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Federschwingen

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
(oh, die Funktion habe ich bisher gar nicht bemerkt! °w°)

Hallo! Ich freue mich sehr, dass du dich in diese FanFiction hinein verirrt hast. Ich hoffe, dass dir die Geschichte gefällt und du sie annähernd lesenswert findest. :3 Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Jetzt wollte ich alle 30 Tage eines hochladen, aber ... vergessen x.x''
Neue Regelung: zweimal alle zwei Monate xD

Ich habe den Anfang dieses Kapitels geändert, da es im Verlauf eine spontane Planänderung gegeben hat xD Tut mir leid für den Aufwand q.q
... Und aus der "neuen Regelung" ist auch nichts geworden XD Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Puuuh ... Schon wieder fast vergessen, das Kapitel hochzuladen!
Wenn es nicht mehr im Mai hochgeladen wird, verrücke ich das Ziel eben wieder:
Innerhalb eines Jahres 12 Kapitel.
Ende xD

Viel Spaß beim Lesen ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Einmal im Monat hochzuladen, ist echt schwer xD Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, frohe Weihnachten wünsche ich euch und auch gleich einen guten Rutsch ins neue Jahr, weil das hier für 2013 das letzte Kapitel sein wird :)
Viel Spaß dabei! ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wow ... Jetzt ist Federschwingen schon ein ganzes Jahr alt auf AniMexx!!
Wer sich über die nicht-monatliche Aktualisierung wundert: Haha. Time-Management xD
Aber dieses Jahr versuche ich mich zu bessern - versprochen. xD Komplett anzeigen

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Ira blickte in die Runde. Sieben. Wie immer. Es war doch so typisch.

Sein Blick wanderte zur riesigen, goldenen Tür, die mit ihrem massiven Umfang sehr viel Platz einnahm – und genauso viel Platz für Schmuck und Details aller Art bot. Jemand hatte diese Tür sehr kreativ gestaltet. Welch Verschwendung. Außerdem stach sie schwer hervor. Der Rest des Raumes, in dem sich der Tisch mit Platz für acht Personen befand, war in klares, reines Weiß getaucht. Vermutlich war diese Tür schon seit Ewigkeiten auf diese Weise zugerichtet. In den letzten vierhundertachtundzwanzig Jahren hatte sich zumindest nichts daran geändert – immerhin tagte er seither hier.

Die Räumlichkeit hatte eine runde Auskerbung gegenüber der Tür und bildete demnach einen gelungenen Halbkreis.

Der Tisch, der in einem ähnlichen Gold wie die Tür gehalten war, jedoch weniger Verzierungen aufwies, drückte mit seiner eckigen Kante an seine Brust, da er sich mit den Ellbogen gelangweilt auf die Tischplatte stützte - in der wagen Hoffnung, die Tür möge sich endlich öffnen. Dabei brauchte er aber nicht darauf zu achten, wie weit nach links oder rechts er sich bewegte – zwischen den Stühlen war genug Platz für mindestens zwei weitere dieser Sitze. Immerhin mussten ihre mit Federn behafteten Flügel auch unterkommen.

Der Stuhl, der ebenfalls in Gold gehalten, aber rot ausgepolstert war, erwies sich als relativ bequem. Aber nach zwei Stunden des sinnlosen Herumsitzens verwandelte sich auch eine Bequemlichkeit in ein Ärgernis.

„Ira!“, ertönte sein Name von der Seite. Er begutachtete die Sprecherin schweigend. Luxuria hatte ihr blondes, lockiges Haar mit einem blauen Haarband zusammengehalten, auf dem eine Schleife thronte. Ihre kristallklaren, blauen Augen strahlten eine finstere Aura aus, welche durch ihre Verdrossenheit über das unsäglich lange Warten eine Berechtigung erhielt. Allerdings war das Licht, das jeden Winkel ihres Körpers umgab, ein ziemlicher Kontrast dazu. Dieses Licht, das jedem der Sieben Todsünden angehörte. Durch die Stärke des Lichts war die Stärke der Engel zu messen. Und damit wurden sie ausgewählt. So auch er.

Er widmete einen schnellen Seitenblick Superbia – er war der älteste unter ihnen. Zumindest unter den Todsünden. Und er erlaubte sich, trotz seiner achthundert Jahre als Superbia, kein Zuspätkommen – im Gegensatz zur Faulheit persönlich, welche allerdings erst seit vierhundertachtundzwanzig Jahren im Dienst war.

„Hallooo?“, rief Luxuria ungeduldig aus, als er sie ignorierte, „Du bist hier der Zorn! Eigentlich solltest du ausrasten und dieses faule Ding an den Ohren herbeiziehen!“ Ihr Blick fügte ein unhörbares "Vergiss die alten Zeiten einfach und sei unbarmherzig, wie du es in diesem Moment zu jedem anderen wärst!" hinzu. ... Glaubte er zumindest ... Vielleicht waren es auch seine eigenen Gedanken. Er wusste es nicht.

„Ein paar Leute sind dazu wohl zu … bequem“, erklang der spöttelnde Klang von Superbias Stimme, welcher ein keckes Grinsen aufgesetzt hatte. Sein Verhalten und sein Aussehen ließen nicht auf sein wahres Alter schließen. Er musste allerdings schon älter als der Durchschnitt der Engel sein – immerhin war er schon allein mehr als achthundert Jahre auf diesen Posten … Sein Haar gleißte allerdings noch immer in einem durchschnittlichen Hellbraun und seine violetten Augen hatten ein neugieriges Funkeln in sich, welches Ira noch immer verblüffte, denn … trotz seiner Haltung, trotz seiner Worte war er längst der Weiseste und Erfahrendste unter den Todsünden.

„War das Kritik?“, murrte die blonde Frau ungehalten, was einigen der anderen ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Allerdings nicht ihm. Acedia provozierte nur ...

„Noch zehn Minuten“, beharrte er, „Dann werde ich deinen Worten wohl wirklich Folge leisten", gab er sich ihr gegenüber geschlagen. Er musste durchgreifen.

Luxuria lächelte triumphierend. Sie konnte und wollte Acedia einfach nicht leiden. Nicht mehr, seit ...

„Ich würde auch gerne immer zu spät kommen wollen, ohne dass ich bestraft werde!“, beschwerte sich daraufhin Invidia, deren silbernes Haar sich kaum von der Farbe des Raumes abhob – allerdings hatte sie sich eine liebliche, rote Blume ins Haar gesteckt. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verdeutlichte, dass ihre Worte lediglich gespielt waren. Neid war leicht zu spielen. Alle Todsünden waren einfach zu spielen. Immerhin waren diese Gefühle real ... Nur sie mussten über ihnen stehen. Als Vorbilder. Als Inbegriff.

In der Ferne ertönten leise Geräusche von Schritten.

Und kurz darauf wurde die massive Tür einen Spalt breit geöffnet, gerade genug, dass ein Engel mit seinen Flügeln hindurchpasste.

Eine gut gelaunte Acedia steckte den Kopf hinein und lächelte jedem freundlich zu. „Guten Morgen!“, rief sie munter aus, „Habe ich etwas verpasst?“ Sie grinste überlegen und setzte sich gemächlich auf den für sie vorgesehenen Stuhl, „Ich habe nämlich wirklich gut geschlafen!“

Ihr dunkles, rotes Haar war kunstvoll hochgesteckt und wurde durch golden wirkende Federn geschmückt. Eine davon war ihre eigene erste Feder, die sie verloren hatte. Und die andere seine.

Ihre Kleidung war hauptsächlich in Weiß, Schwarz und Gold gehalten. Der Blick aus ihren eisblauen Augen traf den seinen und sie nickte ihm höflich zu. Ihr Platz lag in etwa gegenüber dem seinen.

„Lasst uns anfangen“, knurrte Gula, welcher seit zwei Stunden Schweigen bewahrt hatte und lediglich böse vor sich hin geschaut hatte. Er war nicht sehr gesprächig. Meistens.

„Möchte sie jetzt niemand zusammen schreien, weil sie uns zwei Stunden lang hat warten lassen?“, beschwerte sich Luxuria erneut – sie wirkte ziemlich empört.

„Das darfst du im Nachhinein übernehmen“, bot Ira ihr emotionslos an.

Acedia kicherte vergnügt. Scheinbar hatte sie den Gesichtsausdruck Luxurias bemerkt. Es war eine Mischung aus tiefster Abneigung und größter Freude … Und es wirkte insgesamt … ungewohnt. Vor allem auf ihrem ansonsten schönen Gesicht. Aber das sollte nicht seine Sorge sein.

Als Acedia noch ein anderes Gesprächsthema anschnitt, welches nichts mit der Verhandlung an sich zu tun hatte, schweifte er ab, wobei er sich demjenigen widmete, der die ganze Zeit über noch weniger gesagt hatte als Gula – also überhaupt nichts.

Der Mann, der die meiste Autorität am ganzen Tisch ausstrahlte, der Mann dessen goldgelbe Augen jeden zu durchbohren schienen, und auf dessen gar jungen Zügen mehr Weisheit abzulesen war, als auf den Gesichtern der restlichen sieben Anwesenden.

Sin. Er verdeutlichte die Sünde an sich und stand somit sogar über den Todsünden. Kein normaler Engel gelangte je in die Situation, mit ihm zu kommunizieren. Dies war allein den Todsünden vorbehalten. Zwar übernahm Sin die Entscheidungen, doch niemals verkündete er sie persönlich.

Und doch gab es niemand, der an Sin zweifelte. Jeder wusste, welche Rolle er im Kampf Gottes einnahm – und jedem war bekannt, was für eine Schlüsselrolle er dabei spielte. Doch in den letzten hundert Jahren war sein Schweigen seltsam geworden. Seit hundert Jahren hatte er kein Wort mehr gesprochen. Ira erinnerte sich noch gut an die Stimme des Engels - doch sie war nie wieder ertönt. Vielleicht gab es einfach keine wichtigen Entscheidungen mehr zu treffen. Vielleicht war er mit den Entschlüssen der Todsünden zufrieden. Oder war zu beschäftigt mit Gott.

Er hoffte aufrichtig, dass Gott den Kampf gegen das Böse gewinnen konnte.

„Okay – zurück zum Thema“, gab Avaritia streng bekannt, „Wir müssen in der Zeit sparen! Wir haben schon genug davon verschwendet!“

Ihre Worte lösten bei Luxuria und Invidia ein Kichern aus. Wie geizig sie manchmal mit der Zeit war …

„Um was geht es?“, fragte Acedia erneut.

„Um dich“, antwortete Superbia grinsend, „Schon vergessen? Deine zwanzig Jahre der Einsamkeit sind um.“

Die Rothaarige wirkte ehrlich überrascht. „… Das alles ist schon zwanzig Jahre her?“ Plötzlich grinste sie erfreut. „Da muss ich meinen Assistenten wohl wieder an meine Seite nehmen!“

… Assistenten … Wie lange war es her, dass er selbst als Assistent auf der Erde gewesen war?

Bereits über fünfhundert Jahre. Damals befanden sich unter den Todsünden noch einige andere Mitglieder. Wie die Zeit verflog …

„Heute Abend?“, grollte Gula. Es war kein Vorschlag. Es war ein Befehl. Und niemand missachtete Gulas Befehle. Das lag vermutlich daran, dass dieser Engel sie alle um mindestens drei Köpfe überragte. Sein langes, schwarzes Haar verlief in einen strengen Pferdeschwanz und seine roten Augen wirkten einschüchternd genug dafür. Aber wahrscheinlicher war es wohl, dass er einfach immer Recht hatte mit dem, was er vorschlug. Trotz seiner Schweigsamkeit war er ein kluger Mann. Vielleicht gehörte dieses Schweigen sogar seiner Taktik an.

Zustimmendes Nicken folgte.

Ira wandte sich Sin zu. Der Engel nickte. Und im selben Moment verschwand er.

Konferenz beendet.
 

Nein … Sie … Sie durfte … Sie durfte nicht weinen.

Die Tränen flossen unentwegt.

Sie … Sie wusste es doch, oder? Ihr war es doch von Anfang an klar!

Aber warum tat es dann so weh?

Die Bestätigung …

Einsamkeit … Verlorenheit …

Ihr Herz verknotete sich. Sie glaubte, es würde sich zusammenziehen, bis es nicht mehr vorhanden war. Es schmerzte … Oh, wie dieser Schmerz an ihr zerrte …

Kyrie saß auf einer hüfthohen Steinmauer, welche die Trennung von einem Garten, der höher gelegen war, zur prall gefüllten Straße darstellte. Die Straße grenzte an einen riesigen Parkplatz, der mit Autos voll gestellt war. Die Mauer befand sich am Vorplatz der Universitätsgebäude, unter denen das für Theologie war, welches Kyrie besuchte.

Die Studenten schlurften über diese Gehstraße, Arbeiter hasteten vorbei, jeder ging seinen eigenen Weg. Niemand achtete auf Fremde.

Die Blumen, die auf der grünen Grasfläche thronten, spendeten ihr gerade auch keinen Trost. Wie jeden Tag saß sie hier – allein.

Melinda wohnte in der anderen Richtung. Sie ging nicht mit ihr mit. Sie wartete nicht, bis ihre Eltern kamen, um sie mit dem Wagen nach Hause zu bringen. Sie musste immer alleine warten.

Der Tränenfluss stoppte nicht.

Doch von nun an würde sie nicht einmal mehr in der Universität auf sie warten. Nicht voller Freude – nicht voller Freundschaft … Vielleicht mit einem gemeinen Lachen im Gesicht. Vielleicht rieb sie ihr unter die Nase, wie verdammt dumm sie war.

