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Unbreakable

There is no way out
von

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Die Ankunft


 

Die Ankunft
 

Traurig klangen diese Schritte. Es waren viele Schritte – viel zu viele Schritte. Ein Schritt nach dem anderen – immer gleich von ihnen allen. Verbrecher, wie das Land sie nennt. Manche von ihnen mochten es wirklich sein. Doch wie sollte man darüber urteilen können, wer diese Strafe verdient hatte? Hatte dieses kleine Kind dort hinten es verdient? Was konnten die unschuldigen Hände eines Kindes schon tun? Oder die alte Frau, die kaum mit ihnen mit halten konnte. Wer weiß, vielleicht waren sie beide Mörder. Oder sie waren beide unschuldig – genau wie sie selbst. Was hatte sie schlimmes verbrochen? Sie hatte bei einer Untersuchung den Test nicht bestanden! Und darum würde man sie einsperren? Für immer? Sie dachte an ihre Eltern. Schnell schob sie den Gedanken wieder bei Seite. Wo brachte man sie hin? Angst durchfuhr sie. Ins Dunkel würde es gehen... In das Dunkel vor dem man sie immer gewarnt hatte. Sie versuchte ihre Hände zu bewegen, doch spürte sie nur den Schmerz der Fesseln. Ein Blick gen Himmel verriet ihr, dass sich ein Gewitter zusammenbraute. Wie passend für ihre Szenerie...

Ein Raunen ging durch die Menge, als die dunkle Wand sich vor ihnen auftat. Sofort zogen die Männer in den weißen Kampfanzügen ihre Waffen und einer schrie: „Schweigt!“ Als ein Mann sich auflehnen wollte, schlug man ihm mit dem Griff des Gewehrs in den Magen. Der Mann brach augenblicklich zusammen. Ihnen allen war klar – würde auch nur einer von ihnen das Wort ergreifen, so würden die Wachen ihn erschießen. Hier gab es kein Recht mehr. Niemanden der darauf achten würde, ob man wirklich auf der anderen Seite ankam. Oder ob man lebendig dort aufkreuzen würde. Wie sollte man auch? Um die Welt, die sich dort offenlegte gab es nur Gerüchte. Grausame Gerüchte. Aber was dort wirklich vorging... Das wusste niemand. Wie sollte man auch? Was einmal dort war, konnte nicht mehr wiederkehren. Ein unumgängliches Gesetz. Angst kroch ihre Beine hinauf. Machte, dass sie sich taub anfühlten. Ihre Schritte fühlten sich unecht an – so wie alles, was sie hier wahrnahm. Erste Blitze zuckten über den Himmel. Sie hellten den Himmel auf und offenbarten die traurigen Gesichter. Und den kalten Blick ihrer Wächter, durch ihre Masken. Gefolgt von einem dunklen, unheildrohenden Grollen. Sie spürte, wie die Angst nun fast ihren ganzen Körper lähmte. Der Körper hinter ihr drängte sie nach vorne, als ihre Schritte aus dem Rhythmus fielen. Sie durfte nicht stehen bleiben... Wobei. Was war schon so schlimm daran hier zu sterben? Auf der anderen Seite würde sie wohl keine zwei Minuten überleben... Sie konnte nicht sagen, was größer war. Die Angst vor dem Tod oder die Angst vor dem Unbekannten. Aber ihre Hände begannen zu zittern. Bedrohlich kam ihr diese unendlich scheinende Wand näher. Laut den Geschichten war sie schon immer da. In vergangenen Zeiten sollte sie das Böse von ihrer reinen und guten Welt fern gehalten haben. So wie es die Wand auch heute tun sollte. Doch woher sollte sie noch wissen was Gut und was Böse war? Wie sollte sie unterscheiden?

Sie sah, wie das Kind dort vorne in Tränen ausbrach. Es sackte in sich zusammen und weigerte sich weiter zu gehen. Die ganze Reihe hielt inne. Erbarmungslos richtete einer der Männer das Gewehr auf es. Ihr stockte der Atem und sie fühlte sich unfähig auch nur einen kleinen Finger zu rühren. Das junge Mädchen wusste, dass es falsch war. Sie wusste, dass sie moralisch gesehen eingreifen sollte. Aber sie konnte nicht. Zu groß war ihre Angst und sie presste die Augen zusammen. Ein lauter Knall reihte sich in das Donnern des Gewitters ein.

