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Das Glasherz

von

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La Réticence

Mit einem Ruck wachte Youma auf, als sein Kopf, den er eben noch an die kühle Glasscheibe gelehnt hatte, abrutschte und nach unten sackte.

Wie lange hatte er geschlafen? Er wunderte sich, dass er bei dieser Kälte und den nicht sehr komfortablen Umständen überhaupt Schlaf gefunden hatte...

Youma entfloh ein herzhaftes Gähnen und noch ein wenig schläfrig wischte er sich den Schlaf aus den Augen – obwohl... es war noch dunkel; wahrscheinlich könnte er noch weiter schlafen... die sechs Stunden waren sicherlich nicht vorüber... wie spät war es? Es war schon vier Uhr?

„Nocturn...“ Noch einmal entfloh Youma ein Gähnen, welches ihm jedoch sogleich im Halse stecken blieb:

„... wir müssen zum Bu– Nocturn?!“

Aber da war niemand, der ihm hätte antworten können; der Platz neben ihm war leer. Die Decke lag auf dem Boden, sein Rucksack unberührt daneben.

 

„Nocturn?!“ Sofort hellwach war Youma aufgestanden und verließ auch schon den gläsernen Wartebereich – ohne dabei auf lange, senkrechte Kratzspuren an der Glasscheibe ihm gegenüber zu achten.

 

„Nocturn!“ Das Wetter hatte sich nicht beruhigt und somit drang auch Youmas Stimme nicht durch den heftigen Wind, wurde von dem um ihn herum wehenden Schnee verschluckt. Angst und Sorge spürte er flutend in sich hochkommen, denn er wusste, spürte regelrecht, dass Nocturn nicht einfach ohne ihn nach Paris zurückgekehrt war. Etwas war geschehen, als er geschlafen hatte...

Noch einmal und noch einmal rief Youma den Namen seines Partners, während er den Bahnsteig herunter lief, den Umstand verfluchend, dass er keine Aura besaß. War er noch hier? War er vielleicht woanders? Wie sollte er ihn nur wieder finden, wenn er verschwunden war?!

 

„Noctur-“

Aber dann erblickte Youma ihn. Durch den vielen Schnee konnte er ihn nur schemenhaft erkennen, aber er war sich sicher, dass es sich bei der dünnen, am Ende des Bahnsteiges stehenden Person um Nocturn handeln musste.

„Nocturn!“, rief er nun noch einmal, doch sein Partner schien ihn nicht zu hören, obwohl Youma sich ihm nun rennend näherte, die Hand nach ihm ausstreckte, seine magere Schulter packen wollte --- wenn er ihn nicht sofort berühren würde, würde Nocturn verschwinden, für immer ---

 

„Youma?“

Youma kam sofort zum Stillstand, seine ausgestreckte Hand fiel herunter – Nocturn hatte sich noch zu ihm herumgewandt, ehe sein Partner ihn hätte berühren können und sah ihn nun verwundert an. Doch noch ehe Youma fragen konnte, was geschehen war, drehte Nocturn sich wieder herum und seine glühenden Augen verfolgten den Lauf der Schienen, die sich im Schnee verloren.

„Wir werden verfolgt.“

 

 

Dank des Schneesturmes kam der Bus alles andere als pünktlich an und die beiden reisenden Dämonen waren gezwungen, weitere 30 Minuten auf eben diesen zu warten, ehe sie in einem kleinen, hin und her wackelnden Bus Platz nehmen konnten. Nocturn verhielt sich während der Fahrt sehr ruhig; sein Blick war die gesamte Zeit auf die Anzeigetafel gerichtet, auf der man die Haltestellen sehen konnte. Youma dagegen blickte aus dem Fenster und beobachtete das Treiben der Schneeflocken, welches langsam zur Ruhe kam. Immer wieder warf er dabei einen kurzen Blick zu Nocturn herüber, doch sprachen sie nicht miteinander. Seitdem er ihm gesagt hatte, dass sie verfolgt wurden, hatte er seine Worte darauf beschränkt, die Reise voranzutreiben und während sie an dem verlassenen Bahnhof auf die Ankunft des Busses gewartet hatten, hatte er sich äußerst unruhig verhalten, hatte sich zwischendurch sogar ziemlich verärgert über die Verspätung des Busses gezeigt, obwohl er eigentlich nicht sonderlich ungeduldig war.