Ein Zittern durchfuhr ihren Körper, als sie ein lautes Schluchzen unterdrückte.

Und sie … sie hatte sich wirklich eingeredet, sie wären Freunde gewesen … Hatte sich wirklich gesagt, Melinda würde es ernst meinen … und doch wusste sie es besser. Tief in ihrem Inneren … Wie dämlich sie war. Töricht. Naiv.

Und traurig …

Ihr hüftlanges schwarzes Haar fiel ihr ungeordnet über die Schultern. Sie war gerannt. Weggerannt vor ihrer Trauer. Weggerannt vor ihrem Schicksal. Und doch hatte es sie eingeholt.

„Melinda …“, jammerte sie kaum hörbar, „Wieso auch du …?“ Das Schluchzen entfuhr ihr.

Eigentlich war doch alles auf Nathan zurückzuschieben … Nathan, der ihr immer alles zur Hölle machte, Nathan, der sie immer beobachtete … Nathan …

„Hübsche Mädchen sollen nicht weinen.“

Erschrocken sah Kyrie auf. Sie fühlte einen Blick auf sich ruhen. Vor ihr stand ein Junge, vermutlich ebenfalls ein Student. Seine längeren, braunen Haare standen ein wenig chaotisch ab. Die grünen Augen waren auf sie gerichtet. Er schenkte ihr ein kurzes, aufmunterndes Lächeln, wandte sich wieder ab und ging weiter seines Weges, die Tasche lässig über den Rücken geschwungen.

… Hübsche Mädchen sollten nicht weinen …?

Und wo befand sich hier ein hübsches Mädchen?

Das einzige Mädchen, das sie sehen konnte, war ein verdammt dummes, naives Mädchen, das einer niemals begonnenen Freundschaft nachweinte.

Sie wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke über das Gesicht, um die Tränen zu trocknen. Dann ertappte sie sich dabei, wie sie in der Menschenmasse diesen seltsamen Jungen suchte.

Doch er war verschwunden … Und mit ihm die Tränen und ihre unsägliche Trauer …

Sie erhob sich, als sie bemerkte, dass der Wagen ihres Vaters vorfuhr. Ihre Eltern saßen wie gewohnt darin und winkten ihr glücklich und aufmunternd zu.

… Und Melinda hatte wirklich die Frechheit, sie an ihrem zwanzigsten Geburtstag zu verraten … So wenig hatte sie ihr also bedeutet. Schön zu wissen …

Ihr Zimmer war abgedunkelt, die Vorhänge zugezogen und das Licht ausgeschlossen. Den Mondschein hinter dem Fenster konnte sie nur erahnen. Kyrie lag zusammengekauert in ihrem weichen Federbett, welches in der einen Ecke ihres wenig dekorierten Zimmers stand, und fasste die Erlebnisse des Tages gedanklich zusammen.

Ihre Eltern hatten sie nach Hause gebracht. Ihren aufmunternden Worten nach zu urteilen, hatten sie erahnen können, dass sie geweint hatte. Sie hatten sie erfreut darüber unterrichtet, was sie an diesem Nachmittag – ihrem Geburtstag zu ehren – ereilen würde. Ihre Großmutter war kurz daraufhin erschienen und sie hatten zu viert einen wunderschönen Tag. Darauf, dass entgegen jeglicher Erwartung Melinda nicht erschienen war, hatte sie keiner angesprochen. Zum Glück … wobei- … Sie glaubte, dass sie es ausgehalten hätte – ohne erneut Tränen zu unterliegen. Für ihre zwanzig Jahre war sie ziemlich zerbrechlich, wie sie immer wieder feststellen musste …

Aber sie hatte sich ganz der Freude hingegeben, ihre fernab der Hauptstadt lebende Großmutter Mirabelle, deren total ergrautes Haar immer zu einem sauberen Knoten gebunden war, endlich wieder gesehen zu haben. Sie hatte den ganzen Weg auf sich genommen, um den zwanzigsten Geburtstag ihrer Enkelin miterleben zu dürfen …

Kyrie fühlte sich geehrt – und überglücklich …

Allerdings bedauerte sie, dass Mirabelle bereits wieder abreisen hatte müssen. Es war sehr schade … Immerhin sahen sie sich so selten … Und woher wollte sie wissen, ob das nicht das letzte Mal sein hätte können? Immerhin war ihre Oma schon achtzig Jahre alt …

Doch die Zeit, die sie mit ihr verbracht hatte – und mochte sie lediglich so kurz gewesen sein –, war eine positiven Erinnerung wert. Sie hatte sehr viel gelacht, so viel Neues erfahren … Erstaunlich … Eine alte Dame, die so viel erlebte …

Das einzig neue, das sie zu erzählen gehabt hätte, wäre die Sache Melinda gewesen.

Das Bild ihrer ehemaligen besten Freundin erschien vor ihrem geistigen Auge. Das rötliche Haar, die grünen Augen und ihr kokettes Lächeln … Langsam begann das Bild sich zu biegen und zu verändern – das Lächeln verzerrte sich zu einer höhnischen Grimasse und ihr rotes Haar färbte sich tiefschwarz.

Instinktiv griff sie nach ihrem eigenen Haar. „Ich bin Kyrie …“, wisperte sie verzweifelt, „Ich“, betonte sie, „bin Kingston Kyrie.“

Sie setzte sich langsam auf und ihr Blick streifte dabei den Wecker, der die Uhrzeit anzeigte. 22:38 Uhr … Sie sollte schlafen. Morgen war es wieder Zeit für die Universität. Nur weil sie heute Geburtstag hatte, gebot ihr das nicht das Recht, morgen einfach dem Unterricht fern zu bleiben. Immerhin würde sie morgen etwas über die sieben Todsünden erfahren.

Sie legte sich zurück und schloss langsam die Augen … Melinda …
 

Kyrie saß auf einer Bank im Pausenhof, den man extra für die Schüler der drei Universitäten eingerichtet hatte. Das grüne Gras leuchtete ihr entgegen, während sie sich an die große Eiche lehnte, die direkt mit der kreisrunden Bank darum herum verbunden war. Es war seit zwei Monaten, seit dem Beginn ihres Studiums, ihr Treffpunkt mit ihrer besten Freundin Melinda. Mittlerweile hatte sie ihre Angst, Melinda würde sie alleine lassen, überwunden. Sie vertraute ihr. Ihrer besten Freundin. Und darum würde sie auch weiterhin mit einer Engelsgeduld auf das Auftauchen derer warten.

Sie schaute sich noch einmal nach dem dunkelroten Haar der anderen um, doch nirgendwo erschien es – na ja, bei den Menschenmassen, die hier herumschwirrten, verwunderte sie das kaum. Doch sie spürte noch immer den Blick auf sich ruhen. Diese stechend blauen Augen Nathans, die sich ihr schlau und wissend in den Rücken bohrten und ihr das eine ums andere Mal eine Gänsehaut verpassten …

Sie unterdrückte ein Schaudern. Melinda sollte sich bitte beeilen …

Kyrie nahm ihr Handy aus der Umhängetasche, die zu ihrem roten Kleid, das sie heute trug, passte. Sie gab zwar nicht viel auf Mode, aber wie ein Clown wollte sie doch nicht herumlaufen. Die Leute lachten so schon genug über sie … Da wollte sie ihnen nicht noch mehr Gründe verschaffen, als sie ohnehin schon fanden.

Keine neue Nachricht. Hatte ihre Lesung etwa länger gedauert? Das wäre schade gewesen – so lange hatte Kyrie doch auch wieder nicht Pause …

„Lass den Kopf nicht hängen“, ertönte eine muntere Männerstimme aufgeweckt neben ihr.

Automatisch gehorchte sie und begutachtete Nathan, der direkt vor ihr stand.

Wieso war er auf sie zugekommen? Sonst beobachtete er sie auch immer nur von weiter Ferne. Und heute kam er wieder zurück? Sie sollte es wohl einfach als gegeben hinnehmen …

„Ich warte auf Melinda“, teilte sie ihm sachlich mit.

„Verschwende deine Freizeit lieber nicht mit Warten“, riet er und zuckte mit den Schultern, „Ich denke, sie wird heute nicht kommen.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte Kyrie skeptisch nach und runzelte dabei leicht die Stirn. Was hatte er schon wieder mit Melinda zu tun? Wieso kannte er sie überhaupt? Spionierte er ihr wirklich nach …?

„Nur ein Tipp“, tat er seine Worte leichthin ab und machte kehrt, um zu einer Gruppe Stundenten zurückzukehren, die lauernd in ihre Richtung schauten. Als Nathan zu ihnen stieß, schien er etwas Lustiges zu sagen – zumindest lachte plötzlich der ganze Haufen.

Kyrie verschränkte die Arme.

Würde Melinda wirklich nicht kommen?

Ein letzter Blick auf ihr Handy ließ sie zu keinem anderen Schluss gelangen.


 

Kyrie atmete tief durch. Sie hätte auf Nathan hören sollen … Ihre Pause hätte sie auch sinnvoller nutzen können … Sie hätte sie nicht zwangsläufig verschwenden müssen.

Immerhin hatte er sie gewarnt.
 

Die Stunde war um. Der Dozent packte seine Sachen zusammen und rauschte eiligen Schrittes aus dem Vorlesesaal. Ihre Mitstudenten sammelten sich eilig in kleinen Grüppchen und tratschten. Sie waren nicht sehr viele Leute im Theologiestudium, doch sie erwiesen sich als mehr als genug.

Kyrie erhob sich und verstaute ihre Notizen in ihrer Tasche. Danach verließ sie den überfüllten Saal, der mit lauter kleinen Tischchen und Stühlen für die Lernenden ausgestattet war. Dabei fiel ihr auf, dass Nathan gar nicht mehr im Raum war. Na gut – viel mehr bemerkte sie, dass seine Fangemeinde gar nicht dastand und laut lachte.

Sie schlenderte aus dem Raum und durchquerte den Korridor.

Während sie aus der Tür schritt, schweifte ihr Blick durch den Gang.

Und plötzlich fiel ihr Blick auf Nathan – und die Frau in seinen Armen. Ihr schwarzes Haar umrahmte ihr schönes Gesicht – und ihre Lippen rückten immer näher an Nathans heran. Sie küssten sich.

Etwas in Kyrie zerbrach. Plötzlich wurde ihr bewusst, was das bedeutete. Das nette Lächeln Melindas. Ihr lieblicher Wimpernschlag – und ihr Beste-Freundin-Getue. Jede Umarmung, jedes Lachen – alles war nur auf diesen Moment ausgerichtet.

Zerstören … Sie wollte Kyrie zerstören …

Nein … das war wohl bloß der nebensächliche Grund … falls sie das überhaupt bedacht hatte.

In Kyries Augen sammelten sich Tränen an.

Sie starrte auf die so erdunkelten Haare Melindas. Auf ihr Gesicht mit den großen Augen und den zu einem Lächeln verzogenen Lippen. Und dann kreuzten sich ihre Blicke.

Sie glaubte, in einen Spiegel zu sehen.

Plötzlich schmiegte sich Melinda ganz fest an Nathan – und grinste zu ihr herüber. Ihre Lippen formten stumme Worte … „Du hast verloren“, teilte sie ihr leise mit.

Kyrie wandte eilig den Blick ab und machte kehrt.

Sie hatte sie also bloß ausgenutzt? Hatte sich an sie herangeschlichen, um mehr über Nathan zu erfahren. Schon wieder. Schon wieder war es ihr passiert. Dieser Beobachter brachte nur Leid über sie! Immer wieder kam jemand und setzte sich in ihrem Herzen fest – und nach viel zu kurzer Zeit schlugen sie zu und verkrüppelten sie.

Alle … alle liefen sie zu Nathan. Jeder wollte sie nur wegen Nathan.

Sah überhaupt jemand Kyrie? Sah jemand mehr als langes, schwarzes Haar, als dunkelbraune Augen, als liebliche Kleidung und als ein schüchternes Lächeln? Glaubte irgendjemand daran, dass es jemanden hinter dieser Fassade gab – hinter der Fassade, die jeder als Nathans Grund sah, ständig zu ihr herüberzublicken?

Sie stürmte davon – den Gang entlang.

Und die Tränen sickerten unaufhörlich aus ihren Augen.


 

Sie presste ihren Polster an sich und hielt einen erneuten Gefühlsausbruch zurück. Wieso passierte das nur ihr? Niemand, der nicht mit ihr verwandt war, scherte sich um sie oder darum, wie es ihr erging. Keiner …

Immer nur ließ Nathan seinen Blick auf ihr bewenden und schien sämtliche Menschen von ihr fernzuhalten. Und immer wieder durchbrach irgendjemand diesen Wall. Und am Ende stellte sich ständig heraus, dass derjenige es bloß genoss, im Blickfeld Nathans zu stehen.

Er war ein ansehnlicher, junger Mann mit einem kecken Lächeln und immer einem spontanen Spruch auf den Lippen – er war anziehend und es war bestimmt ein schönes Gefühl, sich in seinen Armen zu befinden … Doch ständig von diesen blauen, geheimnisvollen Augen, die so viel mehr zu wissen schienen, angestarrt zu werden …

Kyrie hasste dieses Gefühl.

Doch niemand, dem sie sich entsprechend anvertraute, wollte ihr beistehen und ihr Tipps geben, wie sie das von sich abwandte. Ihre „Freunde“ beglückwünschten sie, dass der allseits beliebte Nathan sich ihr zuwandte und ihre Familie tat es als „Hirngespinst“ ab.

