Augen zur Seite, erfassten die schwachen Konturen der Wachmänner, die sich vor einer Mauer postierten und meine Aufmerksamkeit teilten. Wie offensichtlich ihre Pupillen an mir hafteten. Selbst auf diese Entfernung war es mir kein Geheimnis und kurz blickte ich zurück zu meinem Weggefährten.

Nur noch wenige Schritte, bis der schneidige Wind uns nicht mehr erreichte und auch das Pfeifen in unseren Ohren verstummte. Hoch bauten sich die Wände des Komplexes um uns auf und ich streckte die müden Glieder, als ich in die ersehnte Wärme eintauchte und mich von der finsteren Nacht trennte.

Es war ein gutes Gefühl. Eigentlich war es das immer.

Tim löste sich von mir, gab meinen Schutz auf und ich lauschte seinen nahen Flügelschlägen, in denen er sich in die Lüfte erhob. Gleichzeitig streifte ich die Kapuze zurück, setzte den Fuß auf die erste Stufe und schüttelte meinen Schopf. Leise schallte mein befreites Ächzen in den steinernen Gängen und unverdrossen schloss sich mir der Finder an. Wir ächzten gemeinsam, fuhren uns durch das Haar und es war auch keine Überwindung, den durchgefrorenen Mantel loszuwerden. Ich stieg höher, streifte ihn mir von den Schultern und sah das Schimmern des Golems hinter der nächsten Ecke verschwinden.

Beiläufig bettete ich den Stoff über meinem Unterarm, hakte den Daumen in den Gürtel und kam zum Stehen, als wir das Treppenhaus erreichten. Meine Finger fanden den Kragen und während ich ihn lockerer zog, wandten der Finder und ich uns aneinander. Wieder verfolgte ich die knappe Verbeugung, zupfte und zerrte an dem robusten Stoff.

„Die Zusammenarbeit mit Ihnen hat mir wieder große Freude bereitet“, leitete er den Abschied ein. „Ich hoffe, wir werden eines Tages wieder zusammenarbeiten.“

Dieser Wunsch überraschte mich nicht.

Vermutlich gab es hier andere, mit denen die Zusammenarbeit nicht ganz so leicht fiel.

„Ruh dich aus.“ Somit hob ich die Hand und setzte meinen Weg fort. „Die Reise war beschwerlich.“

„Ja.“ Wieder kratzte er sich verlegen und nach einem letzten Wink verlor ich ihn aus den Augen und bog zur Seite. „Vielen Dank.“

Es war das Letzte, das zu mir drang, bevor ich einen Gang nutzte und auch die darauffolgende Treppe.

Ich besah mir die Stufen und tastete nach dem Riemen des Stiefels. Es wurde höchste Zeit, dass ich alles, was mit dieser Mission zu tun hatte, hinter mir ließ und mir für andere, dringende Dinge Zeit nahm.

Ich stieg weiter und erspähte Tim. Er flatterte dort oben, bewegte sich fast drängend in der Luft und ließ mich ächzen. Genug der Hast und kaum dass ich die Gedanken in die bestimmte Richtung lenkte, hallte neben meinen Schritten auch das Knurren meines Magens durch das Treppenhaus.

Augenblicklich erschlaffte jeder Muskel meines Gesichtes und unter einem erneuten Ächzen zogen mich meine nächsten Schritte zur Seite und ließen meine Schulter an der Wand entlang schrammen.

Kein schneidiger Wind mehr, der mich von der wahren Problematik ablenkte und fast höhnisch begleitete mich das Knurren den gesamten Weg über. Durch Gänge und über Treppen, bis ich eine Tür erreichte und unter dem Licht der Lampen blinzelte, das mir entgegen zog, als ich sie öffnete.

Ich hörte das Rascheln vieler Blätter, ein Gewirr aus Stimmen und Stöhnen. Träge bewegten sich vor mir die weißen Kittel der Wissenschaftler, als ich in die Abteilung trat, die Hand zu einem Wink hob und den zermürbten Gesichtern mit einem grüßenden Lächeln begegnete.

„Allen!“ Flatternd ging ein Stapel aus Unterlagen zu Boden, als River die Beine vom Schreibtisch zog und eine Mappe sinken ließ. Zufrieden reckte sich auch seine Hand und kurz folgte ich dem Schnarchen und schloss die Tür hinter mir. Johnny schlief irgendwo hinter den Bergen aus Ordnern, die die Fläche seines Schreibtisches für sich einnahmen.