Die Stimme des Kindes erstickte.

Ihr blieb der Atem weg. Wieso war sie hier? Warum war dieses Kind hier gewesen? Fragen durchschossen sie, überlagert von dieser einen. Wieso konnte man nichts dagegen tun? Wieso konnte sie nichts dagegen tun?

Hilflos ließ sie sich nach vorne treiben, als die Reihe sich wieder in Bewegung setzte. Es war so unheimlich still... Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel. Im Vorbeigehen konnte sie in die leeren Augen des Kindes sehen. Es war ein Junge. Vielleicht 7 oder 8 Jahre alt. Die leblosen Augen starrten mit großem Entsetzen ins Nichts. Darüber klaffte ein hässliches Loch in seinem Kopf. Übelkeit kam in ihr auf. Es durchzog ihren ganzen Magen und sie musste sich zwingen nicht auf die Knie zu fallen. Die Reihe zwang sie weiter zu laufen. Hinter sich hörte sie, wie man den Körper des Jungens über den Boden zerrte. Vermutlich würde man ihn dennoch auf die andere Seite werfen...

Sie spürte, wie Regen auf ihr Haupt fiel. Zu den Schritten und dem Donnern kam binnen Sekunden noch das Geräusch des Wassers hinzu. Es prasselte auf den Boden und klapperte unnatürlich auf den weißen Anzügen ihrer Wächter.

Der erste in ihrer Reihe war nun vor der Wand angekommen. So kamen sie kurz zum Stehen. Sie versuchte nicht darüber nachzudenken. Nicht zu hyperventilieren. Doch ihr Atem ging schneller und ihr war, als würde sich die ganze Welt drehen. Sie krallte die Fingernägel in ihr eigenes Fleisch. Der Schmerz bewirkte wenigstens, dass ihr Blickfeld wieder still stand.

Ihr Blick ging starr auf diese große blauschwarze Masse. Sie erhob sich und thronte da vor ihnen. Als wäre sie der Richter, der sie alle zu ewiger Gefangenschaft verurteilte. Auch in die breite streckte sie sich so weit das Auge sehen konnte. Man konnte die leichte Krümmung erahnen, die sie machte und das vor ihnen liegende Gebiet umschloss. Wie ein fetter, großer Squab der nur darauf lauerte sie alle zu verschlingen.

Wirklich etwas sehen konnte man nicht. Zumindest nicht auf diese Entfernung. Schemenhaft zeichnete sich die Landschaft ab, die sich hinter der Wand verbarg. Leichte Hügel, Schatten von zerstörten Gebäuden...

Die Wachen stellten sich nun rechts und links von ihrer Reihe auf, während einige, ganz wie vermutet, die Leiche des Jungens auf die andere Seite warfen. Sie versuchte den Blick abzuwenden, konnte es aber nicht. Hätte es etwas geändert, wenn sie dazwischen gegangen wäre? Ein leichtes Zischen war zu vernehmen, als der leblose Körper die dunkle Masse der Wand berührte. Sie verschlang ihn gänzlich und zog ihn auf. Nur um ihn hinter sich wieder auszuspucken.

Mit einem Schrei wurde der erste Mann auf die andere Seite geschubst. Auch er wurde verschluckt und kam taumelnd auf der anderen Seite an. Das Spiel wiederholte sich nun. Nach und nach wurde die Reihe vor ihr kürzer. Die Leute in dem Bereich verhielten sich unterschiedlich, doch konnte sie nicht sehr darauf achten. Viel zu sehr beschäftigte sie das gefräßige Maul der immer näher kommenden Wand. Bedrohlich ruhig stand sie dort. Nahm einen Menschen nach dem anderen in sich auf.

Bald schon stand sie vor ihr.

Kaum war der Mann vor ihr verschwunden, griffen starke Männerhände nach ihr. Ruppig wurde sie an den Schulter nach vorne gezogen und sie verschloss ängstlich die Augen. Vielleicht würde sie gar nichts merken. Vielleicht würde sie wieder daheim sein, wenn sie die Augen öffnete.

