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[24/7] Jenseits verkehrter Wahrheit

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Willkommen und Abschied

Willkommen und Abschied

 

Sie hatten ihm gesagt, Kira habe sich auf jeden Fall strafbar gemacht. Er habe seitenweise Namen in ein Heft eingetragen und gewusst, dass es funktionierte, dass jeder einzelne Strich eines Schriftzeichens oder Buchstabens wie ein tödlicher Messerschnitt einem Menschen das Leben raubte. Sie hatten ihm gesagt, Kira würde dem internationalen Gerichtshof ausgeliefert und nach Völkerstrafrecht verurteilt werden. Nicht von seiner Heimat, sondern in Stellvertretung der gesamten Welt sollte über ihn das Urteil gefällt werden. Keine lebenslange Haft, niemals eine Haft, dem Tode vergleichbar, weggesperrt in eine enge Zelle, wie in seinem Kopf eingeschlossen für alle, alle Ewigkeit. In Wiederholung lautete das Urteil stattdessen unentwegt nur Todesstrafe. Sie hatten ihm gesagt, Kira hätte seine Taten vor Interpol zugeben müssen. Sollte er das nicht tun, würden sie ihn seinen eigenen Namen in das Death Note schreiben lassen. Wenn allerdings die Existenz des Notizbuchs nicht bekannt gegeben werden durfte, musste dessen Benutzer einfach exekutiert werden. Ohne Gerichtsverhandlung. Ohne Offenbarung seiner Identität.

Als sich die Zellentür das nächste Mal öffnete, nannte ihn niemand beim Namen, niemand kannte ihn, niemand wusste, wer er war. Er schrie sie an, er sei Kira, er sei ihr Gott und würde ihnen die Gerechtigkeit bringen, wenn sie ihn am Leben ließen. Sie durften ihn nicht töten, konnten es gar nicht. Sie aber lachten nur und glaubten ihm kein Wort. Große, stämmige Gestalten mit ausländischen Gesichtern traten an ihn heran und griffen mit groben Pranken nach seinem kraftlos gewordenen Körper. Scherzend, ihren Erretter ignorierend, brachten sie ihn in einen halbrunden Raum mit einer Reihe abgedunkelter Fenster. Darin befanden sich eine Liege mit Fixierungen, ein Waschbecken, ein elektronisches Gerät und ein sauberer Tisch. Es erinnerte an die Sterilität eines Behandlungszimmers und Kira fragte sich, ob sie ihn in eine forensische Psychiatrie eingewiesen hatten. Obwohl er wusste, dass dem nicht so war.

Ohne Formalitäten oder Zeremoniell zog man ihn auf die Bahre, er wurde festgeschnallt und zwei Kanülen rechts und links am Arm in seine Venen gestochen. Der Zugangsschlauch für die Injektion verlief bis zu dem surrenden Gerät, das mit mehreren Kolben ausgestattet war, die sich nach einer Weile mit einem sanften, unscheinbaren Geräusch nacheinander senkten und einen Strom tödlicher Stoffe durch den durchsichtigen Schlauch in seinen Blutkreislauf pumpten, eine chemische Lösung nach der anderen, beginnend mit einem Narkotikum, bevor die nachfolgenden Mittel seine Atmung lähmten, seinen Herzschlag verlangsamten, bis der Muskel zwischen seinen Rippen letztlich vollends zum Erliegen kam.

Die letale Dosis schmerzte kaum.

Kira ertrank in einem weiten Ozean. Sein Kopf wurde schwer und schwerer und sackte von Müdigkeit betäubt unkontrolliert zur Seite. Er bemühte sich, die Augen offen zu halten, denn sobald er einschlief, würde er nie wieder aufwachen. Es war zu anstrengend, zu mühsam und alles um ihn herum nur schwarze, lichtlose Nacht, die kein Mond erhellte. Er sank tiefer hinab auf den Grund des Meeres, im Vakuum schwebend, treibend in Unendlichkeit und zurück bis an die Oberfläche.

