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Dunkler als schwarz

Shinichi x Ran
von

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Kapitel 54: Schwarz

Kapitel 54: Schwarz
 

Die Fahrt war ereignislos verlaufen; Shinichi hatte kurz seine Mutter angerufen, um Entwarnung zu geben – das hieß, er hatte sie kurz anrufen wollen. Fakt war, sie hielt sich immer noch hartnäckig in der Leitung und klebte ihm die sprichwörtliche Kassette ans Ohr; und er konnte es ihr nicht einmal wirklich übelnehmen, auch wenn es ihn zunehmend anstrengte, ihrem Redeschwall zu folgen.

Sein Hirn fühlte sich zerkocht und matschig an, Worte und Gedanken schienen darin so schwerfällig umher zu waten wie Naturforscher im Hochmoormorast.

Sie hatten es sich nicht nehmen lassen wollen, sich sofort auf den Weg ins Yard zu machen, ohne jedoch das Telefonat mit ihm dafür zu unterbrechen. Im Hintergrund hörte er Sonoko, Kazuha und Shiho reden, als sie sich ins Taxi quetschten.

Shinichi lehnte sich zurück, fühlte, wie Ran ihren Kopf auf seine Schulter bettete. Sie durchnässte sein Sakko mit ihren immer noch feuchten Haaren, merkte es und wollte hochfahren, als er sie davon abhielt. Sie ließ ihren Kopf wieder sinken, fühlte, wie seiner gegen ihren nickte, seufzte leise, sackte spürbar gegen ihn und die Rückenlehne.

Das Telefon immer noch am Ohr drückte er ihr einen Kuss auf die Schläfe, warf ihr einen besorgten Blick zu.
 

„…und mal abgesehen davon, solltet ihr nicht noch ins Krankenhaus, Shinichi? Ich weiß, du hörst das nicht gern, aber ich fürchte fast, du…“
 

Er gähnte kurz, blinzelte träge. In seinem Kopf hatte das leise Trommeln unruhiger Finger mittlerweile aufgehört, war abgelöst worden durch den hektischen und überaus nervenzerfetzenden Beat einer Snaredrum. Er hob seine freie linke Hand, strich sich über die Augen, dann über seine Stirn, in der Hoffnung, zumindest die Müdigkeit etwas vertreiben zu können.

Die Kopfschmerzen, das ahnte er, würde er aussitzen müssen. Insgeheim fragte er sich, wie schlimm der Entzug diesmal ausfallen würde. Er hoffte, zu diesem Zeitpunkt sicher in seinem eigenen, absperrbaren Schlafzimmer zu sein.

So sehr er sie liebte, er wollte Ran nicht bei sich haben, wenn er sich durch diese Stunden quälte, die sich so zäh in die Länge zogen wie alter Kaugummi, der einem unter der Schuhsohle klebte.

Fakt war, er hatte keine Ahnung, ob seine Mutter mit seiner implizierten Befürchtung nicht Recht hatte, und er nicht doch eigentlich wieder ein Fall wäre, für…
 

Nein. Das versuchen wir zuerst mal anders…
 

„Ach – ich weiß nicht, warum ich mir Gedanken mache, aber hast du eine Ahnung, wo sie ist?“
 

Shinichi hörte gar nicht hin. Er verzog das Gesicht bei dem Gedanken, dass er keine Ahnung hatte, was eigentlich genau passiert war mit ihm.
 

Wie konnte mir das eigentlich nicht auffallen…?
 

Wie er Ran das beibringen sollte, dass er sich für die nächsten Stunden, eventuell Tage, von ihr verabschieden würde, bis er wieder einigermaßen sicher war, dass auch der letzte Rest des Nervengifts abgebaut war, wusste er noch nicht so recht. Er fing sich einen forschenden Blick seines Vaters ein, und ahnte, dass der Mann genau wusste, was in seinem Kopf gerade vorging.
 

„Shinichi!?“
 

Er zuckte zusammen, als die Stimme seiner Mutter lauter als gerade eben noch an sein Ohr drang. Er hielt das Telefon, so weit es ging, von sich weg, schnaufte. Offenbar hatte sie bereits mehrmals versucht, ihn anzusprechen.
 

„Ja, Mama?“, hakte er nach, verzog das Gesicht. Sein ohnehin lädiertes Hirn nahm ihm die Lautstärke an seinem Ohr gerade sehr übel – es fühlte sich an, als wolle ihm einer mit einer Stricknadel in den Schädel bohren.
 

Ungefähr so müssen sich die alten Ägypter bei der Mumifizierung gefühlt haben. Nur, dass die bei der Prozedur wenigstens tot waren.
 

„Ich bin müde, Mama, ich habe gerade nicht aufgepasst. Was willst du wissen?“

Er hörte sie seufzen, konnte die Nachdenklichkeit in ihrer Stimme fast sehen – die krausgezogene Stirn, der Blick, der nach oben in Richtung ihrer typischen Stirnlocke schweifte, der Zeigefinger am Kinn…
 

„Weißt du – kannst du… sagen, ob Sharon bei euch ist?“

Shinichis Augenbrauen wanderten nach oben, legten seine Stirn kurz in Falten, als er nachdachte.

„Ich… habe keine Ahnung, Mama. Hier laufen viel zu viele Leute rum, und du kennst sie, sie ist unfassbar gut. Wenn sie nicht gefunden werden will, wird sie nicht gefunden. Ist sie nicht in ihrer Wohnung?“

„Nein.“

Yukiko seufzte. „Ich war vorhin unten. Die Tür war offen, von ihr keine Spur. Ich dachte mir, vielleicht ist sie euch hinterher. Irgendwie… ich weiß nicht…“

Shinichi atmete tief ein und aus.

„Irgendwo wird sie schon sein. Mach dir keine Sorgen, Mama. Du kennst sie. Und mal ganz ehrlich - wenn die Frau nicht auf sich aufpassen kann, kann‘s keiner. Bis gleich.“
 

Damit hatte er das Gespräch beendet, hatte sich endgültig zurücksinken lassen und war kurz davor, einzunicken.

Er war so unglaublich müde. Ran neben ihm sagte nichts, atmete leise und ruhig vor sich hin, strich ihm über die Finger.

Und zum ersten Mal seit langer, langer Zeit empfand er so etwas wie Ruhe.
 

Bis sie im Yard angekommen waren.
 

Sie hatten es nicht einmal bis ins Gebäude geschafft. Der Menschenauflauf vor dem Eingang schien wie eine wohldosierte Mischung der Menschenansammlung eines Ausverkaufs von TopShop in der Oxford Street mit der Presseoffensive beim ersten offiziellen Foto eines neuen Royal Babies.
 

Shinichi schluckte, stieg langsam aus. Heiji neben ihm pfiff leise durch die Zähne.

„Kommen wir da irgendwie vorbei?“, murmelte er leise.

„Ich nicht. Ihr vielleicht schon.“

Shinichi kniff die Lippen zusammen, drehte sich zu Kogorô und seinem Vater um.
 

„Ihr, Heiji und Ran versucht es durch den Seiteneingang. Jenna und ich gehen vorn rein. So wie es aussieht, machen Akai und Jodie dasselbe.“

Er lächelte schief, wandte sich seinem Vater und Kogorô zu.

„Glaubt mir, so geht’s am schnellsten. Einmal völlig abgewrackt aussehend und höflich lächelnd an der Meute vorbei damit sie alle ihr Foto kriegen, und hinterher ist weitgehend Ruhe. Aber ihr müsst euch das nicht antun. Ich nehme an, am Besten wartet ihr ohnehin in der Nähe des Eingangs, um Mama und die Mädels abzufangen, bevor sie die Presse in die Krallen bekommt und sie mit Haut und Haar auffrisst."

Yusaku grinste.

"Was wohl für deine Mutter kein allzu großes Problem darstellen würde..."

Shinichi lachte auf, winkte dann ab.

"Lieber nicht."
 

Damit drehte er sich zu Jenna um.

„Sergeant Watson, off we go. Try to smile.”
 

Unwillkürlich straffte er die Schultern, marschierte los; Jenna beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten.
 

Shinichi versuchte, ein diplomatisches Gesicht aufzusetzen. Jenna tat sich damit deutlich schwerer, bemerkte er. Er nickte ihr aufmunternd zu, schritt zügig aus und erreichte das Haupttor einigermaßen ungeschoren, nicht zuletzt dank der Officers, die nach Kräften versuchten, die Leute von der Presse im Zaum zu halten. Als er schließlich die Tür erreicht hatte, halb taub vom Geschrei der Journalisten und Reporter und mit ein paar deutlichen Nachlichtern der Fotoblitze vor Augen, musste er an sich halten, nicht tief aufzuseufzen. Vor der Tür hatten sich einige Mitarbeiter, unter ihnen auch Lady McDermitt und DI Richardson versammelt. Von Agent Black fehlte im Moment noch jede Spur, allerdings war das bei der Flut an Menschen, die sich drängten und zu ihnen wollten, kein Wunder.

Zusammen bahnten sie sich einen Weg bis in die Lobby, wo es zumindest ein wenig ruhiger wurde. Ein Trupp Polizeibeamter nahm sie in Empfang, übernahm Gin, der ihn mit einem letzten, frostigen Blick bedachte. Jenna ließ es sich nicht nehmen, sie zu begleiten, nachdem sie sich noch einmal kurz zu Shinichi umgedreht hatte und ihm zunickte. Vom anderen Ende der Halle näherten sich Ran und Heiji; offenbar hatten sie es ohne nennenswerte Hindernisse durch den Seiteneingang geschafft.
 

Jackson Montgomery wischte sich mit einem mitgenommen aussehenden Taschentuch übers Gesicht, dann drehte er sich um, fand, wen er suchte. Er atmete aus, langsam, trat näher, ließ seinen Blick über seinen Mitarbeiter schweifen, kniff die Lippen zusammen. In seinen Augen stand Reue wie Erleichterung gleichermaßen.
 

„Well, SI Kudô. I am sorry.”

Shinichi zog die Augenbrauen hoch.

„Sir?“

„I am sorry. You’ve been right all the time. I could have spared you and her so much trouble, worries and… pain.”

Sein Blick blieb an Shinichis rechten Arm hängen.

„That cut’s not looking too good. I guess you should go to hospital, before we start the questioning of that evil-looking man and take your report, Sherlock.”

„To hospital?“

Die Stimme McCoys erschallte aus der Menge, als er sich langsam seinen Weg zu Shinichi und Montgomery bahnte.

„Take him to hospital, because of that cut? By no means.“

Er schaute seinem jungen Mitarbeiter sorgenvoll ins Gesicht.

„Did you forget I’m a physician, too? I will at least provide first aid. I wonder why nobody has cared about that till now.“

„But doctor...“

Montgomery lächelte nachsichtig.

„With due respect, doctor, but your latest patients were rather, uhm… more of the unfeeling kind …“

Er brach ab, als er den extrem unterkühlten Blick des Pathologen auf sich spürte.

„I have had the pleasure of obtaining the same medical education as my colleagues, assistant commissioner.“

Damit griff er Shinichi am Arm.

„I’ll do the first aid now. If you feel better with that, you can call an ambulance that’s bringing him to hospital to get stitched up there, if you think they can do better than me. But our dear SI is going to pass out any time soon. Just have a closer look at him.“
 

Er warf einen bezeichnenden Blick auf Shinichi, der, in der Tat ziemlich blass im Gesicht und verschwitzt, seine freie Hand auf die Wunde an seinem Arm presste.

Montgomery seufzte leise, nickte schließlich.

„Maybe… you’re right. I guess, something to boost his circulation, some antiseptic and a bandage can’t hurt. But please – do leave the stitches to the surgeons at the hospital.“

Er lächelte entschuldigend.
 

McCoy nickte, griff Shinichis Arm fester und zog ihn mit sich. Der warf seinem Vorgesetzten noch einen Blick über die Schulter zu; irgendwie war ihm das hier nicht wirklich recht, ohne den Finger darauf legen zu können, warum eigentlich nicht - aber offensichtlich interessierte seine Meinung gerade eh keinen.
 

„Wartet!“
 

Rans Stimme ließ sie innehalten. Sie eilte heran, warf Shinichi einen besorgten Blick zu, ergriff seinen Arm, berührte mit ihrer Hand seine Stirn, fühlte kalten Schweiß unter ihren Fingerkuppen.

„Ich komme mit, wenn ich darf.“

Der Autopsiearzt zog die Augenbrauen hoch, doch ehe er etwas erwidern konnte, erklang Shinichis Stimme.
 

„Ach, wozu denn, Ran.“
 

Er lächelte sanft, legte eine leicht spöttelnde, aber nicht verletzende Note in seine Worte, als er weitersprach.
 

„Für ein Stück Traubenzucker und ein Pflaster? Wesentlich länger würde es dauern, dich vom Boden aufzusammeln und aus deiner Ohnmacht wieder aufzuwecken, nachdem dich der Anblick des Schnitts in meinem Arm aus den Socken gehauen hat.“

Ehe sie, die gerade beleidigt die Lippen geschürzt hatte, zu einer zweifelsohne resoluten Antwort ansetzen konnte, zog er sie zu sich, drückte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen, löste sich nur langsam, fast zögernd von ihr. Sie schaute ihm intensiv in die Augen, ließ ihn nicht los. Irgendetwas an seinem Verhalten, so scheinbar typisch es war für ihn, behagte ihr nicht. Sein Blick huschte von McCoy zu Ran. Der Mann lächelte ihn wohlwollend an, nickte freundlich. Shinichi wandte sich ihr wieder zu.

„Es ist besser, du wartest hier auf mich. Lass dir einen Tee und eine Decke bringen, vielleicht gibt’s hier auch einen Fön, damit du dir die Haare trocknen kannst. Es wird nicht lange dauern.“

Ein weiteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sie schloss die Augen, atmete langsam aus, als er sie auf die Stirn küsste, sacht.
 

