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Creepypasta Special 2: The Shattered

Die Wahrheit über Dathan und Sally
von

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Zu Besuch bei Lorraine Warren

Die angenehme Nachmittagssonne hatte Lorraine Warren etwas schläfrig gemacht und die inzwischen 86-jährige Witwe war gerade dabei, einen Schal zu stricken. Es gab ja sonst nicht viel zu tun und heute würde sowieso nichts geschehen, was von Bedeutung wäre. Allerhöchstens würden Besucher kommen, die sich das „Museum“ ansehen und sie über ihre Erfahrungen auf dem Gebiet der Parapsychologie ausfragen wollten. Und natürlich würde es wieder einige Zweifler geben, die das Ansehen ihres seligen Mannes Ed in den Dreck ziehen und sie als Hochstaplerin darstellen wollten. Sie kannte das alles schon und es berührte sie auch nicht mehr sonderlich. Sie erlebte das schon seit so vielen Jahrzehnten, sodass sie es inzwischen müde war und sich auch gar nicht mehr zu Herzen nahm. Inzwischen hatte sie eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber diesen Kritiken entwickelt und ließ die Leute selbst entscheiden, an was sie glauben sollten. Sie wusste es besser, ihr Mann hatte es gewusst und die Mitglieder der Organisation wussten es ebenfalls. Das reichte ihr schon. Es klingelte an der Tür und Judy, ihre Tochter, öffnete und rief „Mutter, da ist jemand, der dich sprechen möchte.“

„Wer ist es denn?“ fragte die alte Frau und drehte sich, so gut sie konnte, zur Tür hin, um etwas zu sehen. „Jemand, der etwas Dringendes mit dir zu besprechen hat. Es sei geschäftlich.“ „Dann bring ihn ins Zimmer!“ Lorraine lehnte sich wieder im Stuhl zurück und legte ihre Arbeit nieder. Der Besuch trat ein und zum ersten Mal seit Jahren traf es sie wieder. Sie sah, wen sie da vor sich hatte und vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen. Der Besuch setzte sich und erklärte mit ruhiger Stimme „Sie brauchen nicht so entsetzt zu schauen, meine Liebe. Ich werde Ihnen schon nichts tun. Keine Sorge.“

„Ich kenne dich“, sagte die alte Dame gefasst, doch ihre Stimme klang alt und heiser. Sie sah sehr ernst aus, als bereite sie sich auf das Schlimmste vor. „Was suchst du in meinem Haus?“ „Ich möchte nur mit Ihnen reden, das ist alles. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Lorraine. Immerhin haben Sie sich doch nichts vorzuwerfen.“ Judy kam herein und fragte, ob alles in Ordnung sei. Der Besuch versicherte ihr dies und bat um eine Tasse Tee. Daraufhin verschwand die Frau in der Küche und kam wenig später mit Hagebuttentee zurück. Der Gast dankte und gab etwas Zucker hinein. „Ich muss Ihnen mein Kompliment machen, Lorraine. Für Ihr respektables Alter haben Sie immer noch ein geschärftes Auge für die Wahrheit, die andere nicht sehen.“

„Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?“

„Ich hätte da ein paar Fragen an Sie, die Sie mir vielleicht beantworten könnten.“

„Welche Antwort könnte ich dir schon geben, die du noch nicht weißt?“ Der Besuch lachte amüsiert und stellte die Tasse wieder zurück. „Ich glaube, Sie haben ein falsches Bild von mir. Ich bin nicht das, wofür Sie mich halten. Wissen Sie, die Menschen haben es nicht gerne, wenn man sie wegen ihrer Fehler anklagt und dann verteufeln sie diese Person eben. Dabei mache ich nur meinen Job und habe nicht die Absicht, Unschuldigen zu schaden.“ Lorraines Gesichtszüge schienen sich ein wenig zu entspannen und dann nickte sie. „Also gut, was willst du wissen?“

„Welche Ziele verfolgt die New England Society for Psychic Research?“

„Die Erforschung von paranormalen Phänomenen und deren Bekämpfung. Genau das, was Ed und ich all die Jahre aufgebaut haben. Wir haben sie gegründet mit der Gewissheit, dass unsere Arbeit nicht nach unserem Tode enden wird. Das ist alles.“