Nathan und sie kannten sich bereits von Klein auf. Früher hatten sie immer miteinander gespielt – damals, als er noch in ihrer Nachbarschaft gelebt hatte. Auch in der Grundschule waren sie Freunde gewesen.

Aber sobald es darum ging, sich in Gruppen der großen Menge anzuschließen, als sie dann in die nächst höhere Schule gelangten, wandte er sich von ihr ab und ließ sie zurück, um sich selbst der Menge hinzugeben. Vielleicht hatte sie diesen plötzlichen Abschied niemals verkraftet … vielleicht hatte sie aber auch damals schon seine Blicke gespürt, die sie wieder und wieder verfolgten … Hatte er sie solange schon damit abgeschreckt? Und für andere Leute zur Zielscheibe gemacht – ob positiv oder negativ, wollte Kyrie gar nicht beurteilen.

Gerade als sie das Kissen wieder etwas locker lassen wollte, ertönte ein lautes Klopfen an der Eingangstür. Vor Schreck presste sie das weiche Material wieder an sich. Wer konnte das sein?

Ihr Blick fiel erneut auf den Wecker. 23:46 Uhr.

Ziemlich spät für Besuch.

Ruhig verharrte sie. Sie wollte herausfinden, ob ihren Eltern das Klopfen aufgefallen war. Sie würden doch nach unten gehen, wenn dem so war …

Erneut hämmerte jemand gegen die Tür.

Wer konnte das sein? War es vielleicht die Polizei? War etwas passiert?

Das Haus schien in der Ruhe zu versinken. Ihre Eltern schliefen wohl bereits … Sie wünschte, sie würde auch schon schlafen und hätte das Klopfen dadurch ignorieren können, aber – nein! Nein … Das war feige. Sie war schon zwanzig Jahre alt. Sie musste ein wenig mehr Standhaftigkeit beweisen …! Nach dem dritten Klopfen erhob sie sich zögerlich.

Wer nur …?

Sie stand auf und zog sich ihren Morgenmantel über, um nicht jedem ihr weißes Seidennachthemd zu zeigen, das bequem weitläufig war und ihrem Körper mehr die Form eines Kartoffelsacks verschaffte, als dem eines Menschen.

Doch sie näherte sich ihrer eigenen Tür und schloss sie leise.

Wenn es jemand Gefährliches war, würde sie einfach die Tür wieder zuschlagen. Wenn es jemand Wichtiges war, würde sie ihre Eltern wecken … und wenn es jemand Unwichtiges, Ungefährliches war, würde sie die Sache mit ihm schon hinkriegen und ihre Eltern konnten beruhigt weiterschlafen.

Festen Schrittes – und trotzdem nahezu geräuschlos – ging sie den Gang entlang, der von ihrem Zimmer nach unten in das Parterre führte. Es war ein Wunder, dass sie dieses Klopfen überhaupt gehört hatte. Als hätte es ihre Gedanken wahrgenommen, ertönte es erneut.

Eine ziemlich geduldige Person …

Es schauderte sie, als sie in der Dunkelheit des schlafenden Hauses herumschlich. Vorsichtig brachte sie die Treppen hinter sich. Je näher sie der unheilvollen Tür kam, desto mehr beschleunigte sich ihr Pulsschlag. Sie dachte, ihr Herz würde ihr bald aus dem Mund springen. Weshalb war sie so nervös? Vielleicht wollte bloß jemand nach einem Busplan fragen, vielleicht …

Sie fasste schnell zum Türgriff, als dieser in erreichbarer Nähe war, um nicht sofort zurückzulaufen. Sie würde warten. Beim nächsten Klopfen würde sie öffnen. Das würde sie … Ganz bestimmt …

Und letztlich ertönte das fünfte Klopfen.

Sofort zog sie die Tür einen Spalt weit auf.

„Guten Abend“, begrüßte sie ihr Gegenüber durch den wenige Finger breiten Spalt.

Doch sie blickte in kein Gesicht.

„Was …“, hauchte sie, als sie die in dunkle Kapuzen gehüllten Gestalten vor sich realisierte. Ihre Augen weiteten sich, als sie bemerkte, dass dort mindestens fünf Personen – nein, es waren sogar acht! – standen. Alle trugen einheitlich dunkle Mäntel, aus einem Stoff gefertigt, der im matten Mondschein einen unheimlichen Glanz verursachte. Sie wirkten so fremdartig in ihren Mänteln und den verhüllten Gesichtern … Aber weshalb verströmten sie dieses unheimliche Gefühl? Diesen Ausdruck der Unmenschlichkeit … Ihre Form deutet eindeutig darauf hin, dass es sich bei ihnen um Menschen handelte, aber …

„Kyrie Kingston?“, ertönte eine klare, männliche Stimme – sie gehörte dem Vermummten, der seinen Platz ganz vorne eingenommen hatte.

Wer war das? Weshalb kannten sie ihren Namen? Ihre Adresse? War das ein dummer Streich?!

Sofort verringerte sie den Abstand der Tür zum Türrahmen und die Hälfte. Ein kleiner Kraftakt - und die Tür würde wieder ins Schloss fallen, ohne von diesen seltsamen Figuren geöffnet werden zu können.

„Ja?“, antwortete sie daraufhin leise. Zögerlich und ein wenig heiser fügte sie hinzu: „Das … bin ich …“

„Gewähre uns Eintritt“, forderte eine andere der Personen – diesmal eine Frau.

„Deine Gebieter wollen das Gesicht ihrer Untergebenen erkennen“, sagte eine andere Frau.

Sie trat einen Schritt zurück. Sie wusste nicht genau, weshalb sie auf diese Leute hörte. Sie hatte Angst. Furchtbare Angst. Wer waren sie? Woher kannten sie sie? Was meinten sie mit Gebieter?

Noch ein Schritt zurück.

Der vorderste Mann schob die Tür sachte auf und trat gebieterisch ein, wobei ihm der Rest herrisch folgte. Zu siebt vor ihr versammelt, wirkten sie wie die Herrscher der Welt. Und benahmen sich auch genauso – sie verströmten plötzlich eine göttliche Aura …

Und der erste begann, seinen Mantel aufzuknöpfen, um ihn daraufhin von sich zu werfen, was er in einer ausschweifenden Geste tat.

Sein silbernes Haar ließ ihn alt wirken, doch sein Gesicht strotzte vor Jugendlichkeit – er wirkte nicht viel älter als sie selbst es war. Seine hellblauen Augen, die an kaltes Eis erinnerten, blickten sie nicht wirklich an – er sah mehr durch sie hindurch.

Doch auch sie hatte nicht viel Zeit, sein schönes Gesicht zu bewundern – die Federschwingen auf seinem Rücken und der goldene Glanz, der plötzlich um ihm herum lag, bannten ihre Aufmerksamkeit. Und sie fühlte sich wie in einem Traum, als alle sieben ihre Mäntel losgeworden waren und alle in vereinter Schönheit vor ihr standen – einer wundersamer als der andere und doch stach keiner unter all diesem zauberhaften Leuchten heraus.

„Kingston Kyrie …“, erklang die Stimme der Frau, die vorhin zuerst gesprochen hatte. Mittlerweile erkannte sie deren Schönheit, die in ihrem kurzen, braunen Haar verborgen lag, welches von schlau dreinblickenden, grünen Augen, die ein wenig zusammengekniffen waren, um ihre Umgebung besser einsehen zu können – doch diese Geste minderte ihre Vollkommenheit keineswegs. Vielmehr unterstrich sie diese …

„Dir sei es von nun an gegönnt, dich deiner wahren Gestalt zu bedienen“, erklangen die Worte von einem blonden Mann, der sie eingehend musterte.

Seine Worte hätten ihr wohl einen Schock verpasst, wäre sie nicht so erstaunt über jenes achte Gesicht gewesen, das sich im Glanz der sieben anderen verlor.

Nathan.

Nathan sah sich umrundet von sieben der mächtigsten Engel, die im Himmel existierten. Es war einfach erstaunlich – diese Macht, die von ihnen ausging. Das Licht, das ihn blendete, trotz dessen, dass sie es eingezogen hatten, sodass es nur einen kleinsten Bruchteil ihres wahren Glanzes preisgab … Ihre weißen Federschwingen, die den immerwährenden Glanz reflektierten und diesen Personen so viel Macht zusprachen …

Er fühlte sich klein und mickrig im Gegensatz zu diesen Ikonen der Stärke und des Lichts …

Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, wodurch er sich beinahe hinter Acedia versteckte.

Er war ihr Assistent. Seit etwa hundert Jahren. Andere würden es wohl als „schicksalhafte Begegnung“ abtun – er nannte es mehr Zwang. Aber es war eine Chance.

Und diese Chance hatte er einfach ergreifen müssen – und er hatte es getan. Er hatte es tatsächlich geschafft, sich einen hohen Platz zu ergattern … Einen Platz unter den Stärksten der Starken.

Und auch gleich dazu den ersten Auftrag - seit damals vierundneunzig und dieses Jahr hundertvierundzwanzig Jahren -, auf einen Menschenengel aufzupassen. Halbengel. Er meinte Halbengel. … Vermutlich hatte er in diesen zwanzig Jahren „Zwangsurlaub vom Himmel“ das Strahlen der Todsünden völlig vergessen! In bloß mickrigen zwanzig Jahren! Das kam dann wohl davon, wenn man sein eigenes Strahlen dermaßen einschloss. Jetzt immer noch. Er vermisste seine Flügel.

Plötzlich fühlte er sich beobachtet – und er achtete auf den Ausgangspunkt dieses Gefühls. Kyrie starrte ihn offensichtlich schockiert an. Überraschte seine Anwesenheit sie etwa mehr als die der Sieben Todsünden?

„Hallo“, formte er stumm mit seinen Lippen – dazu schenkte er ihr ein beruhigendes Lächeln.

Wieso reagierte sie denn nicht auf die Worte Avaritias? Einem wurde nicht jeden Tag mitgeteilt, dass man eine wahre Gestalt hatte. Das war gar nicht Kyries Art, so unhöflich zu sein. Hoffentlich stellten die Sieben jetzt nicht fest, dass er ein schlechter Aufpasser gewesen wäre – in seiner Gegenwart war sie immer äußerst gut erzogen gewesen! Eines Engels würdig eben … Darum hatte er auch kein Problem darin gesehen, sie heute schon einzuweihen.

Kyrie wäre vermutlich sogar schon vor fünf Jahren soweit gewesen, damit umzugehen. Sie war sehr stark – er war stolz auf seinen Schützling.

Aber wieso antwortete sie bloß nicht?

Scheinbar war er nicht der Einzige, der sich diese Frage stellte.

Acedias stechender Blick lagerte nun auf ihm – und langsam folgten ihr auch die der anderen. Unangenehm. Äußerst unangenehm.

„Tritt vor und rede ihr zu“, befahl ihm seine direkte Vorgesetzte und nickte dabei in Kyries Richtung, wobei ihr karminrotes Haar mitschwang und im Glanz ihrer Besitzerin wundersam golden leuchteten … Beeindruckend.

„Äh ja!“, murmelte er schnell, als er sich wieder gefasst hatte. Dann schritt er schnellstmöglich um die Sieben Todsünden herum und kam eigentlich direkt vor Kyrie zum Stillstand.

„Hey!“, begrüßte er sie richtig und grinste sie dabei freundlich an, „Was machst du denn für ein Gesicht? Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Sie reagierte nicht.

Er räusperte sich kurz. „Ähm – vor dir stehen die Sieben Todsünden. Du kennst sie ja bereits. Der Dozent hat ja heute bereits damit begonnen, sie uns vorzustellen – völlig falsch natürlich, aber er war ja auch bloß ein Mensch …“

Was redete er da? Verdammt … Na ja – was sollte er ihr sonst sagen? „Hey! Ich bin es – Nathan! Du kennst mich ja! Haha!“ … Nein, so etwas würde er bestimmt nicht sagen.

„Die … die sieben … Todsünden?“, wiederholte sie nach einigen Momenten kaum hörbar, „Sie … sie sind … hier?“ Sie klang tief geschockt.

Er nickte stolz. „Extra für dich gekommen!“, jubelte er.

Sie riss die Augen weiter auf. „Aber – ich habe doch nichts …“, verteidigte sich Kyrie atemlos.

… Was hatte sie denn? … Ach so.

Für sie waren die sieben Todsünden negativ besetzt. … Wie sollte er ihr das jetzt erklären?

„Was ist das denn für ein Lärm – Kyrie, bist du wach?“, ertönte die Stimme eines Mannes. Um genau zu sein, sprach John Kingston – Kyries Vater. Endlich jemand, der verstand, worum es ging!

„Hey, John!“, rief Nathan ihm zu und winkte, als der Mann in seinem Pyjama auf der Treppe stand – und scheinbar dort festgefroren war. Er regte sich nicht.

Aber sie hätten das doch wissen müssen. Vor zwanzig Jahren waren die Sieben Todsünden bereits vor ihm und seiner Frau erschienen und hatten ihnen mitgeteilt, was ihre Tochter war. Nathan war damals immerhin auch schon dabei gewesen, um ihnen zu versichern, dass er ein willkommener Behüter für das Mädchen war – und er hatte sie glänzend davon überzeugt.

„Magdalena“, erklang Johns Stimme ungewöhnlich angespannt, als er nach seiner Frau verlangte, „Komm her …“

Kyrie wandte sich – scheinbar hoffnungsvoll – um und starrte ihre Eltern an.

