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Opfer

von

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01

Es war ein schöner Frühlingsmorgen an diesem Dienstag, einer von den ersten, wärmeren Tagen, an dem jeder bereits seine Sommerkleidung aus dem Schrank suchte und vom Strand träumte. Mir fiel dies gar nicht auf – ich hatte anderes im Kopf.

Mein Kopf pochte, als ich mich in meinem Bett aufsetzte und stechend schnell wach wurde. Mein erster, leicht panischer Blick fiel auf meine Zimmertür. Niemand zu sehen. Das war ein gutes Zeichen. Mein zweiter Blick fiel auf den Fernseher, an dem gerade irgendeine schlechte Nachtsendung leise vor sich hinlief. Ich schaltete ihn aus, froh, dass anscheinend keiner bemerkt hatte, dass er die ganze Nacht lief.

Es war nicht das erste mal, dass mein Fernseher die ganze Nacht eingeschaltet war. Verständlich, dass meine Eltern sich sehr darüber aufregten und doch hielt ich mich nicht an ihr Verbot.

Ich entsperrte meinen Ipod, um auf die Uhr zu schauen und auch gleich den Wecker auszuschalten. Viertel vor fünf. Das war ein bisschen früher als sonst, aber auch wenn ich ein Langschläfer war, wollte ich mich jetzt nicht wieder hinlegen. Also stand ich auf, zog mich an, putzte mir meine Zähne und machte mir mein Essen für die Schule fertig, wofür ich mir diesmal besonders viel Zeit ließ. Es war immer schön, etwas besonderes in der Schule essen zu können, und nun hatte ich die Zeit. So gab es wenigstens einen Lichtblick in der Schule. Naja, einen Zweiten hatte ich auch noch.

Meine zwei Schwestern kamen spät wie immer. Sie hetzten hin und her, ließen ihre Taschen und ihre Essenstüten überall liegen und waren so schnell wie sie gekommen waren auch wieder verschwunden. Das war mir gleich, solang sie wieder da waren, wenn wir los mussten – erneut fiel mein Blick auf die Uhr, es war Zeit, mir Schuhe und Jacke anzuziehen. Ich traute dem Frühling noch nicht. Vielleicht dachte ich auch einfach nicht darüber nach, wie bereits erwähnt hatte ich andere Dinge im Kopf.

In all dieser Zeit, seit dem Moment, in dem ich aufgewacht war, fühlte ich ein unglaubliches Unbehagen in mir. Mein Magen drehte sich wieder und wieder um, wenn ich an das dachte, was mich erwartete. Das war kein unbekanntes Gefühl für mehr mich. Was mich so Schlimmes erwartete? Nun... nichts anderes als ein weiterer, ganz normaler Schultag.

Ich versuchte ununterbrochen, den Gedanken daran zu unterdrücken. In der Zeit, in der meine zwei Schwestern mich ablenkten, war da nur dieses Gefühl, dass sich nicht unterdrücken ließ, doch als ich im Bus saß, aus dem Fenster starrte und meine Schwestern schwiegen oder sich nur leise über ihre Hausaufgaben unterhielten, fiel es zunehmend schwerer, nicht daran zu denken – daran, dass ich gerade zur Schule fuhr. Zu meiner Schule, mit diesen Leuten... diesen Leuten....

Als ich die Schule schlussendlich vor mir hatte und geradewegs auf den Eingang zusteuerte, überkam mich dieses Gefühl plötzlich wie eine Explosion – kurz blitzte es auf, zog mich runter, ich hatte die Kontrolle verloren, die ich schnell wieder über mich gewann und es schaffte, dieses Gefühl wie sonst immer zu unterdrücken. Doch ich wusste, wenn ich das Klassenzimmer betreten würde, würde es erneut unaufhaltbar aufblitzen. Und von da an immer wieder...

Nun, vielleicht kann man sich ja bisher vorstellen, was hier los ist. Wer, oder eher, was ich bin. Ein „Opfer“ wie man so schön sagt. Auch wenn dieser Begriff inzwischen schon zum Schimpfwort auserkoren wurde... was unglaublich ist, nebenbei bemerkt... stehe ich innerlich dazu, dass ich genau das bin. Ich bin das Opfer von Menschen, die sich einen Spaß daraus machen, andere nieder zu machen. Ich bin nicht das einzige, doch kenne ich niemanden, der es in dieser Hinsicht so schwer hat wie ich.

Mein Name ist Saphira, ich war zu dieser Zeit 15 Jahre alt und ging in die 9. Klasse einer Realschule. Einer von mir so sehr verhassten Realschule. Meine zwei Schwestern – Zwillinge, nebenbei gesagt - Evora und Lyria gingen auf ein Gymnasium, an dem es ihnen um einiges besser erging. Auch nicht gerade gut, würde ich sagen, aber immerhin etwas besser.