Ein Kribbeln kroch über ihre Haut. Nur für einen kurzen Augenblick. Das eben noch so leise Zischen nahm eine unerträgliche Lautstärke an. Und dann war es auch schon vorbei.

Haltlos stolperte sie einen kleinen Abhang hinunter und riss die Augen wieder auf, als sie das Gleichgewicht verlor. Unsanft ging sie zu Boden. Dämmerung umgab sie und sie konnte ihren Atem nicht mehr halten. Ebenso wenig wie ihren Körper. Zitternd huschte ihr Blick die Umgebung entlang. Doch ihr Sichtfeld verschwamm und sie spürte wie die Panik ihren Körper übermannte.

'Beruhige dich!', schrie sie sich innerlich an und vergrub ihre Hände in der dunklen Erde. Sie musste Halt gewinnen. Endlich wieder ihren Körper unter Kontrolle bringen können. Schnappend japste sie nach Luft und konzentrierte sich darauf wieder normal zu atmen. Den schwarzen Boden unter sich fokussierend. Das Stimmgewirr um sich herum ausblendend.

Endlich schaffte sie es sich etwas zu beruhigen und hob langsam dem Kopf. Unsicher nahm sie erneut die Eindrücke in sich auf. Die schemenhafte Landschaft lag nun klar vor ihr. Während die sonst so vertraute Umgebung hinter ihr im Schatten lag. Zuerst ging ihr Blick hinter sich. Die schwarze Wand warf einen schier unendlichen Schatten über sie alle. Sie spürte förmlich die Dunkelheit, die sie von nun an umgeben würde. Ob an diesem Ort jemals die Sonne scheinen würde?

Gleich darauf fielen ihr die Verzweifelten auf. Sie schlugen wie wild auf die Wand ein oder versuchten die Erde auf dem Boden bei Seite zu schaffen. Wie sie sich so schnell von den Fesseln befreit hatten war ihr ein Rätsel... Aber das tat auch nichts zur Sache.

Sie war hier.

Auf der anderen Seite.

Und ganz wie sie es aus den Geschichten gehört hatte: hindurch gelang man binnen Sekunden. Während der Rückweg für immer versperrt bleiben würde.

Mit schwachen Beinen erhob sie sich. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie auch an die Wand schlagen sollte... Doch der vergebliche Protest ihrer Mitgefangenen reichte ihr.

Zögernd wandte sie nun auch den Blick ins Innere ihres Käfigs. Es so zu nennen fühlte sich falsch an. Aber ein besserer Ausdruck fiel ihr derzeit nicht ein.

Es ging ein wenig bergab und die dunkle Erde war karg. Vor ihr lag ein kahler Streifen Land. Nur einige Felsen ragten aus dem aufgewühlten hervor. Wie spitze Zähne oder verlorene Grabsteine...

Erst in einiger Ferne ragten einzelne Gebäude aus der Dunkelheit. Doch auch sie würde niemandem von ihnen Unterschlupf bieten können, denn selbst aus der Ferne konnte sie deren Zerfall erkennen. Leichte Hügel zeichneten sich dahinter ab und irgendwo dort schluckte ein noch dunklerer Fleck das Land. Es schien ein Wald zu sein... Gab es hier überhaupt andere Menschen? Oder würden sie alle früher oder später von all den Squabs aufgefressen werden, die man hier her verbannte? Ihr Magen zog sich zusammen. Verbannung... Ja, sie war nicht mehr wert als diese Monster. Erneut fiel ihr Blick auf ihre Mitgefangenen. Sie alle waren für die Zivilisation, die sie hinter sich lassen mussten, nicht mehr wert als Squabs.

