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Das Glasherz

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La Femme

Das Glasherz

Youma x Nocturn

2014
 

                                                                                                                                                                             II
 

 

Youma bestand darauf, dass deren Expedition – wie er es nannte – bereits am nächsten Tag stattfinden sollte. Als Grund dafür nannte er, dass es ansonsten nicht mit seinen Plänen überein stimmte, aber der eigentliche Grund war viel eher, dass er Nocturn keine Gelegenheit für einem Rückzieher geben wollte; oder gar panisch zu werden, denn er kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass das unzweifelhaft kommen könnte. Noch deutete sein Partner allerdings nichts an; es kam Youma sogar so vor, als würde er sich darauf freuen. Jedenfalls war er mit Inbrunst dabei deren kleine Reise zu planen; was Youma sehr überraschte, immerhin war Nocturn nicht gerade dafür bekannt Freude am Planen von Dingen zu haben. Wenn er mit dieser Einstellung deren Pläne verfolgen würde, wären sie schon ein ganzes Stück weiter…

 

Feullé schmierte ihnen so viele Brote und füllte ihnen so viele Wasserflaschen ab, dass man meinen konnte, sie würden wochenlang auf eine Reise ins Ungewisse gehen; Blue verhielt sich schweigend wie immer, aber Youma konnte sich vorstellen, dass er es sicherlich nicht so schlecht fand, dass die beiden „Herren des Hauses“ nicht da waren – und wieder einmal war Youma sehr froh darüber, dass er seine Pläne alle in der Sprache der Wächter schrieb, denn so wie er ihn einschätzte, war das erste, was er tun würde, wenn die Haustür hinter Youma und Nocturn zugefallen war, sich Zugriff zu Youmas Zimmer zu verschaffen um dessen Dokumente zu analysieren.

 

„Du musst gut auf Feullé aufpassen, Blue – ich vertrau sie dir an!“ Youma, bereits in Mantel gekleidet und mit einem Rucksack bepackt himmelte genervt mit den Augen:

„Nocturn, hast du mir nicht gerade erklärt, dass wir morgen schon wieder zurück sein sollten? Warum tust du jetzt so als…“ Aber Youmas Einwand wurde überhört, denn jetzt folgte der sehr dramatische Abschied von Nocturn und Feullé, der aus einer Umarmung und sehr viel, sehr schnell gesprochenem  Französisch bestand, weswegen Youma einfach nur noch einmal mit den Augen himmelte und sich dann selbst an Blue wandte – was ihn sichtlich überraschte.

„Du rufst an, sollte etwas geschehen.“ Um seine Worte zu untermauern hielt er sein Handy hoch:

„Wir können uns zwar nicht direkt zu unserem Bestimmungsort teleportieren, aber zurück ist jederzeit möglich.“

„Natürlich, das…“ Da wurde Blue allerdings unterbrochen, denn von dem Abschied von Feullé berauscht, umarmte Nocturn doch tatsächlich plötzlich auch noch Blue zum Abschied. Eine Aktion mit der Blue genauso wenig anfangen konnte, wie die anderen Anwesenden, aber Nocturn schien sich nichts dabei zu denken – er klopfte Blue sogar noch väterlich auf die Schulter, ehe Youma sich dazu entschied, dass er das Theater nun lange genug mit angesehen hatte und er seinen Partner am Arm packte:

„Wegen dir und deinem Drama verpassen wir noch den Zug!“

 

Von der Metro Station Bir Hakeim ging es dann nach einem Umsteigen, zum Bahnhof Gare du Nord und kaum waren sie angekommen war Youma schon genervt, denn wie üblich war die Metro so voll gewesen, dass man sich kaum bewegen konnte; der Boden matschig und rutschig von dem in die Untergrundtunnel hinein gebrachten Schnee und die Luft stickig. Nocturn schien es nicht zu stören; noch besser, er vollbrachte es irgendwie in diesem Gedrängel die Route des Zuges zu studieren.