Nathan überprüfte die Mimik der Sieben Todsünden. Es wunderte ihn, dass Avathitia die Zeit so schnell verfliegen ließ – eigentlich war sie mit dieser sehr geizig. Sein Blick fiel auf Acedia, die mittlerweile ziemlich gelangweilt wirkte – was die durch das Begutachten ihrer Fingernägel zur Schau stellte. Ihre Augen waren unaufmerksam nach unten gerichtet und ihr Mund zu einer Linie verzogen, die Unzufriedenheit ausdrückte. Aber ihr Haar gleißte noch immer fröhlich im Licht der Mächtigen.

Plötzlich bewegte sich Ira – und er stand direkt neben Nathan. Ein Schaudern überkam ihn. Der Mann war so viel größer und mächtiger als er … Er selbst fühlte sich von seinem Licht erleuchtet … Neben ihm musste er wie ein Kleinkind wirken. Er hatte sich selbst zwar eine Jugendliche Form gegeben, doch diese musste neben diesem Mann völlig verblassen … Und das, obwohl ihre Gesichter wohl kaum fünf Jahre Unterschied aufwiesen …

Doch Kyrie achtete überhaupt nicht auf Ira. Sie ignorierte Ira, um auf ihre Eltern zu warten! Er hatte wohl keine so gute Arbeit geleistet …

Aber was hätte er tun sollen? Sagen „Hey, Kyrie! Falls je sieben Engel bei dir auftauchen – bitte ignoriere sie nicht“. Keineswegs hätte er je so etwas gesagt.

„John Kingston?“, erklang Iras mächtige Stimme.

Nathan fragte sich, weshalb Ira die Initiative ergriff. Er hätte mehr auf Superbia gewettet. Doch der blonde Engel schaute sich nur die Einrichtung an und wirkte dabei sehr amüsiert. Das lag ganz bestimmt an den Bildern von Nathan und Kyrie als Kinder, während sie auf einem Pony ritten … Ganz bestimmt!

Wieso hatte Magdalena die nicht abgehängt …? Wie übel!

„J- ja, Herr?“, erklang die zitternde Stimme von Kyries Vater.

Na endlich! Er erkannte Ira also! … Es konnte zwar auch vielleicht an den vierzehn Flügeln liegen, die in seinem Eingangsbereich gleißendes Licht ausstrahlten, aber …

„So habt ihr den Schwur nicht zu brechen gewagt“, stellte Ira fest und nickte dabei kurz – vermutlich um seinen „Respekt“ auszudrücken. Zwanzig Jahre lang zu schweigen, war doch nichts. Nathan hatte es immerhin auch geschafft - und ihm machten hier die Nebenwirkungen zu schaffen, die solch eine langwierige Trennung vom Himmel hervorbrachte!

„Wir … wir haben nichts gesagt“, schwor John.

„So tretet näher“, gebot Ira regungslos.

Magdalena Kingston war an die Seite ihres Mannes getreten und sah ihn ängstlich an. Sie brauchten doch keine Angst zu haben – lediglich ihren Respekt benötigten sie. Und den hatten sie wohl.

Zusammen schritten sie langsam – Schritt für Schritt – die hölzerne Treppe, die mit einem roten Teppich ausgelegt war, hinunter. Irgendwie erinnerten ihre steifen Bewegungen sie an Verbrecher, die reuevoll dem Galgen näher schritten.

Nathan schenkte Kyrie seine Aufmerksamkeit. Die arme Frau war förmlich erblasst – und sie schaute verwirrt ihren Eltern beim Abstieg zu.

Nach einer kurzen Versicherung, dass Iras Blick nicht auf ihm lastete, schritt er vorsichtig zu Kyrie herüber und legte ihr einen Arm auf die Schulter. Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen und Panik machte sich in ihrem Blick breit.

„Du brauchst ehrlich keine Angst zu haben“, flüsterte er ihr leise ins Ohr, „Sie sind hier, um dir Fähigkeiten zu gewähren, von denen du nur zu träumen wagst … Sie werden schon noch eine Erklärung los – keine Sorge!“ Er lächelte ihr aufmunternd zu.

Sie brachte ein kurzes Nicken zustande – doch ihre dunklen Augen wirkten weiterhin schwer schockiert.

Gut, dass er sich dafür entschieden hatte, seine Flügel nicht zu zeigen. Ansonsten wäre sie vermutlich gleich hier in Ohnmacht gefallen – wenn schon der Anblick Fremder mit Flügel so schwer für sie war …

Hoffentlich akzeptierte sie.

Er wollte sie nicht verlieren. Würde sie sich zum Engel ausrufen lassen, so würde er weiterhin ihr Mentor und Beschützer sein können – wenn sie allerdings ablehnte … Na ja, es wäre eine ewige Trennung.

„Du schaffst das – du bist doch so schon ein Engel“, munterte er sie auf, nahm den Arm von ihr weg und trat wieder zurück.

John und Magdalena hatten es endlich geschafft, die Treppen hinter sich zu bringen, und rannten fluchtartig zu ihrer Tochter, die sie beide in den Arm schlossen.

Nathan verflüchtigte sich in den Hintergrund.

Jetzt kam die Zeit der Todsünden.
 


 

Ira war es nicht gewöhnt, dass jemand, der Flügel tragen konnte, so panische Angst vor ihm hatte. Dafür geschah so etwas wie die Auswahl eines Halbengels viel zu selten. Und diejenigen, die ansonsten mit ihm in Kontakt traten, fürchteten ihn einfach nicht – sie hatten den Respekt, der ihm gebührte, doch niemand war so schockiert von seinem Anblick. Außer einiger Eltern, aber die waren nur ein weiteres Übel auf dieser Welt ...

Aber er würde nur ein paar Worte mit diesen Menschen – und dem Halbengel – wechseln müssen – und dann hatte er hoffentlich wieder für lange Zeit Ruhe vor solch einem Unfug. Die meisten legten ein schnelles "Nein" hin - und Ende.

„Ihr erinnert euch an die Worte, die vor zwanzig Jahren gesprochen worden sind?“, informierte sich Ira mit eisiger Stimme. Er erwartete ein Nicken – und es kam von beiden Elternteilen.

„So sei es der Moment der Aufklärung“, verkündete Ira daraufhin.

Der Halbengel würde sowieso nichts von alledem verstehen. Es war ihm eigentlich egal, was sie davon hielt. Es war ihm auch gleichgültig, wie ihre Entscheidung danach ausfallen würde. Aber sie musste die Geschichte kennen – so verlangte es das Gesetz.

Doch genauso verlangte das Gesetz, dass die Erzählerin die Vorgesetzte des Beschützers war – Acedia in diesem Fall.

Er nickte seiner Kollegin zu. Sie atmete entnervt aus und trat dann gemächlich nach vorne. Sie verzögerte Augenblicke wohl unheimlich gerne. Aber das war eben ihre Eigenart als Faulheit. Nichts weiter.

„Mein Name ist Acedia“, stellte sie sich mit einem koketten Lächeln vor, das ihre schön geformten roten Lippen zur Geltung brachte, „Und ich bin diejenige, die Nathan, deinen Hüter, auf dich angesetzt hat, meine Liebe.“ Sie machte eine kurze Pause, was wohl dazu diente, dass sich jeder ihrer Worte bewusst wurde. „In etwa am Tage deiner Geburt erschienen dir die Todsünden bereits einmal, um deinen Eltern die Botschaft zu überbringen, einen der unseren in den Händen zu halten. So entschieden sich deine Eltern dafür, dir die Wahl zu überlassen.“ Eine Spannungspause folgte. „Kyrie Kingston – willst du ein Engel sein?“
 

Kyrie Kingston … Willst du … ein Engel sein!?

Wieso fragte sie so etwas? Diese wunderschöne Frau, die so grell leuchtete …

Ein Engel? Sie? Wie sollte das möglich sein?!

Kyrie starrte Nathan fragend an, doch dieser würdigte sie keines Blickes mehr, seitdem er von ihrer Seite gewichen war. Was sollte sie nun tun? Sie war eindeutig überfordert! Hilfe!

Und – und ihre Eltern! Sie wussten davon?

Davon, dass sie ein Engel war? War das der Grund, weshalb sie sie so religiös erzogen hatten? War das der Grund, weshalb sie ihr das Theologie-Studium erlaubt hatten? War dem nicht so? Wollten sie, dass sie ein Engel würde?

Hatten andere Eltern das abgelehnt? Weshalb betonte sie es so? So viele Fragen – so wenig Antworten!

Doch sie bekam kein Wort heraus. Der Kloß in ihrem Hals wurde größer anstatt kleiner – sie glaubte, sie müsste ersticken, wenn sie nicht bald wieder ein Wort sagen konnte.

„Ich – …“, begann sie. Sie verstand nicht. Wirklich nicht.

Warum standen mit Flügeln ausgestattete Menschen vor ihr? Warum fühlte sich alles so real an? Das Blenden des Lichts, die Angst – ihr Pulsschlag!

War es ein Traum? War es keiner?

Wollte sie ein Engel sein?

„Kyrie …“, erklang die liebliche Stimme ihrer Mutter, die sie fest in den Arm geschlossen hatte.

Sie schaute der Frau in die besorgt dreinblickenden, braunen Augen, die von einem genauso unsicheren Stirnrunzeln begleitet wurden, welches von kohlschwarzen, kurzen Haaren eingerahmt war – man sah ihrem Gesicht an, dass sie geweckt wurde. „Wir wollten, dass du selbst zu einer Entscheidung fähig wärst. Wir hätten niemals über deinen Kopf hinweg entscheiden können. Fühle dich nicht gezwungen, abzulehnen oder zuzustimmen – wir lieben dich, egal wofür du dich entscheidest.“

„Wir lieben dich, ob du nun ein Mensch bliebest oder aber ein Engel würdest. Du bist unsere Tochter“, stimmte ihr Vater zu und strich ihr sanft durchs Haar.

Engel werden … Was bedeutete das? Ein Engel zu werden! Sie hatte eindeutig keine Informationen! Und was machte Nathan hier? Kannte er diese … diese … Todsünden? Weshalb wurden überhaupt Todsünden ausgeschickt, um ihr so etwas anzubieten?

Sie verstand gar nichts – rein gar nichts!

„Könntest du dich bitte beeilen? Ich bin müde“, erklang die Stimme des hübschen Engels mit dem roten Haar. Im Hintergrund bemerkte sie eine blonde Frau die stumm aufstöhnte, als … Acedia das sagte.

„Was … was heißt es?“, brachte sie heiser heraus, „Ein Engel zu sein?“

Acedia seufzte. „Du wirst Flügel erhalten, einen Zugang in den Himmel, du wirst unter uns stehen und du wirst deine vom Licht gegebenen Kräfte ausbilden können – Ende der Fahnenstange. Es birgt keine Nachteile.“

Ihre Ausdrucksweise irritierte Kyrie. Vorhin hatten sie alle so geheimnisvoll geklungen – und jetzt plötzlich … Normal … War sie wirklich so müde? Sie war auch müde … Alles hing von ihr ab. „Ja“ oder „Nein“.

Für eines musste sie sich jetzt entscheiden … Jetzt gleich …

Ihr Blick fiel wieder auf Nathan.

Er sah sie an. Wieder mit diesem Blick, mit dem er sie seit zwanzig Jahren verfolgte. Beschützerblick … Hatte er aktiv etwas mit diesen Engeln zu tun? War er von ihnen ausgeschickt worden?

Nathan nickte plötzlich. Seine Lippen formten das Wort „Ja“. Ja …? Sie sollte ein Engel werden? Warum wollte er das …? Sie war doch – sie …

„Wir sind die Gesandten Gottes – wir haben noch ein andere Aufgaben, als auf dich hinzuwarten“, meldete sich jemand von hinten. Wieder die Frau mit den braunen Haaren.

… Moment.

Gesandte Gottes?

Erwartungsvoll besah sich Kyrie das Licht der Engel. Gesandte Gottes …

Bedeutete das, dass es wirklich einen Gott gab? Engel. Licht.

Wieso war sie nicht früher darauf gekommen! Gott existierte wahrhaftig – sie hatte den Beweis! Ihre Gebete – sie waren also erhört worden?

Und war das jetzt ihre Belohnung?

Würde sie Gott auf diese Weise treffen können?

„Ich will ein Engel werden“, hörte sie sich selbst euphorisch sagen – in der Begeisterung über Gottes Existenz verlor sie ihre Scheu den Engeln gegenüber.

„Na endlich“, murmelte Acedia leise, sagte dann aber laut: „So sei die Antwort gegeben – die Entscheidung ist gefallen. Kingston Kyrie – du bist vom heutigen Tage an ein vollwertiger Engel.“ Acedias Blick irritierte Kyrie. Was war das, was sich in den Augen dieser Frau widerspiegelte? Unwille …? Nun … sie war müde. Vermutlich war sie einfach froh, es hinter sich zu bringen, nachdem Kyrie es so lange hinausgezögert hatte.

Plötzlich richteten sich sieben Hände auf sie. Aus allen begann Licht zu strahlen. Und sieben Lichtstrahlen fuhren in ihre Herz.

Und im nächsten Moment entsprangen ihrem Rücken zwei mit Federn besetzte Schwingen.

„So sei die Zeremonie beendet“, erklang die ruhige Stimme des Mannes mit den silbernen Haaren, „Gute Nacht.“ Und mit diesen Worten entwickelte sich ein Lichtblitz um ihn herum und er verschwand in gleißendem Licht – und mit ihm fünf andere Todsünden.