„Und sind Sie über die kriminellen Aktivitäten Ihrer Leute informiert?“

„Kriminelle Aktivitäten?“ fragte die Witwe verwirrt und rückte ihre Brille zurecht, um ihren Gast genauer zu sehen. Es war offensichtlich, dass sie keine Ahnung hatte, wovon der Besucher sprach. Dieser schwieg einen Moment und dachte nach. „Nun gut, dann hat sich alles andere bereits erübrigt. Lorraine, es wird heute jemand zu Ihnen kommen, der Sie das Gleiche fragen wird. Er wird es Ihnen näher erklären und ich möchte, dass Sie ihm alle Fragen beantworten, die er Ihnen stellt, und zwar wahrheitsgemäß. Das ist sehr wichtig und Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun!“

„Wer ist es?“

„Sein Name ist Dathan Lumis Kinsley, er trägt einen Mundschutz, um seine Gesichtsentstellung zu verbergen und er hat rote Augen. Ach ja, er ist auch ein Nekromant. Sie wissen ja, was das bedeutet.“

„Ja, das weiß ich nur zu gut. Jahrelang habe ich ihre Fähigkeiten studiert und versucht, mehr über die ganzen Zusammenhänge zu erfahren. Es sollte unser letztes Werk werden, aber als Ed starb, habe ich dieses Ziel aus den Augen verloren. Stattdessen hat die N.E.S.P.R. meine Arbeit fortgesetzt. Ich wollte mich aus dieser Angelegenheit zurückziehen.“ „Denn es gab einen besonderen Grund, nicht wahr?“ Lorraine erinnerte sich gut. Sie und Ed hatten eines Tages eine Anfrage von einem Herrn bekommen, der ihnen von einem Film erzählte, der besessen wäre. Es war der Film „Happy Sally“. Sie hatte, als sie den Film angefasst hatte, schreckliche Dinge gesehen. Zerstörung, Feuer, tote Menschen und sie hatte Schmerz gefühlt. So tiefen, unsagbar tiefen Schmerz. Und einen abgrundtiefen Groll und Hass, der schon fast alles überstieg, was sie bis dato wahrgenommen hatte. Noch nie in ihrer Laufbahn als Medium hatte sie so etwas erlebt und es hatte sie zutiefst schockiert. Allein diese Visionen zu sehen, hatte gereicht, dass sie drei Tage nicht ihr Zimmer verlassen wollte und zu niemandem ein Wort sprach. Am meisten aber hatte sie diese Kraft verstört. Diese unendlich bösartige und hasserfüllte Kraft, die direkt aus der Hölle gekommen zu sein schien. „Dathan hat es mit Samuel Leens' Hilfe geschafft, Sally zu helfen und nun will er anderen helfen. Dazu braucht er aber Sie, Lorraine.“

„Und was geschieht, wenn er findet, was er sucht?“

„Es wird viel Kummer geben. Sehr viel Kummer und Schmerz und unschöne Wahrheiten werden zutage gefördert. Und leider wird es auch sehr viele Verluste geben. Aber dann wird es ein Ende haben und Sie werden Ihre Antworten bekommen. So viel kann ich Ihnen versichern. Aber genug der Dinge. Gibt es noch etwas, was Sie mich fragen wollen?“ Lorraine fuhr sich mit ihrer Hand über die Stirn, wo sich zu Anfang Schweißperlen gebildet hatten. Sie seufzte und schloss die Augen. „Wie verhalten sich die Dinge? Was genau hast du vor und was ist dein Ziel?“

„Ich erledige nur meinen Job. Ich nehme mich gewissen Problemen an, entscheide dann über das weitere Verfahren und übergebe sie meistens der höheren Instanz. Allerdings steht es mir auch frei, in gesonderten Fällen meine Vollmachten zu nutzen, um selbst Entscheidungen zu treffen. Sie können mich also gerne als eine Art Staatsanwalt und Ordnungshüter bezeichnen. Meine Methoden sind zwar sehr unorthodox, aber das Ergebnis spricht ja für sich.“

„Und gibt es Dämonen tatsächlich?“

„Sie müssten die Antwort kennen, Lorraine. Immerhin haben Sie es doch selbst einmal gesagt: dämonische Präsenzen haben nichts Menschliches an sich. Wir fassen Dämonen als verlorene Seelen auf, die so erfüllt von negativen Gefühlen sind, dass sie ihre Menschlichkeit verlieren und zu bösartigen Präsenzen werden. Und genau diese haben Sie zusammen mit Ed all die Jahre gejagt. Natürlich gibt es auch entsprechende Gegenpole. Die Nekromanten sind das Bindeglied zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Der Ursprung der Nekromantie liegt lange in der Geschichte der Menschheit zurück und ist mit der Zeit verloren gegangen. Inzwischen haben die wenigen noch lebenden Nekromanten nur noch ein Minimum ihres ursprünglichen Potentials. Sally ist die Letzte und mit ihr wird sich alles entscheiden.“