„Da bin ich.“ Den Mantel über der Schulter winkte ich auch Rokujugo, der über eine erhöhte Plattform schwebte.

„Wie ist es dir ergangen?“ River nutzte die Gunst der Stunde für eine Pause. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schielte zu dem Zahnstocher, der sich zwischen seinen Lippen regte. „Ist ein ganz schönes Sauwetter, was?“

„Ja.“ So durchfuhr ich mein nasses Haar erneut mit den Fingern und seufzte unter der Erleichterung des Momentes. „Ist Komui da?“

River kratzte sich die Schläfe und ein unentschlossenes Rascheln machte die Runde, bevor Rokujugo von dem oberen Geländer herab schwebte. „Der schläft.“

„Immer noch?“, ächzte River und schnarchend gab Johnny hinter der Trennwand aus Büchern ein Lebenszeichen von sich.

„In den letzten Tagen war hier eine Menge los.“ Somit raffte Rokujugo einen Stapel Bücher hoch.

„Mm“, stimmte River zu und gähnte.

Die schwere Arbeit war hier niemandem ein Fremdwort und trotzdem blieb ich aufmerksam und musterte River.

„Ist etwas passiert?“

Es interessierte mich und die Frage kam, ohne dass ich mich zu ihr zwingen musste.

Wir lebten in schwierigen Zeiten und letztendlich fühlte ich mich nur sicher, wenn ich Bescheid wusste über die Dinge, die während meiner Abwesenheit geschahen. Aber River kratzte sich nur im Schopf und hielt nach seiner Tasse Ausschau.

„Nichts Bestimmtes“, lenkte er ab und flüchtig spähte ich zu Rokujugo, sah ihn an verschiedenen Büchern hantieren.

„Wir hatten einige Besprechungen.“ River langte nach seinem Zielobjekt und nahm einen Schluck. „Ihr werdet alles erfahren, wenn die Zeit reif ist.“

Ich nickte. Mir gegenüber wurde die Tasse geleert.

„Lassen wir Komui noch etwas in Ruhe. Bericht erstatten kannst du morgen.“ River rückte zurück an den Schreibtisch, sammelte seine Gedanken. „Bring das Innocence zu Hevlaska und danach kannst du dir ein Beispiel an Komui nehmen.“ Ein flüchtiges Grinsen zog an seinem Mundwinkel, bevor er zu mir spähte. „Wir haben schon gehört, dass es nicht einfach gewesen sein soll.“

Ich zuckte mit den Schultern, lächelte bedauernd und beließ es dabei. Eigentlich war es gar nicht so übel, dass Komui seine seltene Schlafenszeit auf meine Rückkehr verlegte. Das Abendbrot wäre hinaus gezögert worden durch überflüssige Fragen aber jetzt blieb es bei einem kurzen Umweg in die unterste Etage des Komplexes.

Dorthin, wo ich das Innocence seinem rechtmäßigen Bewacher übergab, unter dem Licht der gewaltigen Gestalt blinzelte und mich zu einigen Worten hinreißen ließ, bevor ich den Fahrstuhl wieder in Bewegung setzte.
 

Endlich war ich am Ziel, zog an den steinernen Wänden vorbei und bemerkte, wie meine Schritte an Tempo gewannen. Flüchtig zog ich eine Grimasse und regte die Schulter unter dem unangenehmen Spannen des robusten Stoffes.

Erst wenn ich neben dem Hunger auch diese Uniform losgeworden war, würde ich nahe am Punkt der Zufriedenheit stehen. Das Gesicht gesenkt, lockerte ich meinen Gürtel, fuhr mit den Fingern über das breite Leder und hob die andere Hand zum Mund. Meine Zähne schabten über die Fingerkuppen, bekamen den Handschuh zu fassen und so befreite ich mich von ihm.

Ein Dröhnen durchzog die Gänge und ließ mich aufspähen.

Da war eine Tür in ihr Schloss gefallen und da sah ich sie auch schon vor mir. Kurz darauf griff ich nach der Klinke, zog mich träge zur Seite, öffnete den Flügel und ächzte genüsslich unter dem Anblick, der sich mir bot. Annähernd leer erstreckte sich der Speisesaal vor mir. Nur vereinzelt saßen hie und da wenige Finder, das Besteck kratzte verhalten und nur leise Stimmen erhoben sich, als ich mich auf den Weg durch die Tischreihen machte.