Ich betrat das Klassenzimmer, mein Blick fiel auf meine Klassenkameraden, die sich in Grüppchen im Raum verteilt hatten. Automatisch registrierte ich in meinem Kopf diese Stellen, an denen sie standen, als Tabugebiet – ich konnte nahezu eine schwarze Aura um sie herum sehen. An der Stelle, an der die meistverhasstesten Leute standen, war diese tiefschwarz und sehr groß... ,Halte Abstand!', schrie es in meinem Kopf. Ich unterdrückte es, genau so wie mein nun klopfendes Herz und das sich anbahnende unangenehme Gefühl. Setze dich einfach an deinen Platz, Saphira. Dort bist du nicht sicher, nicht geschützt, aber du hast keine Wahl. Und dort kannst du auf beschäftigt tun, vielleicht sinkt dann die Chance, dass sie dich ansprechen... oder... etwas anderes tun.

Diesem Gedanken gehorchte ich und setzte mich auf meinen Stuhl. Ich sagte nicht hallo zu dem Mädchen, dass neben mir saß. Wir saßen nebeneinander, weil sie ebenfalls fertig gemacht wurde, ebenfalls den Titel „Opfer“ innehatte, doch das hieß noch lange nicht, dass ich sie mochte. Ich mochte hier niemanden.

„Hallo Saphiraa!“, begrüßte mich Avesthia gespielt freundlich. Sie war eine von den Mitläuferinnen, so eine, die so tat, als würde sie die ganze Zeit versuchen, sich mit einem anzufreunden. Wenn sie sich dann mal wieder dabei beteiligte, einen fertig zu machen, hieß es „Aber ich hab doch nur...“.

Sie bekam nur einen Blick von mir. Ich hätte wahrscheinlich auch dann nicht hallo gesagt, wenn ich sie gemocht hätte, aufgrund meiner Angst, dass meine Stimme versagte oder irgendwie merkwürdig klang. Reden tat ich nicht viel... Vielleicht kennt ihr es, wenn man eine Weile nicht redet, bekommt man dann das Gefühl, man könne es nicht mehr und es würde sich komisch anhören, wenn man es plötzlich ohne Stimmtest tun würde. Manchmal stimmte dies ja auch.
 

Dennoch, mein Blick war fast schon freundlich. Früher war er wirklich freundlich, ich habe wirklich versucht, mich mit ihnen anzufreunden – ich war es auch jahrelang, mit einigen, besonders mit Avesthia. Wir waren beste Freundinnen, das hatte sie immer wieder gesagt und ich hatte mich gefreut. Ich hatte gedacht, ich könnte doch dazugehören, doch normal sein... Was für ein Irrtum...

In der dritte Klasse hatte ich sie kennen gelernt, da unsere Klasse zu wenig Schüler hatte und so auf die zwei anderen Klassen aufgeteilt wurde. Sie war ein so ruhiges, freundliches Mädchen gewesen. Doch als ich sie kennenlernte und wir uns anfreundeten, bemerkte sie auf einmal jeder, als hätten sie meine Entdeckung gestohlen. Wir freundeten uns an, doch auf einmal mochte sie jeder, jeder wollte ihre Freundin sein und sie konnte niemals nein sagen. Mit mir hatte sie immer schlecht über die anderen geredet und mir gesagt, dass ich ihre einzige beste Freundin wäre, doch insgeheim wusste ich von Anfang an, dass sie dies jedem erzählte. Später sagte sie auch, dass sie einmal über mich gelästert hätte, doch ich wusste längst, dass sie dies schon tausendmal mit jedem getan hatte. Ich kam mir vor wie ein dummes Mädchen, dass von einem Frauenschwarm verarscht und betrogen wurde und genau das wiederum kam mir lächerlich vor, sie war doch kein Kerl. Ich sagte und tat also nie etwas. Wie denn auch – so ein nettes, schüchternes Mädchen wie ich? Außerdem wollte ich sie nicht verlieren, da sie die einzige war, die mich nett behandelte und durch die ich wenigstens einen kleinen Status unter den Mädchen sicher hatte.

Aber dann kam der Tag. Es war in der sechsten oder siebten Klasse, ich erinnere mich nicht genau. Wir waren also sehr lange befreundet. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, wie es begonnen hat... Was war plötzlich passiert? Wir kommunizierten in der Schule ausschließlich über Briefe, in denen wir „stritten“... Ist es ein Streiten, wenn es von einer Person ausgeht? Erzwungen? Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ich glaube, sie wollte einfach nur eine spannende, dramatische Situation. So, wie man sie bei RTL sieht. Sie war ja so enttäuscht von mir und wir konnten keine Freundinnen mehr sein, das schaffte sie einfach nicht, buhuu...