Als sein Bewusstsein unerwartet aufklarte, brannte sich die Grelle von Neonröhren in seine Netzhaut und hinterließ geisterhafte Silhouetten, die vor seinen gereizten Augen tanzten. Er glaubte, in seiner Zelle erwacht zu sein. Zwischen den Wänden eine Tür, zwischen den Gittern das Tor zur Außenwelt, zu Freiheit und Tod, immer wieder aufs Neue von Fremden geöffnet, dahinter ein Weg, ein schmaler Gang, der im Nirgendwo endete.

Rache und Vergeltung verlangten nach Gerechtigkeit, nach Gleichberechtigung. Einst hatte L zu ihm gesagt, als Wiedergutmachung für alle begangenen Morde müsse Kira einen tausendfachen Tod sterben. Genau das tat er nun. Schritt um Schritt. Name um Name. Auge um Auge.

Die Fixierungen schnitten in seine verkrampften Muskeln. Kanülen und Schläuche waren verschwunden. Er lag aufgebahrt in einer engen Kammer. Hinter den Sichtfenstern reihten sich unbekannte Zeugen auf und beobachteten ihn interessiert. Kira wurde zum Objekt, ausgestellt in einem Schaukasten. Derweil entwich feiner Dampf den Zugangslöchern der isolierten Gaskammer. Der Rauch umschmeichelte seine Beine, kroch über seinen Körper und labte sich an den letzten Partikeln Sauerstoff, bis sich die Klauen des Giftgases um seine Kehle legten. Kurz zuvor war jemand an Kira herangetreten und hatte ihm mit sanfter, ruhiger Stimme geraten, tief einzuatmen, damit das Gift sich schnell in seinem Körper ausbreiten konnte und er ohnmächtig wurde, bevor ihn die Qualen des Todeskampfes ereilten. Damit er nicht bei vollem Bewusstsein bemerkte, wie er starb.

Trotz dieses Ratschlags hielt er die Luft an. Das war weder real noch richtig. Er wollte das nicht. Er wollte nicht sterben.

Doch Sterben war nur ein Prozess ohne Grenzen, ein Übergang von einem Zustand zum anderen. Sterben konnte deshalb auch Leben heißen. Kira war bereits gestorben und er starb weiterhin, in der stillsten Stunde jedes einzelnen Tages. Denn wer über das Leben entscheiden wollte, musste erst den Tod kennen lernen.

Nach jeder Hinrichtung kehrte Kira zurück, halb getötet, halb verschont.

Bis zum nächsten Mal.

 

„Bevor ich nicht ein paar Informationen erhalten habe, ist es besser, mit euch allein zu reden.“

Der junge Mann mit dem pechschwarzen Haar hockte sich ohne Umschweife auf einen Sessel und legte die Hände auf seine an den Körper gezogenen Knie. Zwei Todesgötter bauten sich übermächtig vor ihm auf und schauten auf ihn herab. In wachem Interesse starrte er zurück, unbekümmert, aber vollkommen allein. Seine kauernde Gestalt wirkte winzig, nahezu leicht zerstörbar.

Die Auslöschung dieses Lebens sollte jedoch nicht nötig sein. Jene Person, von allen als Meisterdetektiv bezeichnet, musste nicht getötet werden, weil die Ereignisse bislang einen zufriedenstellenden Verlauf genommen hatten. Mit einem Gefühl der Entspannung, das die Menschen offenbar Erleichterung nannten, war sich Rem mittlerweile sicher, eine richtige Entscheidung getroffen zu haben. L oder Ryuzaki, wie er hier zumeist angesprochen wurde, hatte sich an ihre Abmachung gehalten.

„Ryuk“, wandte er sich nun an den dunklen Begleiter neben ihr. „Wenn du mir verrätst, wo sich das verschollene Notizbuch befindet, werde ich bestimmt etwas Spannendes damit unternehmen.“

Der Todesgott brach in amüsiertes Gelächter aus.

