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Between the Lines

The wonderful world of words
von

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Wenn Worte...

Kapitel 27 Wenn Worte meine Sprache wären… (1/2)
 

Ich sehe ihn tippen, doch es passiert nichts. Also drücke ich kurzerhand auf das grüne Anrufsymbol und spüre im selben Moment, wie sich mein Brustkorb in eine Bassbox verwandelt. Das Geräusch aus meinem Inneren wird immer lauter und eindringlicher. Die Vibrationen breiten sich in meinem gesamten Körper aus, sodass ich nichts anderes tun kann, als zu erzittern. Aber als er den Anruf bestätigt, herrscht mit einem Mal eine bedenkliche Stille. Nicht nur in meiner Brust, sondern vor allem in meinem Kopf. Auch von Kain kommt kein Wort, also kann ich die dudelnde Musik im Hintergrund wahrnehmen, die mir von der anderen Seite der Leitung entgegen schlägt. Irgendein Popsong gepaart mit irgendwelchen heiteren Gesprächen. Irgendeine Bar. Ich sammele mich und beginne mit meinem jetzt schon kläglichen Versuch, eine weitere Chance zu erbitten.

„Kain, können wir bitte darüber...“

„Nein, könnt ihr nicht...“, werde ich harsch unterbrochen. Es ist eine männliche Stimme, die definitiv nicht Kains ist. Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass es Marvin ist, der spricht. Wieso geht er an Kains Telefon? Mit dieser Wendung habe ich nicht gerechnet. Ausgerechnet er. Aber wer auch sonst. Im Grunde gibt es nicht so viele Möglichkeiten, zu wem Kain gehen würde und Marvin ist mir allemal lieber als das rothaarige Dumpfbrot, mit dem er sich das letzte Mal vergnügt hat. Trotzdem regt sich mein innerer Drachen und es fällt mir schwer, ihn zu kontrollieren.

„Gib ihn mir... Bitte...“, fordere ich mit zusammengebissenen Zähnen und hänge das höflichkeitsheuchelnde Bitte verzögert ran. Dabei verliert es jegliche Wirkung und es ist mir herzlich egal. Höflich war noch nie mein Ding und wird es nie werden.

„Nein.“ Seine Antwort ist simpel und nicht unerwartet. Trotzdem kitzelt es meine Wut mehr, als es gut für mich ist. Mein gesamter Körper erbebt unter dem kaltbeißenden Schauer, welchen die Ablehnung auslöst.

„Im Ernst? Was soll das? Wieso gehst du überhaupt an sein Telefon?“, belle ich angestachelt und eines völligen Systemausfalls nahe. Noch schalten sich ein paar meiner Backups ein, doch ich weiß nicht, wie lange ich mich zurückhalten kann. Das Gefühl in meiner Brust wird zur tickenden Zeitbombe.

„Ganz einfach, ich hab´s ihm abgenommen, um zu verhindern, dass genau das hier passiert.“

„Das hier? Bist du jetzt sein Bodyguard, oder was?“ Marvin lacht bei diesem nichtigen Vergleich erheitert auf und ich wünschte, ich könnte ihm das Maul einfach stopfen. Ein Schlag mitten ins Gesicht. So einfach und schnöde. So viel Effekt. Mein eigenes blaues Auge zwiebelt.

„Ich würde eher Fullback sagen, aber vor allem bin ich sein Freund und ich werde ihn verteidigen, wenn er es nicht selbst kann. Und vor dir muss er scheinbar doch beschützt werden. Also hör genau zu! Er. Will. Nicht. Mit. Dir. Reden.“ Jeden Teil des letzten Satzes betont er besonders deutlich. Doch es ist nicht nur die Sportmetapher, die mich irritiert, sondern auch der Rest. Vor mir beschützen? Vor was genau will er ihn verteidigen? Meines Erachtens nach kann sich Kain effektiv selbst wehren, was er bei unserem Gespräch eindrucksvoll bewiesen hat. Schließlich sind es seine Worte, die noch immer nachwirken und mir keine Ruhe gönnen.

„Kann er mir das bitte selber sagen“, patze ich zurück und höre Marvin direkt auflachen.

„Kann er nicht. Er ist gerade beschäftigt.“

„Und womit?“, frage ich spitz und nur noch halb verbissen. Ich kann mir ausmalen, womit er in einer Bar beschäftigt sein könnte und dennoch favorisiere ich die Vorstellung, dass er mit einem Drink neben seinem Fitnesslakaien sitzt, jedes Wort mitbekommt und energisch mit dem Kopf schüttelt.

„Mit wem, meinst du wohl. Ich glaube, ihr Name ist Anni. Sie ist ganz sein Typ“, sagt er. Ich kann ihn grinsen hören und spüre, wie eine meiner Warnleuchten angeht.

„Sag mir, wo ihr seid!“ Prompt vernehme ich sein herablassendes Schnaufen.

„Garantiert nicht. Hör einfach auf, ihm zu schreiben. Ruf nicht mehr an...“

„Fick dich!“

„Ow, der Herr verliert bereits die Fassung? Das war aber einfach.“ Seine Stimme trieft förmlich vor Schadenfreude. „Lass es lieber gut sein, bevor es richtig peinlich für dich wird.“ Damit legt er auf, ehe ich eine weitere Beschimpfung vom Stapel lassen kann und lässt mich mit dem Gedanken an Kain und einer anderen Frau zurück. Ich hasse es noch im selben Moment und in mir entbrennt ein Kampf, der einer Supernova gleicht. Es macht mich wahnsinnig. Dabei bin ich mir sogar sicher, dass Marvin alles sagen würde, nur um dafür zu sorgen, dass mein schlechtes Gewissen weiter wächst und ich mir die schlimmsten Dinge vorstelle.

Die Schlimmsten, hallt es nach und mir den Schwarzhaarigen mit einer anderen Frau vorzustellen, gehört eindeutig dazu, egal welche Haarfarbe sie hat. Das wird mir gerade schmerzlich bewusst. Und wieder frage ich mich, wie viel Kains bester Freund eigentlich weiß. Ob Kain ihm wirklich erzählt hat, dass wir seit längerem miteinander schlafen? Ob er ihm gesagt hat, dass er darüber nachdenkt, mit mir auszugehen oder es zu mindestens vor hatte? Weiß er, dass Kain tatsächlich einen anderen Mann mag? Das Kain mich mag?

Er mag mich, wiederhole ich flüsternd. Auch das wiederholt sich in meinem Kopf, als würde ich es zum ersten Mal richtig verstehen. Allerdings begreife ich immer noch nicht, wieso und das sorgt dafür, dass sich ein stilles und doch verzerrendes Gefühl in mir ausbreitet. Ist es schon zu spät? Kain wird keine meiner Nachrichten lesen und er wird sich darin bestätigt fühlen, dass seine Entscheidung, die Notbremse zu ziehen, richtig gewesen ist. Welchen Sinn macht es also, es weiter zu versuchen? Die Chancen, die ich hatte, habe ich bravourös versaut. Grob gesagt, völlig vermurkst. Wieder einmal. Wieso sollte ich eine weitere bekommen? Welchen Grund sollte er haben, mir diese zu gewähren? Anscheinend kann ich nicht anders, als andere unentwegt zu enttäuschen, selbst, wenn ich es nicht mal bewusst darauf anlege, es zu tun. In diesem Fall habe ich es auch noch unabsichtlich bewusst getan, weil ich nicht dazu bereit bin, über meine Gefühle nachzudenken. Ich bin nicht mal wirklich bereit, mir einzugestehen, dass ich welche haben könnte. Egal, welcher Art sie auch sind. Doch genau diese überrollen mich gerade wie eine gigantische Dampfwalze und ich kann nichts dagegen tun, als dabei zusehen, wie all die heiße Luft aus mir herausgepresst wird, die ich so erbarmungslos zurückhalte. Es ist ernüchternd und ist genauso schmerzhaft, wie ich es stets befürchtete. Schlimmer noch, denn die bittere Erkenntnis, dass ich nicht so gefühlsfrei bin, wie ich es gehofft habe, reißt mich fast in zwei.