„Versprochen?“
 

Ran blickte ihn wieder an, ein forschender Ausdruck auf ihrem Gesicht. Shinichi schluckte hart, und das entging ihr nicht.

„Versprochen.“, bestätigte er dann mit leiser Stimme.

Damit drehte er sich um, ließ sie alle hinter sich und folgte dem Doktor in die Autopsie, ging wie ein Schlafwandler scheinbar willenlos durch Türen, stieg in den Aufzug und fuhr nach unten. Das Schwert wog ungewöhnlich schwer in seiner Hand; unwillig blickte er auf das Katana, an dessen Schneide immer noch sein eigenes Blut klebte. Eigentlich hätte er es schon längst in der Beweismittelkammer abgeben müssen.
 

Er seufzte lautlos; seine Gedanken waren ganz woanders.
 

Der Blutverlust machte ihn ein wenig schwummrig im Kopf, schien sein Hirn in einen vollgesogenen Schwamm zu verwandeln, der die Informationen, die auf ihn einströmten, nicht mehr festhalten konnte.
 

„Almost there. Everything okay?“

Er schreckte hoch, als er die Stimme des Pathologen hörte. Überrascht blickte er ihn an. Der alte Mann war vor ihm stehen geblieben, schaute ihn musternd an. Shinichi hob unwillkürlich die Hand von seiner Schnittwunde an seinem Oberarm, betrachtete seine Finger, an denen Blut klebte. Der Schmerz, den das Adrenalin in den letzten Minuten einfach überspielt hatte, kehrte langsam mit Macht zurück, ließ ihn fast ein wenig schwindeln. Dennoch nickte er, fragte sich, warum ihm der alte Pathologe auf einmal so anders vorkam.

Und zwar so eklatant anders, dass ihn vorhin fast Panik ergriffen hatte, als Ran sich angeboten hatte, ihn zu begleiten.

Er war erleichtert, dass sie jetzt nicht hier war. Und ihm kam es vor, als hätte ihm der alte Mann vorhin ohne Worte klar gemacht, dass er hier unten nur ihn allein haben wollte.
 

„Yeah. Sure.“

McCoy nickte nur, öffnete die Glastür und ließ ihn eintreten. Er griff ihn am Arm, führte ihn zu einem Stuhl, ließ ihn sich setzen, ging dann los, um zu holen, was er für seinen Patienten brauchte.

Shinichi hörte hinter sich die Tür ins Schloss fallen.

Irgendwie beunruhigte ihn dieses Geräusch zutiefst. Überhaupt – alles hier drin, seine pure Anwesenheit hier, erschien ihm mit einem Mal falsch.
 

Er wusste nur nicht, wieso.

Noch nicht.
 

In der Autopsie, allein, nur mit dem Pathologen…

Kein Mensch weit und breit.

Wenn er mich loswerden wollen würde…
 

Ach, was denkst du, Kudô. Du spinnst doch, der Mann hat dir nie was getan.

Im Gegenteil.
 

Das liegt bestimmt am Adrenalin. Am Blutverlust.

An…

Ach, was weiß ich. War ja genug los in den letzten Stunden.
 

McCoy trat näher, ließ ihn seinen Arm auf den Tisch legen, der neben dem Stuhl stand und schnitt den Ärmel seines Hemds bis zur Schulter hoch auf und dann ab, betrachtete die Wunde.

„That looks nasty. It must hurt quite a lot, especially now, as the adrenaline wears off. I’m going to give you a pain killer…“

Shinichi war auf den Stuhl gesunken, hielt sich den Kopf. Er konnte nicht abstreiten, dass sein Kreislauf grad irgendwo im tief im Tal dümpelte.

Nur am Rande bekam er mit, wie der Mann mit einer Injektion auf einem Tablett zurückkehrte, ließ es zu, dass der Pathologe seine Hand ergriff. Shinichi blickte in sein Gesicht, sah dieses Lächeln auf seinen Lippen, als er fast zärtlich den Verschluss öffnete, ihm die Uhr abnahm und sorgfältig auf den Tisch daneben legte.
 

McCoy schaute ihm lange ins Gesicht, intensiv, beobachtete die ruhigen Gesichtszüge des leicht weggetretenen Detektivs und spürte sie in sich emporsteigen wie Magma in einem Vulkanschlot – Macht.

Grenzenlose Macht über das Leben eines anderen. Er hob die Hand, hielt sie ihm an die Stirn.
 

„Don't worry, just one more moment and you'll be better…“, meinte er gelassen, säuberte ein kleines Fleckchen Haut mit einem Alkoholtupfer.

Und als er die Spritze setzte, sie fast genussvoll in die Vene seines Patienten tauchen ließ, der nur kurz zusammenzuckte, den Kolben langsam durchdrückte und dadurch diese raffiniert wirkende Substanz auf ihren Weg schickte, lächelte er.
 

Endlich war es vollendet.
 

Routiniert legte er die Spritze zurück aufs Tablett, hob Shinichis Kopf kurz an.
 

„You’ll feel the effect in no time.“
 

Dann griff er nach einem Zellstofftuch, tränkte es mit Desinfektionsmittel und begann, die Schnittwunde abzutupfen. Shinichi verzog das Gesicht kurz, als das Brennen ihn aus seinem Dahindämmern riss, ihm der scharfe Geruch des Mittels in die Nase stieg.
 

„Tja. Ich muss sagen, dieses Schwert hat schon schönere Schnittwunden verursacht. Da hat jemand nicht gut darauf aufgepasst – und es ist eine Schande, handelt es sich doch um Honjo Masamune… dem wahrscheinlich...“

Er trat vom Tisch zurück, drehte sich kurz um, um etwas von der Platte zu holen, mit der er an den Tisch gekommen war.

Seine Worte sanken in Shinichis Kopf ein, langsam.

Als er jedoch ihren Sinn verstand, riss er die Augen auf, stand so heftig auf, dass der Stuhl umfiel. Er stieß gegen den Tisch, klammerte sich an die Tischplatte, als ihm kurz schwindelte.
 

„… besten und schärfsten je geschmiedeten Katana der Welt. Es gilt als verschollen. Wo- woher…?“
 

„Das weißt du doch.“
 

McCoy hatte sich wieder umgedreht, lächelte ihn nachsichtig an, in seiner Stimme klang fast ein bisschen Spott. Shinichi starrte ihn an - der Tonfall, die ganze Stimmlage des Pathologen hatte sich verändert – und ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren.
 

Am meisten jedoch erschreckte ihn eine andere Tatsache.
 

Er spricht Japanisch!

Wieso – wieso spricht er…

Seit wann…

Wer…?
 

Seine Augen weiteten sich, als er den alten Mann ansah, dieses vertraute Gesicht – aus dem ihn nun zwei eiskalt funkelnde Augen anstarrten, mit kalkulierendem, stechend scharfem Blick.

Dann spürte er den scharfen Schmerz in seinem Kopf, der kurz sogar das Pochen der Schnittwunde übertönte, sog keuchend die Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen ein, kniff die Augen für einen Moment zusammen. Übelkeit stieg in ihm hoch, unterstützt von dem Dämpfen des Desinfektionsmittels, ließ ihn kurz die Situation vergessen. Das Klimpern und helle Splittern der zerbrechenden Spritze, die auf den Boden fiel, als er schwankte und gegen den Tisch prallte, rissen ihn aus seiner Starre, holten ihn in die Realität zurück. McCoy lächelte wissend, als er sah, wie sein Patient blass wurde, ihm zusehends alle Farbe aus dem Gesicht wich und er gegen die drohende Ohnmacht kämpfte.
 

„Du hättest sitzen bleiben sollen, dummer Junge.“
 

Er griff nach dem Schwert, ehe Shinichis Beine nachgaben. Der schnappte seinerseits nach Luft, war wieder gegen die Tischkante gesunken, merkte, wie sich alles drehte, als er weiter gegen die Bewusstlosigkeit anfocht, die seine Welt langsam in Watte zu packen schien. Leise Panik kroch in ihm hoch, als er das Gefühl in seinen Beinen verlor, die Taubheit in seine Knie wanderte, ihm nicht mehr erlaubte, gerade zu stehen.

Schwarze Kreise tanzten vor seinen Augen, seine Glieder wurden schwer und entzogen sich seiner Kontrolle. Er hörte sich selbst laut atmen, wie als ob er neben sich stünde und sich selbst ins Ohr schnaufte, spürte Hitze in seinen Kopf steigen, griff sich an die Stirn, oder wollte es zumindest – auch sein Arm gehorchte ihm nicht mehr, schien ihm nicht mal mehr zu gehören. Nur am Rande bekam er mit, wie er zu Boden fiel, sich den Kopf anstieß, was die dumpfen Kopfschmerzen, die ihn heimsuchten, zum Explodieren brachte und er kurz, aber laut aufschrie.

Mühsam atmete er ein und aus, versuchte, wieder Herr über seine Muskeln zu werden.
 

„Aber…“, murmelte er tonlos.

Er blinzelte träge, sah das weiße Autopsielicht grell durch seine getrübte Sicht blitzen.

„Erinnerst du dich nicht?“, fragte McCoy, in seiner Stimme lag fast schon Enttäuschung.

„Du hast mich nie gesehen, aber gehört. Und eigentlich dachte ich, dass sich diese Stimme einbrennt in dein Gedächtnis… auf alle Ewigkeit.“

Und er lachte.

Leise, eindringlich, triumphierend.

Shinichi starrte ihn an, seine Sicht flimmerte immer mehr.

Er sah eine dunkle, schemenhafte Gestalt, mit einem Katana in der Hand, umgeben von einem Kranz aus Licht – und die Erkenntnis, als sie dann endlich kam, verpasste ihm eine saftige Ohrfeige.
 

„Anokata…“, wisperte er kraftlos, kniff die Augen zusammen, nicht willens, der drohenden Ohnmacht klein bei zu geben.
 

„Ganz Recht.“
 

Er lachte leise, fast vergnügt, in sich hinein.

„Und dafür, dass man dich hier Sherlock Holmes nennt, Kudô… hast du ganz schön lange gebraucht, um zu erkennen, dass es Moriarty ist, mit dem du die ganze Zeit arbeitest…!“
 

Er lachte lauter, bemerkte Shinichis Blick, der auf ihm haftete, unfähig eine Antwort zu geben, weil ihm die Zunge am Gaumen klebte. Er schluckte trocken, starrte ihn an wie die Maus die Katze und wurde sich bewusst, dass er schon wieder ein Versprechen gegeben hatte, das er nicht würde halten können.
 

„Du hast mir wortwörtlich aus der Hand gefressen… großer Detektiv…!“

Er grinste höhnisch, beugte sich zu ihm hin, so nahe, dass Shinichi seinen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.
 

„Du warst völlig blind…“
 


 

Rei Furuya – oder Samuel Gallagher, wie man ihn hier nannte - rannte wie vom Teufel gejagt über den Hof. Er hatte McCoy und Kudô in den Keller gehen sehen, und musste nicht lange raten, was dort passieren würde.
 

Er wird ihn töten!
 

Dann erblickte er Jenna, die zusammen mit Ran, Heiji und Shuichi Akai beisammenstand, blieb schwer atmend vor ihnen stehen.

Jenna drehte sich um, lächele ihn strahlend an.

„We solved and closed the case, Samuel! Isn’t that awesome?!”

„Are they alone down there in the basement?!“, unterbrach er sie harsch, blickte sie starr an, in seinen Augen ein drängender Ausdruck, der seine ohnehin sehr dunklen, braunen Augen fast schwarz erscheinen ließ. Ran schaute ihn eingehend an, musterte das Gesicht, den Schwung seiner Nase, seine Mimik, die Bewegungen, die er mit den Händen machte, als er sprach.

„Come on, Jenna, are they alone?! SI Kudô and the doc, are they alone down there?!“

Ran zog die Augenbrauen zusammen, betrachtete den aufgebrachten Officer nachdenklich. Irgendwoher kam er ihr bekannt vor. Sie warf einen Blick auf Akai, der neben sie getreten war und sich ein wenig bewegte – ihr schien, als war eine gewisse Spannung in seinen Körper getreten. Seine Augen waren auf den jungen Constable gerichtet, ohne zu blinzeln.
 

„Yeaaah…“, begann Jenna träge, „so what? The man is just going to coddle him up a bit, it’s not as if he’s going to kill him, even if, admittedly, our dear doc is indeed more accustomed to treating dead than alive patients…“
 

Gallagher schwankte, schloss die Augen, stöhnte frustriert auf.

Akai hingegen, der ihn mit starrem Blick angesehen hatte, wartete nicht auf eine Antwort. Er drehte um, begann mit langen Schritten Richtung Eingang des Polizeihauptquartiers zu laufen. Heiji folgte ihm, konnte sich denken, dass irgendetwas im Busch war.

„Was…?“, keuchte er, als er endlich aufgeholt hatte.

„Anokata.“, murrte Akai leise, schaute ihn nicht an, hämmerte auf den Aufzugschalter und begann dann doch die Treppe runterzulaufen, weil der Lift ihm nicht schnell genug war. Er hörte es hinter sich rascheln und sah Ran, die sich in ihrem wallenden Outfit die Treppe runterquälte, um nicht auf den Rock zu treten und zu stürzen.

„Bleib oben!“, blaffte er unfreundlich.

„Dich können wir hier nicht brauchen, warum denkst du, hat er dich nicht mitgehen lassen?!“

Ran starrte ihn an, blieb stehen.

„Was ist los?“, fragte sie leise.

„Wir haben jetzt keine Zeit, das zu erklären.“, murrte Akai, aber Ran trat vor ihn, baute sich vor ihm auf.