Ich befeuchtete die Lippen mit der Zunge, presste sie aufeinander und rieb mir die Hände.

Wieder hatte ich es eilig und nur flüchtig wurde ich auf die Gestalt des jungen Mannes aufmerksam, der vor dem Tresen stand und zu warten schien. Meine Aufmerksamkeit schweifte über ihn hinweg, geradewegs und haltlos zur Seite und entspannt hob ich die Hand, grüßte meinen vergangenen Finder, der sofort zurückwinkte und sich lachend an seine Kameraden wandte.

Es blieb ein kurzes Lächeln, dann zog es meine Mundwinkel wieder nach unten und unter einem dumpfen Ächzen schleppte mich die letzten Schritte zum Tresen und ließ mich auf ihn sinken. Die Gerüche, die mir entgegen zogen, waren peinigend, da ich noch nichts vor mir hatte und trübe ließ ich mich um ein Stück tiefer rutschen und suchte mir meine Bequemlichkeit auf dem Holz der Theke.

Jerry war noch nicht zu sehen. Hoffentlich beeilte er sich.

Ich schöpfte tiefen Atem und setzte zu einem lauten Stöhnen an, doch es blieb mir im Hals stecken, so wie mein Gesicht im plötzlichen Ausdruck des Erschreckens.

Direkt und unausweichlich waren die annähernd schwarzen Augen auf mich gerichtet und musterten mich mit einem Anflug bitterer Skepsis. Nur kurz, bevor sie das Interesse verloren.

Auch meine Gesichtszüge erschlafften, flüchtig zog es mich weiter nach unten und Augenrollend rappelte ich mich letzten Endes doch auf.

Ich hatte ihn nicht erkannt.

Was trug er aber auch für einen Mantel?

Schweigend blieb ich neben ihm stehen, kratzte mich, streckte mich und hörte das undeutliche Murren, unter dem mein Zeitgenosse die Tür der Küche fixierte wie ein Raubtier die Beute.

Doch auf der anderen Seite der Theke tat sich nichts und so spähte ich erneut zu ihm.

Genau wie der zivile Mantel hätte auch der Dreck eine Erklärung dafür sein können, dass ich ihn nicht erkannte. Die roten Säume der Uniform, die sich unter dem braunen Stoff versteckten, waren kaum zu erkennen unter dem getrockneten Schlamm. Sogar in seinem Gesicht haftete so einiges, das davon zeugte, dass ich nicht der Einzige war, den das Wetter übel überraschte.

Sein Sinn für Ordnung hatte offenbar schmählich gegen die Naturgewalten verloren.

Der Zopf, zu dem sein Haar gebunden war, saß locker und schief. Vereinzelte Strähnen standen ab und setzten sich abrupt in Bewegung, als er plötzlich das Gesicht zu mir wandte und mich anstarrte wie zuvor die Tür. Ihn unbemerkt anzuschauen war eine schwierige Sache und überrascht tat ich es jetzt umso offenkundiger und wunderte mich über die Stille, die trotz der deutlichen Angriffslust auch weiterhin zwischen uns bestand.

Irgendwelche Bemerkungen wären angebracht und ich rümpfte die Nase, als er sich ohne ein Wort abwandte und sein Oberkörper der Theke unter einem Ächzen näherkam.

Wenn es eine Sache gab, die ich über Yu Kanda gelernt hatte, dann waren es die Zeichen, die man zu deuten hatte. Aus Nächstenliebe sowie aus schierem Selbstschutz. Simple Verhaltensregeln, nach denen ich mich richtete, sobald mir der Sinn danach stand.

Meistens war er in durchschnittlichem Maß ungemütlich. Dieses Normalmaß erstreckte sich bis zu einer gewissen chronischen Aufgebrachtheit, die sein Gesicht zucken und jedes Wort giftig werden ließ. Zu solchen Zeiten war er ziemlich gesprächig und noch als ‚gutgelaunt’ zu bezeichnen. Zu solchen Zeiten war er normal und so, wie ihn jeder kannte. Vermutlich lag es teilweise auch an seinen schmalen, japanischen Augen, dass er dauernd so verärgert aussah.