Ich lasse mich auf mein Bett fallen, fühle mich mit einem Mal unglaublich müde und doch bin ich hell wach, weil mein Kopf nicht aufhört, zu arbeiten. Es formen sich ganz unwillkürlich und ungehindert Szenerien vor meinem geistigen Auge. Das schummerige typische Licht in einer Bar, das Fantasien eher bestärkt als verhindert. Schlanke Finger, die über starke Arme reiben, die die kleine Narbe an seinem Ellenbogen ertasten und sie zärtlich liebkosen, als würde allein diese Geste jeden erlebten Schmerz davon streicheln können. Er würde es willkommen heißen, weil es das ist, was er vermisst. Es formulieren sich Dialoge. Flirtende Worte voller Neugier und Erwartungen. Seine Stimme ist eine Nuance tiefer, wenn er trinkt. Das weiß ich vom letzten Mal, als er mich aufs Dach entführte. Ich spüre deutlich, wie die Erinnerung daran mit der Sanftheit eines Seidenschal über meinen Hals gleitet. Und er zieht sich zusammen, als ich daran denke, dass seine Worte in dieser Nacht jemand anderen gelten könnten.
 

Trotz der fortschreitenden Uhrzeit mache ich kein Auge zu. Jedenfalls fühlt es sich so an, als ich mich am Morgen aufsetze und beginne, leise, aber derb vor mich hin zu fluchen. Es ist nicht mehr als ein kraftloses Flüstern und dennoch transportiert es meine gesamte Gefühlslage.

„Fuck!“, sage ich laut, als mit nichts Innovatives mehr einfällt. In meinem Kopf ist es matt und nebelig. Ich hasse es, mich so zu fühlen. Die Müdigkeit wabert durch meinen Körper und scheint mich regelrecht lahm zu legen. Dazu kommt dieses grässliche Gefühl, welches sich seit dem gestrigen Telefonat mit Marvin in mir ausbreitet, wie eine verdammte Seuche. Kains bester Freund ist ein echter Mistkerl. Nicht, dass ich das nicht bereits wusste, doch die Gewissheit macht es noch eine Spur schmerzhafter. Zumal er Kain damit wirklich ein guter Freund ist.

Nach einer kurzen Grundreinigungsaktion mit Zähneputzen und schlampiger Rasur leere ich meinen Rucksack auf dem Bett aus und ziehe mir ein paar Klamotten aus dem Schrank. Zusätzlich greife ich mir den Laptop, das von Brigitta bearbeitete Skript, die Reiseunterlagen und stopfe alles hinein. Danach lege ich Jeff einen Zettel auf den Tisch, auf dem ich ihm mitteile, dass ich das Wochenende über nicht anwesend bin. Dazu packe ich die Gummibärchen, die ich vor ein paar Tagen für ihn gekauft und dann aber vergessen habe. Bevor ich aus der Tür trete, werfe ich einen letzten Blick auf meinen handlichen Kommunikationsapparat. Nichts. Nur die schelmisch lachende Uhrzeitanzeige, die mich daran erinnert, dass es eigentlich viel zu früh ist, um auch nur den kleinen Zeh zu bewegen. Unwillkürlich versuche ich meinen linken wackeln zu lassen und scheitere. Auch das reiht sich perfekt in diesen Moment ein. Draußen greife ich automatisch nach der Packung Zigaretten in meiner Hosentasche. Ich ziehe einen Stängel hervor, starre ihn einen Moment lang an und habe das Gefühl, dass jegliche Willensstärke aus mir herausweicht, wie Luft aus einem löchrigen Schwimmreifen. Letztendlich rauche ich auf dem Weg zum Bahnhof drei Zigaretten, die mich weder beruhigen, noch befriedigen.

An einem Kiosk besorge ich mir ausnahmsweise einen Kaffee und einen Muffin, an dem Blaubeere dran stand und Apfel drin ist. Doch es ist mir vollkommen egal, während ich ihn mühsam runter würge. Der Zug ist ungewöhnlich pünktlich und erstaunlich leer. Ich lasse mich auf einen Viersitzer mit Tisch fallen, ziehe mir den Rucksack auf dem Schoss und lege meine Arme darum, als wäre er meine Rettungsboje. Das Gesicht drücke ich in den harten Stoff und bin leise, aber lustlos erfreut, als der Zug relativ schnell losfährt.
 

Die drei Sitze in meiner Nische bleiben auch nach dem vierten Halt leer und ich fange langsam an, mich zu entspannen. Müde streiche ich mir mit zwei Fingern mehrmals über den Nasenrücken. Weiter hinauf über die Nasenwurzel zur Stirn. Ich kriege Kopfschmerzen. Der Tag wird die Hölle, das weiß ich bereits jetzt. Das wusste ich schon nach den zehn Minuten Schlaf, die ich vermutlich letzte Nacht hatte und bevor mein Wecker klingelte. Und ich war mir absolut sicher, als ich am Bahnhof angekommen bin und die Nachricht meine Mutter bekam, die mir wie immer an diesem einem Tag versicherte, wie sehr sie mich liebt. Selbst Lena meldet sich jedes Mal. Meistens sind es nur kleine Belanglosigkeiten, die sie mir schreibt und ich weiß, dass sie es macht, um mir zu zeigen, dass sie an mich denkt. Und an René, der heute vor genau 17 Jahren starb.

Doch wie immer ist dieses Gefühlsgeplausche müßig. Darüber nachzudenken ist zwecklos. René kommt nicht wieder, das verstehe ich seit je her und der stetige Gedanken an ihn lähmt mich mehr, als dass er mich voranbringt. Auch das weiß ich nicht erst seit heute. Kaum einer versteht, dass ich, nur weil ich diesem Tag keine Besonderheit beimesse, nicht weniger an ihn denke. Im Gegenteil, es vergeht kein Tag, an dem ich ihn mehr oder weniger vermisse. Denn Fakt ist, Renè fehlt in jeder Sekunde meines Lebens.

Ich ziehe das Bild meines Bruders aus dem Portemonnaie, neige während des Betrachtens meinen Kopf gegen die kühle, vibrierende Scheibe und wünsche mich ausnahmsweise in mein fünfjähriges Selbst zurück. Damals war alles so viel einfacher, war so viel leichter. Unbeschwerter und frei. Denn mit René an meiner Seite war jedes Leid nur halb so wild. Wenn mein Lieblingskuscheltier kaputt ging, war es nicht so schlimm, weil er seins einfach mit mir teilte. Wenn mein Eis zu Boden fiel, gab er mir seine zweite Kugel. Auch dann, wenn diese seine Lieblingssorte gewesen war. Doch jedes weitere Eis, was danach fiel, war schlichtweg eine Tragödie für mich. Selbst, wenn ich direkt ein neues bekam. Denn jedes davon zeigte mir, dass ich von nun an allein war. Mein Bruder konnte nicht mehr mit mir teilen und die Lücke, die damals entstand, scheint auch nach all den Jahren nicht kleiner zu werden. Manchmal glaube ich, dass sie stellvertretend für die Distanz steht, die ich unweigerlich zu den anderen Menschen in meinem Leben aufbaue und einfach nicht schaffe zu überwinden.
 