„Was ist los?! Wer ist Anokata?!“
 

Heiji schluckte, strich sich über die Augen.

„Anokata… nannte er den Boss.“

Heiji wandte sich um, bemerkte Jenna, die ihn ob ihrer mangelnden Japanischkenntnisse ratlos anschaute.

„Anokata is the name of the boss of the Black Organization. We’ve got to get down there, immediately. It seems that your doctor is -“

Jenna starrte ihn an.

“What…?”
 

Ran stand da, starrte von Heiji zu Akai, in ihren Augen kämpften pures Entsetzen und nackte Angst um die Herrschaft. Jenna schaute sie an, ihr Mund stand leicht offen, ihre Hände ballten sich krampfhaft.

„McCoy is one of them? And he has – he has… Fuck, did he know?!“

„Very likely so. I just don’t know if he was aware of with whom he went down there. He must have smelled that there’s something fishy, that would explain his reaction just now – prohibiting that Ran went down with him.“
 

Damit drehte Akai sich wortlos um, eilte die Treppen weiter nach unten. Ran raffte ihre Röcke, zog die Schuhe aus und ließ sie stehen, eilte an ihm vorbei in die weiße Hölle der Autopsie, den unterkühlten Blick, den er ihr zuwarf, ignorierend. Jenna stand da, ließ den Anblick kurz auf sich wirken – eine Prinzessin im weißen Kleid, die ohne Schuhe in den Abgrund rannte, um ihren Helden zu retten.
 

Aufreizend langsam kroch ihr der Schauer über den Rücken, als ihr Puls sich immer weiter in die Höhe hetzte. Sie übersprang die nächsten drei Stufen zum nächsten Treppenabsatz, hetzte wie vom Teufel gejagt hinterher, dicht gefolgt von Heiji.
 

How did he know, by the way…?
 


 

McCoy lächelte still in sich hinein, schlenderte gemächlich zu seinem Gefangenen und griff ihn am Kinn. Ein Grinsen umspielte seine Lippen, als er das Gesicht des bewegungsunfähigen jungen Mannes betrachtete.
 

„Endlich bringen wir es zu Ende, Kudô… es wurde auch Zeit.“
 

Er seufzte theatralisch.

„Allerdings, für dich habe ich mir noch etwas Besonderes ausgedacht… das sollte dir deinen Übergang ins Jenseits etwas erleichtern.“

Ein fast wohlwollendes Grinsen schlich sich auf seine Lippen, als er sich einen Stuhl heranzog, ihn vor seinem Opfer abstellte, in einigem Abstand, um eine gute Sicht auf ihn zu haben, und sich niederließ. Kein Mensch würde sie hier stören, durch den Einsatz waren die meisten oben – und hier hinten arbeitete außer ihm ohnehin keiner.

Er würde sich vom Acker machen, wenn alles vorbei war.

Solange sollte sie hier keiner stören.

Und wenn es dann geschehen war, würde er verschwunden sein, und mit ihm jeder Beweis für seine Existenz. Dafür hatte er gesorgt.
 

Ein Grinsen umspielte seine Lippen.
 

„Genießt du ihn schon…? Deinen letzten Höhenflug, ehe dein eigener Albtraum dein Herz zur Kapitulation zwingt, Kudô?“
 

Shinichi stöhnte leise auf, verstand kaum, was er sagte, blinzelte ihn an. Er schlitterte immer noch mit Mühe an einer Ohnmacht vorbei.
 

Ihm brummte der Schädel, wie als ob ihn jemand mit einem Presslufthammer bearbeitete.
 

Und wer auch immer gerade das Ding da in der Hand hat, liebt seinen Job…
 

„Du bist ja noch wach…“
 

McCoy lächelte.
 

„Sieh mal einer an, du bist ein zäher Brocken, aber gut, das wusste ich. Noch dazu hast du ja in den letzten Tagen etwas üben dürfen. Ein kleines warm-up, sozusagen.“

Sein sanftes, spöttelndes Lachen erfüllte den Raum.

„Weißt du, es tut mir fast ein wenig leid… wie gutgläubig du mir folgtest, wie brav du stillgehalten hast, als ich dir die Injektion verabreichte…

So folgsam warst du früher nicht… wärst du’s gewesen, hätten wir das hier vielleicht schon viel schneller beenden können…“
 

Shinichi blinzelte angestrengt, bis sich sein Blick fokussierte und der Arzt in sein Blickfeld rückte. Und hätte kotzen können, als er den Spott in dessen Stimme hörte.
 

Bastard. Warum zum Henker hab ich das nicht bemerkt? Ein schöner Sherlock Holmes bist du, Kudô… siehst Moriarty nicht, wenn er dir tagelang unter der Nase herumtanzt.

Aber was…
 

Er räusperte sich, schluckte hart.
 

„Was haben Sie mit dem echten McCoy gemacht?“

Der junge Detektiv zwang sich, sich aufzusetzen, kämpfte sich mit Mühe auf die Beine, als das Gefühl in ihnen langsam zurückkehrte, blieb schwankend stehen, hielt sich an einem Regal fest, während McCoy nachsichtig lächelte.

„Keine Sorge. Der gute Doktor genießt gerade die Annehmlichkeiten seines eigenen Kellers. Wenn jemand von euch schlau genug ist, kombiniert er das selber, wenn ich weg bin – und holt ihn da raus, bevor er verdurstet. Du wirst das allerdings nicht sein.“

McCoy lächelte immer noch, als er aufstand und ein wenig zur Seite trat, damit Shinichi die Bombe sehen konnte. Der verdrehte die Augen, hielt sich immer noch am Regal fest. Irgendwie wollten seine Gliedmaßen gerade so gar nicht so wie er.

„Was suchten Sie eigentlich hier? Sie scheinen ja nicht mit Gin…“

Seine Stimme klang bissig.

„Nein, da hast du Recht.“

Der Pathologe, legte sich nachdenklich einen Finger ans Kinn.

„Ich steckte nicht mit Gin unter einer Decke. Auch wenn ich ihn beobachtet habe, so offen kann ich sein. Und es hat mich sehr amüsiert, ja wirklich. So gut unterhalten hat mich die letzten Jahre kaum etwas. Er dachte ja nicht, dass ich deinen letzten Sturm auf meine Festung überstanden habe. Deshalb hat er es ja auch gewagt, mir meinen Schatz hier zu stehlen.“

Er strich mit einem Finger über die Klinge seines Schwerts.

„Fand es zweifelsohne reizvoll, dein Mädchen damit umzubringen, und dann dich. Weder das eine noch das andere hat er ja geschafft. Wie... überaus enttäuschend.“
 

Ein Stirnrunzeln furchte seine Gesichtshaut.

„Er ist bestimmt an die Decke gegangen, als er das herausfand, er kann mit Niederlagen so gar nicht umgehen, musst du wissen.

Nun, zumindest sie hast du diesmal retten können. Ein erhebendes Gefühl, was?“

Shinichi schluckte. Ein bitterer Geschmack hatte sich in seinem Mund bei dem Gedanken an Ran ausgebreitet.
 

„Falsch.“, murmelte er leise.

„Das war nicht ich. Das war Jenna. Ich…“

„Du hast ihn gejagt.“

McCoy nickte scheinbar verständnisvoll.

„Klar, dass du ihn nicht gehen lassen konntest. Und seien wir ehrlich, welche Wahl hattest du – die kleine Polizistin mit Gin konfrontieren? Er hätte Hackfleisch aus ihr gemacht. Hätte er aus dir ja schließlich auch fast fabriziert.“

Seine Zähne blitzten, als er lachte. Geisterhaft hallte das Geräusch in den Räumen der Autopsie wider.

„Du hast ihn überlistet. Am Ende hast du richtig gehandelt – wenn du dich auch wieder gegen sie entschieden hast.“

Shinichi schluckte, merkte, wie das schlechte Gewissen in ihm wühlte.
 

Dieses Gespräch ist doch absurd. Was soll das?
 

Unwillig schüttelte er den Kopf.

„Das geht Sie nichts an. Und ich glaube auch, uns beschäftigt hier ein anderes Problem.“

Er nickte in die Richtung der Bombe.

„Tja. Da muss ich dir wiedersprechen. Das ist allein dein Problem.“

Shinichi schaute ihn verwirrt an, schluckte. Spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, seine Finger taub wurden, in seinen Beinen das Gefühl schwand, ganz, als ob sie sich von einem Moment in den Anderen in Gelee verwandelten.
 

Er blickte auf das blitzende Schwert in McCoys Hand, der im Gegenlicht stand, griff sich auf einmal an den Hals, als ihm das Atmen schlagartig unmöglich schien, weil irgendetwas ihm die Luft einfach abdrückte.
 

Und er ahnte, was passiert war. Woher die Taubheit in seinen Extremitäten kam.
 

Atemlos starrte er McCoy mit kaum verhehlter Angst in den Augen an, als er sich erinnerte – an das letzte Mal.
 

Er stand da, im Gegenlicht, hielt das Katana in seiner rechten Hand, ließ es locker auf- und abwippen.
 

„Also, noch einmal Kudô, und langsam dürftest du doch verstanden haben, was wir von dir wollen… großer Detektiv des Ostens.“
 

Ein hämisches Lachen ertönte, als Gin langsam nähertrat. Shinichi schaute ihn stur an – seine Glieder schmerzten, sein Kopf fühlte sich seltsam hohl an. Vor seinen Augen tauchten immer noch Fetzen der letzten Privatvorstellung auf, die ihm das Halluzinogen beschert hatte – Ran, die ihn weinend anstarrte, Worte sprach, die er nicht verstand. Die sich umdrehte und ging, einfach im Nebel verschwand, nichts weiter zurückließ als das Gefühl unbeschreiblicher Leere und der Gewissheit, dass es sein Fehler war, dass sie weg war – und dass sie nicht wiederkam. Er hatte sie schreien sehen, weinen sehen, trauern und sterben sehen, immer und immer wieder. Die Droge ließ ihn ihren Schmerz, ihr Leid, viel intensiver spüren, als er es in der Realität als Conan ohnehin schon getan hatte, wenn sie wieder einmal Tränen vergoss, wegen ihm.

Er wusste nicht, wie lang er das noch aushielt, zuzusehen, was mit ihr geschah, wenn er versagte. Und er hielt den Gedanken nicht aus, was mit ihnen allen passierte, wenn er versagte – mit Ai, mit Heiji, mit seinen Eltern, dem Professor. Und er hatte keine Ahnung, wo das hinführte.

Er schloss die Augen, versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, sich einzureden, dass das Verlustgefühl, das ihn jedes Mal mit scharfen Klauen packte, nicht echt war.

Ran ging es gut. Und allen anderen auch noch. Das FBI war schließlich auch noch da draußen.

Sonst würden die sich hier schon ganz anders aufführen.
 

„Ich muss gestehen, langsam wird es lästig, dich jeden Tag aufs Neue bitten zu müssen.“

Er lächelte verschlagen.

„Andererseits bietest du einem auch jeden Tag eine unvergleichliche Show… aber ehrlich, mal unter uns, Kudô… wie lange willst du das Spiel noch spielen?“
 

Er trat näher, so nahe, dass Shinichi seinen beißend nach Rauch stinkenden Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Der junge Detektiv zwang sich, die Augen zu öffnen.
 

„Sieh dich doch mal an, Kudô…“

Gin griff ihm am Kragen, näherte sich seinem Kontrahenten noch weiter, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten.

„Du liegst am Boden und hast nicht die Kraft, alleine aufzustehen! Fahle Haut, eingefallene, rotgeäderte Augen, strähnige Haare, dieses Zittern, das du nicht mehr loswirst, weil dein Körper danach schreit, dein Kreislauf ohne diese Droge nicht mehr funktionieren will…“

Er lachte auf, als er das leise Stöhnen hörte, das über Shinichis Lippen kroch, als er einen Aufschrei unterdrückte.

„Du willst es nicht, du hast panische Angst davor, aber dennoch sehnst du dich danach, denn es stellt dieses Bild in deinem Kopf ab, die Vorstellung vom Leid deiner Freundin, von ihrem Tod, den du fürchtest, seit Tagen, seit dem ersten Mal…“
 

Er lachte laut auf, griff in Shinichis Haare, zerrte seinen Kopf zurück, als er sich an seine Wange lehnte, um ihm die nächsten Worte wohldosiert in sein Ohr zu wispern.
 

„Oder irre ich mich…?“
 

Shinichi schrie auf, als Gin noch weiter zog, spürte, wie sein Kopf explodieren wollte, als sich der pochende Kopfschmerz in seinem Schädel durch den Ruck vertausendfachte. Er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis der Entzug ihn niederwarf, er schreiend und um Atem ringend am Boden liegen würde, und sich wünschte, einfach tot zu sein.
 

So lange schienen sie heute jedoch nicht warten zu wollen.
 

Eisig klang seine Stimme, kaum lauter als ein Flüstern, an sein Ohr.
 

„Lass ihn los...“
 

Shinichi schluckte hart, fiel fast zu Boden, als Vodka und Gin von ihm abließen. Er kniff kurz die Augen zusammen, als seine Sicht verschwamm, schluckte erneut, erfolglos, merkte, wie trocken sein Mund war. Seine Zunge klebte ihm buchstäblich am Gaumen, und er hatte keine Ahnung, ob er auch nur ein Wort artikulieren könnte, falls er das wollte.

Er wusste, was Gin sagte, stimmte. Er fühlte den körperlichen Verfall… er wusste, er schlief wenig, brachte kaum einen Bissen des ohnehin spärlichen Essens runter, das man ihm anbot. Sein Kopf kam nicht zur Ruhe, jagte ihn von einer Wahnvorstellung in die nächste, trieb seine Puls- und Atemfrequenz in die Höhe, bescherte ihm Schweißausbrüche und Schüttelfrost abwechselnd, Krämpfe und Phasen völliger Unbeweglichkeit.
 