Wirklich schwierig wurde es erst dann, wenn die giftigen Worte ausblieben und er sich auf finstere Ausdrücke und verspannte Gesichtsmuskeln beschränkte. Es gab da eine Theorie.

Noch immer bewegte sich die Tür um kein Stück und vertieft hob ich die Hand und betrachtete mir meine Finger. Manchmal umging er jedes Wort, das er nicht brauchte, um sich grundlegend versorgt zu sehen. Manchmal hatte er nicht einmal Lust darauf, mir zu sagen, wie wenig er von meiner ihm unbekannten Persönlichkeit hielt und wie viel es ihm doch bedeuten würde, mich nicht mehr sehen zu müssen. Momente, in denen er schweigsam blieb, waren also jene, in denen man es auch sein sollte.

Es kam vor, dass selbst er zu wenig Energie aufbringen konnte. In diesen Fällen war er wirklich schlecht gelaunt und neigte dazu, von seinen harmlosen Sticheleien in düstere, gnadenlose Gefilde abzuweichen. Müde ließ ich die Hand sinken.

Die Zerstreuung in allen Ehren aber nun ging alles in mir zugrunde. Abermals meldete sich mein Magen, ein kalter Schauer durchfuhr mich und vergessen waren all die Theorien über bizarre Persönlichkeiten bei der Brise der gnadenlosen Realität.

„Jerry!“ Ich neigte mich neben Kanda durch den Ausschank. „Was machst du denn?“

Verzweifelt rief ich nach meinem Retter und dumpf ging neben mir eine Hand auf das Holz nieder.

„Wie lange muss man hier stehen, um zu Essen zu bekommen?“, schloss sich mir mein Leidensgenosse an.

„Jerry!“ Meine Stimme verdünnte sich zu einem brüchigen Jammern.

„Seit vier Tagen und Nächten nichts im Magen“, murrte mein Nebenmann.

„Und ich halte schon seit fünf Stunden durch“, fügte ich hinzu und spürte augenblicklich den Stich seines scharfen Blickes. Stirnrunzelnd erwiderte ich ihn. „Was denn?“

Eine Grimasse hatte mir als Antwort zu genügen und bevor doch noch irgendwelche Worte fielen, und zwar welche von der Sorte, die man später bereute, da schwang die Tür der Küche auf und wie der Hoffnungsschimmer selbst stürzte Jerry zu uns. Keuchend und aufgebracht brachte er die Distanz zwischen Tür und Theke in beeindruckender Schnelligkeit hinter sich.

„Es tut mir leid!“

Während neben mir ein unbestimmtes Murmeln ertönte, erhellte sich mein Gesicht.

„Es tut mir leid!“, ächzte er erneut, rückte an seiner Brille und schwang sich die Zöpfe zurück. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, was bei uns los ist! Bevor wir uns versahen, war da diese Stichflamme und der Gestank von verbranntem Essen!“

Mit einer seltsamen Regung verriet Kanda, dass er den Gestank ebenso wenig bemerkte wie ich, aber nach Tagen, die man umgeben von beißendem Qualm verbrachte, nahm man so ein Wölkchen nicht mehr wahr. Erschüttert war ich trotzdem.

„Heißt das, ihr könnt nichts mehr kochen?“, brach es entsetzt aus mir heraus.

„Um Himmels Willen, natürlich können wir das! Es hat nur einen kleinen Teil der Küche erwischt!“

Erleichtert senkte ich den Kopf.

„So ein Drama!“, fuhr Jerry fort. „Ich bin ja ein geduldiger Mensch aber diese unerfahrenen Jungköche…“

„Mach mir Tempura“, wurde er da unterbrochen. Kanda machte selten einen Hehl daraus, wenn er die Geduld verlor und seine finstere Aufmerksamkeit lenkte sich endlich auf einen anderen als auf mich. „Eine doppelte Portion. Nicht angebrannt.“

„Ja, natürlich!“ Jerry nickte heftig und gerade als ich Luft holen wollte, kam ich abermals in den Genuss von Kandas Aufmerksamkeit. Eine abwertende, beiläufige Geste seiner Hand richtete sich an mich.

„Sofort und zuerst. Ich war eher hier als der da.“

Meine Schultern sackten tiefer, dicht gefolgt von meiner Miene und resigniert sah ich ihn an, als er Jerry zurück zur Küche scheuchte.

