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Zodiac

von

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Schmerzhafter Verrat

Herbst 2015, le village de étoiles
 

Selest Peterson

Letztendlich habe ich mich für Arashi entschieden. Viel Zeit hatte ich aber auch nicht gehabt, ich musste mich schnell zwischen ihm und Kira entscheiden. Und da Arashi schon recht schwer verletzt war und Antoniella damit drohte ihm weitere Schmerzen zufügen zu lassen, viel meine Entscheidung halt auf ihn.

Ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, dass er meinetwegen weiter leiden muss. Dafür ist er mir mittlerweile viel zu sehr ans Herz gewachsen, auch wenn er mir öfters auf die Nerven geht. Ich hoffe nur, dass es Kira gut geht und sie wenigstens durch meinen Schutzzauber vor Antoniella sicher ist. Denn auch sie möchte ich nicht wirklich als Freundin verlieren. Außerdem hat sie so schon genug durchmachen müssen. Genauso viel wie ich.

Ich lehne mit meinem Rücken an der kalten Steinmauer unserer Zelle und streiche gedankenverloren mit einer Hand über Arashis Kopf, der in meinem Schoß gebettet ist. Dabei habe ich meine Augen geschlossen. Und während ich hier so sitze, muss ich an ein ganz bestimmtes Bild denken, was mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Und das hat mit Derek zutun. Nachdem ich nämlich Antoniella verraten habe wo sie Kira finden kann, hat sie Arashi und mich, von diesem verdammten Flohtaxi nach unten in ihren Keller bringen lassen. Und kaum das Derek wieder gegangen ist, schaute er mich mit einem merkwürdigen Blick an. Und genau dieser Blick, lässt mich nicht mehr los.

Derek sah mich an, als würde er all das, was er Arashi angetan hat und auch dass er uns nach unten in Antoniellas private Gefängniszelle bringen sollte, nicht gerne macht. Und jetzt frage ich mich natürlich, ob ich mir das nicht vielleicht nur eingebildet habe. Das ich einfach nur nicht wahrhaben will, dass Derek zu sowas imstande ist und uns so verrät. Denn auch wenn er meistens miesgelaunt und recht Wortkarg war, so war ich immer der Meinung, dass sein Herz am richtigen Fleckchen säße. Wieso zum Teufel also, hat er uns verraten?

„Worüber denkst du jetzt schon wieder nach, Selest?“ Arashis Stimme ist hauchdünn, was vermutlich daran liegt, dass es ihm immer noch nicht besser geht. „Und sag jetzt bitte nicht an nichts, denn das kaufe ich dir nicht ab. Du denkst unentwegt an irgendwelche Sachen.“

Ich öffne meine Augen und kann erkennen, dass Arashi zu mir aufschaut. Ich höre mit meinen Streicheleinheiten auf, woraufhin ich ein brummen von ihm ernte.

„Ich muss irgendwie an Derek denken“, sage ich dann mit brüchiger Stimme. „Oder besser gesagt an seinem Blick, mit dem er mich bedacht hatte, kurz nachdem er uns hier einsperrte. Irgendwie wirkte er, als würde er gegen seinen Willen handeln.“ Ich seufze und beginne wieder damit durch Arashis Haare zu streichen. „Ich habe mir das doch bestimmt nur eingebildet, oder? Ich meine, als wir oben in Vanessas Zimmer waren und er dich gebissen hatte, da kam es mir so vor, als wenn er sich darüber freut, dich angreifen zu dürfen.“

„Das Gefühl hatte ich auch“, ächzt er und erhebt sich vorsichtig. Arashi lehnt sich neben mich an die Wand an, was zur Folge hat, dass meine Hand von seinem Kopf rutscht. „Doch wer weiß, vielleicht hast du recht und Derek tut das alles nicht freiwillig. Ich kenne ihn schließlich schon länger als du und bisher war er immer jemand, der sich für die Schwachen eingesetzt hatte. Er ist durch und durch ein Mann der Ehre. Und das er jemandem tritt der schon am Boden liegt, passt einfach nicht zu ihm.“

„Und warum hilft er dann Antoniella? Doch wohl nicht weil sie seine Hohepriesterin ist und er ihr gehorchen muss, oder? Er ist doch ein freier Mann.“ Irgendwie ergibt das alles keinen Sinn. Oder zumindest erschließt sich mir keiner.

Ich reibe mir die Oberarme und klappere etwas mit den Zähnen. In unserer Zelle ist es eiskalt, dreckig, modrig – einfach nur verdammt ungemütlich. Ach, und Dunkel ist es auch noch. Und ich mag keine Dunkelheit.

Ich dränge mich dichter an Arashi an, der augenblicklich einen Arm um meinen Oberkörper schlingt und mich zusätzlich so noch dichter an sich zieht. Er spendet mir wärme, von der er mehr als genug hat. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter ab und spüre ganz deutlich, wie die Kälte meinen Körper verlässt.

„Ob es Kira gut geht?“, frage ich schließlich und schließe erschöpft meine Augen. „Ich frage mich echt, was Antoniella von ihr will… und auch, wozu sie das Buch der Erinnerungen braucht. Vanessa sagte ja das sie es nicht benutzen kann.“

Ich ärgere mich immer noch, dass es Antoniella gelungen ist mir das Buch abzunehmen, kurz nachdem ich Kira an sie verraten hatte. Sie riss es mir regelrecht aus den Händen.

„Ich weiß nicht warum sie hinter dem Buch her war, aber was ich weiß ist, dass du dir um Kira erst einmal keine Gedanken machen musst. Antoniella hat sie schon immer wie ein rohes Ei behandelt. Außerdem braucht sie Kira.“

„Ich weiß. Aber das muss dennoch nichts zu bedeuten haben“, sage ich. „Mich braucht sie ja auch noch – oder besser sie will mich wegen meiner Zodiac-Magie – und jetzt siehe nur wo ich bin“, füge ich dem noch hinzu.

„Ja. Aber du bist auch nicht ihre Ziehtochter. Glaube mir, Antoniella hat einen Narren an Kira gefressen.“

„Na wenn du meinst“, seufze ich.

Ich öffne meine Augen erneut und stelle mich dann vorsichtig auf. Glücklicherweise bin ich nur 1,69m groß. Denn wenn ich auch nur vier Zentimeter größer wäre, so wie Arashi, dann könnte ich hier unten nicht mehr aufrecht stehen. Unsere Zelle ist aber auch sowas von klein.

„Wir müssen hier weg“, sage ich bestimmend und sehe mich um. Leider kann ich wegen der Dunkelheit nicht viel erkennen. Doch davon werde ich mich nicht aufhalten lassen. Ich will hier immerhin weg sein, falls Antoniella wieder zurückkommt und das wird sie mit Sicherheit tun.

Wer weiß was die olle Hexe mit Arashi vorhat. Und wie genau sie sich meine Zodiac-Macht unter den Nagel reißen will.

„Ich glaube kaum dass das so einfach werden wird. Antoniella überlässt nichts dem Zufall.“

„Du kannst gerne hier bleiben“, kontere ich. Als wenn es mich interessiert ob es einfach wird. Schließlich wird im Leben auch niemandem etwas geschenkt. Wenn man etwas will, dann muss man dafür kämpfen. Und genau das werde ich machen. „Glaubst du Kira wusste wie man Feuer macht?“, frage ich und reibe mir erneut die kalten Oberarme. Dann könnte ich mich ein wenig am Feuer aufwärmen und auf der anderen Seite, würden wir dann auch endlich mal was sehen. Hier unten ist es echt stockdunkel.

Arashi hat mir noch keine Antwort auf meine Frage gegeben und falls er das doch noch tun wird, so hoffe ich, dass er sich wenigstens in unserer jetzigen Situation, einen seiner so gern benutzten dämlichen Kommentare erspart. Und ich möchte auch nicht, dass er mir angeberisch erklärt, dass ich ja mit Kira verbunden bin. Denn das weiß ich selber. Ich will einfach nur von ihm wissen ob es überhaupt Sinn ergibt, in Kiras Gedanken nach einem Feuerzauber oder so zu suchen.