„Ich befürchte, dass es keine öffentlichen Transportwege zwischen La Roche und Cherbourg-Octavie geben wird“, gab Nocturn zu bedenken, während die beiden Dämonen wie die Menschen um sie herum aus der Metro stiegen und die Menge sich allmählich aufteilte je nach dem in welche Richtung sie ihre Reise fortsetzen würden.

„Wie überaus bedauerlich“, antwortete Youma säuerlich, nachdem sich ein paar Teenager mit genuschelten „Pardon“ an ihm vorbei drängten um schneller die Rolltreppe herauf zu kommen.

„Du musst doch rechts stehen, Youma.“ Der Angesprochene unterdrückte eine wütende Antwort und folgte Nocturn stattdessen durch den letzten Tunnel, ehe sie in den vom elektrischen Licht hell erleuchteten Bahnhof gelangten. Hier auf dem größten Bahnhof Paris ging es nicht weniger eilig und chaotisch zu als unter der Erde und Youma war kurz über das ständige Rauschen der Lautsprecherdurchsagen und der vielen Menschen verwirrt – allerdings nur so lange, bis Nocturn plötzlich seine Hand nahm, um ihn durch die Menge zu führen.

Er ging vor ihm, nach deren Gleis Ausschau haltend, aber als Youma kurz einen Blick auf sein Gesicht erhaschen konnte, sah Youma, dass Nocturn ein wenig rot geworden war. Wieder dieses Gefühl, das er kannte, weil er es oft gespürt hatte, aber was einfach in dieser Situation nicht richtig war, nicht richtig, nicht richtig---

 

„Unser Zug!“

Youma wusste nicht genau, was er mit dieser Aussage anfangen sollte, aber er merkte auf jeden Fall schnell, dass sie es plötzlich eilig hatten, denn Nocturn hatte zu rennen begonnen und zog ihn nun hinter sich her – und dass sie es plötzlich sehr eilig hatten, verstand Youma auch, denn Nocturn schlängelte sich nun mit dämonischer Schnelligkeit durch die Menge, sprang mit ihm zusammen verbotenerweise über einen der Abgründe worin die Schienen lagen und zusammen stürzten sie den Bahnsteig herunter, dem sich entfernen Zug hinterher rennend.

„Teleportier uns do-“ Das tat Nocturn auch noch bevor Youma seine Worte zu Ende bringen konnte, aber der Zug war bereits zu schnell und obwohl Nocturn das Ende des Zuges als Punkt anvisiert hatte, landeten sie beide in der Luft. Es gelang Nocturn allerdings noch – begleitet von Youmas überraschtem Fluchen – eine Eisenstange, die am Zug angebracht war, zu fassen bekommen und sie somit beide nach oben zu ziehen, während der Zug an den Häusern von Paris vorbei raste.

„Haha, wie in diesen Hollywood-Filmen!“, lachte Nocturn vergnügt dem Fahrtwind entgegen, einer Freude die Youma sich garantiert nicht anschließen konnte:

„Dir überlass ich nochmal die Planung!“ Er wollte sich noch weiter beschweren, aber der Fahrtwind wehte ihm die Haare in den Mund, die er auch nicht heraus bekam, da er sich mit beiden Händen an der rettenden Stange festklammerte; ganz offensichtlich hatte er zu viel Respekt vor der Schnelligkeit des Zuges und den Schienen unter ihnen. Nocturn dagegen schien tatsächlich Spaß an ihrer Situation zu haben; er lachte sogar noch, als sie sich endlich in den Zug hinein teleportiert hatten, denn das gerade nicht benutzte Führerabteil war natürlich verriegelt gewesen, aber für jemanden der sich teleportieren konnte natürlich kein Hindernis.