Nach 20 Minuten Fahrt werden die Abstände zwischen den Haltestellen immer länger und ich muss mir kaum noch Sorgen machen, dass sich irgendwelche nervigen Menschen zu mir setzen. Ich sehe dabei zu, wie die Landschaft schnell an mir vorbeizieht und nehme es doch kaum wahr. Seufzend und nachdem ich feststelle, dass apathisch in der Gegend rumgucken keine Lösung für meine Probleme bringt, stecke ich das Bild von René zurück und hole ich das Skript des neuen Buches hervor. Zuerst blättere ich die markierten Stellen noch einmal durch und mache mir selbst ein paar Anmerkungen. Als ich damit fertig bin, bearbeite ich die restlichen Hinweise meiner Lektorin und meine eigenen am Laptop. Normalerweise wiege ich stets ab, wie viel von Brigittas Korrekturen ich umsetze und wie. Doch diesmal kassiere ich die von ihr rotmarkierten Absätze entschlossen und denke nicht mal über Alternativen nach. Wenn sie Brigitta nicht als nötig erachtet, dann sind sie es auch nicht. Der Rest ist ein übertrieben flauschiges, happy-end-glucksendes Kinderspiel, so wie ich es gewohnt bin. Auch, wenn sich diesmal kein rosafarbenes Ende für alle Parteien abbildet. Ryan ist definitiv Verlierer dieser Dreieckssituation. Seine Liebe bleibt unerwidert und seine Wünsche werden zu nichts anderem, als zur blassen Reflektion eines einst klaren Begehrens. Es ist das erste Mal, dass ich es bedauere, nicht für jeden etwas Gutes gefunden zu haben. Als ich mit allem fertig bin, ziehe ich die überarbeitete Version auf einen der USB-Sticks, die in meiner Federtasche rumkullern und stecke ihn in die Tasche, um ihn nachher Brigitta aushändigen zu können. Wir haben zwar noch immer nicht geklärt, wann das neue Buch ins Programm aufgenommen wird, aber das wird sich sicher ergeben. Vielleicht frage ich Karsten direkt danach. Immerhin wird er heute auch anwesend sein, soweit ich es verstanden habe. Eine willkommene Abwechslung. Mit dem Gedanken an die bevorstehenden Stunden wird meine Laune noch eine Spur schlechter. Seufzend schließe ich die Augen, was sich als schlechte Idee herausstellt, denn unwillkürlich schleicht sich der enttäuschte Blick des Schwarzhaarigen herbei und sorgt dafür, dass die eben noch abgewehrte Trübseligkeit weiter voranschreitet. Genervt richte ich mich auf und beginne durch die zuletzt geöffneten Dokumente zu scrollen. Ich schmunzele bei dem Titel, den ich einer Hausarbeit gegeben habe und stocke, als ich bei einer bestimmten Datei ankomme, die mich augenblicklich schwerer Aufatmen lässt. Ich zögere. Doch dann tippe ich das Touchpad zweimal an und sie öffnet sich. Ich bestätige das Pop-up-Fenster, welches mich an die zuletzt bearbeitete Stelle bringt und lande nicht am Ende des Dokuments.
 

Während ich mehr und mehr der geschriebenen Passagen überfliege, bemerke ich zum ersten Mal, dass es weitaus mehr ist, als das Aneinanderreihen von sexgeladenen Szenarien und Augenblicke. Es fühlt sich erlebt an und es zu lesen, greift tief in mein Inneres hinein. Die bedeutenden Stellen sind anders, als ich sonst von meinen Texten gewohnt bin. Sie transportieren Gefühl, ohne aufgesetzt zu sein. Es ist einfach, weich und subtil. Etwas, was ich schon lange nicht mehr für meine Bücher nutze. Meistens sind es eher viele dieser für mich abgedroschenen Floskeln, die beim Leser mit Wiedererkennung und Sehnsüchte verbunden sind. Sie erzeugen den größtmöglichen Effekt. Auch wenn sich Stile ändern und Autoren ihre Wortschätze erweitern, gibt es immer wieder bestimmte Phrasen oder Wörter, die in ihren Büchern auftauchen. Manchmal sind es ganze Szenerien, die sich in jedem Buch wiederfinden. Nur leicht abgewandelt und der Situation des Absatzes angepasst, aber die Notation ist die Gleiche. Sie sind fast wie eine Signatur, die sich einschleicht, ohne es zu bemerken. Bei mir ist es nicht anders. Doch im Gegensatz zu manch anderen bin ich mir dessen bewusst. Nicht zuletzt, weil meine Lektorin tolle Arbeit leistet und gnadenlos jede Szene auseinandernimmt, wenn etwas nicht stimmt. Aber ich ändere es nicht immer, denn ich nutze die Worte, auch weil ich sie mag, weil sie passen oder einfach nur weil sie funktionieren. Zugegebenermaßen ist es auch oft Faulheit und für meine vorigen Bücher ist es nie wichtig gewesen, wie ausgeklügelt oder raffiniert mein Wortschatz ist. Sie sind so voller Klischees und hirnloser Belanglosigkeiten, dass eine wortwörtliche Wiederholung kaum auffällt. Doch subtil ist eigentlich schöner. Subtil ist stärker. Denn zwischen den Zeilen wird jedes Wort wahrhaftiger. Auch, wenn es schwerer fällt, sie zu verstehen.

Witzig ist, dass sich Menschen oftmals ebenso verhalten. Häufig nutzen wir bestimmte Gesten und Reaktionen, weil sie sich, obwohl wir ganz genau wissen, dass sie nicht das gewünschte Resultat erzielen, dennoch bewährt haben. Oder weil wir uns selbst darauf konditionieren. Manchmal auch, weil wir es nicht besser wissen. Vielleicht auch, um Reaktionen zu provozieren, die uns eher zurückwerfen, als voranbringen, weil wir wissen, dass es einfacher ist, die Schuld bei jemand anderen zu suchen, als bei uns selbst. Ich bin ein unausgesprochener Meister darin. Ein Schritt nach vorn, zwei zurück. Das Gespräch mit Kain hat es mir eindrucksvoll bewiesen. Wieder einmal. Aus der Gewohnheit heraus habe ich abgeblockt, noch bevor es überhaupt eine Chance gab und die heftigste Regung, welche seither meinen Körper durchströmt, ist Bedauern. Es dominiert auf, während ich weiterlese und langsam begreife, dass sich zwischen den Zeilen eine ganz andere Geschichte verbirgt. Es ist eine abgewandelte Chronologie meiner und Kains vergangener Wochen und unserer gemeinsamen Momente. Erst vor kurzem fragte mich Kain danach, ob ich sie weitergeschrieben habe. Ich habe es verneint, aber es war gelogen. Mittlerweile hat sie mehr als 180 Seiten und ich habe sogar etliche Stellen auf gewohntem Weg korrigiert. Denn diese Passagen leuchten mir in einem hübschen dunklen Blau entgegen statt in schwarz. Meine Bearbeitungsmethode. Doch ein Ende hat sie nicht.

Mich erfasst genau derselbe Gedanke, wie am gestrigen Abend. Ich will nicht, dass es endet. Aber ich weiß auch, dass in der Literatur das Ende eines Buches nicht das Ende eine Geschichte bedeutet. Das Leben hat selten nur einen einzigen Teil und manchmal müssen wir Dinge abschließen, um ein neues Kapitel beginnen zu können.

Aber was bedeutet es in meinem Fall? Auch, wenn ich es anfangs vehement bestritt, dass Kain Modell für eine der Personen steht und ich auch noch immer widersprechen würde, stimmt es. Kain hat mich nicht mehr losgelassen. Nicht nur, weil mich der Geschmack seiner Bonbons bis in die Träume verfolgt, sondern auch, weil er einer der wenigen Menschen ist, die mich zur selben Zeit Wut, Zufriedenheit und Faszination spüren lassen. Zu ihm fühlt sich die Distanz nicht so groß an, wie zu den anderen. Dennoch ist sie da und nach dem gestrigen Tag scheint sie zusätzlich unüberwindbar für mich.