„Das war herzlos.“

„Halt deinen Rand.“

Vermutlich war das wirklich besser. Gerade jetzt, da mein Essen in unerreichbare Ferne gerückt war, war ich zu zermürbt für einen Streit und wir waren uns so ähnlich, denn die Zeit des Wartens verbrachten wir damit, finster nebeneinander zu stehen.

Kanda stemmte sich auf den Tresen, ich zog mit dem Fuß Kreise auf dem Boden und erst als das Tablett mit der gewünschten Bestellung auftauchte und für gut befunden wurde, kehrte das Leben zurück.

Ohne ein Wort verschwand Kanda inmitten der Tischreihen und ich harrte umso einiges länger aus, bevor auch ich einen Platz auf einer Bank fand und vor mir die Massen, die mich zufrieden stimmten.

Von da an gab es nichts mehr, worüber ich mich beschweren müsste. Ich blieb sogar ungestört. Die ganzen zwei Stunden, die ich dort saß und immer wieder blind nach dem nächstbesten Teller griff.

Die Erwartungen wurden erfüllt und jede Unzufriedenheit beseitigt.

Jerrys Essen war gar nicht zu vergleichen mit der fettigen, überwürzten und unzumutbaren Kleinigkeit, die man an Bahnhofständen ergattern konnte und irgendwie trotzdem runter schlang. Ich ächzte vor Genuss, nahm mir zwischendurch nur kurz Zeit, um mir mit dem Handrücken über den Mund zu fahren und rammte die Gabel unterdessen schon in den nächsten Braten.

In diesen Augenblicken existierte nichts. Nicht die seltsamen Gerüche, die aus der Küche drangen, nicht die Gespräche der anderen oder Timcanpy, der seinen Platz auf dem Tisch fand. Kaum rückte sein knolliger Körper näher an einen Teller heran, da schob ich ihn mit dem Arm zur Seite und zog sein Zielobjekt zu mir.

Einen Auflauf, wie nur Jerry ihn kreieren konnte und die Soße quoll aus allen Poren, als ich die Gabel in die mit Käse überbackene Oberfläche drückte. Fast verschluckte ich mich an dem Saft, während ich das Besteck tiefer drängte aber nach einem Schlag gegen den Brustkorb war ich für die nächsten Bissen gewappnet und besagte Zeit verging, bis ich mich daran machte, die Massen an Geschirr zum Tresen zurückzubringen. Wie immer war Jerry entzückt von meiner Zufriedenheit.

„Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen.“

„Das freut mich.“ Seufzend stemmte er sich auf die Theke, stützte die Wange in die Handfläche und labte sich sichtlich an dieser heiteren Atmosphäre. „Ach, was ich dir noch sagen wollte. Wir sind dabei, die Winteruniformen zu entwerfen. Johnny liegt mir damit schon lange in den Ohren.“ Mit einem Nicken wies er auf meine Robe. „Wenn du demnächst Zeit hast, lass uns noch mal deine Maße nehmen. Spezielle Wünsche kannst du ja an Johnny richten und dann kümmern wir uns ganz schnell darum, dass du bald nicht mehr frieren musst.“
 

Wieder stieg ein Gähnen in mir höher und wie müde stützte ich mich auf das Waschbecken, hielt die Zahnbürste unter den rauschenden Wasserstrahl und versenkte sie im Mund. Die Bade- und Umkleideräume umgaben mich leblos und ruhig, als ich kurz darauf zu einer der Holzbänke schlürfte und mich auf sie sinken ließ.

Es zog mich immer stärker in die Richtung meines Bettes und meinen Bewegungen fehlte es an Zielstrebigkeit, als ich mich hinab neigte. Auf den Reißverschluss des Stiefels hatte ich es abgesehen und gemächlich begann ich die Zahnbürste im Mund zu bewegen, während ich mit der anderen Hand tastete. Fündig zu werden wurde immer schwerer und so brauchte ich eine ganze Weile, bis ich beide Füße ins Freie zog.

Entgegen der Müdigkeit sah ich mich dazu gezwungen, noch einmal im Onsen zu verschwinden und bequem putzte ich weiter, während ich mich aus der Uniform wand und mich an Ort und Stelle schälte.