 

Viel schwieriger war es da einen Sitzplatz zu bekommen, denn der Zug war ziemlich voll – die Jahreszeit erklärte Nocturn wissend. Die Weihnachtsferien –was auch immer er damit meinte – würden bald beginnen und das war der Grund, weshalb der Zug gut gefüllt war von Familien, die auf den Weg zu ihren jeweiligen Weihnachtsfesten waren und da alles sehr kurzfristig gewesen war, hatte Nocturn keine Plätze reservieren können. Nach dem dritten Wagon bereitete Youma sich bereits darauf vor, dass sie drei Stunden lang stehen mussten, aber im vierten und letzten Wagon fanden sie tatsächlich noch zwei Sitzplätze – und sofort wünschte Youma sich, dass sie doch lieber stehen würden, denn jene zwei Plätze waren Teil einer Vierersitzgruppe und die anderen zwei Plätze waren von einem sehr, sehr turtelndem Paar belegt. Und mit denen musste Nocturn natürlich auch noch ein Gespräch anfangen, natürlich - er nutzte einfach immer jede Gelegenheit um in seiner geliebten Sprache kommunizieren zu können. Konnte er die beiden so offensichtlich ineinander Verliebten nicht einfach in Ruhe lassen und sie ignorieren wie Youma versuchte sie zu ignorieren, in dem er strickt aus dem Fenster sah? Und mussten die beiden ihre Liebe so öffentlich zur Schau stellen? So etwas hatte er nie getan… naja, gut, mit Silence… gut… ja… doch…

 

Nocturn machte sich über solche Dinge natürlich keine Gedanken; genau wie Youma es sich gedacht hatte, war er einfach nur froh darüber ein Gespräch auf Französisch führen zu können - es war ihm eine durchaus willkommene Ablenkung. Denn obwohl er sich auf das Paar ihm gegenüber konzentrierte und er natürlich, wie es sich gehörte, während des Gespräches Augenkontakt hielt, spürte er regelrecht, wie der Zug sich mit schneller Hast aus Paris heraus bewegte. Die weisen Häuser, die er so gut kannte und so sehr liebte, wichen hässlichen Hochhäusern, der Eiffelturm und die Zuckerspitze des Sacre Cæur verschwanden und umso mehr Minuten vergingen, umso mehr Kilometer legten sie hinter sich. Bald waren sie auf dem offenen Land und die Stadt, von der er sich so beschützt fühlte, lag hinter ihnen.

 

Zum Glück für Nocturn begann das Paar genau in dem Moment, als er einen heftigen Anflug Nervosität in sich hochkommen spürte, Interesse an ihnen zu zeigen:

„Und? Wohin seid ihr beide unterwegs?“ Bereitwillig erzählte Nocturn der neugierigen jungen Frau davon, dass er geerbt hatte und dass er sich das Haus nun genauer ansehen wollte. Während er dies sagte, warf er einen verstohlenen Blick zu Youma, aber er bemerkte gar nicht, dass sie von ihnen sprachen; er bemerkte auch Nocturns Blick nicht, da er zu sehr damit beschäftigt war aus dem Fenster zu stieren und alles um ihn herum zu ignorieren.

„Werdet ihr zwei dann da auch Urlaub machen? Die Küsten Frankreichs sind doch so romantisch! Ich hoffe nur für dich, dass dein Freund nicht mehr lange so schlecht gelaunt bleibt, damit ihr den Aufenthalt genießen könnt!“ Nocturn spürte, dass er rot wurde und als er kurz durch ihre Gedanken huschte, bemerkte er auch, dass er durchaus Grund hatte rot zu werden. Mit den Händen hin und her gestikulierend beeilte sich Nocturn das Missverständnis aufzuklären:

„Oh nein, nein! Wir sind kein Paar. Wir sind…“ Er wandte sich zu Youma herum, dem Nocturns Gebären nicht unbemerkt geblieben war und sich daher, ihn argwöhnisch musternd,  zu ihm herum gedreht hatte. Kurz sahen sie sich an, dann wirbelte Nocturn wieder herum:

 

„Wir sind Partner.“

„Partner? So etwas wie Arbeitspartner?“

„Ja… so etwas in der Art.“    

 

Als das junge Paar dann Händchenhaltend an der nächsten Station ausstieg, wandte Youma sich an Nocturn:

„Was war das Problem?“

„Problem? Ach, es war kein Problem. Das junge Paar – sie wollen ihre Verlobung bei ihren Familien bekannt geben – hielt uns nur ebenfalls für eins.“ Youmas Wangen wurden rot, Nocturn allerdings lachte nur.