„Welches Ziel verfolgt sie?“

„Sie wird versuchen, ihre andere Hälfte wieder zu befreien. Jene bösartige Hälfte, die Samuel Leens in sich aufgenommen hat. Sie wird die Fragmente zusammenfügen und die Macht besitzen, die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits vollständig aufzulösen. Und als Scyomant wird sie in der Lage sein, das Ende der Welt einzuläuten. In der Bibel wird es als Tag des jüngsten Gerichts beschrieben. Ob die Welt enden wird, hängt von dem Willen eines Kindes ab. Irgendwie steckt schon eine gewisse Ironie drin.“ Der Besuch trank den Tee zu Ende und schob sich dann einen Zuckerwürfel in den Mund. Lorraine war deutlich blasser geworden, als sie das hörte und sie musste erst einmal ihre Medikamente nehmen, um nicht gleich vom Sessel zu fallen. „Und was wirst du tun?“ fragte sie schwach und schluckte zwei Pillen. Ihr Besuch betrachtete sie besorgt und versuchte, es ihr schonend zu erklären. „Was das betrifft, so werde ich das Ergebnis nicht beeinflussen, sondern neutral bleiben. Es liegt nicht in meiner Hand, das zu entscheiden. Aber ich werde zumindest verhindern, dass unerwartete Geschehnisse das Ergebnis beeinflussen, oder sogar gänzlich manipulieren könnten. Fakt ist, dass es ein ziemliches Chaos geben wird, wenn es zum schlimmsten Fall kommen würde. Nicht nur, dass es zu Unruhen, Aufständen und zu Massenpanik kommen könnte, wenn der Worst Case eintrifft. Nein, die Religionsfanatiker werden die Situation zu ihrem Vorteil ausnutzen. Und das allein schon geht mir auf die Nerven. Ich finde es sowieso spaßig, was für eine Auffassung die Menschen von Gott, Teufel und Religion im Allgemeinen haben. Mal ganz ehrlich: welchen Sinn hat es denn, als schlechter Mensch in den Himmel zu kommen, nur weil man gottesfürchtig ist und als aufrichtiger aber nichtchristlicher Mensch in die Hölle zu kommen? Im Grunde ist die Religion nichts weiter als eine veraltete Weltanschauung, in der die Menschen versuchten, das Unerklärliche zu erklären und Ratschläge zur guten Lebensweise zu geben. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass Papier geduldig ist. Wie viele Testamente wurden vernichtet, weil sie nicht mit den Anschauungen der Kirche übereinstimmten? Ich kann nur so viel sagen: Wenn ein aufrichtiger und herzensguter Mensch tatsächlich in die Hölle käme, nur weil er nicht an Gott glaubt, dann würde die Religion ihren Sinn verlieren und es dürfte sie nicht mehr geben. Man sollte sich im Leben darauf konzentrieren, ein guter Mensch zu sein, dann braucht man sich nichts vorzuwerfen.“

„Das glaube ich auch“, pflichtete Lorraine bei und goss sich nun selbst Tee ein. „Ed und ich haben diese Ansichten auch immer vertreten und uns bemüht, gute Menschen zu sein.“

„Ich finde, der größte Fehler aller Religionen war es, auf Papier geschrieben zu werden. Die Menschen versuchen Worte zu finden für das, was über ihren Verstand hinausgeht und finden doch nie die richtigen Worte, weil ihre Sprache nicht ausreicht und der Verstand zu beschränkt ist. Zum Beispiel die Wörter „Unendlichkeit“ und „Ewigkeit“. Allein schon die Bezeichnung „unendliche Tiefe des Meeres“. Das allein ist völliger Schwachsinn. Alles ist endlich, selbst das Universum hat seine Grenzen. Nur die Unendlichkeit ist unendlich, genauso wie allein die Ewigkeit selbst ewig währt. Ach ja, ich muss zugeben, dass man sich wunderbar mit Ihnen unterhalten kann, Lorraine. Ich danke Ihnen vielmals für das wunderbare Gespräch, aber leider muss ich mich auf den Weg machen. Ihr Besuch wird nämlich bald eintreffen und ich habe noch sehr viel zu tun.“ Damit erhob sich der Gast und schließlich auch Lorraine. Sie gaben sich die Hand zum Abschied, doch auf der Türschwelle drehte sich der Besuch noch einmal um und sagte „Sie haben großartige Dinge geleistet, Lorraine. Sie haben sehr viele Menschen gerettet und haben ein gutes Herz. Es ist ein Jammer, dass es so wenige solcher Menschen gibt. Das würde mir auch viel Ärger und vor allem Arbeit ersparen. Und könnten Sie mir noch einen kleinen Gefallen tun? Erzählen Sie dem Jungen nichts von unserem Gespräch. Es wäre sonst zu verfrüht und würde alles nur durcheinander bringen. Einen schönen Tag noch.“
 