„Du willst mich mit einer Lüge bestechen? Ich sagte doch, ich weiß es nicht.“

„Warst du etwa nicht pausenlos in der Nähe von Amane Misa, seit sie ihr Heft zurückbekam?“, bohrte L nach und verengte skeptisch die Augen zu schmalen Schlitzen.

„Ja, schon. Trotzdem ist mir doch egal, was sie mit dem Death Note anstellt. Ich will mir ja nicht die Überraschung verderben. Wieso sollte ich sie unentwegt beschatten, noch dazu in der kurzen Zeit?“

Zumindest hatte es gereicht, um Misa ein weiteres Mal die Hälfte ihres Lebens zu rauben, dachte Rem düster. Sie machte ihrem Artgenossen keinen Vorwurf. Wahrscheinlich hatte nicht Ryuk einen neuerlichen Handel vorgeschlagen, sondern Misa. Vorwürfe, Reue oder Rache waren generell komplizierte Gefühlsregungen, die eher menschlich und den meisten Todesgöttern fremd waren. Ein Shinigami konnte Freude und Hass empfinden, Langeweile und Neugier, ja, sogar verlieben konnte er sich, wie Rem am eigenen Leib erfahren musste. Ebenso war ihnen eine nebulöse Ahnung von Furcht vertraut, die sie davon abhielt, ihre überirdischen Gesetze zu brechen. Ab dem dritthöchsten von neun Härtegraden wurde jeder Verstoß mit dem Tod geahndet.

Verachtung jedenfalls brachte sie nicht Ryuk entgegen. Die eigentliche suggestive Schuld lag bei Yagami Light. Rem hasste ihn dafür, dass er Misa ausnutzte und sie jederzeit beseitigen würde, sobald er die Gelegenheit dazu erhielt. Für Misa hätte Rem sogar ihr Leben gegeben. Doch wer konnte schon sagen, wie viel Zeit ihr danach blieb, wie lange Yagami Light noch Verwendung für sie hatte, bevor er sich ihrer entledigte? Am vorigen Abend waren all jene in ihr schlummernden Zweifel durch L weiter bestärkt worden. Rem hatte einen Entschluss gefasst.

„Vielleicht weiß ich ja mehr, als ich zugebe“, riss Ryuks provokative Äußerung sie aus ihren Gedanken. „Die einzige Möglichkeit, mein Death Note zu finden, ist eine Rückkehr in unsere Welt. Von dort aus kann ich danach suchen.“

„Lass mich raten“, mutmaßte L trocken. „Falls du das Heft oder den Besitzer findest, könntest du es mir nicht mitteilen oder würdest es nicht, wenn du es könntest.“

Kichernd hob Ryuk die Schultern an, als wollte er sich von jeglicher Verantwortung freisprechen. L kaute verdrossen auf seinem Daumennagel und schien zu überlegen.

Schließlich wandte er sich an Rem: „Misa hat das Besitzrecht an ihrem Notizbuch aufgegeben. Also gehört es jetzt niemandem?“

„Es ist Teil der Menschenwelt“, erklärte diese, „und gehört zu Ryuk. Sollte es im Moment jemand bei sich tragen, geht das Besitzrecht auf ihn über und derjenige wird von Ryuk besessen.“

„Verstehe.“ Erneut überlegte L, bevor er seine nächste Frage stellte. „Wie kann man seine Erinnerungen zurückerlangen? Unter welchen Voraussetzungen?“

„Indem man ein Heft berührt, das man selbst verwendete.“

„Besaß Misa ihre Erinnerungen, als Kaneboshi starb?“

Ls Erkundigungen klangen unverfänglich, doch Rem beschlich eine ungute Ahnung. Sie musste mit äußerster Vorsicht agieren.