„Sie hielten uns für ein Paar? Wie kamen die denn auf solche abstrusen Gedanken?“ Nocturn lachte immer noch, aber die erfreute Röte war aus seinem Gesicht verschwunden:

„Stimmt, stimmt! Abstrus ist das richtige Wort, ich meine, haben sie deinen Verlobungsring denn nicht gesehen?“ Youma versuchte mit zu lachen, aber irgendwie war ihm nicht nach Lachen zumute und als sich gegenüber von ihnen nun eine ältere Dame hinsetzte, nutzte er sofort die Gelegenheit das Gespräch abzubrechen. Als er sich allerdings wieder dem Fenster zuwandte, bemerkte Nocturn, dass er seinen Verlobungsring mit den Fingern hin und her drehte - eine Angewohnheit, die er noch nie bei ihm beobachtet hatte. 

 

 

Nach dem Platzwechsel war es sofort deutlich ruhiger geworden; die alte Dame war in einem Buch vertieft, was Youma jetzt auch war, mit der Ausnahme, dass Youma nicht las, sondern natürlich weiter arbeitete, indem er sich Notizen in seinem kleinen Notizbuch machte. Nocturn verhielt sich nun ruhig. Kurzzeitig dachte Youma, er wäre eingeschlafen, bis er bemerkte, dass sein Partner an ihm vorbei aus dem Fenster sah. Ob er versuchte die Landschaft wieder zu erkennen? Oder war es der nun wieder fallende Schnee, der ihn wehmütig machte, wie am gestrigen Abend?

 

„Bist du nervös?“, frage Youma nun direkt, nachdem die alte Frau an der nächsten Station ausgestiegen war und sie somit alleine in der Vierergruppe zurück geblieben waren.

„Nein. Noch nicht“, antwortete Nocturn ehrlich, denn er kannte sich natürlich selbst ebenfalls gut genug, um zu wissen, dass das was vor ihn lag nicht leicht werden würde. Youma wollte ihm gerade aufmunternde Worte schenken, als er ins Stocken geriet – was sollte er ihm sagen? Er wusste was er Silence gesagt hätte… er wusste, was das liebende Paar einander gesagt hätte, aber… er sollte seine Hand nehmen, oder? Ihm sagen, dass er ja bei ihm war und ihn helfen würde…? Aber sollte er das nicht nur Silence sagen? War die Hand Silence‘ nicht die einzige, die er nehmen sollte?

 

Eine Durchsage unterbrach Youmas Gedanken und brachte Nocturn zum aufhorchen. Youma verstand natürlich nicht was los war, aber er spürte wie der Zug sich verlangsamte und an dem Gesichtsausdruck seines Partners erkannte er auch, dass es keine besonders gute Nachricht hatte sein können.

 

„Was ist los?“, fragte Youma, während Nocturn sich über Youma streckte um an seinen Mantel heran zu kommen, der neben Youma am Fenster gehangen hatte.

„Die Schienen sind vereist. Wir müssen an der nächsten Station aussteigen…“

„…Und dann?“

„… und dann auf weitere Durchsagen warten. Als ob man nicht darauf vorbereitet sein könnte, dass es im Winter kalt wird!“

„Menschen eben.“

Nein, Zuggesellschaften!“

 

Der Bahnhof, an dem sie nun widerwillig ausstiegen, war kalt, dunkel und verlassen und sofort stellte Youma die durchaus berechtigte Frage, warum sie nicht im Zug bleiben konnten. Natürlich konnte Nocturn die Frage nicht beantworten, weshalb er auch sofort ein Mitglied des Bahnpersonals konsultierte, während Youma einen müden und missgelaunten Blick zu einer großen, weisen Uhr warf; das einzige lebendige auf diesem Bahnhof wie es schien, denn er und Nocturn waren die einzigen Passagiere die um 23 Uhr noch nach Cherbourg-Octavie hätten fahren wollen.