Kain wusste es, hat es längst verstanden. Vermutlich, weil er stets aufmerksamer ist als ich. Hat er es deshalb lesen wollen, weil das hier mehr aussagt, als ich es jemals persönlich könnte? Er hat mit allem Recht. Ich kenne die Bedeutung von so vielen Worten und in den seltensten Fällen verstehe ich sie. Doch, was soll ich tun? Gefühle sind meine Nemesis. Mein wunder Punkt. Außerdem bin ich bisher gut damit gefahren, das alles nicht an mich heran zu lassen. Oder nicht? Die in meinem Kopf geführte Debatte entscheidet sich diesmal nicht zu meinen Gunsten. Und deswegen beschaue ich letztendlich die leeren Seiten eines abrupt endenden Buches. René. Kain. Es ist keine gute Kombination. Meine Gedanken sind rastlos und der Druck in meiner Brust, verursacht durch das Gefühl des Verlustes, wird immer heftiger.
 

Aus einem inneren Zwang heraus ziehe ich mein Handy hervor und wähle Kains Nummer. Es klingelt dreimal, dann lege ich wieder auf. Statt vor mir auf das leuchtende Display zu sehen, starre ich direkt aus dem Fenster. Was habe ich erwartet? Sicher schläft er noch nach dieser feuchtfröhlichen Nacht mit Marvin und Anni. In meinem Kopf wiehert heute Nils. Ich lasse meine Hand samt Handy in meinen Schoss fallen und erschrecke als es sich plötzlich regt.

„Kain?“, frage ich, ohne auf das Display zu schauen.

„Tut mir leid, Mausespeck, nur deine stets nervende Lektorin.“ In mir lodert die Ernüchterung und das trotz des erschreckend selbstreflektierenden Kommentars, welches mich grundsätzlich erheitern sollte.

„Ich bin nicht in Stimmung...“, entgegne ich und schiebe es auf die Müdigkeit.

„Bist du das jemals?“

„Durchaus.“

„Ach ja und wann genau?“, hakt sie zu meinem Leidwesen auch noch nach.

„Etwa in dem Moment zwischen Aufsetzen und Beine aus dem Bettschwingen am Sonntag.“

„Das macht ein Zeitfenster von zehn Minuten, einmal pro Woche“, eruiert sie und lässt mich einen Moment lang zweifelnd schweigen. Zehn Minuten? In meinem Kopf sind es höchstens zwei. An schlechten Tagen drei.

„Dafür brauchst du zehn Minuten?“

„Meistens sogar länger“, erklärt sie, ohne sich auch im Geringsten daran zu stören, dass das regelrecht unverhältnismäßig ist.

„Okay... was willst du denn schon wieder?“

„Pah, ich wollte nur noch mal hören, wann du hier eintrudelst. Die Damen aus dem Sekretariat habe die Kopie deines Fahrplans verschlampt und ich würde gern wissen, wann ich dich am Bahnhof abholen muss.“

„Du musst mich nicht abholen.“

„Ach Schokotrüffelchen, das mache ich doch gern für dich... Apropos, wie lief das gestrige Date?“, flötet sie langgezogen und scheint in keiner Weise zu bemerken, dass die Überleitung mehr als dürftig ist. Wahrscheinlich ist das der Grund, aus dem sie überhaupt angerufen hat. Von wegen Fahrplan und Abholen. Am Arsch. Außerdem kann ich ihre Augenbrauen förmlich wackeln hören und beginne meinen Kampf gegen das wachsende Bedürfnis, einfach aufzulegen und zu schreien.

„Kurz vor zehn“, erwidere ich.

„Wie bitte?“, fragt sie irritiert. Sie hat mit einer anderen Antwort gerechnet, als die am wahrscheinlichsten Erwartete. Ein großer Fehler.

„Laut Fahrplan komme ich kurz vor zehn Uhr an“, sage ich als einziges und lausche der abwartenden Stille, die folgt. Sie hält erstaunlich lange an und ich zögere es noch weiter hinaus, indem ich den Teufel tue auch nur das kleinste Wort von mir gebe. Ich höre es fast Knistern und wie sie langsam vor Anstrengung zur pfeifen beginnt. Für sie wäre Auflegen definitiv erträglicher gewesen.

„Und?“, hakt sie ungeduldig nach.

„Und was?“

„Du weichst meiner Frage aus“, stellt sie nutzloserweise fest. Sie ist so schlau und liegt dennoch falsch.

„Ich bin nicht ausgewichen, ich habe bewusst nicht darauf geantwortet. Das ist ein Unterschied.“

„Du bist wie immer die Rosine im Studentenfutter, nicht wahr?“ Wer will schon eine Erdnuss sein?

„Ich leg jetzt auf.“ Ich atme tief aus, als ich das Telefon von meinem Ohr nehme und zurück in meinem Schoss plumpsen lasse. Es ist ein Albtraum. Das alles. Und Kain reagiert einfach nicht auf meine Kontaktaufnahmen. Wenn er nicht mehr in meiner Nähe sein will, dann fällt der Intelligenzquotient meiner Bekanntschaften deutlich ab. Bedauerlich. Mein Spaßfaktor ebenso. Vor allem aber der Sex. Mein innerer Sarkasmusindex klettert ins Unermessliche und fällt garstig lachend über mich her, wie ein schelmhungriges Tier. Ich kann es fast selbst nicht mehr hören. Wem mache ich eigentlich etwas vor? Was auch immer Kain und ich teilen, ist nicht nur das gemeinsame Stille sexueller Belange. Auch, wenn es das ist, was ich mir hartnäckig einrede. Alte Muster sind schwer abzulegen. Ich stoße frustriert die Luft aus und lehne mich in den Sitz zurück, weil ich selbst langsam merke, wie sehr ich mich im Kreis drehe. Mir wird langsam schwindelig und ich fühle mich überfordert. Denn es ist völlig egal, was ich versuche, mir einzureden, ich hatte mich auf das Essen mit Kain gefreut.
 

Kurz bevor ich an meiner Haltestelle ankomme, ziehe ich auch die andere Geschichte auf einen USB-Stick und stecke ihn in die Hosentasche. Ich verpacke alles zurück in meinen Rucksack, während ich mich in die Schlange für den Ausstieg einreihe und wie ein braver Lemming der strömenden Meute folge, bis die schmalen Zugänge in der Bahnhofshalle münden. Brigitta wartet bereits an einem Kaffeestand auf mich. Ich muss sie nicht mal suchen, denn ihre intensiv aubergineroten Haare scheinen fast zu leuchten. Unbewusst bleibe ich in einiger Entfernung stehen und merke, wie mein Fluchtreflex nach möglichen Verstecken Ausschau hält. Ich atme langsam tief ein und wieder aus. So viele Möglichkeiten und doch bleibe ich mitten in der Halle stehen. Meine Augen verfolgen ihren Bewegungen. Sie zirkelt mit einem übervollen Becher Kaffee, pumpt gerade das dritte Tütchen Zucker hinein und schafft es, das Getränk umzurühren, ohne dass das geringste Bisschen Schaum am Rand hinabläuft. Beeindruckend und im gleichen Maß verstörend. Währenddessen quatscht und flirtet sie mit dem jungen Barista und hat mich noch immer nicht bemerkt. Ich wiederhole meine beruhigende Atemtechnik und fühle mich kein bisschen besser gewappnet als vorher. Ich hoffe inständig, dass ihr Fragenkatalog verlorengegangen oder durch die überhöhte Koffeindosis in Vergessenheit geraten ist. Ich rege mich erst, als mir Brigitta energisch mit dem Arm entgegen wedelt. Denn damit ist die letzte Chance, mich einfach in Luft aufzulösen, verspielt. Ich schultere meinen Rucksack fester und gehe trotz Widerwillen auf die grinsende Winkekatze zu.

„Also das mit der guten Laune müssen wir noch üben“, begrüßt mich meine Lektorin, als ich nahe genug bin und sorgt dafür, dass mein Gesichtsausdruck einen Mü grimmiger wird.

„Was denn? Ich bündele nur jedes bisschen Freude, das ich aufbringen kann, für das Treffen“, pampe ich ihr mit zusammengebissenen Zähnen erklärend entgegen und zeige ein passendes Lächeln, welches auch als gruselig durchgehen würde. Ich bin so samtig, wie ein verkalkter Wasserkocher.