Die fast dreistündige Fahrt mit dem Auto hatte Dathan ziemlich erschöpft und er war wirklich froh, als er die herbstliche Stadt Monroe sah. Alles schien malerisch und leicht verträumt zu sein. Die Temperatur war angenehm, die Landschaft traumhaft und trotzdem hatte dieser Ort etwas Besonderes an sich. Als würde er das Geheimnisvolle und Übernatürliche anziehen, das spürte er sofort. Das Warren Museum war ganz unscheinbar. Es sah gar nicht wie ein richtiges Museum aus, sondern mehr wie ein einfaches Wohnhaus. Aber mit so etwas hatte Dathan schon gerechnet, denn er ja bei seiner Anmeldung zur Rundführung erfahren, dass die Warrens sämtliche okkulte Gegenstände, die Bestandteil ihrer Fälle waren, in ihrem Haus aufbewahrten. Man konnte das als eine Art seltsame Sammelleidenschaft bezeichnen. Natürlich war er aus einem völlig anderen Grund hergekommen, aber offen gestanden interessierte es ihn schon, was es für Gegenstände zu besichtigen gab, die alle Bestandteile von paranormalen Ermittlungen waren? Allein schon die berühmte Puppe „Annabelle“ zu sehen, war diesen Besuch schon wert. Dathan, der sich in der Nähe ein Zimmer in einem Motel gemietet hatte, steuerte erst mal dort das Ziel an, lud seine Koffer im Zimmer ab und ging zu einem Subway Laden, um dort zu essen. Bei dieser Gelegenheit rief er auch direkt Jamie und Jeanne an, um ihnen Bescheid zu geben, dass er jetzt angekommen war. „Wow, das ging ja alles ganz flott“ rief sein bester Freund begeistert und schien guter Laune zu sein. „Und? Was machst du als Nächstes?“

„Ich werde gleich im Anschluss zum Warren Museum fahren und vielleicht, mit etwas Glück, Lorraine Warren treffen.“

„Du schaffst das schon Dathan, wir zählen auf dich und wir werden da sein, wenn du uns brauchst.“

„Danke Jamie, Unterstützung kann ich immer gut gebrauchen.“ Er wünschte ihm noch viel Glück und als Dathan zu Ende gegessen hatte, bezahlte er und machte sich auf dem Weg zum Museum. Ihm plagten Zweifel, ob der Plan auch wirklich funktionieren würde und ob Lorraine Warren nicht vielleicht Verdacht schöpfen und ihn an die N.E.S.P.R. verpfeifen würde. Dann würde es ziemlich schwierig werden und wenn sie ihn auch verschleppen würden, sah der Nekromant leider kaum eine Möglichkeit, das Ganze ohne unnötige Opfer zu überstehen. Und davor graute ihm am Meisten, denn er wollte keine Menschen mehr töten. Er hatte Rache an jenen genommen, die ihm das Leben zur Hölle gemacht hatten, jetzt war es genug. Nach einer viertelstündigen Fahrt erreichte er schließlich das Haus, in welchem die Gegenstände gelagert wurden. Als er klopfte, öffnete ihm eine Frau in den mittleren Vierzigern und diese bekam erst einmal einen heftigen Schreck, als sie den Nekromanten sah, der auf sie wie eine Gespenstererscheinung oder ein monströser Verrückter wirken musste. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er schüchtern und nickte ihr zur Begrüßung zu, da sie es offenbar vermeiden wollte, ihn auch nur anzufassen. „Ich hatte angefragt wegen der Museumsführung. Mein Name ist Dathan Lumis Kinsley.“