 

Youma hätte ihn natürlich fragen können, was Nocturn mit seinen Worten gemeint hatte und wie er auf den Gedanken gekommen war, aber das hatte er nicht getan. Er wusste, dass Nocturn es ihm schon noch erzählen würde und dass Youma sich geduldig zeigen musste. Es gab mit Sicherheit einen Grund, weshalb Nocturn erst einmal Abstand erreichen wollte, ehe er etwas erzählen wollte.

 

Sie erreichten das Stadtzentrum Cherbourg-Octavies mit dem ersten fahlen Licht der winterlichen Morgensonne und dem beginnenden Marsch zur Arbeit. Diese Stadt war um einiges größer und lebendiger als die, aus der sie gerade gekommen waren; überall leuchtete ihnen Weihnachtsdekoration entgegen und die Schaufenster der vielen kleinen Lädchen luden mit ihrer weihnachtlichen Dekoration und ihren Sonderangeboten Passanten zum Geldausgeben ein.

Youma war verblüfft darüber, dass Nocturn immer noch so angespannt war – normalerweise beruhigte ihn doch das Treiben der Menschen...?

„Ich weiß nicht, wie es mit dir aussieht, aber ich könnte gut einen Kaffee gebrauchen.“ An sich keine unnormale Aussage für Nocturn, aber sein Tonfall klang eigenartig fremd und es beruhigte Youma nicht gerade, dass er sich immer wieder umsah, während er sie eine sich windende Straße hinabführte.

 

Alle Cafés hatten zu dieser Zeit des Tages noch geschlossen, weshalb die beiden sich dazu gezwungen sahen, sich in einem Fastfood-Restaurant niederzulassen. Skeptisch beäugte Youma das ausgelegte Essen und ließ seinen Blick über die bunten Anzeigetafeln gleiten, in der Warteschlange wartend.

„Wird das Essen etwa nicht frisch zubereitet...?“, raunte er Nocturn zu, welcher – wie er sehr erleichtert feststellte – grinsen musste:

„Das ist ein Fastfood-Restaurant. Ich bezweifle, dass du hier überhaupt irgendetwas Frisches finden wirst.“ Auf die darauffolgende Frage, was Nocturn denn für ihn bestellen sollte, kannte Youma keine Antwort. Er fand, dass das alles nicht sehr appetitlich aussah und wenn er die Menschen so betrachtete, die herzhaft in einen Burger bissen, wobei ein Großteil des matschigen Burgerinhaltes auf der anderen Seite herausgequetscht wurde, wurde ihm schlecht.

„... Kaffee. Ich denke, ich nehme nur einen Kaffe.“

„Quatsch, du wirst davon nicht sterben! Wir haben kaum noch was von Feullés Broten... ah, Bon jour, Mademoiselle! Je voudrais...“

 

Youma war sich nicht sicher, ob er davon nicht doch sterben würde; die Pommes, die Nocturn ihm bestellt hatte, betrachtete er überaus argwöhnisch, als könne er sich nicht vorstellen, dass sie wirklich essbar waren.

„Jetzt stell dich nicht so an; deine Hüfte wird es schon überleben.“

„Um meine Hüfte mache ich mir keine Sorgen, sondern eher um meinen Gaumen.“

„Der wird es auch überleben“, wiederholte Nocturn grinsend. Er war bereits fast fertig mit seiner Portion, ehe Youma überhaupt begann, seine zu verspeisen. Der Kaffee war gar nicht so schlecht gewesen – auch wenn er nicht verstand, warum er in einem Pappbecher serviert worden war – aber wie konnte man Kartoffeln nur in dieser Form und mit so viel Fett versehen genießen?