„Klar doch, Sonnenscheinchen. Es muss wahre Anstrengung für dich sein, dass du vor lauter positiver Energie nicht augenblicklich implodierst.“ Wenn sie wüsste.

„Können wir das bitte überspringen? Ich werde mich benehmen. Mehr kann ich dir heute nicht anbieten“, versichere ich ihr mit einem Übermaß an heuchlerischer Überzeugungskraft. Brigitta mustert mich kritisch, nickt es aber ab, denn sie weiß, wann sie nachgeben sollte. Sie deutet in die Richtung ihres Autos und ich folge ihr mit dem Elan eines Teilnehmers bei einer Bobby-Car-Rallye in der Wüste.
 

Während der Fahrt lasse ich meine Lektorin reden und das nutzt sie gnadenlos aus. Nachdem ich weiß, was sie in den letzten Tagen zum Mittag hatte und wie ihre Nichte und ihre Katze heißen, schaltet sich langsam aber sicher mein Gehirn ab. Ich schnappe nur noch einzelne Fetzen und Worte auf und gehe meiner heutigen Lieblingsbeschäftigung nach. Irgendwohin starren. Zum Glück erwartet Brigitta wohlwissend keine Erwiderung von mir. Selbst, als wir das Verlagsgebäude betreten, scheint sie noch immer neue Themen zu finden, was in Anbetracht der bereits abgehakten Liste eine Unglaublichkeit darstellt. Aber was wundere ich mich überhaupt. Brigitta gehört zu den Personen, die selbst nach ihrem Tod noch reden würden und damit der gesamten Trauergemeinde das Fürchten lehren.

Während Brigitta freudestrahlend mit ihren Kolleginnen schnattert, stehe ich desinteressiert daneben und sehe mich nach fünf unendlich langen Minuten ungeduldig um. Leider nicht unbemerkt. Sie schiebt mich seufzend zum vorbereiteten Konferenzsaal und zieht leise, aber übertrieben meckernd ab. Sie wusste, was auf sie zukommen kann.

Ich lasse mich auf einen der noch reichlich vorhandenen freien Stühle nieder und bereue es zutiefst, dass ich nicht versucht habe, während der Fahrt zu schlafen. Ein müder Robin ist noch dreimal missmutiger als der normale Robin. Was selbst für mich anstrengend wird. Ohne Kaffee hätte es vielleicht geklappt. Mein Fehler. Ich atme tief durch und sehe mich um. Keine Couch. Keine Hängematte. Wo kann ich mein Veto einlegen?

Weil der leere Raum auch nach mehrmaligem Seufzen keine Notiz von mir und meinen Belanglosigkeiten nimmt, lehne ich mich einfach zurück. Auf jedem Platz liegt eine dicke Mappe mit Papieren und Ausdrucken. Ich widerstehe mühelos der Neugier, hineinzuschauen, aber auch nur, weil der Inhalt für mich so spannend ist, wie die Klatschspalte eines Frauenmagazins. Darin wird nichts stehen, was uns Brigitta bei ihrem letzten E-Mailtsunami nicht schon mitgesendet hat.

In der Mitte des Tisches stehen Gläser und Tassen auf dem Kopf, Flaschen mit Wasser und eine Schale voller Gebäck und etwas Rosafarbenen. Ich beuge mich vor und ziehe die kleine Schüssel geräuschvoll zu mir heran. Sie ist gefüllt mit rosafarbene Salztoffees und bevor ich meiner Verzweiflung geräuschvoll Nachdruck verleihe, kippt mein Kopf mit der Stirn voran und einem leisen Plopp einfach auf die Tischplatte. Mein theatralisches Schluchzen erfüllt den gesamten Raum. Nun bin ich offiziell in der Hölle angekommen. Einem pinken Ort der Verdammnis voller hochtrabendem Liebesgeschwafel und klischeehafter Pseudorealitäten. Ich werde Happy End-Floskeln bald in allen Farben kotzen und mit Sicherheit nur noch glitzernde Rosé-Sekttränen vergießen können. Keine Fähigkeiten, die ich besitzen möchte und etwas, was selbst meinem inneren Sarkasmusgetier Einhalt gebietet. Es ist schon schwer genug, beim Schreiben nicht jedes Mal in den klischeeumwobenen Liebessumpf abzudriften, nur weil es als besonders wertvolles Prädikat eines Liebesromans gilt, dass sich am Ende die Hauptfiguren gemeinsam in den siebten Himmel verabschieden. Egal, wie abstrus oder weithergeholt es ist. Liebe auf dem ersten Blick ist so unwahrscheinlich, wie von einem vom Himmel fallenden Legostein am kleinen Zeh getroffen zu werden. Und selbst das ist vermutlich noch im Rahmen des absolut möglichen. Und dennoch wird auf nichts davon Wert gelegt. Wozu Realität, wenn man himmelhochjauchzenden Scheinsurrealimus betreiben kann. Es ist zum Verrücktwerden.

Mit einem gequälten Raunen greife ich mir eine der Wasserflaschen und trinke sie bis zur Hälfte leer. Danach geht sogleich die Tür auf und ich schaffe es nicht, meinen unwilligen Gesichtsausdruck zu kaschieren, den ich auch noch direkt ins Blickfeld der Tür richte. Brigitta und eine viel jüngere Frau stehen im Türrahmen. Ihre Haarfarbe kollaboriert akzentuiert mit der meiner Verlegerin. Vielleicht sollte ich mir beim nächsten Mal die Haare einfach blau färben. Beide mustern mich, aber nur ein Blick ist wissend. Ich lehne mich zurück und mache keine Anstalten, aufzustehen oder als erstes das Wort zu ergreifen. Für Höflichkeiten habe ich heute keine Energien übrig.

„Bemüh dich nicht. Robin, das ist Maren Dey und das, meine Liebe, ist Robin Quinn.“ Brigitta formuliert die klassischen Vorstellungsgesten und ich sehe, wie Maren eifrig nickt. Außerdem kann ich deutlich erkennen, wie es in ihrem Gehirn arbeitet. Nein, diesen Namen wird sie nicht kennen und garantiert wirke ich nicht wie der typische Schriftsteller. Wieso also bin ich hier? Eine Frage, die ich mir schon seit Wochen stelle. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Brigitta absichtlich darauf verzichtet, mich mit meinem Pseudonym vorzustellen oder sie mich schlicht dazu zwingen will, selbst auszupacken. Den Gefallen tue ich ihr nicht. Hinter den beiden taucht noch eine weitere Frau auf. Kara Wang. Auch sie wird mir vorgestellt. Nur mir. Anscheinend sind die anderen Autoren untereinander gut vernetzt. Sie hat ungewöhnlich strenge asiatische Züge, aber wenigstens klassisch schwarze Haare. Ihr Name kommt mir im Gegensatz zu der anderen bekannt vor. Ich meine mich daran zu erinnern, dass ich erst vor kurzem eines ihrer Bücher in der Hand hatte und mich still darüber echauffierte, dass ihre Cover wesentlich hübscher sind, als meine. Darauf werde ich Brigitta noch mal ansprechen müssen. Es folgen noch zwei Kolleginnen von Brigitta, bei denen ich nicht weiß, ob sie ebenfalls als Lektorin arbeiten, oder ob sie andere Stellen innehaben, wie Marketing oder einen dieser anderen hübschen englischen Berufsbezeichnungen.