„Einfacher wäre es wenn du bereits über deine Magie verfügen würdest“, sagt er. „Phönix-Hexen sind nämlich so etwas wie Experten, wenn es darum geht ein Feuer entstehen zu lassen.“

Wow! Ich fasse es nicht. Er verzichtet tatsächlich auf einen überflüssigen Kommentar. Das ist ungewöhnlich. Ich schiele kurz in seine Richtung. Doch statt ihn darauf anzusprechen, entscheide ich mich lieber dafür, auf sein gesagten einzugehen.

„Hm. Wie schade das heute nicht schon Valentinstag ist“, murmle ich. „Dann wäre das kein Problem.“ Dann wäre dieser dämliche Zauber meines Vaters nämlich futsch und ich könnte endlich meine Zirkelmagie benutzen – oder zumindest erst einmal anfangen sie zu erlernen.

„Du hast am 14. Februar Geburtstag?“ Ich höre Unglauben aus Arashis Stimme heraus. Genervt rolle ich mit den Augen.

„Ist das etwa ein Problem für dich?“, will ich wissen. Als wenn es ein Verbrechen wäre an diesem Tag Geburtstag zu haben. „Wann hast du eigentlich?“ Über so etwas Banales haben wir noch gar nicht gesprochen.

„Heute!“

„Echt?“ Ich pflanze mich wieder neben ihn hin und schaue Arashi an. Auf ein Nicken seinerseits antworte ich nur:

„Na dann. Alles Gute zum Geburtstag, altes Haus. Und wie alt ist der Herr geworden?“ Ich bin ja gar nicht neugierig.

„Ich bin stolze 105 Jahre alt“, sagt er. Und so wie er klingt, ist er stolz auf sein Alter.

Ich lasse einen leisen Pfiff los.

„Respekt.“ Das muss man erst einmal hinbekommen. An seinem eigenen Geburtstag in so einem Loch festzustecken. Das nenne ich mal einen wahrlich miesen Geburtstag. „Bereust du es schon, mit mir hierhergekommen zu sein?“

„Es hätte mich schlimmer treffen können. Wenigstens ist die Gesellschaft angenehm. Doch um jetzt auf das Feuer machen zurückzukommen“, sagt er. „Kira konnte es auch recht gut. Als sie noch klein war, ist es ihr mehr als einmal passiert, dass sie eines ausversehen entfacht hat. Meistens passierte es wenn sie sauer war. Oder aber sie hat ein Tornado verursacht.“

Ist ja krass.

Doch irgendwo auch gefährlich würde ich meinen. Aber ich schätze das Arashi nicht umsonst erwähnt hat das es passierte als Kira noch klein war. Jetzt kann sie ihre Kräfte bestimmt besser kontrollieren… Meine Gedanken machen eine kleine Pause… konnte, meine ich.

Ein Seufzer entfährt mir, als ich erneut an Kira denke und daran, das Antoniella sie vermutlich schon gefunden hat. Hoffentlich hat die alte Hexe mich nicht angelogen, als sie meinte, dass sie ihr nichts tun will.

Sachte dreht Arashi mein Gesicht näher zu sich. Liebevoll blickt er mir in die Augen.

„Mach dir keine Sorgen, Selest. Kira geht es gut. Du wüsstest es wenn es nicht so wäre. Genauso wie ich.“

„Weil wir noch miteinander verbunden sind?“

„Ja.“

Von einen auf den anderen Moment wird Arashis Blick ganz traurig. Und ich weiß ganz genau was er gerade denkt und mir gleich sagen wird. Doch er irrt sich.

„Nein!“, rufe ich empört, als Arashi den Mund aufmachen will und komme ihm so zuvor. „Ich werde uns auf keinen Fall trennen. Wahrscheinlich ist diese Verbundenheit sogar das Einzige, was Kira und auch mich schützt. Und auch das du mit uns beiden verbunden bist ist…“ Ich mache eine kleine Pause, als mir ein Gedanke kommt. Wieso ist mir das bloß nicht schon vor Stunden eingefallen. Das hätte Arashi einiges an Schmerzen ersparen können. „Das können wir gegen Antoniella verwenden“, rufe ich hellauf begeistert. „Sie wird dir nicht mehr wehtun, wenn sie erst erfährt, dass alles was dir schadet, auch Kira schadet. Das wäre doch ein super Test, oder? Ich meine, wenn sie dir was tut dann wissen wir, dass es ihr egal ist ob Kira auch was abbekommt.“

„Deine Idee ist eigentlich nicht schlecht, doch wird das so leider nicht funktionieren“, unterbricht mich Arashi. „Denn solange Kira durch Antoniellas Taten nicht getötet wird, wird es ihr egal sein was mit ihr passiert, solange sie nur das bekommt was sie will.“

„Aber Antoniella sagte doch das sie Kira nichts tun will. Und du sagtest auch das…“

„Nein-nein. Sie will sie nicht töten. Und das ist ein unterschied, meine Liebe. Außerdem kann Antoniella – auch wenn nicht so gut wie deine Tante – jede nicht tödliche Verletzung heilen.“

Verdammt.

Dann können wir uns darauf wohl doch nicht verlassen. Und ich dachte schon wir hätten wenigstens einen Trumpf in der Hand. So ein Pech aber auch.

Das heißt dann aber auch, dass wir uns erstrecht darauf konzentrieren müssen, so schnell wie nur möglichst, von hier zu verschwinden. Immerhin will ich nicht daran schuld sein, das Kira und Arashi leiden müssen, nur weil Antoniella keinen anderen Weg sieht als über die beiden an mich, und damit auch an ihre Ziele zu kommen.

Ich befühle den Boden unserer Zelle. Vielleicht finde ich ja irgendetwas das uns…

„Ha“, rufe ich und halte mein Fundstück in die Höhe. Es ist ein abgebrochener Zweig, zumindest fühlt es sich so an.

„Was hast du damit vor?“

„Ich brauche etwas womit ich ein Feuer entfachen kann“, erwidere ich und schließe meine Augen. Es wird mal wieder Zeit das ich mir erneut Kiras Wissen über die Magie zu nutzen mache.

Ich hole einmal tief Luft und konzentriere mich während ich ausatme. Dann warte ich auf einen passenden Geistesblitz.

Es vergeht eine Minute. Dann eine weitere… und schließlich sind es sogar fünf Minuten, doch nichts passiert.

Merkwürdig.

Gefrustet öffne ich meine Augen und verziehe leicht den Mund, dann schmeiße ich den Zweig wütend zur Seite.

„Es funktioniert nicht“, sage ich frustriert. „Ich finde einfach keinen Zugang zu Kiras Magie.“

„Das ist merkwürdig“, wispert Arashi.

Ich kratze mich am Hinterkopf, als mir mal wieder ein Geistesblitz kommt – das mir die aber auch nicht früher einfallen können.

„Sag mal Arashi. Meine Tante hat doch Kira ihre Magie genommen, richtig?“ Ich warte keine Antwort ab, sondern, rede einfach weiter. „Wie kann es da eigentlich sein dass ich Kiras Magie nutzen kann? Das müsste doch eigentlich nicht möglich sein.“

Was es im Moment auch nicht ist.

„Das ist ganz einfach zu erklären, Selest. Seit Kira ihre Magie nicht mehr hat, hast du nicht darauf, sondern auf ihr Wissen zugegriffen. Denn auch wenn eine Hexe oder ein Hexenmeister keinen Zugriff mehr zur Magie hat, so ist deren Wissen darüber, dennoch vorhanden.“

Das ergibt Sinn, doch wieso kann ich dann nicht mehr auf ihr Wissen zugreifen? Bei Julian zu Hause und oben in Antoniellas Bibliothek hat es noch funktioniert. Also muss irgendwas in der Zeit danach passiert sein.

Oh nein!

„Kira!“, rufe ich erschrocken und drehe mich ängstlich zu Arashi um. „Glaubst du…“ Ich kann diesen Gedanken das ihr was passiert ist, einfach nicht aussprechen.