„Youma“, begann Nocturn nun lachend über Youma, der die einzelne, lange, sich leicht biegende Pommes ansah, als wäre sie sein ärgster Feind:

„Das ist natürlich kein Gaumenschmaus, aber es ist durchaus essbar!“ Na, wenigstens hatte das ganze eine gute Seite... dachte sich Youma, als er nun endlich damit begann, seine Pommes zu essen, auf deren Geschmack allerdings kaum achtete, da es ihn zu sehr erleichterte, Nocturn wieder lachen zu sehen. Es passte einfach nicht zu ihm, so ernst zu sein...

 

... schnell wurde er dann allerdings wieder ernst, denn das Lachen schien Nocturn daran zu erinnern, dass er Youma etwas erzählen musste.

„Es ist eine Frau, die uns verfolgt.“ Nocturn nahm einen großen Zug seiner Limonade, ehe er fortfuhr:

„Ihre Aura ist nicht sonderlich stark, aber ich konnte spüren, dass von ihr eine Gefahr ausgeht. Was für eine kann ich allerdings nicht sagen... sie hat uns beobachtet, während wir geschlafen haben; wie lange weiß ich nicht. Als ich aufgewacht bin, ist sie dann plötzlich näher gekommen...“ Noch einen hastigen Schluck:

„... dann ist sie wieder verschwunden. Ich bin ihr hinterher gerannt, aber ich konnte sie nicht einholen.“

„Und du bist dir sicher, dass du es dir nicht einfach nur eingebildet hast?“ Angesichts Nocturns Nervosität und der Tatsache, dass er das Thema ziemlich ernst nahm, war das womöglich nicht die beste Antwort, die Youma hatte geben können, aber auf der anderen Seite konnte er sich eigentlich nicht vorstellen, dass sie verfolgt werden sollten – und gerade weil Nocturn nervös war wegen ihrem bevorstehenden Ankommen, war es immerhin durchaus möglich, dass er sich Dinge einbildete... er war immerhin nicht ganz... nun ja, gesund.

 

Nocturn hatte durchaus allen Grund, sich von Youmas Antwort beleidigt zu fühlen, aber das war er nicht: ob er selbst schon darüber nachgedacht hatte, ob er es sich vielleicht nicht nur eingebildet hatte?

„Nein, ich bin mir ziemlich sicher. Außerdem kannte ich sie nicht. Würde ich mir unbekannte Personen einbilden...?“ Er stellte diese Frage eher an sich selbst als an Youma, wie ihm schien.

„Nun ja, du hast einen sehr großen Teil deines Lebens vergessen. Vielleicht kennst du die Person, nur kannst du dich nicht mehr daran erinnern.“ Nocturn deutete ein leichtes Nicken an, schwieg allerdings.

„Kannst du sie vielleicht beschreiben?“

„Ja“, Nocturn grinste und lachte hohl:

„Schwarze Haare und rote Augen – das passt zu jedem zweiten Dämon, mich eingeschlossen!“ Ja, gut, damit konnte man bei Dämonen tatsächlich nicht viel anfangen, gab Youma zu und stellte stattdessen eine andere Frage:

„... aber wer sollte uns verfolgen? Und warum? Ich meine, was sollte ein Dämon daran interessant finden, dass du ein Haus in der Menschenwelt geerbt hast?“

„Hast du mir nicht gesagt, dass wir uns von Tag zu Tag unbeliebter machen bei den Fürsten?“

„Ja, aber wenn die Fürsten uns angreifen wollten, warum warten sie dann, bis wir auf einer Expedition sind? Warum sollten sie sich die Mühe machen, wenn sie doch wissen, wo wir in Paris leben? Sie könnten uns jederzeit angreifen! Dazu kommt, dass sie uns gar nicht aufspüren können; ich trage einen Ingnix und du hast keine Aura.“

„Und wie erklärst du dir, dass diese Dämonin uns gefunden hat?“

„Vielleicht hat sie uns ja gar nicht gesucht; es gibt ja nun einmal Dämonen, die in der Menschenwelt leben.“ Ungläubig verengten sich Nocturns Augen:

„Und einer dieser Dämonen rennt uns mitten in der Nacht auf einem verlassenen Bahnhof ganz zufällig über den Weg?“ Da musste Youma Nocturn recht geben: das klang sehr unwahrscheinlich.