Er hatte keine Kontrolle über sich.
 

Und dennoch, das ahnte er langsam, war der Zeitpunkt längst gekommen.
 

Wenn sie ihm das Zeug verabreicht hatten, dann schlief er einfach ein. Fand ein paar Momente Ruhe, in denen er einfach nur träumte, von ihr. Von ihrem Glück.

Er hatte keine Ahnung, wieviel er preisgab, wenn er im Schlaf phantasierte.

Allerdings, das konnte er nicht abstreiten, war dieser Zustand süchtigmachend… es fühlte sich nicht wie Schlaf an, für ihn, schien viel realer. Er konnte sie spüren, sie fast riechen, sah die Freude in ihren Augen, hörte ihr Lachen, und merkte, wie all die Sorgen, die ihn quälten, von ihm abfielen. Er dachte einfach nicht mehr an alles andere, das da war…

Kein Schmerz, kein Alptraum, nichts weiter als traumhafte Glückseligkeit.
 

Mühsam atmete er ein und aus.

Was dem folgte, war jedesmal die Hölle. Ran, die ihm entrissen wurde, Ran, die vor Angst und Panik schrie, er selbst, der vor Schmerzen hochfuhr, der umsonst nach ihr greifen wollte, sie nicht zu fassen bekam, sie beschützen wollte, und sie nie vor ihrem Unheil bewahren konnte.
 

Und auch das… schien unwahrscheinlich real.
 

Und wenn er dann aufwachte, schweißgebadet und mit den Nerven am Ende, heiser, ohne die Kraft, sich zu bewegen oder sich zu wehren, dann wünschte er sich seinen Traum zurück.
 

Er war süchtig.
 

„Wenn er den Mund nicht aufkriegt, probiert heute doch mal ein bisschen mehr… vielleicht macht ihn das ein wenig auskunftsfreudiger.“

Shinichi merkte, wie ihn das Entsetzen packte.

„Nein!“

Er schrie atemlos auf, seine Stimme überschlug sich, brach, klang ungewohnt heiser in seinen Ohren, als er sich in Wodkas Griff wand, der ihn auf einen Wink des Bosses wieder auf die Beine gezerrt hatte.
 

„Ach, komm schon…“
 

Er versuchte, sich aus Wodkas Gewalt zu befreien, der ihn wieder gepackt hatte, damit er nicht entkam, trat um sich mit einer Kraft, die ihn selbst erstaunte, wand sich, als sie näher kam, die Spritze in ihrer einen Hand, das alkoholgetränkte Tüchlein in der anderen. Er kniff die Lippen zusammen, wandte den Kopf ab, drehte ihn immer wieder aus den Händen, die ihn festhalten wollten, bis sie ihn zu dritt griffen, ihm die Kehle fast abdrückten, solange, bis er fast ohnmächtig geworden war, weil er sich weigerte, stillzuhalten, wusste er doch, was ihn erwartete… aber der Sauerstoffmangel tat seine Pflicht.

Seine Bewegungen wurden matter, seine Gegenwehr erstarb. Den Stich am Handgelenk spürte er kaum.
 

Als man ihn losließ, fiel er zu Boden wie ein gefällter Baum, seine Augen blicklos und unfokussiert, sein Atem flach und schnell… und sein Kopf voller Bilder.
 

„Nein! Nicht das, nicht…!“
 

Er rang nach Atem, rieb und kratzte an dem kleinen roten Punkt, wo die Injektionsnadel das Gift in seinen Organismus geimpft hatte, und wusste doch, wie zwecklos das alles war. Es war längst zu spät.

McCoy sah ihm dabei zu und lachte nur.
 


 

Ran blieb abrupt stehen, wie auch alle anderen, die gerade noch gelaufen waren. Sie befanden sich bereits in den unteren Geschossen, als sie es fühlte.

Sie spürte, wie ihr Herz gegen ihre Brust schlug, wie ihre Beine unter ihr nachgeben wollten. Ran sank gegen eine Wand, konnte kaum mehr stehen, zitterte am ganzen Körper. Jenna schaute sie beunruhigt an.

„Are you okay?“, fragte sie überflüssigerweise, erwartete keine Antwort – und bekam auch keine. Stattdessen blickte sich Heiji suchend um.

„Where the heck are we?“
 

Der junge Sergeant seufzte, fuhr sich mit zitternden Fingern durch die wirren Locken.

„Two stories above the autopsy halls. They are down, at the very bottom.“

Sie seufzte leise.

„You really believe, McCoy is the boss? But he’s working for Scotland Yard for decades now, as far as I know. How could he possibly…?“

„Maybe it’s not him. Maybe someone is disguising himself as Dr. McCoy, your cherished pathologist.“

Akais leise Stimme ließ sie herumfahren.

„But – that’s impossible. That man there knows these premises just too well, knew about every room, every machine, the whereabouts of everything and everyone. He acts too perfect! He knows things only the real McCoy could know. He never even gave the slightest impression of not being Dr. Constantine McCoy…“

Jenna schaute ihn fragend an.

„How would he be able to achieve this…“

„Maybe he had an assistant. A scout. Someone, who prepared everything, briefed him, provided him with every bit of information he needed.“

Heiji schaute nachdenklich auf den Boden, kratzte sich am Kinn.

„And if he hasn’t killed the real McCoy, but rather held him captive, he can go and dig for insider-knowledge anytime…“

Jenna schluckte.

„But how could he – all the names, all the stuff…!“

Akai lächelte schmal.

„I’m sure he had an insider here. That scout must’ve been here for quite a while now, a person especially skilled in masking, acting and gathering intelligence.“

Heiji fuhr ruckartig herum, starrte ihn an.

„Vermouth?“

„No.“

Akai schüttelte den Kopf.

„Someone adept with police work. Someone who could blend in here flawlessly and easily, because it’s where he’s at home. All he needed was a disguise, which he might have learned from Vermouth; but it wasn’t her.“

Sein schmales Lächeln verbreiterte sich.
 

„Bourbon.“
 

Er wandte sich um, schaute die Treppe hoch.
 

„And he seems to owe Kudô something, otherwise I wouldn’t know why he sent us down there.”

Jenna starrte ihn an, merkte, wie ihr ihre Fassung buchstäblich aus dem Gesicht fiel.
 

„Gallagher?!?“

Ihre Kinnlade streifte fast den Boden.

„Samuel Gallagher – one of THESE guys? You must be kidding…!“

„Well. Bourbon was not what you’d call a typical member of that organization. “
 

Ran sah von einem zum anderen, schluckte. Sie wollte etwas einwerfen, doch keiner schien sie so recht wahrzunehmen; offenbar lösten sie gerade die Eckpunkte ihres Falls – sie allerdings konnte kaum mehr atmen, weil ihr die Sorge um ihn die Luft abschnitt, mit kalten, starken Fingern die Kehle zudrückte, noch mehr, als es die enge Korsage des Kleides je gekonnt hätte.

Sie kniff die Lippen zusammen, hob sie ihre Röcke an, tappte allein die Treppe hinab.
 

Shinichi.
 


 

„Das ist dafür, dass du meine Organisation zerstört hast.“
 

Eiskalt dröhnte McCoys Stimme von den Wänden wieder, klang schmerzhaft in sein Ohr. Shinichi hielt sich krampfhaft am Regal fest – warum er noch stand, war ihm ein Rätsel. Sein dröhnender Kopfschmerz ließ ihn kaum einen klaren Gedanken fassen und er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bevor er apathisch und zu keiner Regung mehr fähig am Boden liegen würde. Aber noch weigerte er sich, klein beizugeben, kniff die Augen angestrengt zusammen, um die Ohnmacht zu verscheuchen, die ihm sein Hirn bereits als leichtes Flimmern in seinem Gesichtsfeld ankündigte. Er schüttelte den Kopf, massierte sich die Nasenwurzel.
 

Nein…
 

Der Pathologe sah ihn interessiert an.
 

„Hast du nicht Lust auf einen Trip? Ein paar ekstatische Minuten mit deiner kleinen Freundin, ehe du draufgehst… je länger du dich sinnlos wehrst, desto kürzer wird der Spaß an der Sache.“
 

Der Boss lachte.

„Es war so rührend von dir, wie du dich verabschiedet hast… du Genie, du wusstest doch, dass du auch dieses Versprechen nicht halten kannst. Ich hab‘s dir angesehen, auch wenn du nicht ahntest, wer ich war, so ahntest du doch, dass du keinesfalls für ein Pflaster und ein Stückchen Traubenzucker hier mit mir runtergehen würdest…“
 

Shinichi lehnte seine Stirn gegen die Wand, sah den Mann nicht an, versuchte, durch kontrolliertes Ein- und Ausatmen den Moment des totalen Kontrollverlustes hinauszuzögern.

„Warum…?“, murmelte er schließlich fragend, schnappte nach Luft, sammelte sich erneut.

„Warum das? Sie könnten mich umbringen und verschwinden, warum…“

„… ich noch bleibe, willst du wissen?“
 

McCoy trat näher, beugte sich vor, so nahe, dass Shinichi seinen heißen Atem an seinem Ohr spüren konnte, als er sprach – und es ekelte ihn an.
 

„Ich will das noch einmal sehen… niemals hat jemand so auf diese Droge reagiert wie du. Immer auf die gleiche Weise, immer so authentisch… zu sehen und zu hören, wie sehr du sie liebst…“

Shinichi warf ihm einen angewiderten Blick zu.

„Hah. Ich wusst’s doch. Sie wollen also unterhalten werden, nicht wahr?“

Ein zynisches Lachen entfloh ihm.

„Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie auf Schnulzen stehen.“
 

Langsam lehnte er sich zurück, versuchte, tief ein und auszuatmen, ruhig zu werden.
 

Ruhig.
 

Du willst ihm den Gefallen nicht tun, das zu sehen… zu hören…
 


 

Ran war mittlerweile im Gang angekommen, in dem die Autopsiesäle lagen.
 

Und sie hörte eine Stimme, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte, blieb stehen, um zu verstehen, was sie sagte, lauschte angestrengt über ihren eigenen keuchenden Atem hinweg.

Und sie fühlte, wie ihr die Worte, die an ihre Ohren drangen, den Boden unter den Füßen wegrissen, Stück für Stück, eins ums andere.
 

Langsam wurde ihr klar, dass sie zu spät kam.
 

Nein!
 


 

McCoys Stimme schwappte über ihn hinweg.
 

„Ich will dich sterben sehen. Auf die grausamste Weise, die ich mir denken kann… und nach reiflicher Überlegung fand ich, dass es diese Weise ist. Dein Herz, das stehen bleibt, wenn du von ihrem Tod träumst, Schmerz, Leid und Angst spürst, Verzweiflung und Trauer, angetrieben und in seiner Intensität vertausendfacht von dieser Droge. Dein letztes Bild, dass das du siehst, bevor du abtrittst, wird das deiner toten Freundin sein, das scheint mir nur fair.

Damit sind wir dann quitt, denke ich. Und siehs positiv, bevor du aus dieser schönen Welt scheidest, kommt der Rausch. Genieß ihn, es wird dein Letzter sein.“
 

Er schmunzelte, dann schüttelte er den Kopf.

„Aber wie unhöflich von mir. Jetzt reden wir hier schon so lange und ich habe mich noch gar nicht vorgestellt… mein wahres Ich, meine ich. Du wolltest mir immer die Maske vom Gesicht ziehen – bitte – diesen einen Wunsch will ich dir gerne noch erfüllen. Allerdings… um deine Ehre zu retten, nachdem dein detektivischer Spürsinn gerade eben schon so versagt hat, gebe ich dir einen Hinweis.“

McCoy sah, wie er schluckte, fühlte seinen musternden Blick auf sich.

„Ein Spiel? Jetzt noch?“

„Ein Rätsel, vielleicht.“

McCoy lachte.
 

„Du magst doch Rätsel. Du liebst es, sie zu lösen, sonst wärst du nicht hier, Holmes. Also hier der erste Hinweis.“

Er machte eine kleine Kunstpause, starrte Shinichi, der ihn interessiert und ablehnend gleichermaßen anblickte, triumphierend an.

„Du erinnerst dich sicher, als du… mein Gast warst. Ich habe es dir angesehen, dir kam die Stimme immer seltsam vor, nicht wahr?“
 

Shinichi blinzelte, schaute ihn an.

„Ja. Seltsam körperlos schien sie. Als ob sie nicht ihre eigene wäre. Ich schob… es auf die Maske.“

„Und damit hattest du Recht.“

McCoy schaute ihn milde lächelnd an.

„Du kennst dich doch aus mit solchen Sachen…“

Shinichi verzog das Gesicht, kurz, als ihn die Erkenntnis traf.

„Ein Stimmentransposer.“

Ein sanftes Nicken bestätigte seine Antwort.

„Nun, das… überrascht mich nicht. Sie wollten ja nicht, dass jemand Sie erkennt, also warum nicht gleich auch die Stimme verstellen. Scheint konsequent - und unter Anbetracht dessen, das einige Mitglieder ja auch Personen des öffentlichen Lebens waren und vielleicht Ihre Stimme wiedererkannt hätten, hätten sie auch Sie im „normalen“ Leben unter ihrer eigentlichen Identität…“, fing er an – und brach ab, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel.

Und obgleich seine Stirn vor Fieber bereits glühlte, wurde ihm auf einmal irrsinnig kalt.

„…erkennen können.“, vollendete er seinen Satz dennoch, seine Stimme kaum lauter als ein Wispern.
 

„Ich kenne Sie auch…?“
 

„Ist das eine Frage oder deine Antwort…?“

McCoy lächelte süffisant.
 