„Nur keine Sorge… Obwohl, wenn du wirklich keinen Zugriff mehr zu ihrem Wissen hast, dann kann das nur eines von drei möglichen Ursachen haben.“

„Und was für welche? Es ist doch hoffentlich nichts allzu schlimmes.“

„Wie man es nimmt“, druckst er herum und zögert so die Wahrheit aus irgendeinem Grund heraus. Ungeduldig schabe ich mit meinen Füßen auf dem staubigen Boden entlang und wirble etwas Staub auf. „Grund Nummer 1 könnte der sein, dass sie von einem verdammt mächtigen Schutzschild umgeben ist, der keine andere Magie durchlässt. Und wenn wir Glück haben – oder besser gesagt wenn Kira Glück hat, dann ist das, doch das glaube ich ehrlich gesagt nicht. Viel mehr glaube ich, dass sich Kira aus irgendeinem Grund in der Anderwelt befindet.“ Er lässt seine Faust auf den dreckigen Boden niedersausen. „Verdammt, Antoniella!“

Ängstlich sehe ich zu ihm.

„Was ist denn die Anderwelt?“, will ich wissen, auch wenn mir die Antwort jetzt schon nicht gefallen will. Immerhin spricht Arashis Reaktion Bände.

So sauer habe ich ihn noch nie erlebt.

„Die Anderwelt ist eine Paralleldimension zu der unseren. Und leider ist es auch, seit mehr als 50 Jahren, die Heimat einer der gefährlichsten Hexenjägerfamilien. Das sie ausgerechnet mit dem Kynigós Clan zusammenarbeitet… Was denkt sie sich nur dabei.“

Jetzt gibt es also auch noch Hexenjäger, denke ich. Als wenn Vampire, Loup-Garou und Wolfsmenschen nicht schon schlimm genug wären. Apropos Wolfsmenschen.

„Ich weiß jetzt übrigens wer die Unbekannte aus meiner Traumreise ist“, sage ich und suche mal wieder Augenkontakt mit Arashi. Bei all meiner Sorge um den Vampir und auch um Kira, hätte ich das Wichtigste beinahe vergessen zu erwähnen.

Erwartungsvoll sieht Arashi mich an.

„Wer?“

„Du wirst es mir nicht glauben, aber es ist Antoniella.“ Und ich hatte Recht, er glaubt es mir nicht. Mit großen Augen sieht er mich an. „Ja! Du hast richtig gehört.“

„Bist du dir sicher?“

„Ja! Ich habe sie an ihrer Stimme erkannt. Oder besser gesagt daran, wie sie das Wort Macht ausgesprochen hatte. Was mich aber verwundert hat ist die Tatsache, dass es eine vollkommen andere Stimmfarbe als ihre eigentlich war. Kann sowas überhaupt vorkommen?“

„Ich gehe mal nicht davon aus, dass Antoniella in der Lage ist ihre Stimme so zu verändern, wie es beispielsweise Komödianten können. Also wird sie wohl eine weitere Persönlichkeit besitzen. Was dann allerdings auch bedeuten würde, dass irgendwer Antoniellas Körper besetzt hat. Du musst wissen, den Körper einer anderen Hexe zu besessen ist eine selten praktizierte Kunst und nicht wirklich zu empfehlen. So etwas zu tun, erfordert den Einsatz von sehr viel Magie. Außerdem kann es passieren, dass man sich selber mit diesem verbotenen Zauber vernichtet. Denn je nachdem wer stärker ist, nach und nach, verschwindet eine der beiden Seelen für immer.“

Huhu. Das jagt mir einen Schauer über den Rücken.

„Ähm, willst du damit sagen, dass Antoniella vermutlich gar nicht mehr Antoniella ist…, sondern wer anderes?“

„Im schlimmsten Falle? Ja! Das kann es bedeuten.“

„Also wissen wir doch nicht wer wirklich hinter mir her ist. Großartig.“ Frustriert brumme ich vor mich hin. „Und wer kann deiner Meinung nach ihren Körper übernommen haben?“

„Keine Ahnung. Zumindest erklärt das aber einiges“, flüstert Arashi in seinen nicht vorhandenen Bart. „Schon vor dem Krieg vor 17 Jahren kam es immer mal wieder vor, dass sie binnen Sekunden wie ausgewechselt war. Es passierte immer häufiger bis…“ Er macht eine Pause.

„Bis was?“, frage ich nach. Arashi umklammert sein Kinn und denkt kurz nach.

„Nun ja… bis sie Kira schließlich bei sich aufnahm“, erklärt er. „Von da an benahm sie sich wieder ganz wie die Alte.“

Hm. Schon merkwürdig.

Ich weiß auch nicht, aber je mehr ich von Antoniella – oder der Person die in ihr steckt – erfahre, umso unsympathischer wird sie mir. Und nur der Gedanke daran, von der Frau großgezogen wurden zu sein, jagt mir eine weitere Gänsehaut über den Rücken.
 


 

Herbst 2015, le village de étoiles
 

Kira Vaillant

Ich bin mehr als überrascht Antoniella hier zu sehen. Sie trat eben zusammen mit Derek und Xander aus einem schwarzen Portal heraus und starrt nun auf Julian und mich herab. Böse betrachtet sie uns, die wir immer noch am Boden vor der Eingangstür der Wohnung sitzen.

Sobald der erste Schock überwunden ist, stehe ich abrupt auf und renne zu meine Ziehmutter. Ich kralle mich in ihrem schwarzen Overall fest.

„Wieso hast du das getan?“, schreie ich sie an. „Wieso hast du mir meine Magie nehmen lassen?“ Wer sonst außer ihr, sollte das veranlasst haben.

Antoniella sieht mich mit starrer Miene an und nimmt dann sachte meine Hände zwischen ihre.

„Das ist alles zu deinem Besten, Kira“, erwidert sie ganz ohne Emotionen in der Stimme. „Ich beschütze dich nur vor dir selbst. Immerhin hast du deine Kräfte nicht wirklich mehr unter Kontrolle. Dein kleiner Ausbruch vor ein paar Tagen hat das bestens bewiesen.“

Antoniella schiebt mich zu Derek, der mich sofort am Oberarm packt und festhält. Meinen wütenden Blick ignoriert er. Er schaut mich nicht mal an. Also wende ich auch meinen Blick von ihm an und sehe wieder zu Antoniella zurück. Sie schreitet mit selbstsicheren Schritten auf Julian zu, der an seiner Tür angelehnt steht und sich nicht rührt. Seelenruhig steht er da und wartet darauf das Antoniella zu ihm kommt. Kurz vor ihm bleibt sie stehen und mustert ihn feindselig, von oben bis unten.

„Was mache ich nur mit dir“, zischt sie ihm bedrohlich entgegen. „Von Ioan habe ich erfahren dass du Mut besitzt. Dass du einen seiner Vampire angegriffen hast und er dich wahrlich gerne in seinen Reihen hätte, aber…“ Antoniella dreht ihren Kopf in meine Richtung. „Du hättest ihn nicht mit in Selest kleine Wahrheitsfindung mit reinziehen dürfen, Liebes. Das war ein großer Fehler.“

Antoniellas Blick bohrt sich in den meinen. Ihrer verfinstert sich bedrohlich und mit einem boshaften Lächeln, wendet sie sich wieder voll und ganz Julian zu.

Diesen Blick habe ich schon einmal bei ihr gesehen. Das ist allerdings schon 10 Jahre her. Damals haben Eileen und ich hinter der Villa gespielt, als wir plötzlich von einem jungen Hexenjäger angegriffen wurden. Er wollte uns töten, doch glücklicherweise hat Antoniella das mitbekommen und kam uns zu Hilfe. Sie stellte sich vor uns und sah den menschlichen Hexenjäger mit genau diesem wahnsinnigen Blick an, mit dem sie jetzt auch Julian bedenkt. Und dieser Blick von ihr versprach damals schon endlose Qualen, denn nicht mal eine Sekunde später, verbrannte sie den Hexenjäger bei lebendigen Leibe und erfreute sich regelrecht an dessen Schreie.

„Das darfst du nicht machen“, schreie ich Antoniella entgegen und versuche mich aus Dereks Griff zu befreien, doch es ist zwecklos. Er lässt nicht locker. „Xander“, versuche ich mein Glück nun bei ihm. Antoniella reagiert ja nicht auf mich. „Ich bitte dich. Halte sie auf.“ Doch auch er rührt sich nicht und steht bloß stocksteif da. Was ist nur los mit ihnen? Beide Loup-Garou verhalten sich so vollkommen untypisch.

„Tut mir leid, Kira, aber es muss leider sein“, sagt Antoniella und streckt ihre Hände seitlich aus, mit den Handflächen nach oben. Erste Flammen bilden sich in ihnen.