Immer mehr von den anderen waren ihre Fesseln los geworden. Ein wenig hilflos starrte sie auf ihre eigenen. Sie schnitten ihr ins Fleisch und je mehr sie die Hände bewegte, je schlimmer tat es weh. Kurz überlegte sie, ob sie jemand von den anderen um Hilfe bitten sollte. Aber jemand fremden anzusprechen, war ihr früher immer verboten gewesen. Sie glaubte, dass ein paar von den Mitgefangenen schon verschwunden waren. Oder aber sie sahen nur weniger aus, weil sie nicht mehr in einer Reihe hintereinander her liefen. Suchend glitt ihr Blick über die Gesichter. Es waren so viel mehr Männer als Frauen... War in der Reihe nicht eine ältere Dame gewesen? Mit ihr könnte sie vielleicht reden.

Ein lautes Lachen ertönte und sofort wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Einer der Männer war gerade seine Fesseln los geworden und lachte hysterisch auf. Ging die Panik mit ihm durch? Die lose Metallfessel in den Händen schwingend rannte der Mann auf einen anderen zu. Dieser sah ihn nur verwirrt an, als er sich auf ihn schmiss. Ein Schrei entwich der jungen Frau, als der Fremde seine Fessel um den Hals des Hilflosen schlang. Auch dieser begann zu schreien und sich wie wild gegen den Angreifer zu wehren. Ängstlich wich sie zurück und blickte schockiert mit an, wie andere Männer dazu kamen.

„Ich bring euch alle um!!“, schrie der verrückt gewordene und die Männer fingen an, wie wild aufeinander einzuschlagen. Zitternd schritt sie von der Szene zurück.

'Ich muss hier weg!', war ihr einziger Gedanke. Wer wusste was die anderen hier noch vorhatten? Der Mann dort konnte ein Irrer sein oder auch ein Mörder! Mühsam riss sie ihre Augen von dem Kampf los und begann weg zu rennen. Weg von der bedrohlichen Wand. Weg von den anderen Menschen. Noch nie zuvor hatte sie vor Mitmenschen so viel Angst haben müssen.

Schlagartig wurde ihr klar, dass sie hier niemandem vertrauen konnte. Hastig stolperte sie nach vorne. Weg. Einfach nur weg von all ihnen.
 

Kraftlos versagten ihre Beine. Wie lange sie gerannt und gelaufen war, wusste sie nicht. Das Gewitter war nicht besser geworden – ganz im Gegenteil sogar. Eine hässliche Regenfront weichte den Boden auf und erschwerte das Vorankommen erheblich. Erschöpft ließ sie sich auf den matschigen Boden fallen und starrte das Gebäude vor sich an. Noch immer die Hände vor dem Körper gefesselt, keinerlei Orientierung... Sie war wirklich zu nichts zu gebrauchen.

Ihre sonst so penibel sauber gehaltene Kleidung war völlig verdreckt. Nicht nur, dass sie hier durch den Regen gerannt war. Nein, sie trug all das schon seit ihrer Inhaftierung. Ganz der alten Gewohnheit nach, strich sie den Rock glatt und versuchte sich damit ein wenig zu beruhigen. Sie spürte das abgerissene Ende zwischen ihren Händen. Ein trauriges Lächeln stahl sich auf ihre Züge. Wenn sie jemand so sehen würde... Die Beine völlig unbedeckt - die Kleidung durchnässt und zerrissen. Ihre Haare aus dem sonst so sorgfältig geflochtenen Zopf, herausfallend. Ja, sie passte ganz hervorragend an diesen Ort.

Woher sie die Kraft nahm, war ihr ein Rätsel. Aber sie raffte sich auf und schleppte sich müde in das Innere des Gebäudes. Ganz wie von Außen erwartet war es zerfallen. Große Risse zogen sich durch den Fußboden und abgesehen von den Spinnweben fehlte jegliche Einrichtung. An den Wänden wuchs Moos, wobei es sich auch um Schimmel handeln konnte. Sie wollte nicht genauer nachsehen. Selbst früher, als dieses Haus wohl noch bewohnbar gewesen war, mussten die Leute hier schlecht gelebt haben. Der Fußboden war schlichter Beton, es gab kaum Fenster und nur wenige Lampen. Heute stand es außer Frage... Niemand würde hier je mehr wirklich wohnen können. Doch es war ihr lieber Mauern um sich zu haben, als dort draußen zu sein. Und immerhin hielten einige Stücke der Decke noch... Das würde etwas vom Regen abhalten.

