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Opfer

von

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Ich spürte eine Träne über mein Gesicht rinnen, welche ich eilig wegwischte. Ich war auf der Suche nach einem ruhigen Ort auf dem Schulhof, um die Pause zu überstehen. Innerhalb der großen Pausen musste man das Gebäude leider verlassen und überall waren Schüler, so dass ich nirgendwo geschützt stehen bleiben konnte um mich zu beruhigen, also lief ich einfach mit gesenktem Kopf die Punkte ab, an denen wenigstens etwas weniger Leute waren und hoffte, dass sie mir nicht ansahen, was sich in meinem Kopf und in meiner Gefühlswelt abspielte.

Selbstverständlich erwartete ich eine Entschuldigung von Irwana. Ich war sozial alles andere als fit, so viel wusste ich dann doch, dass sie, nach so einer fiesen Tat, zu mir kommen und sich entschuldigen sollte. Niemals hätte ich geahnt, dass sich innerhalb von Sekunden meine Meinung umkrempeln könnte, zu etwas völlig Falschem...
 

Als ich die Pause überstanden hatte und ein wenig erleichtert das Gebäude betrat, überlegte ich, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich einfach nicht mehr mit ihr reden? Sie würde sich bestimmt nicht direkt entschuldigen, vielleicht auch gar nicht. Wenn sie mich ansprach, sollte ich trotzig reagieren?

Meine Gedankengänge tätigte ich umsonst. Als ich im Klassenzimmer war, sah mich einer meiner Mitschüler an. Ein so hässliches Gesicht, ein so hässlicher Charakter. Wenn er nicht der zweitschlimmste auf meiner Hassliste war, dann war er die Nummer 1. Seit der Grundschule mit mir in einer Klasse. Sein Name war Lennys.

Ein fieses Grinsen stahl sich in sein Gesicht. Niemand hatte so ein grässliches, fieses Grinsen wie dieser Zwerg.

Während er mich so anstarrte, sprach er das Wort aus, was für eine furchtbar lange Zeit das schlimmste existierende Wort für mich sein sollte. Es war nicht nur ein Wort, es war ein neuer Name. Ein Spitzname.

„Würger“.
 

Ich weiß nicht, ob er, der Namensgeber, vielleicht nicht mitbekommen hatte, dass es Irwanas Angewohnheit gewesen war, einem in den Nacken zu fassen und ich es fast nie getan hatte. Fest stand, dass er und einige andere mich hassten und natürlich ich in dem Moment diejenige war, die etwas Schlimmes getan hatte, nicht sie. Und dass er es so umgewandelt hatte, dass es schlimm wirkte und ich mich dafür schämen musste. Würger. Ein Mensch, der einen anderen würgt. Ihm die Luft raubt. Ihn vielleicht umbringt. Das war nicht, was ich getan hatte, natürlich nicht. Ich hatte meine Hände um ihren Nacken gelegt, natürlich berührten meine Hände dadurch automatisch den Hals, aber ich hatte nicht zugedrückt. Noch dazu war es ein Bruchteil einer Sekunde gewesen. Aber darum ging es nicht. Wann ging es bei so etwas denn schon um die Wahrheit? Sie wollten mich fertig machen, mich quälen. Es wurden viele Gespräche darüber geführt. Es war mir so unendlich peinlich, wenn der Spitzname vor einem der Lehrer fiel. Was sollten sie über mich denken? Aus diesem Grund bat ich in dieser Angelegenheit nicht um Hilfe. Natürlich bekamen sie es mit, doch sie sagten nichts.

Meine Klassenkameraden unterstellten mir, dass ich sie hätte umbringen wollen. Immer wieder sagten sie solche Dinge, lachten über mich. Immer wieder fiel dieser Name. Tage später. Wochen später. Monate später. Und auch dann machte es mir noch genau so viel aus wie am letzten Tag. Ich wartete nur darauf, dass der Name fiel, ununterbrochen und ich wurde nie enttäuscht. Manchmal glimmte kurz ein Hoffnungsschimmer auf, wenn sie es lange Zeit nicht erwähnten – doch es kam immer wieder. Der Name haftete an mir wie ein uraltes Kaugummi, mit seinem Untergrund verschmolzen.

Wenn ich nach Hause ging, war ich erleichtert, da ab da für ein paar Stunden der Name nicht mehr fallen und mich auch sonst keiner von ihnen fertig machen konnte (das dachte ich zumindest...), aber natürlich ging es mir auch dann nicht „gut“. Ich hatte begrenzte Internet Zeit, die ich ständig zu verlängern versuchte. Nichts lenkt einen so gut ab wie das Internet, es funktionierte zwar auch nicht hundert Prozent, aber es war die beste Ablenkung, die ich bekommen konnte. Die restliche Zeit verbrachte ich vorm Fernseher, auch wenn ich Hausaufgaben erledigte. Es galt, jede noch so kurze Sekunde meines Lebens übermäßig zu füllen, es durfte kein Raum, keine Lücke in meinem Kopf leer bleiben! Denn mein Kopf war voll mit diesem Wort, diesem Namen. Überfüllt. Ich musste es verdrängen, doch es ging nicht. Es ist unheimlich anstrengend, sich darauf zu konzentrieren, nicht an etwas zu denken. Beim Fernsehen und überhaupt bei allem driften die Gedanken immer ab, manchmal für Sekunden, manchmal länger und in meinem Kopf tauchte nichts anderes als dieses Wort mehr auf.

Es war eine Qual.