Gleich wird es so weit sein, denke ich. Erneut versuche ich mich aus Dereks Griff zu lösen.

„Verdammt Julian. Hau endlich ab“, schreie ich ihm entgegen. Sieht er denn nicht, dass er hier in Gefahr ist?

Scheinbar kennt der Kerl wirklich keinerlei Angst. Er reagiert nicht einmal auf die bedrohlich wirkenden Flammen, die immer größer werden und den gesamten Raum aufheizen.

Es wird nicht mehr lange dauern und Julian wird von den Phönix-Flammen verschluckt werden. Wenn ich doch nur meine Magie noch hätte. Dann könnte ich es problemlos mit Antoniella aufnehmen. Zwar ist sie eine Hohepriesterin, doch wenn ich wütend genug bin – und das bin ich – dann hat noch nicht einmal so ein mächtiges Zirkeloberhaupt wie sie es ist, eine Chance gegen mich – oder gegen Selest, doch auch die ist leider nicht hier. Wo sie wohl steckt?

Jahrelang habe ich meine angeborene Zirkelmagie trainiert, habe sämtliche Bücher über die Wicca-Hexen durchgelesen die ich finden konnte und habe alles ausprobiert, was dort drin stand. Natürlich immer nur dann, wenn keiner in der Villa war, allen voran Antoniella nicht, da ich ganz genau wusste das sie mein Selbststudium nicht gutheißen würde. Sie wollte schließlich nie dass ich mich mit meinem Zirkel auseinandersetze und jetzt weiß ich auch wieso. Weil sie tief in ihrem Inneren Angst hatte – Angst, dass ich sie eines Tages übertreffen könnte.

Ich habe lange an mir selbst gearbeitet. Habe bis spät in die Nacht damit verbracht besser zu werden, bis es mir schließlich gelang meine Magie zu kontrollieren. Nur manchmal, wenn ich mehr als traurig, wütend oder unsicher war, brach meine Magie unkontrolliert aus mir heraus. So auch vor wenigen Tagen, als ich von Selest die angebliche Wahrheit über meine Eltern erfuhr.

Wenn ich nämlich all das zusammennehme und auch die Tatsache, dass meine Ziehmutter mir gestern Nacht klamm und heimlich meine Magie nahm, dann kommt der Gedanke in mir auf, dass Antoniella vielleicht doch von meinem Training erfuhr. Das würde dann auch erklären, warum sie nicht böse oder gar entsetzt darüber war, als ich ihr vor drei Jahren sagte, dass ich meine Magie nicht mehr anwenden werde.

Doch wieso sollte sie glauben dass ich sie übertreffen will oder mich gar gegen sie stelle? Ich verstehe das nicht. Habe ich ihr jemals einen Grund zu dieser Sorge gegeben? Ich glaube nicht.

Doch das sollte erst einmal nicht weiter meine Gedanken beherrschen. Vielmehr sollte ich mich darauf konzentrieren sie aufzuhalten, damit sie Julian nicht tötet.

„Komm zur Vernunft, Antoniella. Das kannst du nicht tun“, bitte ich sie. Doch scheinbar hört sie mich nicht.

Die Phönix-Flammen haben sie vollständig umhüllt und tanzen ruhig um ihre Herrin herum. Glücklicherweise hat sie sie noch nicht auf Julian gehetzt. Es besteht also doch noch Hoffnung für ihn, auch wenn sie hauchdünn zu sein scheint. Dann, ganz plötzlich, werden die Flammen unruhiger und es sieht fast so aus, als würden sie mit Julian spielen. Als würden sie nur darauf lauern, ihn endlich verbrennen zu dürfen.

Ich kann es kaum glauben, denn normalerweise sind die Phönix-Flammen das Symbol des Phönix-Zirkels – und dazu da, die Phönix-Hexen zu verteidigen und sie zu beschützen. Für einen solch offen angelegten Angriff sind sie nicht bekannt.

Ein weiteres Mal noch versuche ich mich aus Dereks Griff zu befreien und sammle all meine verbliebenen Kraftreserven zusammen. Und tatsächlich… ich schaffe es mich loszureißen, und das scheinbar im richtigen Moment, denn die Flammen vollführen noch einen letzten Tanz um Antoniella herum. Dann greifen sie auf Julian über.

Todesmutig springe ich dazwischen.
 

Unter Schmerzen öffne ich meine Augen und versuche mich langsam zu orientieren. Mein Blick ist total verschleiert und ich kann nicht wirklich was erkennen.

Ich weiß noch dass ich mich vor Julian gestellt habe und somit die Flammen mich und nicht ihn berührt haben. Doch was ist danach passiert? Hat Antoniella sie vielleicht zurückgerufen? Oder bin ich gar tot?

Um Gewissheit zu bekommen was passiert ist, hole ich erst einmal kräftig Luft und kneife meine Augen mehrmals zusammen. Ich versuche so einen klaren Blick zu bekommen. Und kaum das ich endlich was erkennen kann, traue ich meinen Augen nicht.

Julian hockt neben mir und weißes Licht umhüllt meinen Körper.

Er heilt mich.

Wieso kann er das?

„Was?“, bringe ich trotz seiner Heilung quälend und unter Schmerzen hervor. Julian öffnet seine Augen und lächelt mich traurig an.

„Das hättest du nicht tun sollen, Kira“, sagt er mit gequälter Stimme. Dabei könnte er ruhig etwas dankbarer sein, immerhin habe ich ihm das Leben gerettet.

Ich dränge meine Gedanken rund um Julian zur Seite und denke lieber erst einmal nicht darüber nach, wieso er heilen kann. Sachte drehe ich meinen Kopf von der einen zur anderen Seite.

Derek und Xander liegen beide – in ihrer Wolfsform – an der Stelle, wo sie bis vor kurzem noch gestanden haben. So wie es aussieht, hat irgendwas sie dazu gebracht, sich verwandeln zu müssen. Was ist nur vorgefallen während ich weg war. Und wo steckt überhaupt Antoniella?

Ich sehe mich weiter um und kaum das ich meine Ziehmutter gefunden habe, höre ich auch schon eine mir bekannte und gleichzeitig verhasste Stimme. Es ist die von…

„Was hast du dir nur dabei gedacht, dich ohne deine Magie vor die todbringenden Flammen zu stellen, Schätzchen?“

… Ian. Julians idiotischem, großen Bruder.

Was zum Henker macht der hier? … Und woher weiß er das mit meiner Magie?

Ich kneife mir sachte in den Arm, es tut weh – also ist es kein Traum – Schade. Nachdem das also geklärt ist, auch wenn hier absolut nichts einen Sinn ergibt, hefte ich meinen Blick auf Ian und damit auch auf Antoniella. Beide stehen sich gegenüber und während meine Ziehmutter Ian wütend anfunkelt, lächelt er ihr provozierend zu. Trottel.

Ich starte einen Versuch mich aufzusetzen, doch Julian drückt mich sofort wieder runter.

„Das ist keine so gute Idee“, sagt er und blickt immer noch so traurig drein. Irritiert blicke ich zu ihm auf, doch da fährt er schon fort. „Die Flammen haben dich übel erwischt. Nur etwas länger, und du wärst tot gewesen. Glücklicherweise ist aber Ian hier aufgetaucht und hat ohne zu zögern den Feuerteufel angegriffen, sodass die Flammen fürs erste wieder verschwunden sind.“ Na toll. Also verdanke ich mein Leben nicht nur Julian, sondern auch Ian? – Großartig, einfach großartig.

Julian will mir helfen mich aufzusetzen, doch ich schlage seine helfende Hand weg. Ich will seine Hilfe nicht. Mag vielleicht ein wenig egoistisch rüber kommen, nachdem er mich schon geheilt hat, aber ich habe gute Gründe dafür.

Enttäuscht steht Julian auf und stellt sich neben seinen Bruder, der nur wenige Schritte von uns entfernt steht.