Müde verkroch sie sich in eine Ecke und schlang die Arme um die Beine. Die Fessel scheuerte mittlerweile die Wunden auf und sie fragte sich, wie man dieses Metall ab bekommen könnte. Zu dumm, dass sie den anderen nicht einfach zugesehen hatte. Doch irgendwie würde sie es schon schaffen. Irgendwann. Sie legte das Kinn auf die Knie und ihr Blick wanderte zu einem der kleinen Fenster. Es war dunkler geworden, aber sie vermochte nicht auszumachen welche Tageszeit es war.

Ihr Magen zog sich zusammen. Irgendetwas in ihr zerbrach...

Wem machte sie hier was vor? Sie würde alleine nicht zurecht kommen. Wahrscheinlich würde sie ein wildes Tier fressen oder im schlimmsten Fall, würde sie verhungern. Bilder kamen in ihr auf. Die leblosen Augen des Jungens, wie der Mann versuchte einen anderen zu ersticken... Die große Wand, die sie verschluckte. Der Arzt, der mit betrübten Blick ihre Eltern angesehen hatte. Die Männer in weiß, die sie weg brachten. Der Blick aus dem kleinen Fenster ihrer Zelle. Der kalte Blick ihres Vaters. Es war, als hatte er ihr sagen wollen 'Ich habs doch gewusst.' Sie konnte es nicht mehr zurück halten. Tränen stiegen in ihr auf, sie begann zu schluchzen und ehe sie sich versah, hatte sie keine Kontrolle mehr. Ihr Atem ging stoßweise und sie vergrub das Gesicht zwischen ihren Armen.

Eine Ewigkeit saß sie einfach nur da und weinte vor sich hin. Sie hatte alles verloren, was ihr je etwas bedeutet hatte. Nun war sie hier. Alleine.

Die Zeit zog sich und der Gedanke, dass jemand kommen würde, um sie zu retten schwand. Langsam aber sicher schluckte die Dunkelheit auch das letzte bisschen Licht. Vermutlich war die Nacht über sie hinein gebrochen. Sie lehnte ihren Körper gegen die kalte Wand und schloss die Augen. Noch immer rannen Tränen über ihre Wangen... So lange bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.
 

„Ya! Wach auf.“, riss sie eine fremde Stimme aus dem Schlaf. Schlagartig war sie hellwach. Ein schriller Schrei entfuhr ihr, als sie einen jungen Mann vor sich sah. Unwillkürlich presste sie sich gegen die Wand. Ihr Fluchtinstinkt raste. Doch der ihr gegenüber hob beschwichtigend die Hände. „Hey, es ist alles gut.“, sagte er und seine Stimme war gedämpft. Kein Wunder, denn er hatte seinen Schal vor den Mund gezogen. Hastig glitt ihr Blick über den Fremden. Er trug dunkle Kleidung und seine Haare waren in ein seltsames, helles Blau gefärbt. Nur an einigen Stellen war es dunkler, fast schwarz... Er stand noch auf seinen Füßen und war dennoch in der Hocke. Sein Gesicht war mindestens so dreckig wie das ihre. Dafür war seine Kleidung trocken. Seinen Blick konnte sie nicht deuten... Was wollte dieser Punk von ihr?

„Ganz ruhig.“, flüsterte er uns streckte die Hände nach ihr aus. Sofort wurde ihr Blick panisch und sie hob schützend die fest gebundenen Hände vors Gesicht.

„I-Ich habe nichts von Wert bei mir!“, versuchte sie ihn auf Distanz zu halten. Doch der Fremde lachte nur auf. „Das sehe ich auch.“, sagte er trocken und griff vorsichtig nach ihren Händen. Er zog sie mit leichtem Druck nach vorne und besah sich die Fessel. Ihr stockte der Atem. Das war nun insgesamt die fünfte Berührung, die sie jemals mit einem Mann hatte. Es war nicht richtig so. Nur ihr zukünftiger Mann hätte sie eigentlich jemals berühren sollen. Ganz so, wie es geplant war. Aber der Plan war nun sowieso hinfällig... Ängstlich beobachtete sie ihn, wie er interessiert die Fessel ansah. Kurz zupfte er daran, was sie scharf die Luft einziehen ließ.