Auch der Onsen erstreckte sich kurz darauf verlassen vor mir und die Augen trübe auf dieses herrliche Ziel gerichtet, zog ich das Handtuch hinter mir her. Als ich das Wasser erreichte, landete es auf den Holzdielen und dann sank ich wie ein Stein in dieses heiße Nass.

Schwerelos driftete mein Körper auf der Wasseroberfläche. Erst als ein tiefer Atem aus ihm strömte, driftete er tiefer. Kein Fleck blieb schutzlos in dieser geborgenen Hitze und lange gab ich mich dieser Abgeschiedenheit hin, bevor meine Füße den Grund des Onsen suchten. Kitzelnd glitten die Rinnsale über meinen Leib, als ich mich aufrichtete, die Nässe von meinen Wimpern blinzelte und mir das nasse Haar aus der Stirn strich.

Kurz darauf lehnte ich im seichten Wasser an einem Stein und streckte eines meiner Beine in die Höhe. Nachdenklich betrachtete ich mir meine Zehen und bewegte den Fuß. Ein Spannen im Oberschenkel erinnerte mich an die vergangenen Strapazen und kaum hatte ich die Beine überschlagen, da spürte ich das Gewicht des Golems auf meinem Schienbein. Er leistete mir Gesellschaft, schlug mit den Flügeln und umspielte meinen Unterschenkel mit seinem Schweif.

Er war nicht störend. Er war immer da, denn er wurde nicht müde, während mir die Lider schwer wurden und ich die Augen schloss. Manchmal wünschte ich mir, auch programmiert zu sein. Auf Stärke und Durchhaltevermögen. Es geschah zu oft, dass ich mir mehr abverlangte, als ich imstande war, zu tun.

Zu oft am Zweifeln, mich oft fragend, ob man es nicht besser hätte machen können.

Die Herausforderungen wurden nicht leichter und auch nicht weniger.

Ich begann mich zu regen, hob den linken Arm aus der wärmenden Umhüllung und streckte ihn von mir, um ihn mir zu betrachten. Er verschwamm vor meinen Augen, als würde er hier in der Realität verblassen.

Aber ich spürte sie noch, die Kälte auf meiner Haut, als das hinab perlende Wasser von einem leichten Zug erfasst wurde. So spreizte ich die Finger und tastete im Nichts.

Solange ich mich noch fühlte, war ich noch hier. Anderes zählte nicht.
 

Träge schob ich mich gegen die Tür und warf die Uniform nach dem Stuhl, sobald ich mein Zimmer betrat. Es war eine Weile her und ich begrüßte mein Reich mit einem müden Stöhnen, unter dem ich die Tür hinter mir schloss.

Von hier aus ging es nicht mehr weiter und wieder gab ich mich einem ausgiebigen Gähnen hin, bevor ich mich auf die Matratze sinken ließ. Beiläufig befreite ich die Füße aus den Stiefeln, da sank ich bereits zur Seite und das letzte, was ich sah, war der Schatten Timcanpy’s, der sich dunkel vor dem Fenster bewegte. Dann schloss ich die Augen, platzierte den Kopf auf dem Kissen und zog die Decke über mich.

Ein letztes Ächzen entrann mir, als ich spürte, wie schwer mein Körper augenblicklich wurde.

Eine Strähne glitt kitzelnd über meine Stirn und träge bewegte ich die Zehen auf dem Laken, rümpfte die Nase und verlor mich in den nächsten Atemzügen sowie den Sinn für die Realität. Ich glaubte noch den leichten Druck des Golems auf meiner Schulter wahrzunehmen, bevor die Dunkelheit um mich herum noch schwärzer wurde und ich das Gefühl der Matratze unter mir verlor.

Man schlief am besten, wenn man erschöpft war und außerstande, etwas anderes zu tun.

Man schlief tief, war blind und taub, bis die Realität zurück in die Wahrnehmung driftete und man den ersten, tiefen Atemzug in sich aufnahm. Ich behielt die Augen geschlossen, gähnte tief und tastete nach meinem Bauch, um ihn zu kratzen.

Diese Momente waren es, in denen ich am zufriedensten war. In denen mich nichts störte und ich über nichts nachdachte. Träge und noch immer vom Schlaf benommen blieb ich liegen, regte die Schulter und runzelte die Stirn unter dem Kitzeln einer langen Strähne, die durch eine Regung mein Gesicht streifte.