Shinichi merkte, wie seine Gedanken zu rasen anfingen, die Erkenntnis seine kleinen grauen Zellen an den Rand eines Systemcrashes trieb.
 

Jemand, den ich kenne.

Er ist jemand, den ich kenne…
 

„Nun, wen hast du in deiner engeren Auswahl, Sherlock?“
 

Höhnisch klang McCoys Stimme an sein Ohr.
 

Shinichi biss sich auf die Lippen, versuchte, seine Gedanken zu sortieren.

Viele Optionen blieben eigentlich nicht.
 

„Es… muss jemand sein, der Einfluss hat - eine gehobene Position in der Gesellschaft, eine Führungskraft. Von denen, die ich besser kenne… bleiben eigentlich nur zwei, drei… die dieses Kriterium erfüllen.“

„Was macht dich glauben, dass es jemand mit Einfluss ist?“

Shinichi seufzte leise.

„So eine Organisation führt jemand mit Unternehmergeist, Führungsqualitäten, Durchsetzungsvermögen und Charisma. Sonst bricht einem der Laden auseinander – und wer diese Fähigkeiten in sich vereint, der… wird wohl auch im echten Leben damit Erfolg haben. Also… Ein Vorstandsmitglied, ein Manager einer großen Firma oder Organisation.“
 

Shinichi merkte, wie ihn das Gefühl in den Fingern verließ, als sein Blick sich trübte. Er schluckte hart.

„Es bleiben nur zwei, denen ich es zutraue und beide… kenne ich nicht besonders gut. Hauptkommissar Kiyonaga Matsumoto der Tokioter Kriminalpolizei und… Special Agent James Black vom FBI.“
 

Er ließ den Kopf in den Nacken sinken, merkte, wie sein Puls aussetzte, sein Kreislauf einmal in den Keller ging, als sich die Antwort vor seinen Augen abzeichnete.
 

Nie, niemals hätte er das geahnt.

Niemals.
 

„Mr. Black.“
 

Shinichis Stimme war kaum lauter als ein Wispern, als er den Namen nannte. Er konnte fast nicht hinsehen, als McCoy sich die Brille abnahm, ein Stück Haut an seiner Wange unter seinem rechten Ohr ergriff und daran zu ziehen begann.

Shinichi starrte ihn wortlos an, unfähig zu einer Reaktion, als das ihm so bekannte Gesicht sich unter der Zug von McCoys Hand dehnte, verzerrte, sich die ersten Klebestellen lösten und die Maske sich von seiner Haut pellte. Er kannte das Prozedere, hatte seine Mutter sich oft genug irgendeine Verkleidung vom Kopf reißen sehen, und es hatte ihn immer irgendwie schaudern lassen, so abgebrüht er auch war – er hatte eigentlich schon viel Schlimmeres gesehen.

Aber eine Maske, eine Täuschung, fallen zu sehen, das fast gewaltsame Hervorzerren des eigentlichen Menschen, der wahren Identität, zeigte ihm jedes Mal aufs Neue, wie blind die Menschen sein konnten, wie leicht zu täuschen, wie mühelos zu manipulieren.
 

Diese Tatsache erschreckte ihn jedes Mal.
 

Aber warum eigentlich… ich bin doch nicht anders. So leicht ich getäuscht werde, tische ich auch anderen eine Lüge auf. Eigentlich bin ich mittlerweile ein wahrer Meister der Selbstverleumdung.
 

Das seltsam schmatzende Geräusch kam zu seinem Höhepunkt, ließ ihn aus seinen Gedanken zurückkehren in die Realität. Es klatschte matschig, als die Maske aus der Hand des Arztes zu Boden fiel und auf den harten Fliesen auftraf. Zum Vorschein kam James Blacks Gesicht, die stechend blauen Augen allerdings fixierten ihn immer noch. Ruhig setzte sich der Mann seine Brille wieder auf, fing an, den Mantel auszuziehen, unter dem die Polsterung lag, die ihn als McCoy hatte durchgehen lassen.
 

„Willst du nicht endlich reden…?“

Seine Stimme klang einschmeichelnd an sein Ohr.

„Du weißt, was auf dem Spiel steht. Gin ist bereits unterwegs, um sie zu holen.“
 

Shinichi blinzelte in die Lampe über seinem Kopf. Das Licht blendete ihn, und genau so sollte es auch sein, das wusste er. Er sollte ihn nicht sehen.
 

Und wieder dieses Aftershave in seiner Nase, als er Mann sich näherte.
 

„Warum tust du dir das an… warum sagst du uns nicht einfach, was wir wissen wollen…

Zwei, drei Sätze und alles ist vorbei. Dein jämmerliches Dasein hier… und deine Sorge um deine Freundin. Ich habe kein Interesse an ihr, das weißt du, sie ist nur Mittel zum Zweck - und als solches werde ich sie zu nutzen wissen, das muss dir klar sein, nach dieser Woche… Shinichi.“
 

Er zuckte merklich zusammen bei der Nennung seines Vornamens.
 

„Du bist ein richtig harter Brocken, und es erfüllt mich mit Respekt, wie du dich widersetzt; deine Willensstärke und deine Leidensfähigkeit imponieren mir durchaus.

Gleichwohl kann ich nicht dulden, dass du diesen Kampf gewinnst. Keiner besiegt mich.

Auch nicht du.“
 

Die Stimme entfernte sich, ließ ihn allein mit dem Geräusch seines keuchenden Atems.
 

„Es liegt an dir, wie viel dir ihr Leben wert ist.“
 

Shinichi blinzelte, als die Erinnerung an dieses Gespräch, besser diesen Monolog, verblasste. Er hob den Kopf, fokussierte seinen Blick wieder auf den Mann, der vor ihm stand, ihn milde interessiert musterte und seine Augenbraue hob, als er merkte, dass er wieder Objekt der Aufmerksamkeit seines Gefangenen war.
 

„James Black.“
 

Langsam trat der Angesprochene näher, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, blieb vor seinem Gegenspieler sehen, der ihn immer noch starr anschaute – allerdings, immerhin seine Fassung hatte Shinichi langsam wiedererlangt.

„James, wie in James Moriarty, Black wie in Black Organization.“, murmelte Shinichi leise.

„Richtig.“

Shinichi lachte hohl, auf seinen Lippen ein zynisches Grinsen, als er den Kopf schüttelte.

„Das ist so absurd offensichtlich, dass man es schon wieder für Zufall hält. Genial, das muss ich zugeben…“

Er keuchte, holte Luft.
 

„Aber nun, Mr. Black - wie heißen Sie wirklich?“

„Tut das etwas zur Sache, Sherlock? Oder Conan? Shinichi?“

Er lächelte breit.

"Welchen Namen bevorzugst du?“

Black lächelte, blieb kurz vor Shinichi stehen, der die Augen geschlossen hatte, sich mit beiden Händen am Rohr festhielt, seine Stirn dagegen gelehnt hatte. Er fühlte eine Hand an seinem Hals, zuckte zurück. Der Boss hatte seine Hand gehoben, schaute ihn abwartend an.
 

„Nicht schlecht.“, murmelte er.

„Du hältst ganz schön was aus, liegt vielleicht aber auch daran, dass du ein bisschen üben durftest, die letzten Tage… aber lange sollte ich nicht mehr warten müssen.“

Shinichi berührte unwillkürlich die Stelle, an der Black ihn angefasst hatte; er hatte seinen Puls spüren wollen, und er wusste, dass er raste. Sein Atem ging keuchend, Schweiß war ihm aus allen Poren gebrochen.
 

Und dann hörte er sie rufen.
 

Ran.
 

„Shinichi!?“
 


 

Seine Augen weiteten sich ungläubig, ähnlich wie die Blacks, der auf die Tür blickte, deren große Scheibe den Blick auf den Gang freigab. Noch war ihre Stimme nur leise gewesen, und von drinnen fiel kaum Licht auf den Gang.
 

„Well.“, murmelte er leise. Ein leiser nervöser Unterton schwang in seiner Stimme mit.

„Dann kann ich es eben nicht mitansehen. Das ist schade, aber nicht zu vermeiden.“

Er trat zur Bombe, schaltete sie an – gefährlich und drohend leuchteten die roten Zahlen des Timers auf, fingen an, herunterzuzählen. Shinichi schluckte.
 

Er wollte sich umdrehen, hatte den Schlüssel für die Hintertür bereits in der Hand.

„Wenn du mich nun entschuldigst – ich gestatte mir, durch den Hinterausgang zu verschwinden. Das gebührt einem Mann von Stellung wie mir zwar nicht…“, er grinste kurz, Spott lag in seiner Stimme, „aber ich wähle dann doch lieber den Hinterausgang als ein Zimmer in einem Etablissement, das einem Mann meiner Stellung noch viel weniger gebührt.“
 

Black betrachtete ihn kurz.

„Sieh‘s positiv. Du darfst in den Armen deiner Liebsten sterben. Das ist doch was! Mit Sicherheit doch sehr viel angenehmer, als von mir dabei ausgelacht zu werden.“

Er lächelte höhnisch – und stutzte, als er die Reaktion seines Gegenübers bemerkte.
 

Shinichi sah ihn an – dann fing er an zu lachen.
 

„Nein.“, brachte er schließlich hervor, als er sich wieder gefangen hatte.

„Was, nein?“, schnarrte James Black, die Augen verärgert zusammengekniffen, einen harten Zug um die Mundwinkel.

Shinichi fing sich, keuchte, schnappte nach Luft, als er langsam abzugleiten drohte in den Fiebertraum.

„Ich entschuldige Sie nicht. Und wir sind auch nicht quitt. Und auf gar keinen Fall lasse ich Sie hier raus.“
 

Black legte den Kopf in den Nacken, lachte leise.

„Mein lieber Sherlock, du amüsierst mich. Du bist wohl kaum in der Position…“

Shinichi, der seine Stirn gegen das Heizungsrohr gelehnt hatte, straffte die Schultern. Ein bitteres Lächeln war auf seine Lippen getreten, in seinen Augen funkelte Entschlossenheit. Der falsche Pathologe stutzte.
 

„Ich gebe gern zu, ich hatte gehofft… mir würde ein glücklicheres Ende zuteil. Allerdings… Ran wurde gerettet, Gin ist gefasst, Chianti ist fast tot. Die Organisation ist zerstört, mir ist der Weg gerade recht. Und weil es gar so gut passt…“

Shinichi schluckte, lächelte jedoch immer noch, „…möchte ich an dieser Stelle hier sehr gerne meinen Namenspatron zitieren, Doctor Moriarty.”
 

Er atmete schwer, sammelte sich.
 

„If I were assured of your eventual destruction, I would, in the interest of the public, cheerfully accept my own.”
 


 

Ran hielt nichts mehr.
 

Seine Worte waren kaum verklungen, als sie losrannte, zur letzten Tür am Gang hetzte, nach der Tür griff, um sie aufzuziehen, als wortwörtlich die Hölle losbrach.
 

Er hatte mit Wucht mit seiner freien Hand auf den Quarantäneschalter geschlagen, der sich eben so in seiner Reichweite befunden hatte – in dem Moment, als Rans Gesicht in der Glastür auftauchte, sie gegen die Tür prallte, an dem Griff zerrte und zog, und ihn dabei nicht aus den Augen ließ, nicht einmal blinzelte.

Sie wusste, was er getan hatte.

Und sie wusste auch, was das bedeutete.
 

Er sah sie nur an, in ihrem weißen Kleid, ihr Gesicht voller Angst, als sie gegen die Scheibe drückte, umsonst den Türknauf betätigte. Und er konnte ihre Worte in seinen Gedanken klingen hören, auch wenn nicht ein Laut an seine Ohren drang, weil ihnen allen die Sirene des Seuchenalarms fast das Trommelfell zerriss.
 

Shinichi, nein…!

Nein, nein, nein…
 

Nicht das, bitte.

Bitte!
 

Sie rüttelte an der Tür, gab auf, als sie in seinen Augen las, dass es keinen Zweck hatte.
 

Du hast es versprochen…!
 

Shinichi schluckte mühsam, schaffte es kaum, ihrem Blick standzuhalten. Er tastete sich an der Wand entlang, und sie sah, wie schwer es ihm fiel – dennoch quälte er sich weiter, bis er bei ihr angekommen war, seine Hand an die Stelle der Scheibe legen konnte, wo ihre Finger sie von der anderen Seite berührten.
 

Und was sie vorher geahnt hatte, lachte ihr nun mit aller Grausamkeit ins Gesicht. Sein Hemd klebte bereits stellenweise an seinem Körper, weil er es fast durchgeschwitzt hatte, seine Haut war fahl und blutleer, das rote Licht der Sirene, das über die Szene zuckte, ließ ihn, zusammen mit der blutigen Schnittwunde an seinem Arm, fast aussehen wie einen Zombie.

Seine Augen glänzten fiebrig, als er sie ansah, seine Stirn gegen das Glas lehnte.

Sie konnte die einzelnen Schweißperlen auf seiner Haut glitzern sehen, sah, wie seine Lippen bebten, wie unregelmäßig seine Atmung war.
 

Shinichi…
 

Lautlos flüsterte sie seinen Namen, merkte, wie es sie langsam in Stücke riss, ihn so zu sehen und ihm nicht helfen zu können – ihn nicht einmal berühren zu können. Sie presste sich gegen das Glas als würde sie hoffen, sie würde einfach hindurchfallen, hindurchgleiten… absorbiert und wieder ausgespuckt zu werden, um bei ihm sein zu können.
 

Er wusste, dass es vorbei war, als das Zittern einsetzte, in einem Maß, das er so kaum kannte. Schweiß brach ihm schier aus allen Poren, ließ seine Atmung schleppend werden, seinen Mund trocken. Er klammerte sich mit aller Macht an die Tür und spürte doch, wie sein Organismus in die Knie ging, als sein Blutdruck schlagartig abfiel.

