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Giniro no Sora

One Shot Sammlung
von

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Gebranntes Kind scheut das Feuer


 

›Nichts ist beschämender für einen Samurai, als die Scham als solche nicht zu verstehen.‹
 

Mit diesen Worten hatte Shouyou-sensei einst eine seiner Unterrichtsstunden begonnen. Damals hatte Takasugi nicht gewusst, was damit gemeint war. Hatte erst sehr viel später begreifen können, dass es das Bestreben seines Lehrers war, eine neue moralische Basis zu schaffen. Für ihn war Scham nicht nur ein simpler Gemütszustand, sondern vielmehr der Kernwert, der das moralische Verständnis eines Menschen definierte.

Das innere moralische Verständnis vermittelte einem Individuum das Gefühl der Scham bei weitem besser, als die Definition der Gesellschaft es jemals könnte. Die Gesellschaft konnte nicht fair sein; sie konnte nichts wahrhaftig vermitteln, denn das, was als die gesellschaftlich anerkannte Wahrheit galt, war nur die Lüge, die den meisten Leuten von Nutzem war.

Was die Gesellschaft als beschämend empfand – was sie als Verbrechen empfand –, war in den seltensten Fällen das, was mit der Moralvorstellung eines Samurai einher ging.
 

›Welches ist das schwerere Vergehen, ein Verbrechen oder Scham?

Das Verbrechen gehört zum Körper, die Scham jedoch zur Seele.‹
 

Und die eigene Seele zu beschützen war der Grund, aus dem ein Samurai sein Schwert führte. Nur war Takasugis Seele schon lange nicht mehr etwas, das er beschützen wollte. Sie war nichts mehr, das es wert wäre, von irgendwem beschützt zu werden. Vermutlich war sie längst verschwunden. Verschlungen von der Bestie, die in seiner Brust ruhte.

Es war ein beklemmendes Gefühl, Shouyou-sensei nicht in dem Punkt nacheifern zu können, der ihm am wichtigsten gewesen war. Doch Takasugi hatte nicht mehr die Kraft, für das Wohl dieser Welt zu kämpfen. Einst hatte er dafür kämpfen können, doch jetzt ging es ihm nur noch darum, alles zu zerstören, das sich ihm in den Weg stellte. War es da wirklich noch von Bedeutung, wie genau er sich an die Lehren eines Toten halten konnte, der von dieser Welt zugrunde gerichtet worden war?

Mit einer Mischung aus kindlicher Vorfreude und bitterer Gleichgültigkeit betrachtete Takasugi das prunkvolle Gebäude vor sich. Es war bereits nach Mitternacht, und dafür, dass in diesem Stadtteil Edos sehr viel mehr hochrangige Amanto residierten als in anderen Bezirken, schienen ihm die Straßen viel zu friedvoll. Oder vielleicht war er zu sehr an den Krieg gewöhnt, als dass er sich wohl fühlen konnte, wenn er von Frieden umgeben war.

Unterbewusst festigte sich sein Griff um die brennende Fackel in seiner Hand. Es kam ihm nur entgegen, dass man ihn gelehrt hatte, nicht die gesellschaftliche Definition von Scham anzuerkennen, sondern sich auf seine eigene moralische Integrität zu verlassen. Blinder Gehorsam gegenüber den moralischen Prinzipien eines anderen war nicht die Art, auf die ein Samurai leben oder sterben sollte – so zumindest Shouyou-sensei.

Obwohl Takasugi sich an jede einzelne Lehrstunde erinnerte, als wäre sie erst wenige Augenblicke her, war ihm diese besonders im Gedächtnis geblieben. Sie hatten darüber gesprochen, dass jemand, der von einer Krise nationaler Sicherheit wusste, und dennoch nichts dagegen unternahm, mehr Scham und Schuld auf sich lud als jemand, der gegen das Gesetz verstieß, um gegen diese Krise anzukämpfen. Deswegen waren sie in den Krieg gegen die Amanto gezogen, hatten gemordet und für die Unabhängigkeit ihrer Heimat gekämpft. Darum waren so viele von ihnen gestorben.

Die Nachtluft im Stadtteil Shinagawa brannte ein wenig in seinen Lungen. Vielleicht war es aber auch nur die Vorfreude, der verheißungsvolle Geruch von Flammen und verglimmendem Leben, und der entfernte Klang von Schreien, die vom Rauch geschluckt wurden. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er daran dachte.

Wenn er die Botschaft der Amanto vor sich in Brand steckte, beging er zwar ein Verbrechen vor der Regierung, doch er würde sich nicht im Geringsten für seine Tat schämen. Er musste sich für keine seiner Taten schämen, denn es war nicht seine Schuld, dass es so weit gekommen war. Nichts von alldem war seine Schuld. Er hatte zum Schwert gegriffen und hatte gekämpft; für seine Heimat, für Shouyou-sensei, für seine eigene Definition von Gerechtigkeit, und für Überzeugungen, die er nur dann ins Feld führte, wenn er sich einen Vorteil davon versprach.

Wenn Takasugi darüber nachdachte, welche Ereignisse ihn an diesen Punkt gebracht hatten, musste er fast laut loslachen. Er hielt sich jedoch zurück, schloss die Augen und warf die Fackel in die Büsche vor dem Gebäude. Dann lauschte er, lauschte auf das leise, verräterische Knistern, das die Hölle ankündigte, die sich gleich auftun würde. Er hielt die Augen geschlossen, bis er die Flammen durch seine Lider wild tanzen sehen konnte.

Als er sie wieder öffnete, brannte die Botschaft lichterloh. Der dicke Rauch trieb ihm fast augenblicklich Tränen in die Augen. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, biss die Zähne zusammen. Takasugi hasste Feuer, hasste Brände und lodernde Flammen, die alles um sich herum nur gnadenlos auszulöschen wussten. Es erinnerte ihn daran, wie an jenem Tag alles zu Ende gegangen war. Daran, wie machtlos er einst war – und daran, woran es ihm bis heute mangelte, vermutlich auf ewig mangeln würde.

Aber der Ursprung dessen war eine Bestie, der selbst er sich nicht zu stellen vermochte. Ein Monster, so beängstigend und hämisch, dass Takasugi sich eher selbst in ein Flammenmeer stürzen würde, als mit ihm die Klingen zu kreuzen.

Lächelnd wandte er sich zum Gehen. Die nachlassende Wärme in seinem Rücken bedeutete, dass er sich immer weiter vom Feuer entfernte, aber Takasugi würde niemals zugeben, wie froh er darüber war.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das Konzept der Scham ist Teil von Yoshidas Lehren, von mir größtenteils aus Ikegamis "Shame and the Samurai" übernommen. Takasugi Shinsaku hat übrigens seiner Zeit tatsächlich eine Botschaft im Stadtteil Shinagawa in Brand gesteckt. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Mismar
2014-10-18T23:24:01+00:00 19.10.2014 01:24
oh mein Gott...
diese Geschichte war... atemberaubend
ich muss sagen dein Schreibstil hat mich gerade verzaubert. Takasugis Darstellung... meisterhaft.
Es gibt absolut nichts zu kritisieren, ich habe mich in diesen OS verliebt und werde auch die anderen bei Gelegenheit lesen.
Vielen Dank für diese wunderbare Kurzgeschichte
Antwort von:  Schangia
19.10.2014 13:19
Woah, vielen lieben Dank für das Kompliment, das freut mich sehr! Bei Takasugis Darstellung war ich mir ein wenig unsicher, deswegen bin ich umso erleichterter, dass es scheinbar doch gelungen ist. Danke~ :)


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