Tims Flügelschläge trieben milde Brisen zu mir und kaum senkte er sich hinab auf die Matratze, da streckte ich die Hand nach ihm aus und bettete sie auf seinem runden Körper.

Seine Flügel streiften meinen schwarzen Arm. Ich spürte es kaum, glaubte fast, es mir nur einzubilden.

Er war wie eine raue Hülle, die nicht geschaffen war für sachte Begegnungen.

Die zerstörte und nicht genoss.

Ich schloss die Finger um seinen Körper, bewegte und rollte ihn abwesend auf der Decke und es verging keine lange Zeit, da spürte ich seine Zähne an meinem Daumen und wie er nach mir schnappte. Reglos blieb ich liegen, ließ ihn auf meinem Finger kauen und setzte bald zu einem weiteren Gähnen an.

Durch die geschlossenen Lider erblickten meine Augen die rötlichen Farben. Die Vorboten, dass der Tag bereits angebrochen war und irgendwann schenkte ich ihm Beachtung. Über Tim hinweg blickte ich in mein Zimmer. Es war ein sonniger Tag im späten Herbst. Hell fiel das Sonnenlicht durch mein Fenster und ließ mich die vertraute Umgebung das erste Mal wirklich erkennen.

Hatte ich diesen Raum wirklich so säuberlich verlassen?

Alles war an Ort und Stelle, abzüglich meiner Kleidung, die den Stuhl um Längen verfehlt hatte. Unter einem tiefen Atemzug ließ ich von Tim ab, rieb mir das Gesicht und hielt nach meiner Decke Ausschau. Sie war hinab gerutscht, träge begann ich mit den Zehen nach ihr zu tasten, doch ein Klopfen an meiner Tür unterbrach das Vorhaben.

Nur kurz versuchte ich mich zu organisieren und Prioritäten abzuwägen. Meine Sinne waren schlaftrunken, waren langsam und so ließ ich mich vom Offensichtlichen leiten und kam auf die Beine. Einen Schritt tat ich, bevor ich mich an die Decke erinnerte. Meinem Fuß noch treu, brachte sie mich fast zu Fall. Ich stolperte, befreite mich von ihr, bekam dann die Klinke zu fassen und blinzelte unter der Zugluft, die mir aus dem Flur entgegen zog.

„Guten Morgen!“ Grinsend neigte sich mir Johnny entgegen. Hinter ihm stand ein Wissenschaftler, der vertieft in einem kleinen Büchlein blätterte und über etwas zu grübeln schien. Hinter seinem Ohr klemmte ein Bleistift und Naserümpfend tastete er nach ihm.

„Guten Morgen.“ Johnnys morgendlicher Leidenschaft war ich nicht gewachsen. Auch meine Stimme verlor schmählich gegen ihn, während ich mich in den Türrahmen lehnte. „Was gibt`s?“

„Komui hat uns geschickt“, verriet er mir. „In einer Stunde findet im Speiseraum eine Besprechung statt, an der du teilnehmen solltest.“

„Besprechung.“ Es kam überraschend und sofort erinnerte ich mich an den vergangenen Abend.

River deutete es an und bevor ich mich versah, wurde mir das Resultat offenbart?

Stirnrunzelnd rieb ich mir die Wange. Noch immer standen wir dort, meine Besucher schienen es nicht eilig zu haben und ich brauchte eine Weile, um es zu realisieren.

Die Kapazität meines müden Verstandes war längst ausgeschöpft durch die Nachricht.

„Und ihr habt den Weg auf euch genommen, um mir das zu sagen?“

„Es traf sich einfach gut.“

„Was traf sich?“

„Allen?“ Mit demselben Grinsen neigte sich Johnny näher, ließ mich den Kopf schief legen und etwas befürchten. Er heckte etwas aus und wirklich, es war die pure Entschlossenheit, die in seinen Augen aufblitzte. „Hast du Zeit?“

„Wofür denn?“

Eigentlich nicht, denn letztendlich würde die Stunde kaum für ein ausgewogenes Frühstück reichen. Duschen musste ich auch, doch bevor ich mich versah, flatterte das Maßband auf. Mit einem Mal zog er es hervor und der Mann hinter ihm begann wieder zu blättern.

Ach ja, die Uniform.