Direkt hinter der weiblichen Ansammlung kann ich Karsten, meinen Verleger, ausmachen. Er wirft mir einen Blick zu, hebt seine Hand und obwohl er alle überragt, verliert sich seine Spur plötzlich in der Menge. Vielleicht hat er die Flucht ergriffen? Vielleicht könnte er mich in sein Versteck einladen? Für einen kurzen Moment bin ich hoffnungsfroh, doch dann schiebt er die Frauen einfach durch die Tür und fordert alle auf, sich hinzusetzen. Eine der Sekretärinnen bringt eine Thermoskanne mit Kaffee und zusätzlich eine mit Tee. Ich bin freudig überrascht. Auch, dass ich nicht der Einzige bin, der Tee favorisiert. Fräulein Wang ebenso. Ich danke ihr, als sie mir ebenfalls eine Tasse eingießt und das Lächeln, womit sie den Dank erwidert, verdrängt mit einem Mal jede Härte aus ihrem Gesicht. Ein Unterschied von Tag und Nacht. Ich kann nicht verhindern, dass ich sie einen Moment länger ansehe und meinen Blick erst löse, als sie an ihrer Tasse nippt.
 

Die Begrüßung und überschwängliche Einleitung in das Vorhaben übernimmt Brigitta, während Karsten stetig und bedächtig nickend neben ihr sitzt und dabei wirkt als wäre er ihr Schoßhund und nicht ihr Chef. Ob er bellt, wenn man ein Leckerli aus der Tasche holt? Bei der Vorstellung schleicht sich ein Grinsen auf meine Lippen. Dabei kann ich meinen Verleger wirklich gut leiden. Er ist geradeheraus und hält sich selten mit Kleinigkeiten auf. Er sagt direkt, wenn ihm etwas gefällt oder nicht und damit kann ich wesentlich besser umgehen, als mit zurückhaltenden Weichspülerattitüden. Ich beobachte ihn noch einen Moment länger und erkenne nun, dass seine Finger unruhig unter die Tischplatte gegen das Holz klopfen. Er ist mit so viel Elan dabei, wie ich. Als er meinen Blick bemerkt, lächelt er und hält für zwei Minuten still. Brigitta skizziert wortreich ihre Vorstellungen und zieht währenddessen die zwei Flipcharts heran, die bis eben noch unschuldig an der Seite rumstanden. Oh oh. Ich ahne böses. Mein Gefühl bestätigt sich, als sie verschiedenfarbige Kärtchen und Stifte rumgeben lässt. Ich muss nicht nur zuhören, sondern auch mitmachen. Das war nicht der Deal. Ich setze zum Widerspruch an und werde von meiner Lektorin unterbrochen, ehe ich überhaupt einen Laut hervorbringe. Sie legt sogar noch ein paar Karten mehr auf meinen Stapel und grinst. Ich schnappe mir den Stift und schreibe mit Druckbuchstaben das Wort Rache auf eine der rosaroten Karten und halte sie in Brigittas Richtung. Karsten lacht laut auf und Brigitta winkt kokett ab, nachdem sie mir einen Luftkuss zu geworfen hat. Ich bringe sie nicht mehr aus der Ruhe. Daher ergänze ich das Schild noch mit `coming soon` und klebe es mir demonstrativ als Namensschild ans Oberteil. Sie lächelt und fährt fort.

„Natürlich sprechen wir auch von den klassischen Features im Sinne von Signierstunden, Buchverkäufen, Meet and Greets und Lesungen...“ Yippie. Ich, in einer Lesung. Eine derartige Szene malt sich augenblicklich in meinem Kopf und sie ist der reine Horror. Wo ist das bodenlose Loch, in das ich mich stürzen kann? Ich verstehe immer noch nicht, wieso ich hier bin. „Schön wäre es auch, wenn wir Diskussionsrunden aufziehen können, um zu erfahren, wohin sich die Vorstellungen der Leser*innen entwickeln. Wünschen Sie sich eher seichte Liebe auf dem ersten Blick oder spannende Versteckspiele mit Herzschmerz erfülltem Liebeskolla“, setzt sie begeistert und überschwänglich fort. Sie schreibt definitiv zu viele Klappentexte. Automatisch verdrehe ich die Augen und ich schaffe es nicht schnell genug, meinen Blick abzuwenden. Ich merke einen leicht zwiebelnden Schmerz an meinem Hals und wie etwas in meinen Schoss fällt.

„Au!“, gebe ich entsetzt von mir. Als ich nach dem Objekt greife, welches mich getroffen hat, erkenne ich einen der Salztoffees und blicke direkt zu meiner Lektorin, die mich mit blitzenden Augen durch ihre Brille hindurch fixiert. Oder wahlweise auch erdolcht. Ihr Gesichtsausdruck hat einen gewaltigen Interpretationsspielraum. Ich entferne die Hülle und stecke mir das süße Ding demonstrativ in den Mund. Großer Fehler. Das Wort Süß bekommt eine neue Bedeutung und paart sich mit der Definition von das Grauen. Es ist schrecklich.

„Hast du zu dem Thema eine Meinung?“, fragt Brigitta trotz alledem, als ich angestrengt mampfe, statt zu parieren.

„Habe ich, ... aber die will hier ... keiner hören...“, sage ich mit Verzögerungen, da der Toffee in meinen Zähnen klebt. Ich schmatze kurz auf und verhindere gerade so, dass sich meine Spucke verselbstständigt.

„Ah, du meinst, ich kenne sie bereits...“ Oder so. Gehopst, wie gesprungen. Oder gehoppelt? Ich zucke desinteressiert mit den Schultern. Brigitta lässt sich nicht beirren und blubbert einfach weiter, während ich gegen den Karieskleber kämpfe. Ein Kampf der Giganten und für einen Moment befürchte ich, zu unterliegen. Meine Kopfschmerzen nehmen weiter zu. Meine Zahnschmerzen auch. Ich blicke fast sehnsüchtig auf mein Handy, welches auf meinen Schoss unter dem Tisch liegt, während ich mit der Zunge versuche, meine Zähne zu reinigen und verspüre das dringende Bedürfnis, jemanden mein Leid kundzutun. Doch der Einzige, der mir einfällt, wäre Kain. Das steinerne Etwas in meiner Brust wird schwerer. Trotzdem öffne ich den Chat mit dem Schwarzhaarigen und das miese Gefühl wird nur noch schlimmer. Meine Nachrichten wurden gelesen, aber nicht beantwortet. Dafür gibt es nur zwei Gründe. Marvin hat sie vorher gelöscht oder Kain will mir nicht antworten. Keine davon gefällt mir und meine Konzentrationsfähigkeit verabschiedet sich endgültig.
 

Ich horche erst wieder auf, als die Diskussion um mich herum plötzlich mit den Phrasen ewiger Liebe und Wunscherfüllung rumwirft, wie mit Konfetti. Die fünf Frauen sind definitiv auf einem glitzernden Regenbogen unterwegs. Vielleicht sollte ich ihnen Nils zur Verfügung stellen, denn mein kleiner Sarkasmusfreund schabt bereits mit den Hufen. Die Runde tauscht sich über vergangene und aktuelle Bestseller des Genres und deren Plots aus und ich wage es kaum zu sagen, dass ich so gut wie nichts davon gelesen habe. Meine Gelüste werden eher von Fachliteratur und morbiden Thrillern gestillt. Oder von der Tatsache, dass mein Gehirn genügend eigenen Kram produziert.

„Was spricht eigentlich gegen Realismus in Liebesgeschichten?“, frage ich, als Maren nach einem ausschweifenden Monolog über die fantastische Welt des unbegreiflich unwahrscheinlichen Liebesobjektes Luft holt. Superreiche, aber kaltherzige Millionäre, frenetisch geliebte Idole und super strenge, aber super sexy Chefs. Ich scheine in einem anderen Universum zu existieren, weil ich den Sinn dahinter einfach nicht begreife. Sie jedoch behauptet felsenfest zu wissen, was genau ihre Leser*innen sich wünschen und wieso sie es sich genauso vorstellen. Die Chance auf das Erleben des Unmöglichen und ein Happy End sind das Einzige, was zählt. So als würde nur ein derartiges Ende ihre Existenzen rechtfertigen. Ich habe schon fast ein wenig Mitleid, wenn ihr Lebensinhalt einzig darin besteht, darauf zu hoffen, dass sie irgendwann ihren unantastbaren Traumprinzen besteigen können. Alle sehen mich an, als ich meine simple, aber ernstgemeinte Frage ausspreche. Karsten räuspert sich und in den Augen meiner Lektorin erkenne ich die wachsende Panik, dass ich gleich zum Meuchelmord des Liebesgenres ansetze. Es ist nicht meine Absicht. Ich möchte nur einen adäquaten Beitrag zur Diskussion leisten.