 

Übel gelaunt, weil der Tee, den Feullé für sie abgefüllt hatte natürlich nicht mehr die erwünschte Aufwärmung bieten konnte, schlug Youma seinen Kragen hoch und wartete darauf, dass Nocturn zurückkommen würde. Wo sie wohl waren? Auf jeden fall nicht in einer besonders belebten Stadt; sie sah viel eher ausgestorben aus. Nur wenige niedrige Häuser reihten sich um den ärmlich aussehenden Bahnhof und keines der Fenster war erleuchtet. Der Wind, begleitet von den fallenden Schneeflocken, war das einzige was neben den französischen Worten Nocturns und des Menschens zu hören waren.

 

Als Nocturn zurückkehrte sah Youma schon, dass das was Nocturn heraus gefunden hatte ihm nicht gefallen würde.

„Also: Der Zug fährt heute nicht weiter. An der Küste wütet wohl ein ziemlicher Schneesturm - und ja, da müssen wir hin. Der Zug fährt daher zurück nach Paris, weil es heute Nacht keine Chance auf ein Auftauen der Schienen gibt.“ Nocturn machte eine Pause und Youma wusste genau warum; er stellte die Frage zwar nicht, aber es hang deutlich in der Luft, dass er eigentlich fragen wollte, ob sie dann auch nach Paris zurückkehren sollten. Aber darauf sprang Youma nicht an:

„Und wann fahren die Züge wieder?“ Nocturn schwieg kurz; es war Youma, als wolle er selbst eine Rückkehr nach Paris vorschlagen, aber das tat er nicht:

„Das konnte er natürlich nicht sagen. Menschen sind der Natur ausgeliefert; sie können nicht einfach ein Element darum bitten, es nicht mehr schneien zu lassen.“ Youma himmelte mit den Augen, ließ Nocturn aber fortfahren, ohne die Ohnmacht der Menschen zu kommentieren:

„Es geht aber wohl ein Bus von hier aus nach Cherbourg-Octavie. Allerdings beginnt der erst wieder um fünf Uhr zu fahren, also in gut sechs Stunden.“

„Und wie viele Kilometer sind es von hier bis nach Scherbo…“ Nocturn konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er hörte wie falsch Youma den Namen der Stadt aussprach, was Youma zu einem erröteten Grummeln brachte:

„… also dieser Stadt?“ Nocturn grinste immer noch als er antwortete:

„Noch gut 20 Kilometer.“

„Die können wir doch auch fliegen. Es ist Nacht; uns sieht sowieso keiner.“

„Also ich fliege bestimmt nicht durch diesen Schneesturm bei Gegenwind. Außerdem frage ich mich, wie du dich in der Luft orientieren willst – da oben sind immerhin nicht gerade Wegweiser angebracht. Und wie ich dir schon sagte: ich war noch nie in Cherbourg-Octavie; ich kann uns da nicht hinlotzen.“

 

Ein gutes Argument, obwohl Youma vermutete, dass das nicht der einzige Grund war, weshalb Nocturn nicht fliegen wollte – er vermutete ganz stark, dass sein Partner das Ankommen hinauszögern wollte. Im Gegensatz zu Youma schien es ihn auch gar nicht sonderlich zu stören, dass sie nun gezwungen waren sechs Stunden lang zu warten und es kam Youma immer noch so vor, als lauere er darauf, dass Youma etwas in Richtung von Abbrechen sagen würde. Statt ihm diesen Gefallen jedoch zu tun, sah Youma sich nach einem Ort um, wo sie die nächsten Stunden dann verbringen konnten.