„Und wenn wir schon seit Paris verfolgt wurden?“ Youma antwortete darauf nicht: er war nun fertig mit seinen Pommes und löste den Deckel samt Strohhalm von seiner Limonade, dabei die Stirn nachdenklich in Falten gelegt.

„Das ist natürlich nicht auszuschließen, immerhin gibt es mittlerweile auch viele Dämonen, die Ingnixe tragen... aber ich bleibe dabei, dass es eigentlich für keinen Dämonen interessant sein kann, dass du geerbt hast. Du hast doch nur das Haus geerbt und keine... was weiß ich...magischen Artefakte oder Ähnliches, oder?“

„So weit ich weiß nur das Haus und das Grundstück samt allem, was darin und darauf ist.“

 

„Hmmm...Wir werden das Haus gründlich unter die Lupe nehmen.“ Das war keine Neuigkeit, die Nocturn besonders zu begeistern schien. Er antwortete nicht, nahm wieder einen hastigen Schluck seiner Limonade und deutete nur ein kurzes Nicken an.

 

Youma sollte ihm wirklich Mut zusprechen. Den Drang, die auf dem Tisch liegende Hand zu nehmen, sollte er nicht unterdrücken.

Aber er tat es.  

 

„Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, woher sie überhaupt von unserer Expedition wissen.“ Youma gab Nocturn gar nicht die Möglichkeit, zu antworten:

„Nur Feullé-san und Blue-san wissen davon...“ Nocturn kam ihm nun mit Ironie zuvor:

„Ja und Blue ist natürlich sofort zu Ri-Il gegangen, kaum dass wir aus der Tür waren.“ Offensichtlich fand Youma den Gedanken gar nicht so abwegig und er schien auch Nocturns sarkastischen Unterton überhört zu haben:

„Und dieser berichtet es den Fürsten.“

„Also...“

„Aber dann stellt sich dennoch wieder die Frage, warum sie uns jetzt auflauern sollten, wenn sie uns doch zu jeder anderen Zeit genauso gut angreifen können...“

„Du vertraust Blue wirklich nicht, oder?“

Natürlich tue ich das nicht. Das wäre ja auch dumm. Ich lerne von den Lektionen anderer.“

 

Nocturn kam nicht drum herum über diese Antwort zu grinsen, einfach weil sie so typisch... typisch Youma war.

 

„Ich glaube nicht, dass es Blue war“, antwortete Nocturn dennoch, aber davon wollte Youma nichts wissen:

„Und wer soll es sonst sein? Feullé-san würde es nicht einmal unter Zwang...“

 

Sie sahen sofort im Gesicht des jeweils anderen, dass sie das gleiche dachten. Die Fürsten wussten alle, wo sie lebten. Die Fürsten wussten alle, dass Feullé ein gutes Druckmittel war – und zum jetzigen Zeitpunkt hatten sie fast allen Fürsten auf die Füße getreten.

Youma zog sein Handy aus der Jackentasche heraus, doch Nocturn war schneller und mit einer hastigen Handbewegung bedeutete er seinem Partner, ruhig zu sein und dieser verstand – Nocturn wollte per Gedankenübertragung mit ihr Kontakt aufnehmen. Eine gute Idee, wie Youma erstaunt feststellte, ein Anruf war wahrscheinlich in der Tat unvorsichtig...

 

Eine ganze Weile blieb Nocturn ruhig und starrte konzentriert ins Nichts; einen Augenblick lang glaubte Youma, dass sein Partner womöglich zu weit von seiner Tochter entfernt war, um Kontakt mit ihr aufzunehmen, aber nach einigen angespannten Minuten atmete er auf und sein Gesichtsausdruck lockerte sich wieder.