„Nun nimm es nicht so schwer, Brüderchen“, sagt Ian und zwinkert mir kurz zu. „Junge Hexen sind immer schon eigensinnig gewesen. Lass ihr noch etwas Zeit, sie wird schon noch begreifen, dass wir ihr gerade das Leben gerettet haben. Außerdem haben wir jetzt erstmal etwas Wichtigeres zu tun, als deiner Angebeteten irgendwas zu erklären. Die Gute hier vor uns hat nämlich vor, erneut ihre niedlichen kleinen Flammen zu rufen und uns mit deren Hilfe zu verbrennen.“

Völlig sprachlos blicke ich zu Ian.

Der hat sie doch nicht mehr alle, denke ich. Wie kann er nur so über Antoniella reden. Meine Ziehmutter sieht das übrigens ganz genauso, denn sie funkelt ihn mehr als sauer an. Keine Sekunde später macht sie dann auch das, was Ian eben gesagt hatte. Sie ruft erneut ihre Flammen zu sich, die sie ohne große Umschweife, komplett umhüllen.

Das ist schlecht.

„Verschwindet von dort“, schreie ich den beiden zu. „In ihrem jetzigen Zustand ist sie unberechenbar.

Ian quietscht vergnügt auf.

„Wow. Macht sie sich ernsthaft um uns beide sorgen? Dabei kam es mir bei unserem ersten Zusammentreffen schon so vor, als könne sie mich nicht wirklich leiden.“ Wo er Recht hat. „Na egal. Um uns braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Wir haben unsere Magie ja noch. Also lass uns das hier schnell noch zu Ende bringen und dann schleunigst von hier verschwinden. Mir fehlt unser zu Hause.“

Antoniellas Flammen greifen unkontrolliert auf alles über.

Sie verschlingen das grüne Sofa, den gleichfarbigen Sessel und gehen auch auf die Kommoden und den Tisch über. Sie vernichten einfach alles was ihnen in den Weg kommt – doch glücklicherweise machen sie um die beiden ohnmächtigen Loup-Garou, Xander und Derek, einen großen Bogen. Doch vor Julian und dessen unsympathischen Bruder werden sie keinen Halt machen, ganz im Gegenteil – sie suchen sich bereits erbarmungslos einen Weg zu ihnen, bereit, die beiden endlich zu verschlingen. Ich krieche auf beide drauf zu, zum Aufstehen fehlt mir, trotz Julians Heilung, eindeutig die Kraft.

Auch Julian und Ian entfachen ein Feuer, wenn auch wesentlich kleiner als das der Phönix-Flammen von Antoniella. Und auch farblich unterscheidet es sich. Denn es ist nicht rot, sondern schwarz.

Ich habe es doch geahnt.

Jetzt ergibt Julians trauriger Blick, den er mir zugeworfen hatte, nachdem ich wieder zu mir kam, auch einen Sinn, Vermutlich wollte er nicht, dass ich herausfinde was er und sein Bruder sind.

„Ihr seid Hexenjäger“, wispere ich mehr zu mir selber, als zu den beiden. Dennoch haben sie mich verstanden.

„Schlau ist sie ja“, scherzt Ian, während er seine schwarzen Flammen spielerisch um die Phönix-Flammen tanzen lässt. „Auch wenn es ganz schön gedauert hat, bis sie hinter unser kleines Geheimnis gekommen ist.“

Julian verpasst seinem großen Bruder einen Stoß in die Rippen, der sich daraufhin mit einem schiefgrinsenden Sorry bei ihm entschuldigt und sich dann wieder voll und ganz auf den kleinen Kampf mit Antoniella konzentriert. Merkwürdigerweise war die bisher sehr ruhig, fast schon zu ruhig. Sie hat kein einziges Wort gesprochen, seit ich wieder zu mir gekommen bin und das finde ich besorgniserregend.

„Es macht wirklich Spaß mich mit ihnen zu messen, aber wir sollten diese kleine Scharade hier und jetzt beenden und endlich ernst machen. Kira, mein Brüderchen und ich haben noch eine wichtige Verabredung mit unserem Vater.“ Vater? Ich dachte der ist tot?

Ians schwarze Flammen ziehen sich plötzlich zurück, doch keine Sekunde später legen sie sich wie ein dunkler Schatten um uns alle.
 


 

Herbst 2015, Anderwelt
 

Kira Vaillant

Als ich das nächste Mal meine Augen öffne, liege ich in einem fremden Bett – mal wieder – und fluche als erstes vor mich hin. Das ist jetzt schon das zweite Mal, innerhalb von wenigen Minuten, dass ich scheinbar das Bewusstsein verloren habe. Das sollte echt nicht zur Gewohnheit werden.

Ich streife die Zudecke von mir uns stehe auf. Bei Julian zu Hause bin ich nicht mehr, doch wo bin ich dann? Ich durchquere das große Zimmer, in dem nur das Bett und ein Schrank stehen. Ich steure die schwer aussehende Holztür an und greife nach der Klinke, drücke sie leise nach unten. Mit einem unüberhörbaren quietschen öffne ich die Tür.

Mist, dabei wollte ich doch leise sein.

Ich trete aus dem Zimmer heraus und vor mir erstreckt sich ein langer Gang, der mich ein bisschen an die Unterkunft der Vampire erinnert, auch wenn dieser Gang hier mehr altertümlicher ist. Ich höre Schritte die näher kommen, also laufe ich schnell wieder zurück und lege mich wieder ins Bett und decke mich bis oben hin zu.

Draußen im Gang gab es leider keinen Ort an dem ich mich hätte verstecken können. Also bleibt mir nichts anderes übrig als abzuwarten, ob derjenige dessen Schritte ich vernommen habe zu mir will. Ich stelle mich schlafend.

Die Tür öffnet sich mit einem quietschen – die sollte mal geölt werden – und schwere Schritte nähern sich dem Bett. Sachte wird meine Zudecke etwas nach unten gezogen, sodass mein Kopf unter ihr hervorkommt.

„Na sieh mal einer an“, höre ich Ians belustigende Stimme. Er zieht die schützende Decke noch ein Stückchen weiter weg. „Ich weiß bereits, dass du wach bist, Kira“, sagt er und tätschelt meine Wange. Er setzt sich neben mich.

Was soll ich jetzt nur machen?

Natürlich könnte ich so tun als würde ich erst jetzt aufwachen, doch bezweifle ich, dass das viel bringt, zumal Ian ja eben schon sagte, dass er weiß das ich wach bin.

Obwohl ich weiß wozu er fähig ist – und ich auch weiß dass ich ohne meine Magie nichts gegen ihn ausrichten kann – entscheide ich mich dazu auf Angriff zu gehen. Ich nehme all meinen Mut zusammen, drehe mich Blitzschnell auf die Seite, und schubse Ian mit einer kraftvollen Handbewegung von mir. Dann stehe ich genauso schnell auf und laufe einfach drauf los. Vielleicht finde ich ja draußen irgendwo ein Versteck.

Ian ist mitten in den Schrank geknallt und bleibt dort zum Glück für mich, benommen liegen. Leider hält dieser Zustand nicht lang genug an – wäre ja auch zu schön gewesen. Kaum das meine Hand die Klinke berührt und sich sogar die Tür einen Spalt weit geöffnet hat, ist Ian leider auch schon wieder an meiner Seite und knallt die Tür mit einem kräftigen Handschlag wieder zu.

„Das war nun wirklich nicht nötig“, flüstert er mir ins Ohr. Ich spüre seinen festen Griff um meine Taille, der sich noch einmal verstärkt. Er dreht mich um, sodass ich mit dem Rücken an der Tür lehne und in zwei wütende und eiskalte Augen blicke. An Ians linker Schläfe rinnt ein frischer dünner Blutstrom, was mich mit leichter Freude erfüllt. Er wischt etwas von dem Blut weg und sieht sich dann seine blutige Hand an.

„Ich hoffe es tut weh“, zische ich ihm entgegen und versuche seinem Griff zu entkommen. Was leider zwecklos ist, da Ian wesentlich stärker ist als ich. Das nervt.

„Nicht so sehr wie dir dein Herz wehtut.“ Er macht eine kleine Pause. „Habe ich nicht Recht?“, will er hämisch grinsend wissen.

Darauf werde ich bestimmt nicht antworten. Vielmehr versuche ich noch einmal seinem festen Griff zu entkommen, aber wieder nichts. Ich schaffe es nicht mal auch nur ein Stückchen von ihm loszukommen. Das ist echt frustrierend. Erst Derek und jetzt auch noch Ian – ich komme mir einfach nur schwach vor.