„Tut mir Leid, aber ich…“

„Bring den jungen Herrn doch rein Judy!“ rief eine alte Frauenstimme aus dem Haus und die Frau drehte sich um und rief „Bist du dir auch sicher, Mutter?“

„Ja natürlich.“ Mit einem deutlichen Widerstreben führte die Frau ihn ins Haus durch den Flur ins Wohnzimmer. Dieses als auch der Rest des Hauses waren sehr altmodisch eingerichtet. Ein typisches Rentnerhaus und in einem Sessel saß eine Frau um die Mitte achtzig oder vielleicht sogar etwas älter. Sie schaute den Besucher durch ihre Brille an und sie wirkte sehr ernst und gefasst. Dann aber setzte sie ein herzliches und freundliches Lächeln auf, erhob sich langsam und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. „Guten Tag Mr. Kinsley, schön Sie zu sehen. Mein Name ist Lorraine Warren, Sie können ruhig Lorraine zu mir sagen.“ Das war sie also, Amerikas berühmteste Dämonologin. Sie sah ganz unscheinbar aus, gar nicht wie eine Koryphäe auf dem Gebiet der Parapsychologie, sondern mehr wie eine freundliche alte Dame aus der Nachbarschaft. Aber vor knapp dreißig oder vierzig Jahren musste das auch gerne Dathan nennen.“

„Ah gut. Und Sie sind also hier, um sich unser kleines Museum anzuschauen, richtig? Dann kommen Sie ruhig mit. Aber vorab möchte ich Ihnen noch zwei gute Ratschläge geben: Fassen Sie keine der Gegenstände an und provozieren Sie nichts. Das kann schnell nach hinten losgehen und böse enden.“ Lorraine ergriff einen Gehstock und ging voran. Dafür, dass sie schon ein solch respektables Alter erreicht hatte, machte sie noch einen sehr rüstigen Eindruck und schien plötzlich um mehr als zehn Jahre verjüngt zu sein. Sie führte Dathan zu einer Tür, an der ein Warnschild hing: „Bitte nicht betreten – Lebensgefahr!“ Aus ihrer Rocktasche holte sie einen Schlüssel hervor und öffnete die Tür. „Warum bewahren Sie die ganzen Sachen bei sich im Hause auf?“ fragte er neugierig, während sie beide ins Museum eintraten. „Ist das nicht gefährlich?“

„Ed war der Meinung, es wäre sicherer, wenn sie in den richtigen Händen wären, als wenn man sie vergraben oder wegwerfen würde. Zerstören wäre vielleicht eine Alternative gewesen, aber wir wollten eben verhindern, dass diese bösen Geister und Energien befreit werden. Bombenblindgänger würde man ja auch nicht einfach so einem unerfahrenen Laien überlassen. Ein Mal in Monat kommt ein Priester vorbei, um diesen Ort zu segnen, aber es ist eben wie in einer Raucherwohnung. Man kann zwar immer wieder reinigen, aber den Geruch kriegt man niemals vollständig raus.“