„Geht es ihr gut?“ Youma war selbst einen Augenblick überrascht über seinen besorgten Tonfall; eine Überraschung, die Nocturn teilte, denn im Alltag zeigte sich Youma Feullé gegenüber zwar höflich und freundlich, aber distanziert. Als Nocturn ihm allerdings nun erzählte, dass es ihr gut ging und nichts geschehen war, atmete er erleichtert auf und es schien, als würde es ihm dabei mehr um Feullé gehen als um ruinierte Pläne.

„Hast du sie gefragt, ob sich irgendwelche Zwischenfälle ereignet haben?“ Nocturn begann die Überreste ihres Essens auf dem benutzten Tablett zu sammeln und als er seinen Mantel griff, tat Youma es ihm gleich – sie sollten tatsächlich aufbrechen.

„Nein“, begann er, nachdem er das Tablett weggestellt hatte und auf den Aufgang zusteuerte und ehe Youma etwas dazu sagen konnte – denn ihm stand deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er nicht verstand, warum Nocturn nicht gefragt hatte – fuhr Nocturn mit entschlossener Miene fort:

„Ich wollte Feullé nicht beunruhigen. Ich habe ihr einen „Guten Morgen“ gewünscht und sie gefragt, wie es ihr geht. Sie war ohnehin schon überrascht, dass ich Kontakt mit ihr aufgenommen habe...“

„Und Blue?“

„War in ihrer Nähe“, erwiderte er eine Spur genervt von Youmas ständigem Misstrauen:

„Wenn du es genau wissen willst: am Fenster. Lesend. Wie immer!“   

 

Aber gegen Youmas Misstrauen und seine Skepsis allem und jedem gegenüber kam Nocturn natürlich nicht gegenan; das wusste er auch. Das war einfach die Art, wie er war, weswegen er sich auch nicht wunderte, dass deren Verfolger natürlich Thema Nummer Eins war. Immer wieder versank er in grübelndes Schweigen, studierte eines seiner treuen Notizbücher während des Gehens oder während Nocturn die Karte der Gegend begutachtete, um sie auf den richtigen Weg aus der Stadt heraus führen zu können.

Eigentlich sollte er sich angesichts Youmas Skepsis sehr glücklich schätzen, dass er ihm überhaupt so sehr vertraute, was den Weg anging, aber er fühlte sich eher schlecht deswegen. Denn Youmas Unwissen über die öffentlichen Verkehrsmittel nutzte er nun aus, um die Ankunft zu verlangsamen. Sie hatten nur noch knapp zehn Kilometer vor ihnen, dann waren sie in La Roche; einen Weg, den sie natürlich ohne Probleme mit einem Taxi hinter sich bringen konnten, was Nocturn schuldbewusst auffiel, als sie einen Taxistand auf dem Weg aus der Stadt passierten.

Aber nein... nein... er war noch nicht bereit.

Mit einem Taxi wären sie in zehn, vielleicht zwanzig Minuten in La Roche, das... das war einfach zu schnell, zu früh.  

Auf der anderen Seite war das Hinauszögern vielleicht ein zweischneidiges Schwert; vielleicht machte das Hinauszögern alles nur noch schlimmer, nicht nur für ihn... vielleicht brachte er sie alle in Gefahr?

Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken herauszubekommen – wer sollte schon eine Gefahr für sie sein? Nocturn sollte logisch denken; die Aura der Frau war schwächer gewesen, weitaus schwächer... und anders als Youma vertraute er Blue und glaubte weder, dass er sie verraten würde – jedenfalls nicht unter den gegebenen Umständen, solange weder das Leben seines Bruders noch Greens in Gefahr waren – noch dass er Feullé nicht beschützen würde.

Ohnehin... war da ein Gefühl, ein Gespür, vielleicht Instinkt, das ihm sagte, dass die Frau nicht an Feullé interessiert war und dass sie auch in keinster Weise mit den Fürsten in Verbindung stand.

 

Nocturn warf einen Blick über seine Schulter, vorbei an seiner Hengdi; Youma ging nachdenklich in seine Notizen vertieft vor ihm, der kleinen, verlassenen Landstraße folgend.