Ich schrieb einen Brief. Einen langen Brief. Einen Brief darüber, wie viel sie mir bedeutete. Dass sie meine beste Freundin war, dass ich sie einfach nicht verlieren wollte! Es war ein langer Brief, auf meinem schönsten, größten Diddlblatt. Und nicht nur das, ich kaufte ihr ein Kuscheltier. Am nächsten Tag fing ich sie vor der Klasse ab, damit keiner aus unserer Klasse dabei war. Ich gab ihr beides und sah sie traurig an. Sie bedankte sich höflichermaßen. Auf den Brief hat sie nie geantwortet und ich hab ihn so bereut. Bevor ich auch nur die Klasse betreten hatte – ich war noch dabei, meine Jacke aufzuhängen – kam ein anderes Mädchen aus der Klasse, hängte ihre Jacke neben mir auf und sagte leise mit einem breiten Grinsen... „Erpresserin“. Dann ging sie wieder in die Klasse.

In dieser Zeit klinkte die Situation in der Klasse völlig aus. Es war, als hätte ich meinen einzigen Schutzwall verloren. Die Leute, die auf mir herum hacken wollten, taten dies viel mehr und ungestörter als sonst und selbst die Mädchen, die nicht zur coolen Clique gehörten, sahen auf mich herab und schlossen mich aus. Ich hatte den „Engel“ der Klasse enttäuscht, das Mädchen, das jeder mochte.

Ich war schon immer ein sehr schwacher Mensch, sei es nun physisch oder psychisch gesehen, ich weiß nicht, in welchem von beiden ich schwächer bin. Ein sehr stilles, unheimlich in sich gekehrtes Mädchen, wahrscheinlich werdet ihr niemals jemanden finden, bei dem dies so ausgeprägt ist wie bei mir. Im Kindergarten gab es ein Mädchen, dass sehr taff war und sie machte mich die ganze Zeit über fertig. Es war nicht schwer, mich fertig zu machen, aber sie tat es wirklich gezielt. Wir waren Kleinkinder, im Kindergarten, aber dennoch – ich denke, das war bereits Mobbing damals.

Nun gut, man kann sich vorstellen, wenn so ein schwacher Mensch von Beginn seines Lebens an so schlechte Erfahrungen macht, kann er sich nicht normal entwickeln. Als ich eingeschult wurde, war meine Psyche wahrscheinlich bereits nicht normal. Doch in der vierten Klasse, als ich mich um mehr und mehr mit Avesthia anfreundete, besserte es sich ein bisschen. Wenn ich mit ihr zusammen war, hatte ich das Gefühl, ich könnte wenigstens so tun, als wäre ich normal... Und als sie mich dann von sich stieß, stand ich allein da, aus meiner Welt gerissen, die ich um sie herum aufgebaut hatte.

Von da an versprach meine Schulzeit schlimmer zu werden, als je zu vor. Von Tag zu Tag verschlimmerte sie sich. Heute sollte eine ganz besonders schlimme Zeit beginnen, doch das wusste ich in diesem Moment noch nicht...
 

Die ersten Schulstunden verliefen normal. Ich wurde mit einem Papierball abgeworfen, was ich bereits gewohnt war, aber ansonsten passierte nichts außergewöhnliches. Meine Klassenkameraden quälten die Lehrer, warfen auch ungeplant Dinge durch die Gegend, waren unglaublich laut und hörten niemals zu.

In der Pause redete ich mit Irwana. Irgendwo musste man ja schließlich seine Zeit vertreiben, richtig? Auch wenn ich sie nicht sehr mochte, sie war noch eins der kleinsten Übel.

Irwana war ein oft fröhliches, blondes Mädchen, meist mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, dass oft durch etwas Fieses dort gelandet war. Einer ihrer Ticks war seit etwa einem Jahr, mir und manchmal auch einigen anderen, ständig mit ihrer kalten Hand ins Genick zu fassen, ein sehr unangenehmes Gefühl.

Ich hatte zu dieser Pause eine Brotbox mit Cornflakes mit nach draußen genommen, aus der ich grade aß, während wir redeten. Als unser Gespräch beendet war, schaute ich in eine andere Richtung. Nach einer Pause fiel ihr Blick kurz auf meine Brotbox, dann wieder in mein Gesicht. „Saphira, dreh dich mal um!“, rief sie mich, mit ihrem üblichem, fiesem Grinsen. Dieser Moment schien wie in Zeitlupe abzulaufen, gleichzeitig kam er mir auch unglaublich schnell vor. Kaum hatte ich mich zu ihr gedreht, schlug sie von unten auf meine Brotbox, die in hohem Bogen nach oben flog und die Cornflakes überall verteilte. Kurz hielt ich geschockt inne, starrte auf das Konfetti aus Cornflakes um mich herum, nun sah uns jeder an. Ich macht einen Schritt auf sie zu, legte meine Hände um ihren Nacken, sah ihr wütend in die Augen, dann sammelte ich meine leere Brotbox auf, drehte mich um und ging. Keine zehn Meter war ich gegangen, ehe mir die Tränen in die Augen schossen... Wie gesagt, ich war nie sehr stark und zu diesem Zeitpunkt bereits sehr psychisch instabil. Doch ich hielt die Tränen so gut es ging ein, immerhin war ich mitten auf dem Schulhof und überall waren Leute.



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