 

„Glaubst du wir finden hier ein Hotel?“ Nocturn lachte kurz auf und machte dann einen Wink zu einem kleinen verglasten Wartebereich, den einzigen, kleinen „Luxus“ den dieser Bahnhof zu bieten hatte, wo nicht einmal die elektrischen, schneeverhangenen Schilder noch funktionierten.

„Ich befürchte das ist unser Hotel für heute Nacht.“ Youma verzog das Gesicht; die einzige sich dort drin befindende Bank sah alles andere als gemütlich aus – erst Recht nicht, wenn man sechs Stunden auf dieser ausharren musste. Sofort nutzte Nocturn die Chance und schoss vor, wohl nicht länger darauf warten wollen, dass Youma auf die Idee kam:

„Wir können natürlich auch nach Pari…“

„Nein, nein. Das sind doch nur sechs Stunden; das werden wir schon überleben.“

 

Auf Nocturns Stöhnen achtete Youma nicht und ignorierte auch seinen eigenen Drang sich zu Beschweren als sie beide auf der mageren Holzbank Platz nahmen, wo es zwar ziemlich kalt war, aber doch wenigstens vor dem Wind und dem Schnee geschützt war. Sie waren nun die Einzigen auf den verlassenen Bahnhof: der Zug war wieder Richtung Paris abgefahren und die schneeweiße Einöde der Häuser lag tot um sie herum.

Sie tranken den kalten Tee und aßen Feullés liebevoll zubereiteten Brote, ehe sie beschlossen wenigstens den Versuch zu wagen, etwas Schlaf zu bekommen; sie wollten immerhin früh aufbrechen und morgen – das verkündete Youma mit felsenfester Härte – würden sie ankommen und Abends wieder in Paris zurück sein, so wie es eigentlich geplant war. Daraufhin folgte eine übliche, völlig obligatorische Diskussion, dass Nocturn nicht planen könne und dass das Planen das einzige wäre was Youma könne, dass er nicht kreativ wäre, der andere wiederum zu kreativ sei und das doch gar nicht so wünschenswert sei, wie er es immer darstelle…  

 

… und irgendwann, begleitet von dem lauten Ticken der Bahnhofsuhr, schliefen sie beide tatsächlich ein.

 

Nach und nach, angezogen von der Körperwärme des jeweils anderen, lehnten sie sich mehr und mehr zu den jeweils anderen herüber, bis sie gegeneinander gelehnt, Kopf an Kopf, tief schlafend, jeden Gedanken an den im fahlen Licht der Bahnhofsbeleuchtung glänzenden Verlobungsring vergessend.

 

Es war Nocturn der als erstes aufwachte.

Er meinte einen vorbei rausenden Zug zu hören und noch während er die Augen öffnete, war ihm als könne er das Rattern der Schienen hören als er Zug rasenden Tempos vorbei schoss. Langsam, ziemlich schlaftrunken, hob er den Kopf, womit er auch Youmas Schlaf störte, da dessen Kinn auf Nocturns Haaren geruht hatte. Aber von ihm war nur ein Grummeln zu hören; er war nicht gänzlich aufgewacht, anders als sein Partner.

Er war nun hellwach.

 

Gegenüber, auf der anderen Seite des Bahnsteiges, stand eine Person.

 

Eine Person, eine weibliche, die Nocturn direkt ansah.

Es könnte ein Mensch sein, aber es war keiner. Eine Aura war spürbar und er glaubte zwischen den tosenden Schnee das Aufleuchten von einem roten Augenpaar zu erahnen.

 

Die Aura war nicht stark, weitaus schwächer als seine oder Youmas, aber… irgendetwas… irgendetwas machte ihn schrecklich nervös. Er spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn, seinen Rücken – was…was war nur …?!

 

Die Uhr tickte dröhnend.

Der Schnee stand still.

 

Und dann stand sie lächelnd vor dem Glas.

 

  

 

            

 



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