„Was genau verstehst du darunter?“, fragt mein Verleger und ich bin mir sicher, dass er ebenso, wie Brigitta meinen letzten Romaninhalt im Kopf hat. Ehe ich antworte, lasse ich meinen ungenutzten Stift auf die Mappe tippen, zucke mit den Schultern und weiche ihren unangenehmen Blicken aus.

„Na ja,...“, beginne ich zögerlich und versuche alle vorher angesprochenen Thema aufzugreifen, „... dass es nicht immer sofort klappt, zum Beispiel. Manchmal bedarf es einer zweiten Chance oder einer Dritten. Oder dass man nicht immer dem Neuen nachgeht, sondern auch mal für das Alte kämpft. Auch, wenn das Neue aufregend und glitzernd wirkt, kann man einen Menschen auch ein zweites Mal kennenlernen und dabei Dinge entdecken, die man vielleicht schon wieder vergessen hatte.“ Während ich spreche, bemerke ich, dass sich Brigitta beruhigt zurücklehnt und mich trotzdem ganz genau beobachtet. Auch Maren und Kara sehen mich aufmerksam an.

„Ich meine ja nur, dass es auch andere Wege gibt, eine gute Liebesgeschichte zu kreieren, ohne permanent das Unmögliche wahrzumachen. Ich sage es nur ungern, aber so viele Millionäre gibt es einfach nicht und Narzissten bleiben Narzissten, egal, wie devot man sich zeigt.“ Im echten Leben fällt niemand so einfach aus seiner Rolle, wieso sollten es Romanfiguren? Menschen lassen sich nicht einfach ändern. Wir sind, was wir sind und jede Veränderung kostet Kraft, Zeit und eigene Willen. Alles andere ist vergebliche Liebesmüh.

„Du bist also gegen den klassischen Mainstream. Das finde ich gut“, sagt Karsten und sieht zu Brigitta.

„Ich bin gegen die verschwenderische genutzten Kli....“, beginne ich, doch Brigitta fährt mir energisch in die Parade.

„Robin kann das auch bleiben, aber wir dürfen uns nicht gegen den Mainstream verschließen.“ Wie diplomatisch. „Die Zahlen zeigen einen deutlichen Trend und den greift Maren definitiv mit ihren Ideen auf.“ Trotz ihrer Worte sehe ich, wie sie sich etwas auf ihrem Block notiert. „Ich finde allerdings, dass das ein gutes Thema für eine Diskussion darstellt. Warum sehnen wir uns eigentlich nach dem Unmöglichen? Was reizt uns an dem Unwahrscheinlichen? Warum will jeder eine Prinzessin sein?“

„Ich nicht.“, lehne ich prompt die Hypothese ab.

„Okay, Robin, darf das schlosseigene Ungetüm im Burggraben sein“, kommentiert Karsten und deutet auf seine Uhr. Alle anderen kichern. „Gut, wenn das geklärt ist, machen wir erstmal Pause.“
 

Ich lasse mich draußen auf eine der Bänke fallen, während die anderen essen gehen. Brigitta versucht mich zur Nahrungsaufnahme zu motivieren, doch ich lehne dankend ab. Ich habe keinen Hunger und dank der Kariesbombe habe ich Zahnschmerzen. Nicht mal der Pudding und die Zusicherung, dass ich auch ihren bekomme, können mich locken.

Draußen ist es angenehm warm, so dass ich keine Jacke brauche. Nun bin ich froh, dass mir Brigitta vorher das Racheschild abgenommen hat. Aus der Gewohnheit heraus stecke ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen, zünde sie aber nicht an. Ich lasse sie nur eine Weile hin und her wippen und starre gen Himmel. In der letzten Zeit ist das Bedürfnis nach Nikotin wirklich weniger geworden. Selbst in den letzten Stunden merkte ich keine übertriebene Unruhe. Jedenfalls nicht aus diesem Grund. Ich werde von Sonnenstrahlen geblendet und schließe die Augen. Ich bin müde und überhaupt nicht bei der Sache. Die Zigarette stecke ich mir hinters Ohr, pfriemele leise schmatzend mein Handy aus der Hosentasche und versuche auf dem Display irgendwas zu erkennen. Ein verpasster Anruf und mehrere Nachrichten. Es ist alles von Jeff.

-Hab mich von Abel getrennt.-, lautet die Erste. -Er kann so ein Arsch sein.- Nummer zwei. Für mich ist das Zweite keine neuwertige Information. Auch der Schritt zur Ersten nicht. Trotzdem bin ich überrascht, wie schnell es plötzlich ging. Ist es meine Schuld? Waren meine Worte dafür ausschlaggebend, weil ich ihm gesagt habe, dass er mich angemacht hat? Oder hat Jeff mit einem Mal begriffen, dass Abel nichts weiter als eine Luftnummer ist? Ich glaube nicht wirklich daran. Da ist sicher noch nicht das letzte Wort gefallen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Abel es so einfach darauf beruhen lässt und Jeff gehört nicht zu den Personen, die wirklich konsequent sind. Was das überstürzte Handeln noch eigenartiger macht. Ich lese die restlichen Nachrichten, um vielleicht einen Grund zu erfahren.

-Wo bist du überhaupt? Danke für die Gummibärchen. Sind schon alle- Eine Weitere.

-Hab Kain getroffen. Was ist los?- Nach dieser Textnachricht lasse ich das Telefon sinken und beiße mir auf die Unterlippe. Kain ist also schon wieder auf den Beinen. Unterwegs nach seiner feuchtfröhlichen Kumpelnacht. Gut. Fantastisch. Sein Handy hat er sicher auch wieder. Aber er hat noch keine Zeit gefunden, um auf meine Nachrichten zu reagieren. Oder auf meinen Anruf. Too busy. Gut. Fantastisch. Ich nicke nach jedem Satz und störe mich nicht mal daran, dass sie selbst in meinem Kopf vor Verzweiflung nur so triefen. Himmel bitte erschießt mich. Ein Treffer mitten in die Stirn. Dann hört auch endlich dieses kindische, selbstbemitleidende Gefasel auf. Ich bin selbst schuld, dass er sich zu dem Schritt gezwungen fühlt und jetzt muss ich verdammt noch mal damit leben. Allerdings bin auch niemand, der etwas einfach so ruhen lässt. Um zu verhindern, dass Jeff weitere Male versucht, mich zu erreiche, antworte ich ihm.

-Bin bis morgen unterwegs. Im Gefrierfach liegt Eis. Kommst du klar?- Ich frage mich für einen kurzen Moment, ob es schroff klingt und schicke es dennoch ab. Jeff ist nichts anderes von mir gewöhnt und übertrieben Freundlichkeit macht ihn eher misstrauisch. Trotzdem würde ich gern den Grund von ihm erfahren. Danach lege ich das Handy auf meinem Schoss ab. Ich habe keine Ahnung, wie sehr Jeff die Trennung mitnimmt. Weder er noch ich bringen da viel Erfahrung mit. Aber Eis hilft immer. Mit Eis kann man nichts falsch machen. Mein Kopf kippt in den Nacken. Die feinen Sonnenstrahlen treffen mein Gesicht erneut. Sie sind warm und angenehm. Sie winden sich mühelos durch die Verästelung des Baumes und werden davon getragen von einen sanften Luftzug. Was würde ich dafür geben, einfach einer dieser Sonnenstrahlen zu sein. Schwerelos und frei. Erneut geistern Kains und Renés Namen durch meinen Kopf. Mittlerweile kann ich die Intensität, die sie auslösen, nicht mehr voneinander unterscheiden. Im Gegenteil, sie scheinen sich gegenseitig anzustacheln.
 