„Nein“, erwiderte sie entschieden. „Um Misa zu helfen, gab ich mich ihr zu erkennen, indem ich ein Stück aus dem Heft herausriss, ohne dass Higuchi Kyosuke davon wusste.“

„Die fehlende Ecke“, murmelte L aufmerkend. „Dadurch kam ich erst auf die Idee, dass ein entwendeter Papierfetzen weiterhin seine tödliche Wirkung entfaltet. Das würde bedeuten ...“

„Misa hat das Death Note von Yagami Light nie benutzt“, unterbrach ihn Rem, da sie die Richtung erkannte, die seine Gedanken einschlugen. „Es befand sich nicht in ihrem Besitz. Sollte sie es jetzt noch einmal berühren, wird sie ihre Erinnerungen nicht zurückerlangen.“

„Und was ist mit den aus dem anderen Heft gerissenen Seiten?“

Nun beugte sich Rem bedrohlich nach vorn, ihre aneinander reibenden Knochen verursachten ein knirschendes Geräusch und ihre Stimme verfärbte sich rau und tief. „Sei gewarnt. Versuche nicht, Misa ihre Erinnerungen zurückzugeben, um sie befragen zu können.“

„Ich bezweifle, dass ich etwas aus ihr herausbringe“, erwiderte L schlicht. „Drohen kann ich ihr nicht, weil du Yagami Light in Schutz nimmst. Niemand anderes, nicht einmal sie selbst, ist ihr sonst wichtig. Außerdem hat er ihr offensichtlich eingebläut, sich an seinen Plan zu halten. Amane Misa wird sich nicht gegen seinen Willen stellen. Sie würde das Besitzrecht sofort wieder aufgeben.“

„Und ihre Erinnerungen irgendwann gänzlich verlieren“, fügte Rem kopfnickend hinzu.

„Würde sie?“ Verblüfft schaute L auf. „Wieso?“

„Weil ein Mensch nicht beliebig oft seine Erinnerungen zurückerhalten kann. Zu oft aufgegeben, verschwinden sie irgendwann komplett.“

L starrte sie eine Weile an. Dann fragte er: „Wie oft?“

„Ich ... weiß es nicht genau. Nach dem sechsten Mal?“ Zeitgleich mit L spähte Rem zu dem anderen Todesgott hinüber. Ryuk brauchte ein paar Sekunden, um die auf ihm ruhenden Blicke richtig zu deuten.

„Was schaut ihr mich an?“

„Rem, bist du sicher, dass du in die Welt der Todesgötter zurück willst?“, erkundigte sich L sachlich. „Deine Kenntnisse erscheinen mir weitaus nützlicher als seine.“

„Hoi!“, rief Ryuk aus. „Du bist genauso unverschämt wie Light. Dabei könnte ich dich einfach so umnieten.“ Performativ unterstrich er seine Aussage mit einer wegschnippenden Geste seiner Krallenfinger, die direkt auf Ls Stirn abzielte.

„Warum tust du es nicht?“, fragte dieser interessiert und ungerührt.

In der Bewegung erstarrt blieb Ryuk mit erhobenen Klauen vor ihm stehen. Er schien eine Regung in der Mimik des Detektivs abzuwarten. Als diese ausblieb, senkte er die Arme und antwortete: „Wäre langweilig. So ist es spannender.“

„Und du, Rem?“

Große, schwarze Augen suchten abschätzend nach Blickkontakt. In Ls Mimik lagen Neugierde, Unerschütterlichkeit und eiskalte Berechnung. Einmal mehr musste Rem feststellen, wie unausstehlich ähnlich sich diese beiden Männer waren. Dennoch durfte ihr persönlicher Groll nicht von Belang sein.

„Dein Überleben erscheint mir im Moment wichtig für Misas Glück“, erwiderte sie. „Du kontrollierst Yagami Light. So kann er Misa nichts antun und bleibt dennoch am Leben.“

Nach ihrer Einschätzung wollte diese Person nicht, dass Kira starb. Solange keiner von ihnen das Besitzrecht an einem Death Note erwarb, konnte Rem sie von der Welt der Todesgötter aus jederzeit töten. Ansonsten sollte ein Bluff genügen, der ihnen mehr Macht vorgaukelte, als die Todesgöttin in Wirklichkeit besaß.