Lediglich Acedia blieb. Sie sah Nathan an. „Schön, dich wieder bei mir zu wissen“, sagte die Rothaarige und lächelte den jungen Mann an, „Du weißt, was du zu tun hast?“

Er nickte lediglich. „Danke sehr.“

Sie zuckte mit den Schultern und verschwand ebenfalls in hellem Aufleuchten.

Nachdem die sieben weg waren, wirkte das ganze Haus düster und verlassen und dunkel.

Kyrie war sich der Flügel auf ihrem Rücken nur zu deutlich bewusst – genauso wie dem kleinen Lichtchen, das sie plötzlich absonderte. Und Nathan. Nathan hatte ebenso ein Leuchten um sich herum.

Nach einem betretenen Augenblick des Schweigens ließen ihre Eltern sie los.

„Ich bin so stolz auf dich, Kyrie!“, sagte ihr Vater. Sie sah den Mann an. An seiner Stirn begann bereits, sich eine Glatze auszubilden und das verbliebene, ehemals braune Haar färbte sich schon langsam grau. Doch er war noch immer quietschfidel. Johns blaue Augen waren auf sie gerichtet – Stolz sprach aus ihnen. Und das Grinsen, das sich auf seinen schmalen Lippen breit machte, verkündete riesenhafte Freude.

Irgendwie beschämte sie das.

„Du bist ein Engel, mein Schatz!“, fügte ihre Mutter daraufhin hinzu und drückte sie noch einmal fest an sich, „Ein richtiger Engel, Liebling!“ Die kurzen schwarzen Haare drückten sich weich an Kyries Wange, als sie sich der Umarmung hingab.

Ein Engel.

Sie war ein Engel …

Als ihre Mutter sie losließ, wirkte sie um Jahre älter. Müdigkeit zeichnete sich auf den Gesichtern ihrer Eltern ab. Es war auch schon spät …

„Es tut mir leid, dass ich euch solange wach gehalten habe …“, entschuldigte sich Kyrie bedauernd. Es war nicht ihre Absicht gewesen … Aber sie war so verwirrt – und jetzt umso beruhigter, wieder klar denken zu können.

Der Blick ihres Vaters fiel auf Nathan. „Junge, was hast du noch für Aufgaben zu erledigen? Bleibst du weiterhin auf der Erde?“

„Ja, Nathan!“, stimmte ihre Mutter mit ein, „Bleibst du hier? Es würde für Kyrie bestimmt sehr viel einfacher sein, wenn sie sich mit jemandem austauschen könnte oder was auch immer! Und du gehörst doch schon hierher – Ich habe dich so sehr ins Herz geschlossen, mein Lieber!“

Kyrie sah zu ihm – der junge Mann schien peinlich berührt.

War er wirklich ein Engel?

Sie besah sich ihrer Eltern noch einmal. Nicht der Hauch eines Leuchtens umgab sie. Bei Nathan allerdings … Er strahlte viel mehr Licht aus als sie selbst …

„Seit wann … bist du ein Engel?“, hörte sie sich selbst fragen.

„Lass mich nachrechnen - … vierhundertdreiundachtzig Jahre“, entwichen ihm die Worte wie aus der Pistole geschossen, „Und sechs Monate“, fügte er schmunzelnd hinzu

Sie vernahm das erschrockene Einziehen von Luft, das ihre Mutter verursachte. „So alt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Vierhundert Jahre werde ich es schon noch machen – ich zähl drauf!“

… Wenn er schon so alt war und nicht einmal halb so viel wie die anderen ausgestrahlt hatte … Wie alt waren dann die anderen Engel?! … Das Leuchten musste doch mit dem Alter zu tun haben … oder?

„Aber hey – anstatt mich weiterhin über mein Alter auszulassen, sollte ich unseren Job erledigen. Du musst morgen immerhin wieder zur Universität, oder?“ Er lächelte freundlich. „Komm, gehen wir in den Himmel! Dann sparst du dir den Schlaf! Eine Nacht im Himmel und du wirst dich fühlen wie … wie …“ Er stockte und schien scharf über einen Vergleich nachzudenken. „Na ja, gut jedenfalls!“, gab er seinen Versuch grinsend auf.

Er streckte ihr eine Hand entgegen – beinahe rechnete sie damit, wieder von Strahlen getroffen zu werden. Allerdings war es nur eine Geste der Höflichkeit. „Komm!“

Sie blickte ihre Eltern fragend an. In den Himmel?

Kurz kam ihr ihre Kleidung in den Sinn. Sie trug doch nur ein Nachthemd! Sie konnte doch nicht in Nachthemd und Morgenmantel … Sie errötete leicht, als sie bemerkte, dass sie in dieser Aufmachung vor Nathan stand.

Aber ihre Scham bekämpfte sie gekonnt. Er hatte sie ja mitten in der Nacht mit sieben Fremden überrascht. … Was geschah eigentlich mit ihrem Nachthemd, jetzt wo ihre Flügel sich durchbohrten …? Sie würde das später klären müssen.

„Du magst zwar erst zwanzig sein und damit sehr viel jünger als deine Begleitung – aber weil es Nathan ist, erlaube ich dir, fortzugehen. Aber morgens um sieben Uhr bist du pünktlich wieder da!“, forderte ihr Vater – halb scherzend, halb ernst.

Sie lächelte. „Danke sehr!“

„Aber pass gut auf! Und dass du dich auch gut benimmst, Kyrie! Und sag mir, wie es da oben aussieht!“, meinte ihre Mutter, wandte sich dann zu Nathan, „Und du passt auch auf sie auf – und du bist hier immer willkommen!“

Er grinste. „Danke sehr! Und natürlich achte ich auf sie!“

Sie umarmte ihre Eltern noch einmal und wünschte ihnen eine gute Nacht. Danach schritt sie auf Nathan zu und legte ihre Hand in seine, die weiterhin ausgestreckt war.

Im nächsten Moment besaß er Flügel.

Ihr Herz drohte an, stehen zu bleiben. Nathan hatte Flügel. Er war tatsächlich auch ein Engel. … Wie … wie … unglaublich!

„Also – du konzentrierst dich jetzt auf den Himmel. Zu zweit werden wir es auch ohne Stütze hoch schaffen. Immerhin hast du noch keine Kraft verbraucht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin mittlerweile zwar auch nicht mehr der Stärkste, aber so viel wird schon noch gehen. Also: konzentriere dich. Du willst in den Himmel!“

In den Himmel? Wie konzentrierte sie sich darauf?

Sollte sie beten? Beten … Das war doch immer eine gute Idee, oder? Vor allem im Bezug auf den Himmel … „Gott“, murmelte sie kaum hörbar, „Bitte lass mich in den Himmel aufsteigen …“ Sie dachte an den goldenen Himmel, der immer wieder über der Stadt lag und ein so schönes Gleißen verursachte, während er die Welt erleuchtete. Ihre Augen presste sie merklich zusammen, um ihre Konzentration zu steigern. So hatte sie den Sportunterricht in der Schule auch überlebt.

Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit die Augen wieder öffnete, traute sie diesen kaum:

Um sie herum lagen Felder aus golden beschienen, weißen Wolken, die bauschig wirkten und in ihr den Drang auslösten, sich darauf fallen zu lassen und sich schlafen zu legen. Doch sie war nicht mehr müde – im Gegenteil. Sie fühlte sich hellwach. Voller Kraft.

Plötzlich fiel ihr ein Tor auf, das mitten in die Wolken gestellt war. Es wirkte wie aus Stein – doch wie hätte Stein von Wolken getragen werden sollen? Neben diesem Tor hingen Treppen, die nach oben führten und in bauschigen Wolken endeten. Kyrie schaute über sich – sie war umgeben von Wolken.

War der Himmel etwa wie ein Haus aufgebaut? Ein Stockwerk um das andere – verbunden durch golden bestrahlte Treppen, ausgearbeitet aus Wolken, die einen trugen …

„Ziemlich cool, was?“, fragte Nathan locker, als er ihre Hand losließ, „Willkommen im Himmel, Kyrie!“ Er grinste auf seine typische Art.

Plötzlich realisierte sie, dass dort Nathan vor ihr stand. Nathan. Mit Flügeln. Ein Engel. Sie ebenfalls. Alles war so seltsam – und plötzlich! Zwanzig Jahre lang hatte er sie im Ungewissen gehalten! Und heute? Heute war plötzlich wieder alles gut, obwohl sie in über drei Jahren kaum drei Worte gewechselt hatten? Und das mit Melinda? Glaubte er etwa, sie hätte ihm das alles verziehen, bloß weil er sie zum Engel gemacht hatte?

Scheinbar schien er ihren Stimmungsumschwung zu bemerken. Sein Lächeln verschwand und er runzelte die Stirn. „Du musst ziemlich verwirrt sein …“, stellte er fest, „Und wir blockieren den Eingang. Folge mir.“

Eingang? Sie schaute zurück auf die Stelle, an der sie standen, doch sie erkannte keinen merklichen Unterschied zum Rest des … Bodens.

Er machte auf der Stelle kehrt und ging in Richtung des Tores, das neben der Treppe gebaut war. Dann ließ er sich lässig auf eine Treppe fallen. Kyrie folgte ihm, blieb aber vor ihm stehen. „Du … du musst mir da einiges erklären …“, forderte sie unsicher.

Er lachte kurz auf. „Natürlich! Aber wo soll ich anfangen?“ Er grinste. „Such du aus.“

„Wie wäre es … am Anfang?“, schlug sie zögerlich vor.

Erneut kicherte er kurz. „Wenn das so ist – dann setz dich lieber! Das könnte eine lange Nacht werden.“

Nacht … Schön gesagt. Es war so hell und sie war so unnatürlich aufmerksam und motiviert …

Sie gehorchte ihm und setzte sich auf eine Stufe neben ihm. Sie hoffte, dass sie damit keinem im Weg saß. Als sie sich zurücklehnen wollte, stießen ihre Flügel gegen die Treppe. Sie fühlte, wie sie umknicksten. Sofort richtete sie sich wieder gerade auf und blieb stehen.

Sie wollte sich nicht gleich am ersten Tag rupfen.

Eine Feder blieb auf der Treppe zurück.

„Die erste bringt Glück, sagt man“, erklärte Nathan lächelnd und hob die Feder auf. Er drückte sie Kyrie in die Hand. „Wenn man lange auf sie aufpasst, heißt es, verlängert sie das eigene Leben!“

Perplex starrte sie die Feder, die nunmehr in ihrer Hand lag, an. Sie fühlte sich an wie die eines Vogels. Einfach … wie eine Feder eben …

„Na gut …“, ließ sie sich überreden. Sie würde sie zuhause ablegen. Und gut darauf aufpassen …

„Aber du kannst dich ruhig setzen. Es ist ganz normal, dass sie ausfallen. Aber im Himmel wachsen sie nach – hier regeneriert sich dein ganzer Körper! Wenn du auf der Erde also einen Kratzer abbekommst, kannst du hierher kommen und du wirst geheilt! Hilft auch bei Kopfschmerzen und gegen Müdigkeit, stimmt es?“ Er sah sie wissend an.

Sie nickte lediglich und drehte die Feder gedankenverloren in ihrer Hand.

Das war er also? Der Himmel? Ein Ort des Heilens, des Goldes und der Glückseligkeit? Die Heimat der Engel?

„Es muss ziemlich hart für dich sein, das alles zu verstehen … Ich würde sagen, dass wir uns mit den Trainingseinheiten einfach Zeit lassen. Ich erkläre dir einfach alles nach und nach. Zu vieles auf einmal ist sowieso ungesund für das Gehirn – glaub mir, ich hab das dort unten gelernt.“ Er grinste. „Warum musstest du auch zur Uni gehen?“

„Du bist mir also wirklich gefolgt?“, fragte sie geradeheraus, wobei sie bemerkte, dass sie die Feder ein wenig zusammenpresste. Würde sie jetzt alles über ihn erfahren? Oder zumindest den Großteil?

Er nickte. „So lautet mein Befehl. Ich bin dir von Klein auf gefolgt, hab dich nie alleine gelassen und immer ein Auge auf dich gehabt!“

… Nie alleine gelassen …? Dafür fühlte sie sich aber ziemlich einsam … Aber er hatte recht … Im übertragenen Sinne zumindest.

Sie setzte sich neben ihn. Er war immerzu da. Immer war sein Blick auf sie gerichtet. Er war also ihr Behüter gewesen …

„Ich bin Acedias Assistent, musst du wissen. Und bei deiner Geburt war sie zuständig dafür, einen Assistenten auszuwählen. Es gibt nämlich herausragend wenige Eltern, die ihren Kindern selbst die Wahl überlassen, Menschenengel zu werden oder nicht. Dafür habe ich John und Magdalena immerzu beneidet … Dass sie dir so viel zutrauen …“ Er schüttelte kurz den Kopf. „Respekt, ehrlich …“

„Danke … Ich werde es ihnen ausrichten …“, bot sie ihm an. Ja, es erforderte wohl wirklich Mut, seinem Kind so eine Entscheidung zu überlassen … Wenn das Kind sich dafür entschied, hatte man schließlich ganz andere Verhältnisse, in denen man leben musste. Ein Engel als Kind … „Wie viele gibt es von uns?“

„Zwei“, antwortete er sofort, „Ziemlich selten!“

„… Was?!“, rief sie erschrocken aus, „Wir sind die einzigen beiden Engel!?“

Jetzt war es für ihn an der Zeit, verwirrt dreinzublicken. „… Engel? Nein, nein!“ Er lachte. „Halbengel, meine Liebe! Die Wahl haben lediglich Halbengeleltern! Richtige Engel sind richtige Engel wie … wie Katzen eben Katzen sind oder Vögel Vögel!“ Er wirkte ehrlich amüsiert.