„Wie lange trägst du das Ding schon?“, fragte er und sie zuckte unter der persönlichen Anrede sofort zusammen. „Keine... Ahnung... Vier Tage vielleicht?“, antwortete sie unsicher und versuchte seinem Blick auszuweichen. In Sonnstadt wäre ihr das niemals geschehen... Zuhause würde sich kein Mann heraus nehmen sie so direkt anzusehen. Geschweige denn sie einfach anzufassen. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken. Doch er kümmerte sich nicht darum und zückte ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche. Zumindest sah es für sie so aus. Genau wissen konnte sie es ja nicht. Das war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so ein Ding zu Gesicht bekam.

„Achtung...“, sagte er leise und zog den Verschluss der Fesseln etwas nach oben. Sie versuchte sich zusammen zu nehmen und nicht vor Schmerz zusammen zu zucken. Als er die Klinge des Taschenmessers aufspringen ließ, konnte sie aber nicht verhindern, dass sie ängstlich die Augen zusammen presste. Sie spürte ein leichtes Ruckeln an den Fesseln. Dann war ein leises Klacken zu hören.

Überrascht öffnete sie die Augen und starrte den jungen Mann vor sich an. Dieser grinste nur. „Gern geschehen.“ Perplex fiel ihr Blick auf ihre Fessel, die sich langsam löste. Hektisch befreite sie ihre Hände. Die Bewegung tat ein wenig weh – aber die Erleichterung war größer. „D-Danke...“, brachte sie unsicher hervor und deutete eine Verbeugung an. Der Fremde vor ihr musterte sie interessiert und ließ sich nach hinten fallen. Er setzte sich in den Schneidersitz und durchsuchte die Innenseiten seiner Jackentasche. „Du bist neu hier.“, stellte er fest, „Wo kommst du her?“

Endlich konnte sie ihre Arme und Hände wieder richtig einsetzen. Das brauchte sie auch, denn immerhin saß dort ein fremder Mann vor ihr. Vergeblich versuchte sie ihre Waden zu bedecken und erntete für ihr Verhalten nur einen belustigten Blick.

„Hallo?“, mischte er sich wieder ein und winkte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Seine Suche schien er vorerst unterbrochen zu haben.

„Aus Sonnstadt... Aber wieso?“, brachte sie überfordert heraus. Was genau wollte er von ihr?

„Oh. Aus Sonnstadt kommen nicht viele her.“, sprach er und zog sich den Schal aus dem Gesicht. Ein breites Grinsen kam zum Vorschein, „Nur so aus Interesse. Komm mit.“

Bevor sie auch nur ansetzen konnte, schnappte er sich ihre Hand, die noch immer verzweifelt nach Möglichkeiten suchte ihre Beine vor ihm zu verstecken. Mit Leichtigkeit zog er sie auf die Füße und sie versuchte stand zu halten. Er wollte sie mit sich ziehen, aber sie zog ihre Hand aus seiner zurück. Ging es hier überall so unsittlich zu?!

„Das meinte ich nicht!“, endlich hatte sie ihren Mut wieder, „Warum helfen Sie mir?“ Sie schaute verwirrt zu ihm auf. Himmel, war der vielleicht groß! Mit einem Schlag fühlte sie sich, als wäre ihr Mut zerbrochen. Der ihre fremde Mann brachte nur in schallendes Gelächter aus. „Hör auf mich so förmlich anzureden. Das tut hier keiner.“

Sie schüttelte nur den Kopf. „Warum helfen Sie mir?“, beharrte sie, doch der junge Mann krümmte sich nur vor lachen. Was war so falsch daran, ihn nicht auf ihre persönliche Ebene lassen zu wollen? Er blickte sie nur ungläubig an. „Ich war vor ein paar Jahren auch mal neu hier.“, antwortete er dann doch und griff dieses Mal mit mehr Nachdruck nach ihrer Hand. Sie wollte sich schon sträuben, doch er zog sie einfach mit sich in den nächsten Raum. Dort ging eine Treppe nach oben und einige weitere Türrahmen ließen in leere Zimmer blicken. Aber dort waren auch noch ein paar Türen. Auf eine von diesen steuerte er zu und stieß sie auf. Dann ließ er sie los und deutete ins Innere des Raumes. Dort stand doch tatsächlich ein altes Bett! Es war zwar nur ein Metallgestell mit einer dünnen Matratze – aber es war trocken und würde bei langem nicht so kalt sein wie der Boden! Entgeistert starrte sie den jungen Mann an, der sie stehen ließ und sich auf das Bett fallen ließ.