„Was wollt ihr von mir“, frage ich, um nicht weiterhin an meine missliche Lage zu denken. „Ihr und euer toter Vater.“

„Willst du jetzt ernsthaft über meinen Vater reden, Kira?“, fragt mich Ian mit belustigt klingender Stimme. „Da habe ich dich wohl völlig falsch eingeschätzt.“

„Tue ja nicht so als würdest du mich kennen, Ian.“

„Oh, aber das tue ich. Ich weiß alles über dich, Kira und weißt du auch warum?“ Er lässt von mir ab und geht zwei Schritte zurück. Erleichtert atme ich auf und will noch mehr Abstand zwischen uns beide bringen, aber ich kann nicht. So sehr ich mich auch anstrenge, meine Beine bewegen sich nicht. Ian setzt sich auf Julians Bett und lächelt mich von dort aus an.

„Interessiert mich nicht“, antworte ich frustriert und versuche erneut mich zu bewegen. Doch keine Chance.

„Weil mein liebes Brüderchen uns über alles informiert hat, auch über euren kleinen Ausflug in die Bloody Mary. Er hat uns über jede noch so kleine Kleinigkeit informiert“, sagt Ian immer noch vor sich hin lächelnd und dabei meine Worte ignorierend. Er streicht mit seiner Hand über das Laken und sieht mich dabei mit einem Blick an, dem ich am liebsten ausweichen würde, wenn ich denn könnte. Doch das kann ich nicht.

Wieso nur kann ich es nicht?

Ich habe Ian keine Magie wirken sehen, aber er ist doch ein Hexenmeister. Nein, korrigiere ich mich selber – er ist ein Hexenjäger.

„Es gibt nichts was Julian dir und eurem Vater über uns erzählt haben könnte, weil es nämlich kein uns gibt. Verstanden!“ Recht empört und leicht angeekelt, wegen Ians Behauptung, verziehe ich kurz das Gesicht. „Und selbst wenn, es ist nichts interessantes zwischen deinem verlogenen Bruder und mir passiert. Vor allem nicht das, was du eben angedeutet hast.“ Pfft, so weit käme es noch, dass ich mit dem was anfange.

„Na wenn du das sagst“, belächelt er meine Aussage. „Jetzt aber mal Hand aufs Herz, Kiralein. Hast du wirklich geglaubt, dass mein Bruder sich mit dir angefreundet hat, weil er dich mag? Er tut es zwar mittlerweile und das nicht zu knapp…, doch spielt das leider keine Rolle. Im Grunde bist du nichts weiter als ein Auftrag. Unser Vater wollte, dass Julian sich mit dir anfreundet, damit wir es später leichter haben dich zu uns zu holen. Zum Ende hin ist es leider anders gekommen als von uns geplant, doch auch das spielt keine Rolle – du bist ja jetzt hier und die Umstände wie es dazu kam, interessieren niemanden. Jetzt mache nicht solch ein Gesicht“, unterbricht er seine kleine Rede. Emotionslos sehe ich zu ihm. „Ich kann ja verstehen dass das alles etwas zu viel für dich ist und wenn ich ehrlich bin, dann tust du mir schon leid. Ich meine, jahrelang warst du alleine, hattest zwar deine beiden Freunde, deine Ziehmutter sowie deren Enkelin, dennoch fühltest du dich immer einsam. Bis du dann, nach Jahren, endlich jemanden kennengelernt hast. Jemanden, bei dem du dich geborgen und verstanden fühltest – und da war es egal, dass du denjenigen kaum kanntest. Deiner kleinen Freundin erging es ja nicht anders. Auch sie kannte unseren Vampirprinzen nicht wirklich, doch wenn das Herz ruft, dann schaltet sich der Verstand aus. Du hättest wissen müssen, dass es irgendwo einen Haken gibt, Kira. Es gibt bei dir ja immer einen, nicht wahr? Du hast noch nie jemandem vertraut, der nicht zu deiner Familie gehört hat. Doch die Zweifel traten in den Hintergrund. Dein Herz schrie nach Liebe und Zuneigung. Und so warst du einfach nur froh jemanden bei dir zu haben. Jemanden, der einfach nur für dich da war und bei dem du dich frei fühltest. Dem du sogar bereit warst dein, über die Jahre hinweg, verschlossenes Herz zu schenken.“ Er macht erneut eine kurze Pause, die er dazu nutzt wieder aufzustehen. „Und nun... puff, ist all das weg. Du erfährst die niederschmetternde Wahrheit, dass mein Bruder dich im Grunde nur ausgenutzt hat.“ Ian kommt auf mich zu. Sachte und fast schon liebevoll, streicht er meine Tränen weg. „Das schmerzt, hm?“

Ich habe gar nicht mitbekommen das ich zu weinen begonnen habe. Und dann auch noch vor Julians Bruder.

Julian!

Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen. Ich habe ihm vertraut und war, wie Ian es so schön gesagt hat, wirklich kurz davor, diesem verlogenen Mistkerl mein Herz zu schenken. Wie Dumm ich doch war. Ich hätte es wirklich besser wissen müssen.

„Komm mit. Lass uns in unsere Küche gehen und Kaffee kochen und für deinen Tee, Wasser aufsetzen. Julian wird auch gleich da sein. Er ist nur noch bei unserem Vater und berichtet ihm was vorgefallen ist.“ Ian drückt mich ein Stück zur Seite und verlässt dann das Zimmer. Und was mache ich... ich laufe ihm tatsächlich hinterher, auch wenn alles in mir schreit wegzurennen. Was zum Teufel ist nur mit mir los.

Wenn ich laufen will, kann ich es nicht.

Und wenn ich nicht will, kann ich es.

Wie macht Ian das nur.

Ohne also eine andere Wahl zu haben, folge ich Ian in die Küche, die nur zwei Räume weiter ist. Auf einen Wink von Ian hin, setze ich mich auf einen der Stühle. Und da ich eh nichts anders tun kann, sehe ich Ian dabei zu, wie er die Kaffeemaschine anstellt und den Wasserkessel auf eine lodernde Flamme stellt. Dann kramt er in den Schränken rum und holt drei Tassen heraus, die er auf den Tisch stellt. Dabei zwinkert er mir zu.

„Was für einen Tee willst du?“ Wenn er glaubt ich ihm darauf antworte, dann kennt er mich wohl doch nicht so gut wie er denkt.

Dieser Idiot.

Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden. Zwar hatte ich kaum was mit ihm zu tun, aber die beiden Mal haben mir auch ehrlich gesagt gereicht – wobei ich ihn beim zweiten Mal, ja nicht mal gesprochen, sondern ihn nur mit Julian gesehen habe. Doch auch wenn Ian, bei unserer ersten Begegnung, genauso charmant wie sein kleiner Bruder war, so strahlten seine bernsteinfarbenen Augen etwas kalt aus und jagten mir einen Schauer über den Rücken.

Auf der Fahrt nach Siebenbürgen erzählte Julian mir viel von sich und seinem Bruder. Der Tod ihres Vaters brachte die beiden jungen Männer zusammen, nachdem Julian Jahre lang von seiner Tante großgezogen wurde. Sie wurden unzertrennlich – darum ist Ian auch hierher ins Dorf gezogen, um in der Nähe seines Bruders sein zu können. In Julians Augen war Ian der perfekte große Bruder. Ich habe nicht wirklich verstanden wieso das so war, wieso er ihn so vergöttert hat und erst recht nicht, was so besonders an Ian sein sollte. Jetzt weiß ich, dass all das eine Lüge war. Ich hätte wirklich früher dahinter kommen sollen.

Julian stellte Ian einfach zu gut, zu perfekt dar. Ich hätte wirklich auf mein Bauchgefühl hören sollen, welches mir sagte, dass mit Ian etwas nicht stimmt – und mit Julian.

„Worüber hat dein Bruder mich noch alles belogen?“, frage ich Ian, nach minutenlangem Schweigen. „Euer Vater scheint ja auf wundersame Weise von den Toten wieder auferstanden zu sein. Was ist mit eurer Mutter?“

Ian nimmt sich einen Stuhl, platziert ihn vor meinen und setzt sich rücklings drauf. Seine Arme liegen verschränkt auf der Stuhllehne. Und seine sonst so kalten Augen blicken mich nun traurig an. Das ist das erste Mal dass er mich so ansieht.