Er sah sie also nicht als richtigen Engel? Nur als … Halbengel.

„Über die genaue Einteilung der Engel werde ich dir demnächst erzählen“, schlug er vor, „Für heute ist es immerhin genug.“

Sie stimmte stumm nickend zu. Sie würde also noch alles erfahren … Über die Hierarchie, das Leben …

„Ich bin also Acedias Assistent und wurde von ihr gesandt, über dich zu wachen. Es gibt immerhin Dämonen, die nichts lieber tun würden, als ein verletzliches Halbengelchen zu bekehren.“

… Dämonen? Es … es existierten …?!

„Sie gibt es wirklich!?“

Er schaute verwundert drein. „Dämonen? Natürlich! Diese dreckigen Biester.“ Er verzog angewidert das Gesicht.

„Sie gelangen auf die Erde?“, fragte sie schockiert nach. Das musste sie unbedingt ihren Eltern erzählen! Sie mussten aufpassen!

„Leider ja – aber sie sind nicht interessiert an reinen Menschen. Also … sind sie schon, aber sie wollen sie nicht wirklich fressen oder so … Warte, lassen wir das Thema lieber sein … Ich rede nicht so gern darüber – zumindest heute nicht. Sagen wir so …“ Er dachte kurz nach. „Zuerst reden wir über meine eigene Person, sodass du keinem Trugschluss mehr unterliegt … Und die richtigen, formellen Sachen erledigen wir an anderen Tagen?“

Er wollte nicht darüber reden? Weshalb? … Na ja, sie würde es wohl oder übel herausfinden … Deshalb bejahte sie. Gut … Mehr über … Nathan herauszufinden, würde auch genügen.

Zwar dachte sie, sie würde ihn zumindest halbwegs kennen, aber … die heutige Nacht hatte ihr schon ziemlich das Gegenteil bewiesen.
 


 

Er hatte Kyrie immer bestmöglich beschützen wollen. Er hatte immer versucht, für sie da zu sein. Er hatte immer geglaubt, alles richtig zu machen – er hatte sie von Menschen ferngehalten. Immerhin hätte jeder dieser Menschen ein verhüllter Dämon sein können. Und ohne seine Flügel hätte er das nicht erkannt, ohne dass es zu spät war. Immerhin konnten Engel ihre magischen Fähigkeiten nur einsetzen, wenn sie eine Verbindung zum Himmel hatten. Hochhäuser, Kirchtürme und Berge waren dafür geeignet. Sie hätten auch einfach ihre Flügel ausfahren können – oder sich ganz in den Himmel begeben können. Doch nichts von dem stand ihm zur Verfügung. Er hatte sich mit seinen falschen Eltern – Chimära und Samuel Princeton - in das Nachbarhaus der Kingstons eingenistet und sie von dort aus beobachtet. Seine Eltern waren zwei freiwillige Engel, deren richtige Namen er nicht einmal kannte. Er hatte nicht sehr viel mit ihnen am Hut gehabt. Sie hatten sich auf Urkunden und in der Öffentlichkeit als seine Eltern ausgegeben – aber es waren einfach irgendwelche Leute. Sein Vater war, glaubte er, sowieso jünger als er selbst …

Aber das machte nichts, solange ihr Aussehen die Menschen täuschte.

Nathan ließ sich in denselben Kindergarten und dieselben Schulen wie Kyrie einschreiben. Er hatte sich mit voller Absicht mit ihr angefreundet, um immer in ihrer Nähe sein zu können. Aber er mochte sie wirklich und hatte die Zeit genossen, die er mit ihr verbracht hatte. Bis nach der Grundschule war alles so schön unkompliziert gewesen … Doch je älter die Menschen wurden, desto seltsamer verhielten sie sich … Und ehe er sich versah, hatte er sich von Kyrie getrennt. Und er hielt sie von den anderen fern. So fern es ging. Er hatte sie alle um sich geschart, um diejenigen herauszusuchen, die würdig waren, mit einem Engel zu verkehren … Doch nie hatte er jemanden gefunden …

Manche Male hatten es einige geschafft, durch die Schutzmauer, die er gedanklich um sie aufgebaut hatte, zu dringen … doch lange hatte das nie angehalten. Und sie wären alle so gewesen.

Viel lieber hätte er all seine Zeit mit jemanden, der so gut und rein wie Kyrie war, verbracht, als mit nur einem dieser verdorbenen Vollmenschen … Er hatte den Einfluss der Dämonen aus nächster Nähe erfahren.

Und er wollte Kyrie um jeden Preis davor schützen.

Aber mit der Zeit … mit der Zeit begann er, seine Rolle zu vergessen. Und er startete damit, ebenfalls das Leben eines Menschen zu führen – seine Situation auszukosten, wo immer es ging. Egal, worum es ging … Er hatte ein Handy bekommen, hatte mit sich mit Mädchen umgeben, hatte sich der süßen Verführung von Wein hingegeben … Doch er hatte dabei niemals dieses eine Mädchen vergessen, wegen dem er hier war.

Kyrie war immer sein oberstes Ziel gewesen. Immer!

Und sie würde es auch hier im Himmel bleiben.

Das war ein Versprechen. Ein Versprechen an sich selbst. Nur Kyrie - niemand sonst!

„Melinda? Sie interessiert dich wohl am meisten …“ Er lächelte entschuldigend. „Nun ja …“ Er machte eine kurze Pause, in welcher er bedauernd seufzte. „Sie war mein Fehler. Es tut mir leid, dass sie dich verletzen hatte können. Sie ist mir abhanden gekommen, als ich damit beschäftigt war, dem Rest dieser Meute meine Anwesenheit als Gefallen zu verkaufen. Sie ist wohl zu dem Schluss gekommen, dass ich sie zu wenig beachten würde.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Ernsthaft – was geht bloß im Kopf dieser Frauen vor? Bloß weil ich dich die ganze Zeit ansehe, muss das wohl nichts heißen, oder? Aber Hauptsache, ich darf den Anblick dieser Hohlnüsse genießen.“ Er verschränkte die Arme. „Die Hohlste davon war wohl eindeutig Melinda. Ich hatte einfach keine andere Möglichkeit, dich frühzeitig von ihr zu befreien … Ich wollte nicht, dass du noch so einen Klotz am Bein hast, nachdem ich weg bin, darum habe ich den Fehler gemacht, sie an deinem Geburtstag von dir wegzubringen … Ich hatte nicht geahnt, wie schmerzhaft das für dich sein würde …“ Er pausierte für einige Momente. In diesem Moment änderte sich der Ausdruck in seinen Augen und für wenige Sekunden war ein seltsames, ungewohntes Stirnrunzeln zu sehen, welches sein Gesicht nachdenklich, beinahe traurig wirken ließ – dann grinste er plötzlich wieder gewohnt keck und streckte ihr die Hand entgegen. „Übrigens – alles Gute zum Geburtstag! Zwanzig Jahre ist schon ein Erfolg! … Auch … wenn ich bereits einen Tag zu spät dran bin.“ Er lachte kurz laut auf. „Na ja – meine Verpeiltheit ist dann wohl ein Zeichen dafür, dass es schon reichlich spät ist?" Er brach kurz ab und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. "Früh." Er grinste. „Du solltest gehen. Du weißt jetzt ja, wie es geht, oder? Einfach die Treppe benutzen, die nach unten führt. Du kommst dann an am verlassenen Hochhaus in eurer Nachbarschaft raus – keiner wird sich fragen, was du dort machst. Versprochen.“ Er lächelte beruhigend. „Und am Nachmittag kommst du dann wieder denselben Weg hoch, okay? Das von gestern konnten wir nur zu zweit bewältigen – versuch es also lieber gar nicht erst.“ Er tätschelte ihre Schulter. „Schon in Ordnung – ich hätte es alleine auch nicht geschafft. Aber … morgen erzähle ich dir dann was über den Himmel, okay? Ach ja – magst du meine Freunde bereits morgen schon kennen lernen? Sie sind echt nett – ich werde ihnen heute wohl zwanzig Jahre der Rückblende vorführen müssen und sie mir.“ Er lachte erfreut. „Hach … Wenn du dann bereit für sie bist, sagst du es mir, okay? Keine Sorge – sie lieben Halbengel.“
 


 

Der Wecker klingelte und die Uhrzeit bedeutete ihr, dass sie aufzustehen hatte. Uni …

Sie erhob sich leichtfüßig aus dem Bett. So gut hatte sie schon lange nicht mehr geschlafen … Hatte sie überhaupt geschlafen? Irgendetwas sagte ihr, dass sie etwas anderes getan hatte, als zu schlafen …

Vielleicht war ihr Traum einfach so lebendig?

Sie gähnte. Sie hatte geträumt, sie wäre ein Engel. Ein Engel! Mit Flügeln! Sie war im Himmel und er leuchtete so golden und schön … Und Nathan war bei ihr. Er war nett zu ihr. Er hatte ihr alles erklärt – er hatte sogar gesagt, dass er die Erde nicht mehr betreten wolle. Zumindest für das nächste Jahrhundert …

Sie schüttelte ihren Kopf. Und ihre Eltern hatten davon gewusst. Sie hätten davon gewusst, dass sie ein Engel wäre!

„Gehirn, du hast zu viel Fantasie“, redete sie sich ein. Dann lächelte sie. Und die Sache mit Melinda hatte er ihr auch erklärt … Wunschträume nannte man so etwas wohl …

Aber sie sollte sich diesen jetzt nicht hingeben, sondern sich für die Uni fertig machen! Immerhin lernten sie heute etwas über die sieben Todsünden … Dabei fiel ihr ein, dass in ihrem Traum diese Sünden Gestalt angenommen hatten – Engel! Scheinbar freute sie sich mehr über dieses Thema, als sie geahnt hätte.

Sie zog ihren Morgenmantel aus – warum auch immer sie mit dem eingeschlafen war – und dann ihr Nachthemd. Plötzlich bemerkte sie, dass sich in beiden Kleidungsstücken Löcher befanden. Stirnrunzelnd begutachtete sie diese – und erkannte, dass beide in etwa an derselben Stelle … Am Rücken …

Dort, wo ihre Flügel wären.

„Moment – es war doch ein Traum, oder?“, fragte sie geschockt. Irgendwie fühlte es sich schon sehr real an. Irgendwie glaubte sie, dass es doch Wirklichkeit war, aber … Das konnte doch nicht sein, oder? Sie konnte nicht wirklich ein Engel sein.

Nicht wahr?

Sie war Kyrie. Kyrie Kingston – Nachwuchstheologin.

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich – fühlte in sich hinein. Ging die letzte Nacht durch – zu dem Moment, als die Todsünden ihr Licht entgegen geschleudert hatten …

Sie schlug die Augen sofort überrascht auf, als sie in ihrem Körper eine Lichtquelle entdeckte. Wieso … Wieso war das dort?! Dieses Licht …

Flügel.

Und ehe sie sich versah, prangerte ein riesiges Flügelpaar aus ihrem Rücken.

Ihre Augen weiteten sich geschockt und sie ließ sich zurück auf ihr Bett fallen, wobei sie die Flügel reflexartig wieder einzog – immerhin wollte sie sie auf der Erde nicht kaputt machen. Im Himmel würden sie zwar regenerieren, aber …

Hastig sah sie sich in ihrem Zimmer um. Neben ihrem einfachen Bett stand ein kleines Holzregal, auf dem einige Souvenirs standen und sich lässig zur Schau stellten. Neben ihrem Bett befand sich ein kleines Nachtkästchen, auf das eine Lampe gestellt worden war. Unweit davon hatte sie einen kleinen Tisch mit zwei rot bepolsterten Stühlen platziert, die sie als Ablegefläche für ihre Bücher benutzte, welche ein wenig unordentlich auf Tisch und Stühlen verteilt waren. Sie hatte gestern nicht viel Zeit zum Aufräumen gehabt.

Am anderen Ende des Raums stand ein Kleiderschrank. Er war geschlossen und doch wusste Kyrie genau, welche Kleider darin hingen. Sie mochte ihre Kleider. Einige davon hatte ihre Mutter extra für sie genäht, da diese ziemlich viel Fantasie hatte, was Kleidungsstücke anging – aus diesem Grund waren ihre Kleider auch etwas ausgefallen, aber das störte sie nicht.

Ihr Zimmer wies zwei Fenster auf und eine Balkontüre verband sie mit der Holzveranda, die um ihr ganzes Haus herumführte und im Sommer sehr mit Blumen ausgeschmückt war, da ihre Mutter neben Hobbyschneiderin auch noch als Hobbygärtnerin tätig war.

Doch was sich letzten Endes in ihr Gedächtnis einbrannte und ihre Augen nicht mehr loslassen wollten, war ein kleines Glaskästchen, dessen Deckel fehlte. In ihm lag eine große, weiße Feder, die an sich viel Glanz aufwies, aber kein Leuchten.

Diese Feder, die sie neben ihr Bett auf den Boden gestellt hatte …

Sie ging auf das Kästchen zu, duckte sich, um den Behälter aufzuheben und stellte sie auf das Holzregal.

„Die soll Glück bringen, ja?“, fragte sie leise und ein wenig skeptisch, doch sie würde sich daran halten. Sie würde darauf aufpassen. Immerhin … Immerhin war das doch der Beweis, oder?