Als er das Gefühl in den Fingern, den Beinen verlor, sackte er einfach zu Boden. Und sah in ihren Augen so viel Angst, dass er es nicht ertrug. Sie war auf der anderen Seite auf die Knie gesunken, lehnte ihre Stirn gegen die Scheibe, schaute ihn an, mit einer Intensität, als wolle sie mit ihm telepathisch kommunizieren.
 

„Geh.“, flüsterte er heiser, wusste, sie konnte seine Stimme nicht hören, seine Worte bestenfalls von seinen Lippen anlesen.

„Ich flehe dich an, tu dir das nicht an, Ran, du kannst mir nicht helfen. Geh! Er hat eine…“
 

Er spürte, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb schlug, als er sie ihren Kopf schütteln sah. Verzweifelt sah er sie an – dann wandte er sich ab, versuchte, ihr zumindest sein Gesicht zu verbergen – und sah geradewegs in seins. Er stand über ihm, hatte sich ihnen lautlos genähert.
 

Erstaunen zeigte sich auf Rans Zügen. Der Mann war ihr bisher nicht aufgefallen, viel zu fokussiert war sie auf Shinichi gewesen.

„Mr. Black! Was ist passiert? Sie müssen ihm helfen, wir…“
 

Dann stutzte sie – in seinen Augen lag ein Ausdruck, der mit dem Agent Black, den sie kennengelernt hatte, nichts mehr zu tun hatte.
 

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er ihn musterte, ihn dabei beobachtete, wie er um sein Bewusstsein kämpfte und diesen Kampf fürs erste verlor.

Ran klebte an der Tür, merkte, wie ihr Atem aussetzte. Hilflos hatte sie mitansehen müssen, als er ohnmächtig wurde, er einfach nicht mehr fähig war, sich zu wehren, nicht einmal eine Hand zu heben – ihn nun bewusstlos und wehrlos liegen zu sehen, war ein Anblick, der sie erschreckte wie nichts zuvor in ihrem Leben.
 

„Shinichi…“

Sie presste ihre Handflächen, ihre Stirn, gegen das Glas, merkte, wie die Verzweiflung sie übermannte.

Die Angst um ihn.

„Warum helfen Sie ihm nicht!? Sie müssen ihm helfen, wer weiß, wo der Boss…“

Ihre Anklage blieb ungehört, ihre Worte einfach niedergetrampelt von der ohrenbetäubenden Sirene – Black sah sie trotzdem, sah die Anklage, die Verzweiflung in ihren Augen, lächelte bitter. Dann drückte er auf den Schalter, der die Gegensprechanlage aktivierte, damit sie ihn hören konnte.
 

„Why don’t you help him!?“
 

Ihre Stimme hallte laut wider im Autopsiesaal.

„Ah, well.“

Er lächelte milde, spöttisch.

„Ich hab ihm schon genug geholfen, indem ich ihm zu diesem Zustand verholfen habe…“
 

Rans Atem setzte aus, als sie begriff, was dieser Satz bedeutete.

„Sie…?“, wisperte sie leise.

„Allerdings.“

Sie sank zurück, starrte auf Shinichi, der auf dem Boden lag, die Augen halb geschlossen.

„Wusste er es…?“

Unsicher schaute sie auf, begenete James‘ Blick.

„Wusste er, wer Sie sind?“

„Nein.“

James Black lächelte kurz, bösartig und kalt.

„Ich bin ein ebenso exzellenter Schauspieler wie er es war, das darf ich wohl behaupten. Er fand es auch gerade eben erst heraus. Es hat ihn schlichtweg umgehauen, wie du siehst. Die Erkenntnis um meine Identität und… nunja, das Halluzinogen, das ich ihm injiziert habe, wohl auch. Aber keine Bange, er kennt das schon… vielleicht hat es ihm sogar ein bisschen gefehlt, wer weiß...“
 

Er wandte sich um, trat zur Seite. Ran starrte Shinichi an, merkte, wie eine Starre in ihre Glieder fuhr, die sie nie gekannt hatte, als sie sein Gesicht sah.

Shinichi hatte die Augen fast geschlossen… und lächelte.

Black lachte.
 

„Er hat sich mit mir angelegt und dafür wird er jetzt bezahlen, mit seinem Leben… aber sei dir versichert, in jeder seiner letzten Minuten wirst du ihn begleiten, so wie du ihn immer begleitet hast. Sieh’s dir an… sieh dir an, was du aus ihm gemacht hast…“

Er lachte höhnisch.
 

Sie schloss die Augen langsam, als sie langsam den wirklichen Ernst der Situation begriff. Shinichi hatte sich mit Black eingeschlossen und würde an der Wirkung des Gifts sterben. Und solange sie nicht reinkamen, konnten sie ihm nicht helfen- wenn sie dazu überhaupt in der Lage waren.

Sie zitterte, versuchte, sich zu konzentrieren, sich eine Lösung zu überlegen, als Blacks Stimme wieder an ihr Ohr schlich.
 

„Did you know? Did he tell you? Ich bezweifle fast, dass er es je irgendwem erzählt hat, was er sah, in diesen Träumen.“

Der Mann sah sie nicht an, als er sprach, betrachtete sein Opfer, das schutzlos vor ihm auf dem Boden lag.

„Er träumt von dir. Das tat er immer. Träumte… von einer Zukunft, auf die er kaum zu hoffen wagte, wusste er doch, was er wiedergutmachen musste...“

Er lachte leise, als er die Qual auf ihren Zügen sah, und redete weiter, mit schmeichelnder Stimme.

„Und als ich dich kennenlernen durfte, Ran, konnte ich ihn fast verstehen. Du bist ein bezauberndes Wesen, ja wirklich. Heute mehr denn je.“
 

Ran schloss die Augen, fühlte, wie Wut in ihr emporkroch, als sie diesen Mann so reden hörte; schwer atmete sie ein und aus, versuchte immer noch, sich zu beruhigen, denn kopflos half sie niemandem.
 

„Er träumte, von eurem Glück, von eurer Liebe. Es war herzzerreißend, ihm dabei zuzusehen, Tag für Tag. Ihn immer und immer wieder zu hören, wie er dir seine Liebe gestand – du, die doch nicht da warst, aber so real in seinen Träumen. Und er redete und redete… anscheinend lag ihm etwas ziemlich schwer auf dem Herzen und zwar schon eine ganze Weile lang, so drängend, so… echt… wie seine Worte klangen, jedes Mal. Die Enttäuschung in seinen Augen, als er aufwachte, nach diesen Minuten der Euphorie, gepaart mit dieser Scham, weil er so viel von sich preisgab, so viel verriet, was nur für dich bestimmt war, weil man ihn so leicht manipulieren konnte, mit der bloßen Vorstellung von dir, war immer wieder ein Highlight. Er redete wie ein Buch in diesen Minuten, und im selben Maße schwieg er, wenn er wach war. Aus ihm war nie eine Silbe herauszuholen… bis… bis er uns eines Tages in seinem Rausch etwas verriet.“
 

Sein Lachen wurde lauter, als er die Qual auf Rans Gesicht sah.
 

„Deinen Namen. Ran.“
 

Er sah mit Genugtuung wie sie bei der Nennung ihres Vornamens zusammenzuckte.
 

„So lange ich ihn auch kannte, ich wusste nichts von dir! Das erschien mir selber fast absurd. Aber als er ihn uns endlich nannte, deinen Namen - ab diesem Moment wussten wir, dass wir ihn hatten.

So sehr, wie er dich liebte, würde er alles tun, um dich zu schützen, das war uns sonnenklar – und wurde nur noch klarer, als wir ihn mit der Tatsache, dass wir nun wussten, wer du warst, konfrontierten. Es war eine Qual für ihn, nichts tun zu können, nur warten zu können, von Rausch zu Entzug und wieder Rausch. Ran… in Wirklichkeit hatte er wohl doch nur ein einziges Suchtmittel. Und der Entzug dieser Droge war es, der ihn fast den Verstand und sein Leben kostete. Der Entzug von dir.“
 

Er kniff die Augen zusammen, schaute sie starr an, mit einem Blick, so kalt und eisig, dass er sie fast körperlich frieren ließ. Sie fröstelte, zitterte, schlang aber nicht die Arme um sich, hatte ihre Finger immer noch gegen die Scheibe gepresst.
 

„Und auch das wirst du erleben, wenn du hierbleibst, heute… wenn er von deinem Tod fantasiert, seinem Versagen, immer wieder und immer wieder, und es ihn jedes Mal in Stücke reißt, weil er ihn kaum ertragen kann, den bloßen Gedanken an deinen Tod, durch seine Schuld!“
 

Er war laut geworden, schlug mit dem Schwert gegen die Scheibe. Ran kreischte auf, kurz, erschrocken, wich zurück und verhedderte sich in den Lagen ihres Kleids, starrte ihn angsterfüllt an, atmete hektisch.

Das Klingen von Glas auf Metall vibrierte in ihrem Kopf immer noch nach.
 

Er jedoch lachte. Laut, grausam und voller Hohn.
 

„Du bist es, die ihn zugrunde richtet… kein anderer Gedanke kann ihn so verletzen, seinen Lebenswillen zum Erlöschen bringen, als der, dass du sterben musst… wegen seiner Unfähigkeit, dich zu beschützen.“
 

Black drehte sich um betrachtete seinen Widersacher nachdenklich.

Ran stand auf, langsam, schluckte hart.

Was sie gehört hatte, traf sie zutiefst – denn sie fürchtete, jedes seiner Worte war wahr.
 

Shinichi…
 

Angewidert blickte sie ihn an. Ran presste ihre Stirn gegen die Scheibe, schaute zu Shinichi, sah, wie seine Lider zuckten, seine Lippen sich sachte bewegten, ohne einen Laut an die Luft kommen zu lassen.
 

„Er hatte Recht, als er in den Krieg zog, gegen Sie und Ihre Organisation. Und Sie irren sich, Mr. Black, ich… mag eine hervorragende Achillesferse abgeben, aber ich bin nicht nur das, ich… habe auch eine andere Seite. Ich werde ihn retten, Sie werden ihn nicht kriegen. Diesmal nicht.“
 

Ihre Stimme klang leise, ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, als sie ihn ansah, mochte kaum darüber nachdenken, wie es damals für ihn gewesen war, jedes Mal wieder, ein ums andere Mal.
 

Und obwohl sie ihn bis auf die Knochen ausgezogen hatten, alles getan hatten, um ihn zu demütigen, seine Gefühle durch den Schmutz zu ziehen, ihm seine Verletzlichkeit hatten spüren lassen auf jede erdenkliche Art und Weise, hatte er nie aufgehört, sie zu lieben.

Mit allem, was er hatte.
 

Der Gedanke überwältigte sie fast. Und sie wusste, sie würde alles tun, wirklich alles, um ihm zurückzugeben, was er für sie opferte.
 

Sie spürte Blacks Blick auf sich, tat alles, um ihn zu ignorieren.
 

„Halte durch…“
 


 

Shinichi seufzte, drehte sich um die eigene Achse. Er wusste, all diese Träume begannen auf diese Weise – er befand sich irgendwo.

Irgendwo war diesmal London, wie er schnell erkannte.

Noch genauer war es die Brücke vor dem Big Ben.
 

Wie so oft war es diese Stelle.

Und wie immer, wenn er hier war, war sie nicht weit.
 

Vor ihm stand Ran.
 

Er blinzelte, schluckte, streckte langsam seine Hand nach ihr aus, sah ihr zu, wie sie sich langsam zu ihm umdrehte. Sie trug dieses herrliche, weiße Kleid, sah fast aus wie eine Braut an ihrem Hochzeitstag – nur dass sie barfuß war, störte das Bild. Oder auch nicht.
 

Sie griff seine Finger, ließ sich von ihm heranziehen, nahm seinen Kopf in beide Hände, schaute ihm in die Augen, strich ihm über die Schläfe, immer und immer wieder. Er atmete tief ein, glaubte, Jasmin zu riechen, legte seine Arme um ihre Taille, zog sie an sich, spürte ihre Wärme an seinem Körper - ihr Leben, so dicht bei sich.
 

Und er vergaß alles um sich herum, ließ sich einfach fallen in dieses Gefühl.
 

Er merkte, wie Ran ihre Finger in sein Sakko grub, sich an ihn schmiegte, ihre Wange an sein Gesicht drückte, tief einatmete.
 

Ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als er zart über ihre Arme strich, spürte, wie sich unter seiner Berührung ihre Härchen alle einzeln aufstellten. Ein wohliger Schauer rieselte ihm über den Rücken, als er seinen Kopf ein wenig von ihr löste, ihre Augenbraue küsste. Sie atmete aus, langsam, ließ ihren Atem über sein Gesicht streifen, sah ihm an, wie sehr er es genoss, diesen Moment mit ihr zu teilen, ein irres Glücksgefühl, kaum in Worte zu fassen, schien ihn fast bis zum Platzen zu füllen. Er lächelte, und es tat so gut, ihn lächeln zu sehen – es war eine Ewigkeit her...

Sie näherte sich ihm, gab ihm den zartesten aller Küsse auf die Lippen, merkte, wie er ihren Kuss erwiderte, sie weiter an sich zog. Sie ließ sich fallen, atmete langsam aus, schob ihn dann sacht etwas von sich, ohne ihn loszulassen. Sah ihn lächeln und lächelte zurück – dann nahm sie sein Gesicht in beide Hände, schaute ihn ernst an. Das Lächeln war von ihrem Antlitz gewichen, als sie über seine Wangen streichelte.
 

Und sie begann zu reden.

Lautlos.
 