Sie hatte etwas Ähnliches schon einmal vorgetäuscht, als L ihr vorschlug, sie könne an Misas Lebenszeit eine Dezimierung ablesen, falls die Überführung der beiden Kiras eine Gefahr für sie darstellte. Rem war auf diesen Vorschlag eingegangen, obwohl sie wusste, dass eine solche Beeinflussung durch ein Death Note sich keinesfalls in der Zahl über dem Kopf eines Menschen widerspiegelte. Durch die tödlichen Notizbücher wurde immer irgendwie Einfluss auf das Umfeld ausgeübt. Es war ein Schmetterlingseffekt. Lebensspannen verlängerten oder verkürzten sich, doch niemals war man in der Lage, mit den Augen eines Shinigami diese Veränderungen wahrzunehmen. Die sichtbare Zahl entsprach immer der natürlichen, unbeeinflussten Lebensdauer. Immer.

Während ihrer Zeit auf Erden hatte Rem rasch eine wichtige Erkenntnis erlangt, dass nämlich das stärkste Band zwischen den Menschen zumeist aus zweierlei Fäden geknüpft war: aus Liebe und Lügen. Innerhalb einer Woche hatte sie von jenen ihr verhassten Männern gelernt, wie man beides hervorragend zur Manipulation verwenden konnte.

„Sobald das Besitzrecht aufgegeben wird, geht das Heft also an denjenigen über, der es in Gewahrsam hat oder es als nächstes berührt“, fasste L rückversichernd zusammen.

„Ja, das müsste stimmen.“

„Falls es danach an einen anderen geht, verliert der zwischenzeitliche Besitzer ebenfalls all seine Erinnerungen daran, obwohl er schon vorher von dem Heft wusste?“ Irritiert schwieg Rem, ohne recht zu begreifen. „Ich meine damit“, versuchte L zu erläutern, „da ich das Heft berührt habe, kann ich dich sehen, ich kenne die Regeln und weiß, dass das Notizbuch des Todes existiert und wie es funktioniert, aber dennoch gehört es mir nicht. Wenn ich nun das Besitzrecht daran erwerbe, indem es sich in meiner Obhut befindet, während der vorige Benutzer seine Ansprüche aufgibt, würde ich dann, nachdem ich das Heft weitergebe, ohne es verwendet zu haben, oder falls ich es verliere, es womöglich sogar zerstört wird, meine Erinnerungen daran einbüßen und nicht mehr wissen, dass ein solches Notizbuch überhaupt je existierte?“

„Das ... weiß ich nicht“, setzte Rem vage zu einer Entgegnung an. „Ich denke, dass ein Mensch alles, was mit den Death Notes in Verbindung steht, daraufhin vergessen müsste, sofern er es einmal benutzte. Genaueres kann ich dazu allerdings nicht sagen.“

Sollten ihre Kenntnisse sie nicht trügen, dann gingen im Umkehrschluss die Erinnerungen keineswegs verloren, solange man mit dem Death Note niemanden tötete. In den Verhören der letzten Tage hatte Rem feststellen müssen, dass sie nicht gut lügen konnte. Eine Halbwahrheit sollte daher reichen. L jedenfalls hatte das Dilemma deutlich erkannt, denn er kaute schon wieder gedankenversunken an seinen Nägeln.

„Ryuzaki“, hörte sie eine Stimme aus dem Hintergrund. Im Türrahmen stand ein alter Mann, Ls rechte Hand, der von allen Watari genannt wurde. Auf einer Handfläche balancierte er eine Schale voller Äpfel. „Ich habe es gehört“, teilte er dem Detektiv mit, während er den Raum betrat und die Schale auf dem Glastisch abstellte. Dann richtete er sich in gerader Haltung auf und verkündete beinahe feierlich: „Ich erkläre mich bereit, das Heft an mich zu nehmen.“

„Moment mal, ich wollte doch ...“, fuhr Ryuk dazwischen, doch L ließ ihn nicht aussprechen.