 

Nein, irgendetwas sagte ihm, dass ihr Interesse ihm gegolten hatte.

Einzig und alleine ihm.

 

Plötzlich überkam Nocturn das dringende Bedürfnis, auf seiner Hengdi zu spielen und er wollte Youma gerade fragen, ob es ihn stören würde, als dieser ihm zuvorkam:

„Vielleicht war es das „französische“ Paar?“

 

Nocturn konnte Youma einen kurzen Augenblick nicht folgen, denn er hatte ganz vergessen, dass dieser noch mit seinen skeptischen Gedanken beschäftigt war. Als es ihm dann wieder einfiel, stöhnte er allerdings, schloss zu ihm auf und musste dann gleich mal ein paar Dinge klarstellen:

„Also, Youma, die beiden waren garantiert keine Dämonen, die sich als Menschen ausgegeben haben. Garantiert ni-“

„Und warum nicht? Du hast ihnen doch erzählt, wohin wir unterwegs sind? Sie hätten durchaus die Möglichkeit, uns zu verfolgen.“

„Youma, lass mich dir etwas über Französisch nahebringen: es ist eine sehr schwer zu lernende Sprache und dir wird vielleicht schon aufgefallen sein, dass die Aussprache eine ganz andere ist als die von Dämonisch? Die beiden Sprachen sind extrem gegensätzlich; gar nicht zu vergleichen! Ich habe noch nie, noch nie, einen Dämon getroffen, der Französisch gesprochen hat und wenn irgendwelche Dämonen in Henel Französisch, aus welchen Gründen auch immer, gelernt haben, wäre ihr Französisch garantiert nicht fehler- oder akzentfrei. Vertrau mir. Ich hätte es gehört.“ Youma runzelte die Stirn über Nocturns ausführliche Erklärung, schien sie aber nicht gänzlich zu glauben, weshalb Nocturn hinzufügte, dass selbst sein eigenes Französisch nicht ganz perfekt war.

 

Das verwunderte Youma:

„Ist es nicht?“

„Nein, leider“, geistesabwesend legte Nocturn den Kopf in den Nacken und blickte in den hellen, fast eisblauen Himmel:

„Ich hatte einmal das Vergnügen, bei einer Vorstellung vom Schwanensee neben einem Sprachforscher zu sitzen. In der Pause von Akt I und Akt II hatten wir ein anregendes Gespräch über die Doppeldeutigkeit der Odette – des Schwanes. Nach dem Gespräch fragte er mich, aus welchem Land ich stamme. Ich war ziemlich verblüfft, da mir vorher nie aufgefallen war, dass mein Französisch sich von dem der anderen Franzosen unterschied und ich hatte eigentlich auch immer geglaubt, dass es meine Muttersprache sei... aber das war es offensichtlich nicht.“

„Das ist interessant – das bedeutet, dass Dämonisch deine Muttersprache ist.“

„Auf jeden Fall ist es wohl die Sprache, die ich zuerst gelernt habe...“ Youma hatte seinen Notizblock grübelnd an sein Kinn gelegt, sah nun aber zu Nocturn, der immer noch in den Himmel sah und wehmütig, fast traurig auf Youma wirkte.

„Das bedeutet, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, dir Französisch beizubringen.“ Nocturn senkte den Kopf wieder und deutete dabei ein leichtes Nicken an.

 

Was waren das nur für mystische 17 Jahre, die Nocturn fehlten? Was war in der Zeit geschehen? Was war das für eine Person, die Nocturns Körper mit diesen schrecklichen Narben übersät, sich aber gleichzeitig die Mühe gemacht hatte, ihm eine andere Sprache beizubringen – und ihm dann auch noch ein Haus zu vermachen? War das womöglich gar nicht ein und dieselbe Person? Und wer war die Person, die sie verfolgte?

 

Noch waren sie viele Kilometer von ihrem Ziel entfernt, aber mit jedem Schritt, den sie taten, näherten sie sich diesem.

Würden dort Antworten auf sie warten? Und würden diese Antworten... Nocturn überhaupt helfen?

   

            



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