Sie hatte soeben Flügel am Rücken gehabt. Sie hatte diese Nacht im Himmel verbracht.

Und Nathan war ein Engel – genauso wie sie.

Nein … Nein, sie war bloß ein Halbengel.

Was auch immer der Unterschied sein mochte.

Als sie realisierte, dass sie noch nichts Brauchbares getan hatte, kam sie in die Gänge und zog sich blitzschnell ein violettes Kleid an, dazu passende braune Stiefel, die man zuschnüren konnte. Nachdem sie sich auch im Badezimmer fertig gemacht hatte und ihre Haare wieder von gewöhnlicher Ordnung waren, aber langweilig nach unten fielen, machte sie sich auf in die Küche, wo ihre Eltern bereits am Frühstückstisch saßen.

Ihre Tasche mit Schulzeug hatte sie in der Küche stehen lassen, da sie heute sowieso noch dieselben Unterlagen brauchte, wie sie sie gestern benötigt hatte.

„Guten Morgen!“, begrüßte sie ihre Erziehungsberechtigten lächelnd.

„Kyrie!“, rief ihr Vater erfreut aus, „Du bist tatsächlich zurück!“ Er wirkte sehr neugierig. „Und?“

„John!“, mahnte Magdalena ihn, „Lass sie jetzt erstmal essen!“ Dann grinste sie Kyrie wissend an. „Und während des Essens kann sie ja ein wenig darüber berichten?“

Kyrie lächelte. „Gerne!“
 


 

„Danke – bis später!“, verabschiedete sich seine Tochter fröhlich und hastete die lange Asphaltstraße entlang. John hatte sich angewöhnt, solange zu warten, bis er Kyrie nicht mehr sehen konnte, ehe er den Retourgang einlegte und zurückfuhr. Vielleicht brauchte sie ja doch noch etwas von ihnen?

Als er zurück auf der Straße angelangt war, erstarb die Stille zwischen ihnen. „Erstaunlich, nicht wahr?“, flüsterte er ehrfürchtig, „Es war kein Traum damals …“

Magdalena nickte. „Ja … Es ist so wunderbar, dass sie angenommen hat – und doch habe ich Angst, dass sie sich von uns entfernt …“

„Wir haben uns zwanzig Jahre lang Gedanken darüber gemacht, wie sie sich entscheiden würde – und jetzt ist es geschehen. Ich bin ehrlich erleichtert“, gab er zu – wobei er erfreut lächelte, „Sie ist so ein tapferes Mädchen. Und fromm. Hast du ihr Gesicht gesehen, als dieser Engel Gott erwähnt hatte?“ Er lächelte. „Ich bin so stolz.“

„Mir geht es genauso, mein Liebling … Gestern Nacht konnte ich mein Glück einfach nicht in Worte fassen …“ Sie schüttelte abwesend den Kopf.

Sie hatten noch keine Zeit gefunden, darüber zu reden, was sich gestern in ihren Fluren ereignet hatte. Und doch hatte es stattgefunden! Heute Morgen hatte er es für einen Traum gehalten – doch als Magdalena ihm dasselbe verriet, wusste er, dass es keiner sein konnte. Seine Tochter hatte sich entschieden.

Vor zwanzig Jahren, als er noch mehr Haare am Kopf gehabt hatte, war er so froh gewesen, sein erstes Kind in den Armen zu halten. Magdalena und er waren sich sehr schnell über einen Namen einig gewesen: Kyrie. Ein heiliger Name für sein heiliges Kind.

Man bemerkte wohl, dass er Theologie studiert hatte, jeden Sonntag die Kirche aufsuchte und neben seiner Arbeit als Religionslehrer an drei verschiedenen Schulen auch noch Vorleser in der Kirche war. Aber er hatte Gott sein Leben verschrieben – einst wollte er sogar zum Priester werden, doch als er Magdalena kennen lernen durfte, hatte sich das schlagartig geändert. Zwar hätte er durchaus heiraten dürfen, doch das Geld hätte für eine Familie dann wohl nicht gereicht. „Einem Priester reicht die Gnade Gottes“, sagte man im Volksmund – das bedeutete, dass ihr Lohn lachhaft und gerade genug für eine Person war. Darum gab es auch kaum Priesterfamilien.

Als er auf die Autostraße abbog, beschleunigte er seine Geschwindigkeit. Als nächstes würde er Magdalena absetzen. Seine Frau arbeitete in einem Restaurant morgens als Frühstückshilfe und abends als Küchenhilfe, wenn man sie benötigte. Sie war zwar durchaus gebildet und hatte sogar einen höheren Schulabschluss, doch sie sagte, man müsse mit kleinen Gaben zufrieden sein. Ihr war ihre Freizeit sehr wichtig – und die hatte sie, obwohl sie jeden Tag arbeitete.

Er selbst arbeitete fünf Tage die Woche und das immer sechs Stunden lang. Er liebte seine Arbeit – und er liebte sie noch mehr, wenn er abends zur Kirche gehen durfte, um den Menschen Gott näher zu bringen.

Aber jetzt hatte er ja ein kleines Abbild Gottes bei sich zuhause. Seinen Engel – Kyrie. Stolz überkam ihn erneut. Er hatte sich wirklich sehr viele Sorgen gemacht. Ob es die richtige Entscheidung gewesen war, seinem Kind die Entscheidung zu überlassen. Ob er hätte einfach ablehnen sollen, als sie den frischgebackenen Vater einfach so drei Nächte nach Kyries Geburt überrascht hatten … Aber jetzt war er wirklich froh, es nicht getan zu haben. Dieses Lächeln, das sie ihnen geschenkt hatte … So glücklich hatte er sie schon sehr lange nicht mehr gesehen.

„Woran denkst du?“, fragte Magdalena überrascht, „Du musst hier rechts abbiegen!“

Sofort realisierte er die Worte seiner Frau und lenkte das Fahrzeug in die richtige Seite – das war das praktische an kleinen Autos: Sie reagierten schnell, waren Platz sparend und flexibel!

Magdalena kicherte amüsiert. „Oh, du lieber …“

Er lächelte entschuldigend. „Es tut mir Leid, Liebling. Ich versuche, dich heute Mittag nicht zu vergessen.“

Empört schaute seine Frau ihn an, doch dann stellte sie ihr gutmütiges Lächeln wieder zur Schau. „Das wäre sehr freundlich von dir.“

Als er am Parkplatz des Restaurants stehen blieb, küsste er seine Frau noch zum Abschied und sah ihr ebenfalls nach, bis sie verschwand.

Dann machte er sich weiter zur Schule, an der er heute arbeiten durfte.

Es war sehr praktisch – von der Universität, an der er Kyrie ablieferte, konnte er direkt ohne Umwege zum Arbeitsplatz seiner Frau fahren und von dort aus ohne Umschweife zu seinen drei Stellen. Es war wirklich ein ziemlich großer Zufall, dass es sich so ergab – doch er war froh darum. Andere Familien hatten nicht das Glück, sogar früh morgens zusammen fahren zu dürfen. Und das war das besondere an den Kingstons: Sie ließen sich nicht im Stich – komme, was wolle.

Nathan war tatsächlich nicht mehr auf der Universität anzutreffen. Das hatte in ihrem Kurs Gerede gegeben – er war ins Blaue Dorf gezogen. Das war diejenige Stadt, die am weitesten entfernt von der nördlichen Hauptstadt, in der sie sich befanden, war. Es gab kaum Verbindungen zu dieser, da es eine Hafenstadt war. Niemand war interessiert an so weit entfernt liegenden Häfen. Die konnte man nur mit dem Schiff erreichen – und das dauerte wochenlang.

Eine sehr gute Wahl, wenn man bedachte, dass er seine Ruhe vor dieser „Meute“ haben wollte. Sie lächelte. Aber sie würde ihn weiterhin besuchen dürfen! Immerhin war sie ein Engel.

Heute hatte sie kaum Acht geben können, was der Dozent ihr weismachen wollte – ihre Gedanken schwebten in den Wolken – im Himmel. Dieser goldene Glanz … Es war so viel schöner, als jedes andere Naturelement auf der Erde. Und dazu noch die Todsünden …

Sie schüttelte kurz den Kopf, als sie realisierte, wie abgelenkt sie war. Sie schaute die Straße entlang. Wann würden ihre Eltern kommen?

Die Menschen eilten an ihr vorbei – so wie immer. Mit total gestressten Gesichtern, in ihren Anzügen, mit ihren Aktenkoffern und mit den Gedanken wahrscheinlich schon längst am Arbeitsplatz … Und sie alle ahnten nicht, dass es Engel gab! So wie sie … Nun – sie hatte es eigentlich schon immer gehofft … Dass irgendein Engel kommen würde, um ihr zu helfen …

Und tatsächlich – all die Jahre war einer direkt vor ihrer Nase! Und sie war zu blind, es zu bemerken.

Plötzlich bewegte sich jemand ausgesprochen lässig an ihr vorbei. Er ging so ausgesprochen langsam, dass er in dieser hetzenden Menge tatsächlich auffiel … Nein, er ging nicht nur langsam … Sogar … widerwillig?

Als Kyrie diese braunen Haare genauer betrachtete, glaubte sie, den jungen Mann von gestern darin zu erkennen. Sie musste sich noch ordentlich bei ihm bedanken! Er hatte sie immerhin … aufgemuntert …?

Sofort rutschte sie von der Mauer und eilte ihm nach – na ja, weit musste sie nicht gehen, da er sich wirklich nicht weit bewegte.

Sie tippte ihm kurz schüchtern auf die Schulter.

Er drehte sich mit unbeeindrucktem Gesicht zu ihr um. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. „Oh, das Fräulein von gestern! Du hast ja wirklich auf mich gehört!“ Er grinste. „Seit ich vorbeigekommen bin, scheinst du glücklicher zu sein!“

Verlegen schaute sie kurz zu Boden, dann lächelte sie ihn aber offen an. „Vielen Dank für deine Worte gestern! Es hat mir … geholfen.“

„Du hast heute auch eine ziemlich andere Ausstrahlung. Deine Aura gestern war mehr als schwarz.“ Er grinste breit.

Aura? War er etwa auch …?

„Aura?“, fasste sie ihre Frage kurz.

Er drehte sich zu ihr um und zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Das hat keine Bedeutung.“

Sie betrachtete den jungen Mann eingehend. Sein dunkelbraunes Haar, das ihm zu allen Seiten chaotisch abstand – Kyrie glaubte, darin eine seltsame Art von Ordnung zu finden, war an seiner Stirn, wo sich seine Stirnfransen unregelmäßig lang auswuchsen, zurückgekämmt, sodass nur noch vereinzelt Strähnen in seinem Gesicht hingen und seine leicht gebräunte Haut betonten. Seine dunklen, grünen Augen funkelten neugierig und amüsiert und sein schmaler Mund war zu einem erfreuten Lächeln verzogen.

Er trug ein loses, weißes Hemd und darüber eine schwarze Jacke, die zu seiner schwarzen Hose passte.

Insgesamt wirkte er ein wenig unordentlich, allerdings durchaus nett.

„Aber gern geschehen“, holte er das vorherige Thema wieder auf, „Die Wahrheit muss ausgesprochen werden.“

„Es hat mich wirklich aufgemuntert“, versicherte sie ihm, sprang dann aber im Thema von sich ab, „Sprichst du öfters einfach so Leute auf der Straße an?“

Er blinzelte sie überrascht an. „Nun ja – nein. Eigentlich nicht.“ Dann grinste er wieder. „Aber ich sehe eigentlich kaum so deprimierte Leute hier herumlungern.“ Er schaute sich so um, als sei er noch nie zuvor da gewesen, „Gewöhnlicherweise hasten die so herum und es gibt kaum jemand, der so still herumsitzt.“

Sie lächelte.

„Hast du eigentlich einen Namen?“, fragte er danach – verzog dann aber das Gesicht, als ob ihm aufgefallen wäre, dass es eine ziemlich dumme Frage war.

Sie konnte sich ein kurzes Kichern nicht verkneifen. „Mein Name ist Kyrie“, stellte sie sich vor, „Hast du denn auch einen Namen?“

„Du kannst mich Ray nennen“, bot er ihr an – dann schaute er sich um. „Wartest du auf irgendwen?“

Sie nickte. „Auf meine Eltern. Sie sollten jeden Moment vorbeikommen.“

Er seufzte übertrieben laut auf. „Wie gut du es hast!“, rief er aus, „Ein Elterntaxi!“ Er grinste. „Ich kann zu Fuß heim laufen.“

„Das ist aber schön“, stimmte sie zu, „Du kannst bestimmt ewig lang ausschlafen.“

Er lachte. „Schön wäre es, nicht wahr?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin Frühaufsteher.“

„Ich auch, ob du es glaubst oder nicht – je schneller aus dem Haus raus, desto schöner der Tag.“ Er grinste keck - Kyrie bezweifelte diese Aussage irgendwie.

„Fast“, erwiderte sie lächelnd. Na gut – fast war eigentlich schon fast gelogen. Sie war sehr gerne zuhause. Dort hatte sie es immerhin ruhig …

„Bist du öfter hier?“, fragte er dann unvermittelt.

„Immer außer an Sonn- und Feiertagen“, antwortete sie ihm wahrheitsgetreu, „Du?“

„Ebenso! Da sieht man die fleißige Jugend.“ Er grinste.

Ein Hupen ertönte und Kyrie fiel das parkende Auto ihres Vaters auf. Das war ihr jetzt auch noch nie passiert! Das Engeldasein änderte sie wohl grundlegend. Sie lächelte kurz über ihren Gedanken.