„Aufgrund der wenigen sicheren Informationen muss ich davon ausgehen, dass ich meine Erinnerungen verlieren könnte, falls ich das Heft erwerbe. Darum muss eine andere Person für mich einspringen. Watari ist wie mein Schatten und der einzige Mensch, dem ich diese Aufgabe anvertrauen kann. Er ist stets in meiner Nähe.“ L griff mit spitzen Fingern nach einem Apfelstiel und hielt Ryuk die rote Frucht wie ein Bestechungsmittel entgegen, wobei er hinzufügte: „Du wirst nicht abgeschoben.“

„Meinetwegen.“ Schulterzuckend langte Ryuk nach dem Apfel. „Wenn zwei meiner Death Notes in der Menschenwelt herumgeistern, habe ich ohnehin mehr Bewegungsfreiraum.“

„Würdest du ...“, begann L, aber Ryuk unterbrach ihn belustigt.

„Nein. Das heißt nicht, dass ich es dir sagen werde, wenn ich herausfinde, wer das zweite Heft besitzt.“

Missmutig akzeptierte L die Aussage. Statt zu protestieren, baute er aus den Äpfeln eine Pyramide. Es machte nicht den Anschein, als gingen ihm noch weitere ungeklärte Sachverhalte durch den Kopf. Aus unerfindlichen Gründen zweifelte oder zögerte er vielmehr, während er schweigend einen Apfel über den nächsten stapelte, bis das Gebilde seine endgültige Form erhielt und wie ein wackeliges Monument auf dem Glas thronte.

Nach einem tiefen Seufzen sagte er: „In Ordnung. Daraus ziehe ich folgenden Schluss; was auch immer ich gleich mit Yagami Light besprechen werde, es gerät für ihn in Vergessenheit, solange er das Heft nicht berührt, richtig?“

„Das ist korrekt“, bestätigte Rem.

Der Detektiv erhob sich, blieb vor dem Sessel stehen, verlagerte unruhig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und starrte hinüber zum Tisch, wo neben einigen Akten das unscheinbare, schwarze Notizbuch lag. Seine Stimme klang ungewohnt leise und unsicher.

„Ich werde Light-kun nun auffordern, das Besitzrecht an seinem Heft aufzugeben. Rem, du wirst es daraufhin an dich nehmen und Ryuk aushändigen.“

Damit war es endgültig. Die Todesgöttin spürte, wie etwas in ihrem Inneren schwer wurde. Nachdem sie getan hatte, worum L sie bat, befand sich kein Death Note mehr auf Erden, das Teil der Menschenwelt war und ihr gehörte. Der Verlust ihres Heftes bedeutete Heimkehr. Heimkehr bedeutete Lebewohl.

„Vielleicht solltest du die Gelegenheit nutzen“, schlug L ihr tonlos vor, „um dich von Amane Misa zu verabschieden.“

„Sie kann mich weder sehen noch hören.“

Ernst und ein wenig traurig lächelte L sie an und sagte: „Ich weiß.“

Rem betrachtete einen Moment seine reglose Gestalt. Er schaute flüchtig hinüber zur Tür und anschließend wieder hinab auf den Tisch. Es war das erste Mal, dass sie Anspannung und Nervosität bei ihm bemerkte.