Er stutzte – die Wärme wich, die Euphorie auch. Sein Herz schlug auf einmal schmerzhaft schnell, als er versuchte, von ihren Lippen abzulesen, was sie ihm sagen wollte. Kälte kroch ihm in alle Glieder, ließ seine Finger steif werden – es tat weh, als er sie festhalten wollte, und dennoch hörte er nicht auf damit. Er fühlte, wie er langsam ins Leere griff, sah ihren angsterfüllten Blick, als sie merkte, wie zwecklos seine Versuche waren, sie zu halten.

Dunkelheit türmte sich hinter ihr auf, kontrastierte hart zu ihrem weißen Kleid, schien sie in sich aufzusaugen.
 

>Nein, Ran! Nein…! Was…<
 

Ihre Lippen formten Worte, aber er hörte sie nicht.

Und auf einmal griff er ins Leere, verlor das Gleichgewicht, stürzte vornüber in die Finsternis, als sich die Brücke unter ihren Füßen auflöste, Steine immer weiter abbröckelten und in die Tiefe fielen, verlor sie aus den Augen – und spürte nichts mehr.
 

Ran hörte hektische Stimmen hinter sich, Schritte, die sich ihr näherten.

„Ran!“
 

Jenna blieb neben ihr stehen, atemlos, blickte durch die verschlossene Panzerglastür, und biss sich ihre Lippen blutig. Rotes Licht flammte immer noch durch das Treppenhaus, reflektiert von den Wänden, und die ohrenbetäubende Alarmsirene der Quarantäne schallte an ihre Ohren.

Shinichi lag auf der Seite, sah mittlerweile mit leerem Blick aus halbgeschlossenen Augen in eine Welt jenseits der ihnen zugänglichen und regte sich nicht. Einzig und allein sein Brustkorb hob und senkte sich schnell, zeigte, dass er noch lebte.
 

Dann hörten sie jemanden scharf einatmen – und drehten sich um. Hinter ihnen stand Agent Shuichi Akai, blickte seinem Vorgesetzten ins Gesicht. Black hatte sich ihnen zugewandt, verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ah. Sieh einer an.“

Shuichi redete nicht, sagte nicht ein Wort. Heiji stand neben ihm, begriff nur langsam, was das bedeutete.

Dann allerdings, als endlich der Groschen fiel -
 

„SIE?! Sie sin‘ Anokata?!“

Er starrte ihn an.

„Wusst‘ er’s?!“

„Kaum.“, murmelte Akai.

„Er hätte es mir wohl erzählt.“

Seine Augen hatte er nicht einmal von seinem Vorgesetzten gewandt.

„Und Sie?“

Heiji schaute ihn an.

„Sie wolln mir doch nicht erzählen, dass se keine Ahnung hatten? Sie hab’n jahrelang unter ihm gearbeitet, Sie…“
 

Dann hörten sie ihn lachen – und ihre Diskussion wurde sofort unterbrochen.

„Glaubst du, ich stünde hier und hätte deinem geschätzten Freund eine Überdosis HLZG verabreichen können, hätte er’s gewusst? No…“

Ein triumphierendes Lächeln war auf James Black’s Lippen gekrochen.

„Nein, das ahnte niemand. Auch der zugegebenermaßen sehr scharfsinnige Agent Akai nicht…“

Er verschränkte die Arme vor der Brust, betrachtete seinen Gefangenen zufrieden, als ihre Stimme an ihre Ohren drang.
 

„Shinichi…“

Rans Finger gruben sich gegen das Glas, ohne der glatten, harten Oberfläche etwas anhaben zu können.

„Warum geht diese verdammte Tür nicht auf!?“

„Er hat den Seuchenalarm ausgelöst.“

Jenna hatte ihre Stimme endlich wiedergefunden, trat vor, zog die Augenbrauen hoch.

„Mich wundert allerdings, warum.“
 

Akai war es, der es als erstes bemerkte – und damit die Antwort auf Jennas Frage geben konnte.

Das kleine, schwarze Kästchen auf dem Autopsietisch mit der roten Ziffernanzeige, die langsam runtertickte.
 

Du wolltest verhindern, dass er entkommt…

Und dass wir uns mit dir abmühen, wo doch für dich keine Hoffnung mehr besteht.
 

Akai schluckte hart, zog innerlich seinen Hut vor so viel Mut und Selbstlosigkeit, sein Blick immer noch auf die Zahlen gerichtet, die langsam schrumpften. Viel Zeit blieb ihnen nicht, aber es würde reichen.
 

Es hätte nie gereicht, hätten sie versucht, Black zu überwältigen und ihn in seinem Zustand mitzunehmen.
 

Heiji folgte seinem Blick.
 

„Verdammt, NEIN!!!“

Er begann gegen die Scheibe zu schlagen, scheuchte damit Ran und Jenna auf, die ihn verständnislos anblickten – Ran sah die Bombe zuerst.

Entsetzen packte sie, als ihr bewusst wurde, was das bedeutete – nämlich noch weniger Zeit für ihn. Noch weniger Zeit, um ihn irgendwie hier rauszubringen, ihm irgendwie zu helfen, bevor…

Aber sie standen hier draußen… und er lag dort drinnen, bewusstlos, gefangen in seiner Traumwelt, nicht in der Lage, sich zu retten.

Und sie kamen nicht rein.

Da drin tickte eine Bombe, und sie konnten nicht rein!
 

Jenna wollte gerade etwas sagen, als Heiji neben ihr mit seinen Fäusten auf die Scheibe eindrosch.

„Schaltense se ab!“, brüllte er, schien wie von Sinnen. Black hielt inne, lächelte bitter.
 

Die Stimme, die ihm antwortete, war jedoch nicht die seine.
 

„Das kann er nicht. Nicht wahr?“
 

Shinichi war aufgewacht. Er lag immer noch am Boden, hatte die Augen geschlossen, versuchte, langsam und kontrolliert zu atmen, ehe er sie ansah.

„Mr. Black?“

Er stemmte sich mühsam hoch, bekam kaum Luft dafür – zu sehen, wie ihn diese simple Bewegung erschöpfte, zeigte ihnen, wie ernst sein Zustand jetzt schon war.

Shinichi spürte den blanken Fliesenboden unter seinen Fingern, fühlte, wie seine Haare nass und kalt in seiner Stirn klebten, wie ein einzelner Schweißtropfen über seine Stirn an der Augenbraue entlang auf den Boden tropfte. Unwirsch strich er sich die Strähnen aus dem Gesicht, riss sich zusammen.
 

„Er hatte nicht vor, noch hier zu sein, wenn die Bombe hochgeht, die er hier deponiert hat, um Beweise seiner Anwesenheit zu vernichten… und den Mord an mir zu vertuschen.“

Er schloss die Augen, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Scheibe.

„Und bestimmt wollte er sicher gehen, dass keiner sie entschärfen kann. Tja.“

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er seinem Gegenspieler einen müden Blick zu warf.

„Blöd nur, dass ich sicher gehen wollte, dass Sie diesen Raum hier nicht verlassen. Ich habe dazu gelernt seit dem letzten Mal.“
 

Shinichi schloss die Augen kurz, atmete gepresst aus. Er merkte, wie das Gift ihn langsam fast wieder ohnmächtig werden ließ, spürte, wie irrsinnig schnell sein Herz schlug, weil sein Blutdruck im Keller dümpelte, bekam kaum Luft, weil er viel zu flach atmete. Er versuchte, sich unter Kontrolle zu bringen und hatte doch kaum Macht darüber.
 

Als er sich zur Seite drehte, sah er Ran, die immer noch draußen an der Tür hing, ihn mit tränennassem Gesicht anschaute. Er presste die Lippen zusammen, merkte, wie die Wut und die Trauer darüber, dass es nun so enden musste, ihn innerlich in Stücke rissen.
 

Mühsam sammelte er sich.
 

„Die Quarantäne kann nur der Seuchenschutz aufheben. Ihr müsst gehen, bevor die Bombe explodiert.“

Heiji schloss die Augen, als er seine Stimme hörte. Man hörte, wie viel Mühe es ihn kostete.

„Gebt euch keine Schuld, dass ihr zu spät kamt…“

Er hustete, starrte seine Finger an, rieb sich die Hand an der Hose ab, schüttelte dann den Kopf.

„Mir hättet ihr nicht mehr helfen können, und er hier…“

Unwirsch ballte er seine Finger zur Faust, als seine Sicht zu flimmern begann.

„Er hier hat sich das selber eingebrockt. Schließlich hat er das Ding hier runtergebracht und eingeschaltet, als er euch kommen hörte.“

Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich seinen Lippen.

Black starrte ihn an. Sein Gesicht war bleich, seine Augen eisiger denn je.

„Fahr doch zur Hölle, Kudô.“

Shinichi lächelte spöttisch.

„Aber Sie mit mir.“
 

Heiji starrte ihn immer noch fassungslos an.

„Und was…?“

Shinichi warf Black ein spöttisches Lächeln zu.

„Ihr rettet jemanden, den ihr noch retten könnt. Doctor McCoy nämlich, er ist in seinem Keller eingesperrt, Mr. Black hier war so freundlich, mir das zu verraten.“

Er schluckte hart.

„Geht jetzt.“

Shinichis Stimme war völlig ruhig.

„Ihr hättet schon längst fort sein sollen. Also beeilt euch bitte. Ich schwör dir, ich such dich heim, wenn ich merke, ich lande nicht allein dort oben.“

Ein mattes Grinsen malte sich auf seine Lippen.

Heiji schüttelte den Kopf, während Ran ihn einfach nur entgeistert ansah. Shinichi hingegen sank langsam gegen die Tür, als das Pochen in seinem Kopf schier unerträglich schien. Er hob die Hand, als er sein Herz hämmern spürte, merkte, wie es langsam weh tat, schmerzhaft wurde, und er ahnte, dass der Moment nicht weit war, wo es einfach kapitulieren würde – wo es stehenbleiben würde, erschöpft von der Arbeit, oder aber eine Ader platzte vorher noch und ließ ihn verbluten.

Er wusste nicht, was er sich wünschte.
 

Der Osakaner schluckte hart, griff nach Rans Fingern, drückte sie fest. Dann blickte er zu Jenna – sie schaute ihn an, in ihren Augen das pure Entsetzen.

Sie wusste, er würde sterben. Sie alle wussten es, er hatte es ihnen eben selbst gesagt.

Und doch war es so irreal.
 

Er wird’s nicht schaffen.

Egal, was wir tun, wir werden zu spät sein.
 

Jenna griff nach Rans anderer Hand, wollte sie hochzerren. In Ran kam Bewegung – sie fing an sich zu wehren, schrie und wand sich - und hörte sofort auf, als ihr Blick seinen traf. Er schaute sie an, und in seinen Augen lag nur Reue. Ran sank gegen das Glas, ihre Handflächen gegen die kühle Scheibe gepresst, ihre Stirn sacht daran gelehnt. Dort, wo ihr Atem das Glas traf, beschlug es sich kurz.
 

„Geh.“, flüsterte er heiser. Sie las das Wort mehr von seinen Lippen ab, als dass sie es hörte.

„Bitte, geh doch…“

„Nein…“

Ran jammerte leise, kniff die Augen zu.

„Shinichi, es tut mir leid, ich wollte nicht, ich…“

Sie sah, wie kurz das Entsetzen in seinen Augen flackerte, als er erkannte, dass sie es nun wusste. Dann lächelte er. So liebevoll, wie er es zustande bringen konnte – sie sah ihn an, sah diese offene Zuneigung und das Verständnis in seinen Augen und wollte einfach nur noch schreien.
 

„Ich weiß das doch, Ran…“
 

Sie schloss die Augen, kurz, dachte fieberhaft nach, suchte einen Ausweg, eine Lösung.

Und fand sie nicht – bis ein letzter Funken Hoffnung ihren Puls rasen ließ.

„Du darfst dich nicht unterkriegen lassen…“, wisperte sie dann leise. Ein Ernst war in ihre Stimme gekrochen, der sie alle aufhorchen ließ.

„Shinichi, du weißt, dass ich jetzt… dass ich in Sicherheit bin. Ich… ich werde mit nach oben gehen, ich versprechs. Aber wenn die Bombe hochgegangen ist, dann werde ich kommen und dich suchen, und dann bist du, bitte, bitte…“

Das Flehen in ihrer Stimme wurde drängender.

„…bitte noch am Leben! Du musst dir klar machen, dass das nicht echt ist! Was auch immer du siehst, und egal wie real es dir scheint, du musst dir bewusst sein, dass es nicht wirklich ist! Dass du das halluzinierst. Du hast mich gerettet, hörst du! Hörst du!?“

Er sah sie an, blinzelte.
 

„Verstehst du mich…!?“
 

Tränen rannen über ihre Wangen, immer mehr. Sie schniefte.

„Der bloße Gedanke darf keine Kontrolle über dich haben, Shinichi, weil er eine Lüge ist…“

Ihre Stimme verlor sich in ein Flüstern.

Er hielt inne, hielt die Luft an, schluckte hart – dann lächelte er müde.

„Du hast Recht.“

Sie zog ihre Unterlippe kurz zwischen die Zähne, als sie sah, wie er um jedes Wort rang.

„Du hast Recht, die Zeit, in der… Lügen unser Leben bestimmten, muss endlich ein Ende haben. Und ich verspreche, ich… versuch‘s. Aber jetzt geh! Du musst…!“

Ruckartig wandte er sich ab, kniff die Augen zusammen, seine Hand fest in sein Hemd gekrallt, als ihm der Schmerz die Luft zum Atmen raubte, er nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrückte.
 