„Und hier ist auch tatsächlich die berühmte Puppe Annabelle?“

„Natürlich, aber Sie werden enttäuscht sein. Sie sieht gar nicht so unheimlich aus, wie sie in diesem Film dargestellt wird. Im Gegenteil, sie sieht süß und ganz harmlos aus. Aber meiner Meinung ist das noch unheimlicher als eine dieser Horrorpuppen.“ Als Dathan das Museum betrat, wurde er regelrecht erschlagen, so viele verschiedene Dinge gab es in diesen Räumen. Angefangen von einfachen Taschenuhren über Handspiegel, Spieluhren bis hin zu okkulten Gegenständen wie Götzenfiguren, Hexagrammen. Und dann gab es wiederum Dinge, die man gar nicht mit Parapsychologie und Okkultismus in Verbindung bringen würde: einfache Gemälde, ein Tigerfell, Spieluhren und Schlüssel. Natürlich gab es auch zurecht unheimliche Dinge, wie etwa bizarre Masken, Menschenschädel oder Tierknochen. Das alles wirkte wie ein bizarres Antiquariat oder wie ein Trödellladen. Was ihm zudem auffiel, waren die vielen Kruzifixe, die zwischen den Regalen standen und an den Wänden hingen. Als er danach fragte, erklärte Lorraine „Um dieser negativen Energie entgegenzuwirken, gebrauchten Ed und ich immer religiöse Reliquien als positiven Gegenpol.“ Schließlich erreichten sie den Schaukasten, in dem sich die berühmte Annabelle befand. Dathan wurde mulmig zumute, als er sie sah und das nicht, weil sie unheimlich auf ihn wirkte. Nein, es lag daran, weil diese Puppe genauso aussah wie jene, die Sally in seinem Traum auf dem Schoß hatte. Eine Raggedy-Ann Puppe mit unschuldigem Gesicht und roten Haaren. Und hatte Sally nicht ihren Namen genannt? Was hatte sie noch mal zu ihm gesagt? „… ist nicht Annabelle… ihr richtiger…“ Wollte sie vielleicht sagen, dass der Name der Puppe gar nicht Annabelle war? Nein, sie musste etwas anderes gemeint haben. Die Puppe, die sie bei sich hatte, trug andere Kleider. Dathan ging näher an den Schaukasten heran, wo die Warnung „Positively Do Not Open!“ stand. Am Rahmen des Kastens war eine Tarotkarte befestigt, die den Teufel darstellte und über dem Kasten hing ein Kruzifix. Je näher er der Puppe kam, desto mehr war er sich sicher, dass er tatsächlich etwas spürte. Irgendetwas Bösartiges und Ruheloses. Es fühlte sich ein wenig nach der Präsenz an, die er beim Sally-Film verspürt hatte. Und außerdem glaubte er, so etwas wie ein Funkeln in den Augen der Puppe gesehen zu haben. Ihm war, als würde eine Stimme in seinem Kopf ihm etwas zuflüstern. „Eine Frage, Lorraine“, sagte er schließlich, während er seinen Blick nicht von der Puppe löste. „Woher stammt diese Puppe eigentlich?“

„Sie wurde in einem Antiquariat im Jahre 1970 gekauft.“

„Wer war der Vorbesitzer?“

„Das haben wir niemals herausfinden können.“ Die alte Dame wurde ein wenig unruhig, als sie sah, wie nah Dathan eigentlich der Puppe war. Und er stellte auch nicht die üblichen Fragen wie etwa „Hat die Puppe schon mal jemanden umgebracht?“, oder „Ist sie tatsächlich vom Teufel besessen?“ Schließlich legte der Nekromant eine Hand auf die Scheibe und die Dämonologin rief erschrocken „Nicht anfassen!“ Doch er nahm die Hand nicht runter. Nein, denn jetzt spürte er es deutlicher. Hinter dieser finsteren und bösartigen Kraft steckte etwas Vertrautes. Diese Puppe hatte etwas, das ihm bekannt vorkam und zu Lorraines größten Entsetzen öffnete er das Schaufenster und nahm die Puppe heraus. „Sind Sie wahnsinnig? Legen Sie die Puppe zurück!“ Kaum hatte Annabelle die Vitrine verlassen, da wurde mit einem Male ihre ganze Kraft entfesselt. Eine gewaltige Kraft strömte auf Dathan ein und tausende von Bildern durchfluteten seinen Geist. Erinnerungen und Emotionen wurden freigesetzt, zu viel für seinen Verstand. Noch während er Annabelle in der Hand hielt, wurde er ohnmächtig und brach auf dem Boden zusammen. Das Letzte, was er wahrnahm, waren Lorraines Rufe nach ihrer Tochter. Er wachte jedoch schon wieder auf, bevor Judy Warren kam und er bemerkte, dass er weinte. Lorraine war bei ihm und hatte versucht, ihm die Puppe abzunehmen, aber er hatte sie krampfhaft festgehalten, während er ohnmächtig war. „Dathan, was haben Sie sich nur dabei gedacht, Annabelle aus der Vitrine zu entfernen? Ich hatte Sie doch gewarnt, dass…“er benommen und sah die Puppe ergriffen an, während er ihren Kopf streichelte. „Mein Gott… es gibt noch weitere.“ Lorraine erinnerte sich an ihr Gespräch mit ihrem geheimnisvollen Besucher und an seine Worte: Dathan war ein Nekromant und er war es auch, der Sallys Terror beendet hatte. Er war ähnlich wie sie selbst: Er nahm Dinge war, die andere nicht sehen oder spüren konnten. Dathan besaß Fähigkeiten eines Mediums. „Was haben Sie gesehen, Dathan?“

„Viel… zu viel…. Sie war… mein Gott.“ Er konnte nicht weitersprechen. Die Gefühle übermannten ihn einfach und er begann zu schluchzen.



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