Die Todesgöttin nickte und drehte sich um. Sie warf keinen einzigen Blick zurück, als sie mit der Wand verschmolz. Sie sah nur noch den Weg, der vor ihr lag.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Die sogenannte stillste Stunde im ersten Absatz dieses Kapitels stammt aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kaylee
2015-07-13T17:29:40+00:00 13.07.2015 19:29
Hallo,
Es ist schon länger her, dass ich ein Kommentar geschrieben habe. Aber manchmal ist ein sauberer Schnitt für eine Zeit das Beste, damit man nicht in den Abgrund der Verzweiflung stürzt, während man auf das nächste Update wartet :-D
Aber dennoch werde ich diese Geschichte immer folgen, wenn auch unregelmäßig und meinen Senf ab und an dazu geben. Aber ich prophezei, Cliffhanger werden eines Tages noch mein Verderben werden.
Soso… also, erstmal freue ich mich sehr, über den Auftritt der Shinigamis. Als ein Freund vom Charakter Ryuk ist das natürlich verständlich und ich bin schon gespannt, auf die Umsetzung Ls Plan, den er schmiedet. Außerdem wollte ich noch einmal, meinen ersten Eindruck von Haupttitel schildern. Also ich fand ja schon, als du den Titel 24/7 „Zwischen den Zeilen“ hinzugefügt hast, dass unglaublich zutreffen, Und auch wenn man natürlich noch nicht gleichen Maß den Inhalt kennt, finde ich „Jenseits verkehrter Wahrheit“ sehr passend. Pluspunkte macht natürlich auch der poetischen Klang. Meine ersten Assoziation zum Titel war (wie sollte es bei den Titel anders sein?) Nietzsche: Das Wahrheit nur Illusion ist.
Aber schön in dem Bezug finde ich ,auch das Gleichnis Die blinden Männer und der Elefant. Ich weiß nicht, ob es dir oder jemand das Gleichnis/Gedicht bekannt ist. In gewisser Weise ist der Titel fast schon selbsterklärend. Die blinden Männern untersuchen einen Elefanten, um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht einen anderes Körperteil und am Ende kommt jeder von ihnen zu einer anderen Schlussfolgerung der Realität. Die Moral der Geschichte ist somit, dass es natürlich mehrere Versionen einer Wahrheit gibt und das Erkenntnis immer subjektiv verstanden wird. So das wollte ich nur kurz erwähnen :-D

Antwort von:  halfJack
26.07.2015 11:20
Oje, da mache ich mir schon ein bisschen Vorwürfe, dass es so schleppend vorangeht. Mir war leider von Anfang an klar, dass die nächsten Updates immer nur langsam und unregelmäßig erfolgen würden, weshalb ich es auch fair fand, sofort darauf hinzuweisen. Beim Lesen würde ich mir vermutlich auch lieber etwas ansparen, sonst verliert man so leicht den Überblick.

Tatsächlich hat mich zum zweiten Titel unter anderem Nietzsche inspiriert, besonders sein Werk "Jenseits von Gut und Böse" - ein Buch, das Light in einer Szene des ersten Realfilms überraschenderweise in deutscher Ausgabe liest. Also können wir ihm unterstellen, dass er laut dieser Interpretation sogar Deutsch beherrscht. Auf einige Aspekte des Titels werde ich im Laufe der Geschichte noch eingehen. Es freut mich sehr, dass die Titel gut ankommen, denn gerade beim zweiten habe ich mich gefragt, ob dieser "poetische Klang" nicht irgendwie abschreckt.

Das Gleichnis mit den Elefanten kenne ich. Ich habe meinem Neffen zu seinem letzten Geburtstag ein für Kinder verständliches Buch über die Weltreligionen geschenkt, darin war genau dieses Gleichnis enthalten und es schien mir ungemein passend. Mein Neffe ist einige Jahre seiner Kindheit in Louisiana aufgewachsen, seine Großeltern dort sind äußerst konservativ und christlich. Sie sind mit absoluter Sicherheit davon überzeugt, dass diejenigen, die nicht an Gott glauben, in die Hölle kommen. Die deutsche Seite der Familie hingegen ist konfessionslos erzogen; uns ist es völlig egal, wir könnten nicht mal an Gott glauben, wenn wir es uns einzureden versuchten. Mein Neffe steht demnach zwischen den Stühlen. Er kann nicht verstehen, wieso Menschen von etwas absolut überzeugt sein können, warum es zum Beispiel auch so viele Religionen auf der Welt gibt und am Ende trotzdem alle Recht behalten, niemand falsch liegt. Deshalb das Gleichnis mit dem Elefanten. Danke, dass du es hier anbringst. Es trifft den Nagel auf den Kopf!


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