„Wenn du das nächste Mal schlafen willst, ist das etwas bequemer.“, zwinkerte er ihr zu. Sie verstand die Welt nicht mehr... Vermutlich war all das hier einfach zu viel für sie. Diese Veränderungen gingen zu schnell, sie kam nicht nach.

„Den Meisten aus Sonnstadt fällt es anfangs schwer sich hier zurecht zu finden.“, sprach der Fremde und begann den Raum abzulaufen. Suchte er etwas? „Gibt es noch andere Menschen hier?“, fragte sie vorsichtig nach und machte zwei Schritte in den Raum herein.

„Klar. Aber nicht alle sind so nett wie ich. Vielleicht fährst du gar nicht schlecht, erst einmal hier zu bleiben.“ Er schritt noch immer durch den Raum, bis er sich letzten Endes zu ihr umdrehte und sie frei heraus ansah. Schnell suchte sie mit ihrem Blick den Boden auf. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, wie sie ihn beobachtet hatte.

„Was tun Sie eigentlich hier?“, fragte sie. Der junge Mann legte den Kopf schief und musterte sie erneut. Auch wenn ihr Rock noch bis über die Knie reichte, fühlte sie sich unwohl von ihm angesehen zu werden. Hier war alles so anders...

„Ich gehe einigen Informationen nach.“, sagte er ernst und lief an ihr vorbei zur Tür. Sie drehte sich zu ihm um, „Und wie bist du hier her gekommen?“

„Durch Zufall...“

Wieder lachte er sie einfach aus. War solch ein Benehmen hier normal? Würde sie in Zukunft immer so behandelt werden? Mit einem Mal kam sie sich unglaublich arrogant vor. Er hatte ihr geholfen und sie hielt noch immer an den Sitten derer fest, die sie verstoßen hatten.

„Glaub mir, so etwas wie Zufall gibt es nicht.“, lachte er. Natürlich glaubte sie ihm nicht. Zufälle gab es häufig im Leben, aber sie wollte nicht noch undankbarer erscheinen.

„Gut... Ich glaube dir.“, überwand sie sich und ließ die gewohnte Höflichkeitsform hinter sich. Zumindest für dieses eine Mal, um ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen.

Der Fremde grinste sie an und begann erneut in seiner Jackentasche zu kramen. Er holte eine kleine Papiertüte heraus und warf diese auf das Bett. „Da ist Trockenfleisch drin. Iss, wenn du hungrig bist.“

„Danke...“, sagte die junge Frau ehrlich. Alles war so ungewohnt... Und von Trockenfleisch hatte sie auch noch nichts gehört. Aber in Anbetracht dessen, wie lange sie schon nichts mehr gegessen hatte, war ihr das auch egal.

„Ich muss wieder los.“, sagte er und wandte sich zum Gehen. In seiner Stimme lag keine Erwartung, keine Aufforderung etwas zu tun – zu warten oder zu gehen. Doch was sollte sie jetzt tun?

Er verschwand hinter der Tür, tauchte dann aber noch einmal kurz auf. „Wie heißt du eigentlich?“

„Aya.“, beantwortete sie ihm die Frage und wollte ihn auch nach seinem Namen fragen. Doch da war er auch schon verschwunden. Zögernd lief sie ihm hinterher. Aber dort war niemand mehr. Keine Spur von einem blauhaarigen Jungen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So ihr lieben, ich hoffe euch hat das 1. Kapitel gefallen :) Konstruktive Kritik und Verbesserungsvorschläge sind immer gerne gesehen! Gibt es schon Vermutungen, wer der junge Herr sein könnte? :3
*Kekse hinstell*
Viel Spaß noch und bis bald
Kay~ Komplett anzeigen

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