Die leisen Stimmen und nahenden Schritte nehme ich kaum wahr. Erst, als sich jemand neben mir auf die Bank niederlässt, öffne ich meine Augen.

„Was ist mit dir los, Brausebär? Alles okay?“ Meine Lektorin hält einem Kaffeebecher in der Hand und ruft das Kosewort so laut aus, dass sich die anderen Teilnehmer noch mal umdrehen. Ich bin zu langsam, um angemessen auf Brigitta zu reagieren. Dementsprechend schenke ich ihr nur einen halbherzigen Blick und ziehe einen Flunsch. Sie legt mir als Reaktion darauf einen Vanillepudding in de, Schoss, der sich unter ihrem Kaffeebecher versteckt hat. Ich kriege sogar einen Löffel.

„Nichts. Ich bin so brav, wie du wolltest, oder nicht?“, ringe ich mir ab.

„Ich wollte dich friedlich, nicht apathisch“, kommentiert sie und schiebt ihre Brille etwas nach oben. Ich krächze theatralisch, nehme den Pudding in die Hand und lehne mich nach vorn. Meine Ellenbogen drücken sich in meine Oberschenkel. Mein Blick richtet sich auf eine weit entfernte Stelle. Einem orangefarbenen Fleck inmitten einer samtig grünen Hecke.

„Ich rate mal“, beginnt Brigitta neben mir. Ich seufze, sage aber nichts. Wohlwissend, dass ich sie sowieso nicht aufhalten kann. “Es geht um das Schnuckelchen und scheinbar ist euer Date gestern nicht so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hätte.“ Treffer. Versenkt. Ob ich nun wieder in Ruhe vor mich hinvegetieren darf?

„Es war nur ein Essen und... es hat nicht stattgefunden“, gebe ich monoton preis. Nicht so, wie sie es sich gewünscht hat, wiederholt sich in meinen Kopf. Ich mir auch nicht. Allerdings mit dem Unterschied, dass ich im Grunde gar keine Erwartungen hatte. Warum also bin ich so enttäuscht?

„Oh“, gibt sie als einziges von sich und ich sehe auf den Kaffee in ihrer Hand. Ihre langen, türkisfarbenen Fingernägel kratzen über die bedruckte Pappe, pfriemeln an einen lockeren Papierfetzen rum und lenken mich kurz ab. Wir schweigen einen Moment lang und ich beginne das Plaste meines Puddings vorsichtig zusammenzudrücken, sodass sich die Abdeckung wölbt. Es knistert. Es knirscht und überdeckt das feine Seufzen, welche sich von meinen Lippen löst. Es ist fast eine Melodie. Eine Melodie des Trübsinns.

„Willst du mir gar nicht unterstellen, dass ich es verbockt haben muss?“, frage ich, nachdem sie etwa zwei Zentimeter Papier abgepellt hat.

„Würde dir das denn helfen?“, erkundigt sie sich und ich sehe auf. Durch die Brillengläser hindurch blicken mir zwei klare, graugrüne Augen entgegen. Nein, das würde es nicht.

„Robin, ich weiß nicht, was passiert ist und ich werde auch nicht weiter mutmaßen. Du kannst mit mir darüber reden oder du lässt es.“ Die beste Wahl für mich zu treffen war noch nie meine Stärke und auch jetzt mache ich das Typische. Schweigen. Schulterzuckend lehne ich mich zurück, verschränke die Arme locker vor dem Bauch und drehe den Becher Pudding mit einer Hand umher. Ich wechsele zur anderen und werfe die Süßspeise hin und her. Nur nicht lange. Brigitta greift sich den Pudding und zwingt mich so, sie wieder anzusehen.

„Weißt du, Mausespeck, du bist der Inbegriff von unromantisch und doch, liebe und glaube ich dir jedes Wort deiner Bücher. Und weißt du, wieso?“ Die damit herbeigeführte Pause zwingt mich erneut, sie anzusehen. Auf ihren Brillengläsern sind kleine Wasserflecke zu erkennen. „Weil es authentisch ist. Weil du nicht nur blind etwas fantasierst und ausschmückst. In jeder Zeile stecken Wünsche und Sehnsüchte, die so variabel, schön und farbenfroh sind, wie die Menschen selbst und das ist wunderbar. Selbst deine eigenen, auch wenn du sie leugnest.“ Mit einer einfachen Geste erstickt sie jede meiner typischen Ablehnungen im Keim, bevor sie sich auch nur ansatzweise über meine Lippen mühen.

„Ich weiß, wir haben diese Diskussion schon geführt. Ich kenne deinen Standpunkt und du meinen. Aber ich betone gern noch mal, Liebe ist etwas Gutes und sie ist weitaus vielschichtiger, als es uns die Wissenschaft diktiert. Ich denke, dass...“

„Was?“, unterbreche ich sie, „Wird sie dadurch weniger anstrengend oder sinnvoller?“ Ich reagiere gereizt und weiß nicht einmal, wieso. Ihr blinder Enthusiasmus ist wie immer beeindruckend. Aber ich bin es leid, diese Grundsatzdiskussion zu führen. Für manche Dinge gibt es keine allgemeingültige Definition und Liebe gehört für mich dazu.

„Du betonst zwar immer wieder, wie sehr du Emotionen verabscheust und wie wenig es dir bedeuten, aber im Grunde hast du einfach nur Angst. So wie alle anderen auch und das ist okay.“ Angst. Ja, ich habe Angst. Auch sie trifft den Nagel auf den Kopf, was es nicht einfacher für mich macht oder brauchbar.

„Vielleicht solltest du da ansetzen. Akzeptiere, dass es okay ist, Angst zu haben und dann merkst du endlich, dass du um dich herum Menschen hast, die dir die Ängste auch nehmen können... wenn du es zulässt.“ Langsam bin ich mir sicher, dass sie nebenberuflich Glückskekstexte schreibt. Ich greife nach der Zigarette hinter meinem Ohr, stecke sie mir zwischen die Lippen und taste nach meinem Feuerzeug. Doch statt diesem, ertaste ich in der Tasche nur den USB-Stick, ziehe ihn hervor und halte ihr diesen hin.

„Hier die Korrekturen zu `Niemals nicht´“ Es klingt vernuschelt, wegen der Zigarette in meinem Mund.

„Oh, du mein braver Vorzeigeautor“, säuselt sie und nimmt mir den Stick ab. Mitnichten. Ich verdrehe schon währenddessen theatralisch die Augen. Erst beim zweiten Versuch finde ich das Feuerzeug und zünde die Zigarette an. Brigitta steht auf und lässt mich mit meinem Krebserzeuger allein. Und mit meinen Gedanken.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Heshenyun
2020-10-14T22:47:53+00:00 15.10.2020 00:47
Ahhh, ich spüre förmlich das Leid von Robin in den Zeilen. Kann es kaum glauben, dass die Story in zwei Kapiteln schon endet. Ich bin gespannt weiterzulesen!
Von:  Reija
2020-10-03T18:25:11+00:00 03.10.2020 20:25
Da warte ich sooooooo lange auf ein neues Kapitel und überlege schon ob ich quängeln komm komme und dann gleich so viel auf einmal
Ist fast wie Geburtstag, Weihnachten und Ostern zusammen :3
Gleich die anderen beiden hinterher lesen
Von: Karma
2020-10-03T18:23:19+00:00 03.10.2020 20:23
Oh Mann, da hat jemand aber doch sicher den falschen Stick abgegeben.
;)
Bin ich froh, dass ich direkt weiterlesen kann; ansonsten würde die Spannung mich umbringen.

Von:  Kayara
2020-10-02T18:56:03+00:00 02.10.2020 20:56
Uhh und dann so viele Kapitel auf einmal. 💕


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