Dieses Empfinden war nichts Neues für mich, im Gegenteil, ich kannte es, so lange ich denken konnte und es war über die Jahre langsam immer schlimmer geworden. Doch das hier, das war unglaublich, es schmerzte mich so sehr, ich wollte nicht mehr daran denken, keine Sekunde mehr, doch es ging einfach nicht anders! Der einzige Ausweg, den ich sah, war, mich umzubringen. Natürlich tat ich dies nicht und ich war auch nicht kurz davor, doch die Gedanken daran waren stets vorhanden und das war schlimm genug. Keinem Menschen sollte es so gehen. Kein Mensch sollte diesen Schmerz erleiden müssen! Ich habe mir geschworen, so oft, so sehr: Ich würde niemals diesen Schmerz vergessen.

So sehr war ich mir sicher, ich hätte alles umsonst erlitten, wenn ich es vergessen würde, es wäre falsch. Und das Wichtigste war, meinen Hass nicht zu vergessen. Denn würde ich meinen Hass vergessen, würde das heißen, dass es okay war, dass sie das mit mir gemacht hatten. Würde ich zu einem normalen Menschen reifen, würde das heißen, dass es nichts ausmachte! Und das tat es! Es machte etwas aus! Diese Menschen hatten mein Leben zerstört, verhindert, dass ich überhaupt jemals anfangen konnte, es wirklich zu leben!
 

Nach einigen Wochen gab es einen Hoffnungsschimmer, wie ich den Spitznamen loswerden konnte: Die Sommerferien näherten sich! Während alle sich freuten, in Urlaub zu fahren, am Strand baden zu gehen und andere Sachen, war meine Freude, dass ich diesen Spitznamen loswerden würde und ganze sechs Wochen niemanden von ,denen' mehr sehen musste!
 

Meine Sommerferien liefen ab wie meine gesamte Freizeit: Allein in meinem Zimmer an meinem Netbook. Das war schon immer, die einzige Sache, die sich über die Jahre geändert hatte, war, der Erwerb meines Laptops – vorher hatte ich eine begrenzte Zeit am PC meiner Eltern gehabt. An meinem Laptop begrenzten sie meiner Internet-Zeit immer noch, wogegen ich mich heftig wehrte... Ihr könnt es euch vorstellen warum, das war das einzig Schöne in meinem Leben.

Hier kommen wir zum nächsten Punkt, der wichtig in meinem Leben war: Ich hatte einen ganz bestimmten Chat entdeckt. Meine Schwestern und ich hatten unsere ersten Mangas gelesen, von denen wir begeistert waren. Die Zeichnerin konnte einfach unendlich schön zeichnen! Daher suchten wir im Internet herum, als meine Schwestern einen PC bekamen – eine ganze Weile bevor ich meinen Laptop hatte – sahen alle möglichen Bilder an und stießen auf ein Fanforum, in dem wir uns anmeldeten. Dort gab es auch einen Chat, in dem sich nie jemand aufhielt. Was ich nicht wusste – es war eine Chatbox von einer anderen Seite. Wenn ich im Forum auf „Chat“ klickte, entstand automatisch ein „Gastchatroom“, der nur solange bestehen blieb, wie jemand drin war.

Da dort niemand war klickte ich auf „andere Chatrooms“ und war damit automatisch in den Chats der ursprünglichen Seite, die nichts mehr mit dem Forum zu tun hatte. Dort betrat ich einen Raum, dessen Name meiner Meinung nach interessant klang – und hier begann meine Liebe zu diesem Chat. Die Leute dort waren so unendlich freundlich und ihnen gefiel mein Name, sie machten Scherze und ich schrieb eine Weile mit ihnen. Diese Freundlichkeit kannte ich so nicht, ich war völlig begeistert und ging die nächsten Tage immer mal wieder am Computer meiner Schwestern, oder dem meiner Eltern, um mit ihnen zu schreiben und bald tat ich es täglich. Immer wenn ich so sie mit ihnen schrieb grinste ich und lachte ab und zu, was so ungewohnt und so schön für mich war! Die Zeit mit diesen Leuten im Chat war die schönste meines Lebens.

Damals war ich ungefähr elf schätze ich. Ich war viele, viele Jahre täglich in diesem Chat anzutreffen. Dort lernte ich später auch meine beste Freundin kennen, ein unglaublich wichtiger Mensch für mich – sie hörte sich meine Probleme und Sorgen an, meine depressiven Gedanken. Wenn ich es in der Schule nicht aushielt und mich nicht zurückziehen konnte, so konnte ich wenigstens mein Handy zücken und ihr eine SMS darüber schreiben, wie schlecht es mir ging.

Das war so wichtig für mich... und endete in einer gewaltigen Handyrechnung jeden Monat. Somit wurde es gleich zu einem weiteren Streitthema mit meinen Eltern. Sie konnten es natürlich nicht verstehen, aber sie gingen gegen alles vor, was mir mein Leben erleichterte und um ehrlich zu sein war dies auch alles, wofür ich lebte.

Nun. Dies waren meine Sommerferien, mit zugezogenen Vorhängen am Laptop mit meiner besten Freundin und einigen anderen chatten und versuchen, nicht an dieses Wort zu denken. Sie würden es doch bestimmt nach den Sommerferien vergessen haben, beziehungsweise als verjährt ansehen. Immerhin hatte ich mich unglaublicherweise tatsächlich noch am selben Tag bei Irwana entschuldigt! Ich mich bei ihr! Ihre Antwort war „Schon okay“ gewesen, von ihr kam nichts in Richtung einer Entschuldigung...
 

Ich irrte mich. Natürlich irrte ich mich. Als würden sie etwas, dass mich so quälte, je vergessen. Bereits am ersten Tag fiel das Wort wieder und es war, als wäre da nichts gewesen, keine sechs Wochen Ruhe, keine sechs Wochen ohne dieses Wort. Es riss mich mit all meinen Hoffnungen knallhart in die grausame Realität zurück.



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