„Bitte!“ Johnny presste das Band, sank flehend vor mir zusammen. „Du wirst sehen. Heute ist es schon um einiges kälter und wenn wir die Maße von euch nicht bald nehmen, dann holt ihr euch eine Erkältung nach der anderen!“

„Erkältung?“ Perplex kam ich nicht um ein Grinsen.

Ja, Erkältungsgefahr. Die einzig wahre Bedrohung, sobald wir das Hauptquartier verließen.

Johnny besaß den Überraschungsmoment, ich nur meine Müdigkeit und bevor ich mich versah, stand ich im Flur. Ich ließ an mir drehen und rücken und wurde mit Adleraugen studiert. Der Mann mit dem Buch war es, der mich anstarrte, während das Band um meinen Körper gezurrt und ich von oben bis unten vermessen wurde. Nur beiläufig vernahm ich Johnnys Stimme, als er die Maße weitergab und sofort zu Papier bringen ließ.

Was hatte sich hier getan, während ich unterwegs war?

Ich hob das Kinn, als sich das Band um meinen Hals schlang.

Worüber hatte man so immens nachgedacht, dass man es jetzt in großer Runde besprechen wollte?

„So.“ Konzentriert biss sich Johnny auf die Unterlippe, als er sich vor mich hockte und das Band um meinen Bauch legte. „Und so macht man das.“ Schon wurde es festgezurrt und wie weinerlich dachte ich an mein Frühstück.

„Bisher haben wir fast alle vermessen. Ihr müsstet also“, das Band rutschte ihm aus den Fingern und kurz fitzte er daran herum, „höchsten fünf Tage warten. Wir arbeiten im Akkord!“

Kurz und skeptisch lächelte ich ihm zu. Wenn ich die nächste Mission ohnehin noch schlotternd hinter mich zu bringen hatte, hätte all das auch noch warten können. Meine Nase juckte und endlich konnte ich die Arme sinken lassen und mich kratzen. Johnny verschwand hinter mir und abrupt erfassten meine Augen eine Bewegung auf der anderen Seite des Treppenhauses.

Die Schritte hatte ich bereits gehört und ich war Kanda mit meiner Aufmerksamkeit kaum voraus, da starrte er schon zu uns rüber. Flüchtig hafteten unsere Blicke aneinander und irgendwie konnte ich es mir nicht nehmen lassen, ihm herzlich zuzuwinken.

Seine Kleidung wies nicht nur darauf hin, dass er trainierte, während ich schlief, sondern auch darauf, dass er sich nicht vor Erkältungen fürchtete. Ich fror schon bei dem Anblick. Ein kalter Schauer kroch über meinen Rücken und das nicht wegen seiner Reaktion auf meinen Morgengruß. In raschen Schritten ging er weiter und wendete sein Schwert in die andere Hand, um nach der Klinke seiner Tür zu greifen.

„Kanda?“ Plötzlich sprang Johnny hinter mir hervor und ebenso rasch zurrte sich das Maßband um meinen Oberarm. „Warte!“

Er reckte den Arm, winkte nach ihm und nur widerwillig hielt Kanda inne und schickte uns einen weiteren dieser Blicke, die selbst dem schönsten Morgen den Reiz nahmen. Unauffällig zupfte ich an dem Band, lockerte es etwas.

„Hast du einen Moment?“ Abrupt wurde am Band gezerrt und sofort rutschte ich mit den Fingern ab. „Wir brauchen deine Maße!“

„Was willst du vermessen?“, erhob sich die andere Stimme gänzlich abgeneigt. „Hat sich nichts verändert.“

„Aber deine besonderen Wünsche!“, protestierte Johnny.

„Jetzt nicht.“

Andächtig lauschte ich dem Geräusch, als sich die Tür hinter ihm schloss.

Neben mir sank Johnny unter einem Seufzen in sich zusammen.

Diese Direktheit, mit der Kanda Probleme löste, war beneidenswert. Vermutlich wäre ich dem Frühstück um ein ganzes Stück näher, wäre ich ihm in dieser Hinsicht ähnlicher. Das Wesentliche war immer noch am verständlichsten, wenn man sich gekonnt kurz fasste.

Er hatte keine Lust oder anderes vor. Mir ging es nicht anders aber im Gegensatz zu ihm stand ich jetzt hier.

Resigniert rümpfte ich die Nase.
 

-tbc-



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