„Sie starb wirklich, kurz nach Julians Geburt“, sagt er mit brüchiger Stimme. „Und auch das unser Vater ihn dafür verantwortlich gemacht und weggegeben hat, ist wahr. Jahre später – nachdem Vater von einer Wahrsagerin unsere Zukunft vorhergesagt bekommen hat – holte er Julian wieder zu uns zurück. Das ist jetzt knapp 2 Jahr her.“

„Und wieder wurde eine seiner Lügen aufgedeckt. Und… Wie sah diese Zukunft aus? Erfuhr euer Vater das sein Jüngster ihm große Dienste erweisen würde“, frage ich schnippisch. Ich würde nur zu gerne wissen was die Wahrsagerin gesehen hat.

„Das, meine Liebe, erfährst du noch früh genug“, sagt Ian. Das traurige in seinen Augen verschwindet und das schelmische kehrt zu ihnen zurück. Das Pfeifen des Wasserkessels lässt mich zusammenzucken. „Oh, dein Wasser ist fertig.“

Ian steht auf und nimmt den Kessel von der Flamme, die sofort ausgeht.

Wie schade dass er sich nicht verbrennt hat, denke ich und wende meinen Blick von Ian ab.

Ich höre wie er den Kessel neben mir abstellt und dann wieder irgendwo rumkramt. „Also wir haben: Apfel, 7 Kräuter und Roibusch Kaminabend – mmh Orange, Zimt und Marzipan.“ Er sieht zu mir. „Den nehmen wir. Ist zwar noch nicht Winter, aber egal… er wird dir trotzdem schmecken.“

„Was soll der ganze Aufwand?“ Meine Geduld ist so langsam aber wirklich zu Ende.

„Was denn? Du trinkst doch Tee.“

„Du weißt genau, dass ich das nicht meine“, schnauze ich ihn an. Bevor er antworten kann, betritt ein großgewachsener und braungebrannter Mann die Küche. Er beäugt mich, lässt mich aber dann links liegen und geht zu Ian.

„Hallo Gabriel“, begrüßt Ian den Neuankömmling und umarmt ihn flüchtig. Wer ist das denn jetzt nun wieder.

„Was macht sie hier“, fragt besagter Gabriel und deutet auf mich.

„Kira?“ Er nickt und nimmt sich eine Tasse Kaffee. „Wir warten zusammen auf unseren kleinen Bruder.“

Auf ihren Bruder? Echt jetzt? Dieser Gabriel ist Ians und Julians Bruder? Also ähnlich sehen die drei sich nicht gerade. Obwohl… eine kleine Ähnlichkeit zu Julian ist schon vorhanden. Nur dass Julian nicht so braungebrannt und auch noch nicht so alt wie dieser Gabriel ist.

Ich seufze innerlich. Wieso nur muss es jetzt noch einen Bruder geben? Als wenn zwei von deren Sorte nicht schon reichen würden. Zumal ich eh der Meinung bin, dass drei Brüder, zwei zu viel sind.

Ich höre erneut Schritte. Ian vernimmt sie auch und verlässt kurz die Küche.

„Hey Brüderchen“, höre ich Ian sagen. Hoffentlich kommt nicht noch ein Vierter. Wobei ich Julian auch nicht sehen will.

„Schläft Kira noch?“

Ah. Es ist Julian.

Seufzend verdrehe ich meine Augen. Mir bleibt aber auch gar nichts erspart.

„Nicht mehr, nein. Wir beide sitzen in der Küche und haben uns bis eben nett unterhalten. Komm rein, Gabriel ist auch da.“

Was heißt hier nett unterhalten? Der spinnt doch, denke ich verächtlich.

Ians dunkelblonder Haarschopf erscheint vor mir. Er lächelt mich an und wendet sich dann seinem großen Bruder zu. Nicht dauert nicht lange, da erscheint auch Julian in der Küche. Hoffentlich glaubt der nicht dass ich mit ihm reden werde. Denn das werde ich nicht. Auf gar keinen Fall.

Ich schenke Julian einen hasserfüllten Blick. Er schluckt und an seinem Blick erkenne ich, dass er sich mehr unwohl fühlt. Dabei hat er keinen Grund dazu, anders als ich.

„Kira!“ Er flüstert meinen Namen und will mir einen Kuss auf die Wange geben. Ich wende mich aber von ihm ab, woraufhin er die Augen niederschlägt. Er seufzt traurig und wendet sich dann seinen beiden Brüdern zu.

„Das sie so reagiert war ja wohl zu erwarten, Mann. Hättest du mal lieber auf mich gehört als ich dir sagte, dass du dich nicht zu sehr auf sie einlassen sollst. Aber du wolltest ja nicht auf deinen großen und weisen Bruder hören“, sagt Ian gut gelaunt.

Er geht zur Kaffeemaschine, stellt sie aus und gießt sich dann was von dem widerlichen Gebräu ein, was sich Kaffee schimpft. Irgendwie habe ich das Gefühl das sich Ian gerade Pudelwohl fühlt. Wahrscheinlich genießt er das hier regelrecht. Scheißkerl.

„Was hast du ihr erzählt?“ Angst schwingt in Julians Stimme mit. Ha, da geht ihm wohl der Arsch auf Grundeis. Gut so.

Julian wartet keine Antwort von Ian ab. Er geht vor mir in die Hocke und legt seine Hände auf meine Oberarme. „Kira, ich...“ Ich fege sie weg.

„Fass mich bloß nicht an, du, du... verdammter Mistkerl, du.“ Erschrocken zuckt Julian zurück. Das ist das erste Mal das er mich wütend erlebt.

„Kira“, versucht er es erneut.

„Ich weiß wie ich heiße.“ Ich bin sauer und das kann er ruhig wissen. „Und, hat es dir Spaß gemacht mir die letzten Tage über was vorzumachen? Mich anzulügen und mein Vertrauen zu gewinnen? Dein Daddy wird bestimmt mächtig stolz auf dich sein, weil du geschafft hast, was niemand vor dir geschafft hat. Weißt du überhaupt warum ich so verschlossen bin? Warum ich kaum jemanden an mich ran lasse? Weil ich in meinem Leben schon viel zu oft verlassen wurde. Das passiert nämlich wenn du jemanden an dich ran lässt. Entweder sie verlassen oder sie verletzen dich. Und das einzige was bleibt ist die Leere in deinem Herzen. Ich dachte wirklich du wärst anders, nein, ich wünschte mir du wärst anders. Aber wieder einmal hat sich bewahrheitet was ich immer schon wusste. Ich bin alleine.“

„Das stimmt nicht, ich... Anfangs ja, das gebe ich zu, da habe ich dir was vorgemacht. Mein Vater wollte dass ich dein Vertrauen gewinne, damit du dich uns freiwillig anschließt. Das würde alles einfacher machen, sagte er und ich... ich wollte ihn stolz machen. Wollte dass er nicht bereute mich wieder zu sich genommen zu haben. Doch je mehr Zeit ich mit dir verbrachte, desto unsicherer wurde ich. Ich zögerte das unausweichliche hinaus und...“

„Bist du des Wahnsinns, Kleiner?“, höre ich Ians Worte, laut in meinem Kopf widerhallen.

„Oh ja, das tat er wirklich.“

„Hör verdammt noch mal auf deine Zeit zu vergeuden und erledige endlich deinen Job.“

Das hat er vor einigen Stunden zu Julian gesagt. Also hat er das damit gemeint. Doch was bedeutet das jetzt für ihn und mich? Vertrauen kann ich ihm nicht mehr, aber…

„Ich weiß auch nicht aber, dann ist es einfach passiert. Ich habe mich in dich verliebt, Kira.“ Er sieht mir direkt in die Augen. „Bitte, das musst du mir glauben. Ich wollte dir nie wehtun.“

„Doch das hast du“, flüstere ich. „Und bei all deinen Lügen, Julian, wieso sollte ich dir da noch vertrauen? Wie könnte ich da noch irgendetwas, von dem was du sagst, glauben“, frage ich mit gequälter Stimme.