„Haut. Endlich. Ab!“
 

Heiji starrte ihn an, sagte nichts mehr. Er zerrte Ran hoch, fing gemeinsam mit Jenna, die Ran am anderen Arm gepackt hatte, an zu laufen, und gemeinsam zogen sie sie die Gänge entlang. Ran sah nicht nach vorn - Tränen liefen ihr über die Wangen, ihr Schluchzen raubte ihr fast die Luft zum Atmen und so stolperte sie fast mehr, als sie lief, fühlte, wie ihr Herz in Stücke zerspringen wollte.
 

Shinichi…
 


 

Im Autopsiesaal war es wieder ruhig geworden – das Heulen der Sirene hatte aufgehört.

James Black schaute ihn ausdruckslos an, eine Abscheu sprach aus seiner Stimme, die Shinichi dort nie vermutet hätte.
 

„I should have killed you when I had the opportunity to do it.“
 

Shinichi schloss die Augen, rieb sich mit der Hand über sein Brustbein, stöhnte kurz auf.

„Ja, das nicht zu tun war ein großer Fehler. Aber es ist beruhigend zu wissen für mich, dass nicht nur ich Fehler mache.“
 

Shinichi schluckte, eine einzelne Träne rann ihm über Wange, als er an die Stelle blickte, wo sie gerade noch die Glasscheibe berührt hatte.
 

„Es tut mir so leid, Ran…“, flüsterte er.
 

Ich hab‘s schon wieder vergeigt.
 

Dann schloss er die Augen, ließ Black, die Bombe, die weiße Unendlichkeit der Autopsie hinter sich.
 

Vor seinen Augen sah er ihr Gesicht.

Sie sah zauberhaft aus, ließ ihn fast das Atmen vergessen.

Er schaute sie nur an, hatte für nichts anderes Augen – sah ihr fröhliches Lächeln, das er so sehr liebte, spürte ihre zarten Finger auf seiner Haut, als sie nach seiner Hand griff.
 

Diese kleine Geste schien ihm den Himmel auf Erden versprechen zu wollen.

Er wusste, dass es ein leeres Versprechen war.
 

Shinichi kniff die Augen zusammen, ahnte er doch, was jetzt kam.
 

>Nein, nein, nein… wehr dich. Wehr dich! Du kannst das. Du musst! Du hast es ihr versprochen, du weißt doch…<
 

Shinichi fühlte, wie Hitze sich über ihn legte wie ein nasses Tuch, ihn von Kopf bis Fuß bedeckte, ihm die Luft zum Atmen raubte. Die Atmosphäre schien zu brennen, seine Sicht flirrte – Ran vor ihm streckte beide Arme raus, versuchte, näher zu kommen, und schaffte es doch nicht.

Er spürte ihren drängenden Blick fast körperlich.

Fühlte ihre Angst, als wäre sie die seine.
 

Er schrie gequält auf, als ihn Schmerz durchzuckte wie ein Blitz, vom Scheitel bis zur Sohle, griff sich an die Brust. Er schnappte nach Luft, seine Lungen schrien nach Sauerstoff und gleichzeitig wollte er die Luft anhalten, merkte er doch, wie es seine Luftröhre hinab zu brennen anfing, als die ersten Atemzüge seine Lungen füllten.
 

Es war so heiß…
 

Und sie stand vor ihm, umkreist von Flammen, die an ihr leckten, ihr weißes Kleid versengten, es mit ihren feurigen Fingern schwarz färbten. Asche umwehte sie wie ein feiner Schleier, aufgetrieben vom glutheißen Wind, der das Feuer auch in seine Richtung trieb, es anfeuerte auf der Suche nach mehr Futter, auf dass es auch ihn verzehrte.
 

Dann brach die Hölle über ihn herein und die Welt stürzte in Trümmer.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo, ihr Lieben -

hier also meine mittlerweile verjährte Bosstheorie; mittlerweile ist sie ja schon widerlegt, aber mir gefällt sie immer noch, also ließ ich es so. Ich hoffe, ihr findet die Geschichte trotzdem noch spannend ;)

Ich danke den beiden Kommentarschreibern vom letzten Kapitel sehr; allerdings möchte ich an der Stelle auch die anderen Leser (die's hoffentlich gibt ;) darauf hinweisen: tut euch keinen Zwang an! Lasst mir bitte gerne eure Meinung in verschriftlichter Form hier :) Ich freu mich drauf, zu hören, was ihr über die Geschichte denkt!

Ansonsten hoffe ich, ihr seid gut durch die 13000 Wörter gekommen XD

Beste Grüße,
Eure Leira Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  Reshin
2020-12-26T13:53:09+00:00 26.12.2020 14:53
Uiuiui!

Ich mein, ich weiß, warum alles so passiert wies passiert - aber ein bisschen ärgert es mich schon! Normal ist Shinichi immer zwei Schritte voraus, und jetzt soll er zwei hinten nach sein? Das sein Supergenie unter Drogen nicht optimal funktioniert ist eh klar - aber ein bisschen hättest ihm schon lassen können. Das ist was, was mir an ihm so gefällt - er checkt immer alles und hat immer eine Lösung! Auch wenns manchmal echt knapp wird ;)

Das James Anokata ist find ich nen wahnsinnigen Plottwist, aber genial! Da wär niemand drauf gekommen ;) ich bin leider in der Serie nicht up to date - daher glaub ich auch alles ggg

Was ich richtig doof finde sind Akai, Jenna und Heiji, die Ran jn ihrem Zustand mit zum Oberboss rennen lassen und dann auch noch oben stehen bleiben zum Quatschen. Akai hat Burboun erkannt, das passt - aber seine Reaktion danach hätte anders sein müssen. Immerhin ist er vom FBI und ein Profi! Aber naja. Ich bin echt gespannt, wie sie das noch rumreisen wollen ;)
Von:  HeijiKID1412
2019-06-19T12:56:08+00:00 19.06.2019 14:56
Zu aller erst muss ich dir echt mal sagen, wie mega spannend, witzig, traurig, herzzerreißend - und noch viel, viel mehr- diese Story ist.
Das musste mal gesagt werden, falls ich das nicht schon getan habe😅

Aber jetzt mal zum Kapitel.
Das war richtig cool. Du hast zwar schon gesagt, dass nach Gin's Verhaftung noch was kommt, aber das hätte ich jetzt echt nicht erwartet. Vor allem nicht das James Black Anokata ist😲
Ich finde es auch nicht schlimm, dass du Anokata nicht "angepasst" hast, so hat es noch etwas eigenes.

Aber ich möchte jetzt unbedingt wissen, wie es weiter geht😁
Überlebt Shinichi?
Überlebt Anokata?
Was ist mit Ran?
Was ist mit dem echten McCoy?
Die Fragen machen mich noch ganz verrückt!!!

Ich hoffe das du schreibst bald weiter und hast dabei genauso viel Spaß wie ich beim lesen😍😘
Von:  NiciiChan
2019-06-17T21:42:29+00:00 17.06.2019 23:42
Huhu,
Erstmal finde ich es mega das du seit sehr langer Zeit wieder neue Kapitel schreibst und bin dir dafür sehr dankbar da die Geschichte so unglaublich gut geschrieben und super spannend ist!
Ich hätte wirklich auch nicht gedacht das es James Black ist, finde es aber nicht schlimm das du an deiner Bosstheorie festhältst.
Ich bin so unglaublich gespannt was im nächsten Kapitel passiert und ob Shinichi jetzt wirklich was schlimmes passiert.
Da hat er es jetzt geschafft Ran zu retten und das Drama im Theater auch zu überleben und muss jetzt so sterben?? Vielleicht passiert ja irgendein Wunder.

Ich freue mich auf nächsten Sonntag! Lg
Von:  Komori-666
2019-06-17T21:41:14+00:00 17.06.2019 23:41
Hello!

Nun melde ich mich auch einmal zu Wort, die in letzter Zeit viel zu starke undercover-Leserin. Dabei mag ich das selbst nicht – aber zu meiner Verteidigung: Wenn ich Zeit habe geb‘ ich mir tatsächlich Mühe zumindest einmal ein ordentliches Feedback zu hinterlassen.

Und so, wie du mich mit deinen Geschichten gefesselt hast und nach wie vor fesseln kannst, hast du dir das mehr als verdient und es tut mir leid, dass es nicht schon eher kam.

Well, back to business: Die Story!

Ich habe vor längerem angefangen sie zu lesen. Also eigentlich schon gut vor der etwas längeren Pause und ich schwöre, ich klebte am Laptop. Ich wollte nicht schlafen gehen, ich wollte morgens so früh wie möglich wieder aufstehen und gewiss weder zur Arbeit noch zur Uni gehen. Hauptsache weiterlesen. Und dank deiner guten Kapitellänge ist man ja auch gut beschäftigt. Ich finde es sehr schön, dass du eine gewisse „Mindestlänge“ einhältst und auch kein Kapitel langweilig wird. Was ich damit meine ist, du füllst die länge nicht mit sinnfreien Landschaftsbeschreibungen.

Zu so formalen Sachen kann ich nur sagen gute Abschnitte, keine Textblöcke, schöne Formatierung, gutes Englisch und nur hie und da ein paar Tippfehler oder „in-ihn/im-ihm“ Fehler, die der Autokorrektur auch gerne entwischen.

Auf sehr weit zurückliegende Kapitel will ich eigentlich gar nicht eingehen, immerhin gibt es einen Grund warum ich nach wie vor am Ball bin. Und heute unbedingt vor meiner Klausur das Kapitel noch lesen musste. Ich hätte mich sonst nicht konzentrieren können – zugegeben, meine Gedanken waren den Tag über dennoch oft bei Shinichi und Ran. Und der Vorstellung, wie du der Person, die du liebst ins Gesicht siehst und weißt, dass sie stirbt. Dass du dich umdrehst und gehst, wohl wissend was passieren wird. Ein wahrer Alptraum, wenn nicht gar Psychoterrorr.

Nethertheless, Hoffnung habe ich dennoch noch. Vielleicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass du sie durch so eine Hölle jagst, dieses on-off Spiel mit ihnen über die ganze Story hinweg eiskalt durchziehst (ohne, dass es nicht absolut nachvollziehbar wäre), um sie dann letztendlich so zugrunde gehen zu lassen. Beide.
Aber was mich am aller meisten an dieser anscheinend aussichtslosen Situation zweifeln lässt, ist die Vermutung, dass du Vermouth vielleicht nicht umsonst nochmal ins Spiel gebracht hast.
Ich hoffe also immer noch. Vor allem, weil ich ein so grausames Ende lange nicht verdauen könnte.

So, und wie das so ist und du das eventuell auch kennst: es gibt immer die Kritiker. Und so eine gibt’s in mir leider auch, sogar eine sehr große (daher Respekt, dass du mich so begeistern kannst!).
Ich bin von diesem Kapitel doppelt begeistert, weil ich in deinen letzten zwei Kapiteln leider nicht mehr richtig rein kam. In die Handlung, ja. In die Situation: Nein. Es hatte sich so angefühlt, als würdest du diese Geschichte nur noch zu Ende bringen wollen und einfach runterschreiben. Deswegen hatte ich Angst vor den nächsten Kapiteln – ein solches Ende hätte diese Geschichte, hätten die Leser und hättest auch du nicht verdient. Mit diesem Kapitel stieg dann zwar auch die Spannung, die Angst um die Charaktere und den weiteren Verlauf, aber auch die Erleichterung. Vielleicht ist es auch nur mein Empfinden, aber irgendwie hast du zu deiner Geschichte zurückgefunden (jedenfalls in meiner Einbildung, falls du denn jemals davon abgekommen warst).
Was ich leider auch noch kritisieren muss (aber da war ich vielleicht zu sehr auf die Hauptpersonen fixiert), ich hatte immer Schwierigkeiten welche Meute wo ist. Also der Girls Club mit Shiho, Sonoko, & Co und auch Onkel Kogoro etc. Es war immer ein „Ach stimmt ja, die/der war bei der Gruppe ja auch noch dabei! Halt stopp, wo sind die denn jetzt?!“.

Länger möchte ich eigentlich gar nicht meckern und kann nur sagen, dass ich mich schon sehr auf das nächste Kapitel freue und es kaum erwarten kann!

Liebe Grüße,
Deine Komori

Von:  Wm_2015
2019-06-17T16:49:12+00:00 17.06.2019 18:49
Hallo,

Oh mein Gott ist das spannend😱.
Ich bin auch fassungslos das es James Black ist. Wie kann er nur!!!

Hoffentlich gibt es ein happy end.😍

Freue mich schon auf nächste Woche.

Liebe Grüße
Von:  Sunah
2019-06-16T21:42:45+00:00 16.06.2019 23:42
......Das war doch echt unfassbar.....holy ****. James Black ( Facepalm). An den hab ich überhaupt nicht gedacht. "You see but you don't observe".
Ich bin sprachlos. Zum einen macht mein Herz gerade wegen dem Cliffhanger nicht mit (brilliant, aber gemein) und zum anderen geht mein Gehirn auf Hochtouren um Optionen auszuspinnen wie es weiter gehen kann.
Ich glaub ich brauch jetzt nen Drink....freaking James Black.
Von:  Desiree92
2019-06-16T19:47:51+00:00 16.06.2019 21:47
Erst einmal finde ich es klasse, dass wieder ein neues Kapitel online gekommen ist. Danke, dass du dir so viel Mühe mit dem Schreiben und dem hochladen gibst.

Das Kapitel ist einfach Hammer, einfach so emotional. Musste so weinen... finde es bewundernswert wie gut du die Emotionen rüber bringst.

Bin echt sprachlos welche Handlung dieses Kapitel hat, weiß gar nicht was ich dazu schreiben soll... hab echt ein mieses Gefühl was Shinichi angeht. Ich hoffe so sehr, dass es nicht im schlimmsten endet.

Freu mich schon aufs nächste Kapitel und hoffe die Woche geht ganz schnell rum 😅🤗


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