„Weil es die Wahrheit ist“, haucht er so leise das ich ihn kaum verstanden habe. Er umschlingt meinen Körper und legt dann seinen Kopf in meinen Schoß. „Ich liebe dich.“

Wir bleiben eine ganze Weile so sitzen – ich kann ja eh nicht aufstehen, selbst wenn ich wollen würde – und genießen den kurzen Moment der Zweisamkeit. Es wird wahrscheinlich das letzte Mal sein, dass wir beide uns so nahe sein werden. Und auch wenn es eigentlich falsch sein müsste, fühlt es sich in diesem Moment richtig an.

Vereinzelte Tränen lösen sich aus meinen Augen und fallen auf Julians dunkelbraunen Haarschopf.

„Gott ist das rührend“, unterbricht uns Ian. Ich hebe meinen Kopf und funkle ihn wütend an. Gabriel, der noch immer neben ihm steht, mustert mich argwöhnisch. „Ich bin ja nur ungern der Spielverderber“, fährt Ian ungeniert fort, „aber wir sollten mal so langsam in die Gänge kommen. Vater ist so schon auf Hundertachtzig, weil sein Plan schiefgegangen ist und Kira nun die Wahrheit weiß. Wir sollten ihn nicht noch zusätzlich reizen, indem wir ihn jetzt warten lassen. Also. Hopp, hopp. Auf mit euch.“

Ich hasse diesen Kerl.
 


 

Herbst 2015, le village de étoiles
 

Selest Peterson

Es hat einfach keinen Sinn weiter nach einem Weg zu suchen, damit wir hier rauskommen. Wir haben wirklich schon alles nur denkbar Mögliche versucht, aber nichts... Ich habe sogar noch einmal den Zugang zu Kiras Wissen gesucht, aber wie schon beim ersten Mal, zeigte sich auch diesmal keine Wirkung. Und auf meine Zodiac-Magie kann ich auch nicht zugreifen, was echt blöd ist. Ich meine, wozu habe ich sie, wenn ich sie nicht dann einsetzen kann, wenn ich will und vor allem wenn ich sie brauche. Gut. Die zwei male als ich sie einsetzte rettete sie mir und Kira das Leben, aber ich konnte sie nicht kontrollieren. Und es wäre schon schön, wenn ich das könnte.

Arashi versucht sich wieder an den Gitterstäben des kleinen Fensters, welches unsere einzige Lichtquelle ist. Der Mond scheint hindurch. Ein lautes Fluchen lässt mich aufhorchen. Auch Arashi hält in seiner Bewegung inne. Er stellt sich neben mich und hält den Kopf ein wenig schräg, da Arashi einen Zentimeter zu groß für unsere Zelle ist.

Eine wutentbrannte Antoniella tritt vor unsere Unterkunft.

„Was hast du getan?“, verlangt Arashi ohne unverzüglich von ihr zu wissen. „Was trieb dich nur dazu mit den Hexenjägern gemeinsame Sache zu machen? Sag es mir.“

Antoniella atmet einmal tief ein und wieder aus, doch so wirklich gebracht hat es nichts. Sie schaut noch immer äußerst sauer drein. Heißt das vielleicht…

„Du hast Kira nicht gefunden, richtig“, gebe ich meine Vermutung preis. „Dann ist sie also in Sicherheit.“ Das freut mich.

„In Sicherheit?“, schnaubt Antoniella. Ihr wütendes Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. Dann kommt sie langsam immer näher und…

„Was?“ Ist das einzige was ich herausbekomme.

Antoniellas Körper wird zu schwarzem Rauch, der durch die Gitterstäbe hindurch, zu uns in die Zelle steigt. Vor Arashi und mir materialisiert sie sich wieder und steht nun in voller Größe vor uns. Doch ist sie umringt von lodernden Flammen.

„Kannst du sie angreifen?“, frage ich Arashi.

„Nein. In ihrer jetzigen Form ist viel zu mächtig. Was auch immer bei Julian zu Hause passiert ist, es hat sie verändert.“

„Ihr irrt euch. Kira ist alles andere als in Sicherheit“, zischt Antoniella mir entgegen. „Vielmehr ist es eure Schuld, dass sie nun in den Händen des Kynigós Clans ist. Ihr habt sie bei einem Hexenjäger versteckt.“

Arashi und ich blicken uns erschrocken an.

„Wir haben sie doch bei Julian gelassen“, sage ich irritiert. „Arashi?“ Hilfesuchend blicke ich ihn an.

„Verdammt!“ Er ballt seine Hände zu Fäusten.

„Doch keine Angst. Kira wird schon bald zu uns zurückkehren. Oder besser gesagt, sie wird zu euch zurückkehren.“

„Und wie soll sie das machen?“, zischt Arashi. Er steht kurz davor auf sie loszugehen und das, obwohl er mir eben noch sagte, dass er nichts gegen sie ausrichten kann. „Wenn es stimmt was du sagst und Kostja sie jetzt hat, dann wird er sie wohl kaum freiwillig wieder gehen lassen.“

„Von freiwillig war keine Rede, mein Lieber.“ Sie macht einen weiteren Schritt auf uns zu. Arashi will mich gerade hinter sich schieben, da bricht er plötzlich, unter großen Schmerzen, auf dem Boden zusammen.

„Was hast du mit ihm gemacht?“, schreie ich. Panisch will ich mich neben ihn knien, doch da stellt sich Antoniella mir in den Weg. Versperrt mir so die Sicht auf Arashi.

„Mache dir lieber sorgen um dich, Selest. Denn du wirst mir gleich helfen Kira zu mir zu holen. Und glaube mir…“

„Das werde ich ganz bestimmt nicht machen“, unterbreche ich sie. „Was wollen sie überhaupt von ihr?“

„Und ob du das wirst“, zischt sie gehässig und ballt nun ihrerseits ihre rechte Hand zur Faust. Und in genau dem Moment breitet sich, tief in meinem Innern, ein unerträglicher Schmerz aus. Keuchend gehe nun auch ich zu Boden.

Antoniella hockt sich zu mir und streicht mir mit ihrer Flammenhand eine verschwitzte Strähne aus der Stirn. Es brennt, dort wo sie mich berührt. Krampfhaft versuche ich nach Luft zu schnappen, doch die Schmerzen verhindern das.

„Und weißt du auch warum?“ Ich schüttle den Kopf, denn ich will es nicht wissen. „Glücklicherweise seid ihr miteinander verbunden und das bedeutet..., dass Kira alles spürt, was auch du spürst.“ Oh bitte nicht.

Ich kann mir ganz genau vorstellen was Antoniella mit diesen Worten meint. Und darum ist es für mich auch nicht überraschend, dass die Schmerzen, die sie mir noch immer zufügt, stärker werden. Gequält schreie ich auf.

In Antoniellas Augen kann ich erkennen, dass sie Freude daran hat mich leiden zu sehen. Wie kann man nur so eiskalt sein.

„Kira wird nicht lange brauchen um zu begreifen, dass du in Schwierigkeiten steckst. Und da ich weiß wie Kira ist, wenn andere ihretwegen in Gefahr sind…, weiß ich, dass sie kommen wird um euch zu retten.“

„Wie…?“ Ich schaffe es nicht weiterzusprechen, da mir der unerträgliche Schmerz den ich verspüre, immer noch die Luft abzuschnüren scheint.

„Du fragst dich wie sie das machen soll? Ganz einfach. Ich werde ihr ihre Magie wieder geben. Und sobald sie sie hat, wird sie durchaus in der Lage sein, sich diese Hexenjäger vom Hals zu halten. Auch wenn es sich bei ihnen um den Kynigós Clan handelt.“ Sie macht eine kleine Pause ehe sie fortfährt. „Es ist nur von Vorteil für mich, dass Kostja denkt, das Kira eine Zodiac ist. Er weiß nicht, dass er mit ihr die falsche Hexe hat.“

Antoniella erhebt sich wieder und geht in unserer kleinen Zelle auf und ab. Nach gut fünf Minuten des Schweigens, wirbelt sie zu uns herum.

„Das ist es“, ruft sie freudestrahlend heraus und blickt auf Arashi und mich herab. „Oder aber... Ich werde dem guten alten Kostja einen Tausch anbieten den er nicht abschlagen kann.“ Ihr Gesicht ziert ein unheimliches Grinsen, welches in mir ein ganz mieses Gefühl hervorruft.

Was hat sie vor?



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