Ray folgte ihrem Blick. „Deine Eltern?“

Sie nickte. „Danke noch einmal“, wiederholte sie, verbeugte sich kurz und fügte hinzu: „Vielleicht treffen wir uns mal wieder?“, schlug sie unverbindlich vor und umrundete ihn. Sie lief schnurgerade auf den Wagen zu und stieg ein, wobei sie ihm noch einmal kurz und schüchtern zuwinkte.

Kyrie schloss die Tür.

„Wer war das denn?“, wollte ihre Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen wissen, als Kyrie sich angeschnallt hatte.

„Ray, sagt er“, erklärte sie ihrer Mutter lächelnd. So ein netter Junge.

Damit legte ihr Vater den Retourgang ein und düste los.
 


 

Ray stand noch eine ganze Weile lang an die Mauer gelehnt da, obwohl das kleine Automobil bereits nicht mehr sichtbar war. Was für ein nettes Mädchen – irgendwie chaotisch und verwirrt und doch ziemlich höflich. Eine lustige Mischung. Er lachte kurz in sich hinein.

Dass sie sich tatsächlich bei ihm bedankt hatte, bloß weil er gestern ein paar unbedachte Worte ausgesprochen hatte … Zufall.

Eigentlich war es wirklich nicht seine Art, Fremde einfach anzusprechen. Aber sie wirkte einfach so verzweifelt und traurig … Sie hatte eindeutig Abwechslung gebraucht.

Kyrie also.

Ein reichlich ungewöhnlicher Name, wenn man ihn fragte. Wieso nannte jemand sein Kind so? Er würde es nicht verstehen. Kylie war doch eine gängige Alternative … Immerhin kannte er mindestens eine Kylie – die war zwar ein wenig durchgeknallt, aber … Zumindest hatte ihr Name nichts mit so etwas abstraktem wie Gott zu tun.

Er wollte am liebsten gar nicht weiter an diesen „Gott“ denken.

Ray zog sein schwarzes Handy hervor und schaute auf die Uhr. Immernoch ziemlich früh. Vermutlich saß sein Vater gerade am Mittagstisch – also eindeutig ein schlechter Zeitpunkt, um nach Hause zu kommen. In fünfzehn Minuten würde er schon weg sein. Und diese Frau hoffentlich kurz darauf genauso.

Er bemerkte, dass seine Miene sich beim Gedanken an diese Frau verfinsterte.

Warum hatte er seine Mutter gegen so jemand eingetauscht? Immerhin hätte seine Mutter ihn wirklich gebraucht und …

Er wollte gar nicht an das Weitere denken. Der Schmerz in seinem Arm sprach schon genug für das, was sein Vater hätte verhindern können – aber durfte diesem Mann nicht allein die Schuld dafür geben. Er war sich sicher, dass sein Vater dafür Groll gegen sich selbst hegte – aber er ließ es sich nicht anmerken. Und er wollte den Mann nicht weiter belasten. Immerhin tat er, was er konnte, um sie zu unterstützen, aber …

Das war keine Geschichte, über die er am Heimweg nachdenken sollte.

Er öffnete das Nachrichtenmenü und tippte fröhlich eine Kurznachricht, die danach vier seiner neuen Freunde erhalten würden. Es waren diejenigen, die mit ihm Politik studierten. Sie wollten sich heute ins Kino pflanzen und den neuen Horrorthriller ansehen, der anscheinend so gut sein sollte. Da würden sie die neu erlernten Bewertungsmethoden wohl gleich ausprobieren können.

Er stieß sich von der Mauer ab und schlich langsam und völlig ohne Eile davon. Immerhin gab es keinen Ort, an den es ihn drängte, zurückzukehren – außer natürlich das Rote Dorf. Aber seine Chancen, jemals wieder dort hinzukommen, waren denkbar gering, nachdem seine Schwester mit ihrem Vater telefoniert hatte und dieser sich einverstanden erklärt hatte, Ray zu behalten … Mindestens solange, bis er das Studium abgeschlossen hatte. Das Studium … Schön wäre es.

Falls er Kyrie noch einmal begegnen sollte, musste er sie unbedingt fragen, was sie studierte. Ihrem Namen entsprechend, hatte er bereits einen leisen Verdacht – mal sehen, ob er sich bestätigte.

Sein Telefon vibrierte und er las die Antwort. Zufrieden klappte er das Handy zu. Sie waren einverstanden – also war der heutige Abend auch schon wieder gerettet.

Und gemächlich machte er sich die Straße entlang.
 


 

„Hmmm“, machte Nathan übertrieben lang gezogen, „Fast.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kenne deine schulischen Leistungen, Kyrie! Stell dich nicht so an!“ Er grinste. „Na los!“

„Dem siebten Rang entsprechen all jene Engel, die einen höheren Rang haben, aber namenlos sind – man erkennt sie an …“ Kyrie stockte kurz und schloss die Augen. Das machte sie immer, wenn sie sich konzentrierte. „An ihrer Aura, die so gelb ist wie die Sonne und einen noch gerade so blendet, wenn man gut hinschaut. Zur leichteren Identifikation tragen sie an ihren Kleidungsstücken, die sie im Dienst anziehen, Sonnen mit einem Strahl, der ausschaut wie – ähm …“ Sie pausierte erneut. „Ein Koordinatensystem?“ Es war mehr eine Frage als eine Antwort – dieser Umstand brachte Nathan zum Lachen. Vor allem da sie … Koordinatensystem sagte. Auf die Idee wäre hier oben wohl noch keiner gekommen! Den Ausdruck würde er unbedingt benutzen müssen!

Er nickte nach seinem kurzen Lachanfall, um sie zum Weitersprechen zu ermutigen.

„Zum Rang sechs gehören die Sieben Gaben des Heiligen Geistes, die Sieben Sakramente und die Sieben Tage der Woche“, wiederholte Kyrie, „Wobei jeder dieser Sieben die Sieben Wortlaute in sich trägt. Allerdings geben sie an nichts außer ihrem Strahlen zu erkennen, wer sie sind, da sie erwarten, dass man sie kennt … Ihr Strahlen erleuchtet, wenn sie zusammen in einem Raum sind, das Gebäude, in dem sie sich befinden, vollständig, wenn sie … ihre Macht ausfahren?“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Scheinbar hielt sie das für irre.

Sie öffnete ein Auge und sah ihn fragend an. „Wieso erwarten sie, dass man sie kennt? Wo leben sie überhaupt?“

Er erhob seinen Zeigefinger und schüttelte heftig den Kopf. „Nein, nein, nein, meine Liebe!“ Er grinste. „Erst die Antwort, dann die Fragen.“

Sie seufzte kurz und warf ihm einen leicht zerstörenden Blick zu. „Im Rang fünf stehen die Fünf Bücher, die in sehr großer Entfernung zu fünft stehen können und man sieht sie dennoch …“ Sie schaute in eine Richtung. „Aber ich erkenne sie trotzdem nicht …“

„Dazu später“, versprach Nathan ihr schnell, ehe sie erneut eine Verschnaufpause erhielt. Es war vielleicht viel zu merken, doch andere hatten noch mehr zu tun! Andere hatten immerhin kein Theologiestudium begonnen – Nathan fand es erstaunlich von ihr, dass sie so gute Voraussicht bewiesen hatte. Doch bei ihrem frommen Vater?

„Danach kommen die zehn Gebote, die ihre komplette Umgebung bis hin zu einer gewissen Entfernung völlig ausleuchten können …“, sagte sie, „Und danach schließlich Rang drei – die Sieben Todsünden. Man kann sie ausmachen, wenn sie einzeln in großer Entfernung stehen und darum findet man auch immer einen Weg zu ihnen …“ Sie machte eine kurze Pause, in der sie ziemlich nachdenklich wirkte, sprach dann aber weiter, ohne dass er sie an seine Anwesenheit erinnern musste, „Und dann noch Rang zwei – Sin. Man sagt, er würde den ganzen Himmel ausleuchten können, obwohl er bloß alleine ist, verblasst allerdings Angesicht von Rang eins – Gott persönlich. Er selbst ist das Licht.“

Nathan klatschte in die Hände. „Sehr gut, Mädchen! Du lernst verdammt schnell!“

Sie grinste glücklich, tat es dann aber mit einer bescheidenen Geste ab. „Ach was … Es waren immerhin vier Anläufe. Und es interessiert mich ja wirklich …“

Er grinste. „Du kannst so niedlich sein, wenn du möchtest.“

Plötzlich errötete Kyrie und warf ihm unpassend dazu einen sehr bösen Blick zu – das breitete sein Grinsen natürlich aus.

„Also“, wechselte sie dann sogleich das Thema, „Wie ist das mit dem Leuchten jetzt gemeint? Du weichst meiner Frage aus! Das mit Gott und Sin sehe ich ja ein – aber der Rest?“

„Dir ist bestimmt aufgefallen, dass gestern Nacht Acedia und ihre Leute viel heller geleuchtet haben als ich – dann, als ich meine Flügel ausgeweitet habe.“

„Ich habe angenommen, dass das an ihrem Alter liegt …“, gab sie dann zu.

An ihrem Alter? Ziemlich schräge Annahme. Immerhin hatte es schon ranghohe Engel gegeben – und gab es immer noch -, die jünger als Nathan waren. Es war allerdings schön zu hören, dass sie bereits nach Erklärungen gesucht hatte – so erwartete er es von Kyrie.

„Nein, das liegt ganz allein an der Stärke, mit der man geboren wird. Je stärker das Licht um einen herum ist, desto weiter kommt man im Leben. Nur die Stärkten können Todsünden werden. Jemand, der also geboren wird, kann lediglich hoffen, in Rang drei geboren zu werden. Rang eins und Rang zwei sind unantastbar.“

„Aber wenn sie so stark sind, wie du sagst, dann müsste ich sie doch auch durch Sins Strahlen hindurch erkennen können, oder?“, kombinierte sie unsicher.

Er nickte. „Ja, schon. Und du könntest es auch, wenn sie das wollten. Doch anderen mitzuteilen, wie stark man wirklich ist, erfordert auch Stärke. Man kann das Licht zurückdrehen – wie so eine Leselampe, falls du die auch mal benutzt hast. Oh – oder den Handydisplay. Du kannst da die Helligkeit ja einstellen und …“

„… Du willst mir also erzählen, dass Engel wie Handydisplays sind?“, fasste Kyrie amüsiert zusammen.

Er konnte ein lautes Auflachen nicht vermeiden. „Stimmt, das war blöd von mir“, gab er zu, fuhr dann aber mit dem Unterricht fort, „Aber es stimmt, was ich gesagt habe. Sie können es zurückdrehen. Und darum … sind sie auch nur Fußballstadionersatz anstatt Leuchtfeuer.“

Kyrie behielt ihr Lächeln bei.

Es war schön, sie wieder so zu sehen. Früher war sie auch oft so glücklich und hatte viel gelächelt und gelacht – sie hatten zusammen sehr viel Spaß gehabt. Jedes ihrer neuen Lächeln fügte seinem Gewissen eine neue Last an. Immerhin war es seine Schuld, dass sie so unglücklich war … Er hatte es bemerkt, aber nichts dagegen getan … Er schuldete ihr etwas. Und er wollte aus tiefstem Herzen, dass die Jahre, die sie von nun an erlebte, glücklicher sein würden als alle zuvor – und dass dieses Glück alles andere wett machte.

Das war sein Ziel.

„Wenn wir dann deine Kräfte trainieren, wirst du der Lektion auch noch begegnen. Aber behalte das Display im Kopf – es könnte dir helfen!“, versprach er ihr, „Sonst noch Fragen?“

„Wozu gibt es diese Ränge? Dass die Todsünden eine Besonderheit haben, habe ich mittlerweile auch schon festgestellt, aber … sieben Ränge?“, stellte sie ihre nächste Frage.

„Ob du es glaubst oder nicht – Engel sind auch nur Menschen. Nur halt … schöner, älter und mit Flügeln und eigentlich besser und … ach egal. Jedenfalls haben sie auch Problemchen. Und mit Problemchen kommt man zum Rang sechs. Das wäre dann wohl so die Art von Polizei, Feuerwehr oder Notarzt.“

„Du nennst ein Feuer, einen Mord oder einen Unfall mit schweren Verletzungen … ‚Problemchen’?“, informierte sich Kyrie verwirrt.

Er zog eine Grimasse. „Na ja, das mit Mord und Unfall mit schweren Verletzungen ist im Himmel ja nicht möglich und … Feuer genau genommen auch nicht, also …“ Er schwieg. Wie sollte er es ihr erklären? Beispiel. Einfach ein Beispiel. „Wenn zwei Engel einen Schwertkampf üben und sich dabei …“

„Schwertkampf?“, unterbrach Kyrie ihn neugierig, „Wie Schwertkampf?"

Nathan grinste. Wie neugierig sie doch sein konnte!

Sie wirkte irritiert. "Nathan?"

„Wir haben Schwerter!“, verkündete er ihr, „Du auch! Und wenn ihr Menschen-..." Er unterbrach sich selbst. Sie war kein Menschenengel, sie war ein Halbengel! "Halbengel … so viele Nachteile habt – Sogar ihr könnt Schwerter rufen. Die haben nämlich nichts mit Stärke zu tun."

„Und – und was macht man mit Schwertern?“, wollte sie zaghaft von ihm wissen.

„Na ja … Kämpfen?“, vermutete er, war die richtige Antwort. Was sollte man sonst mit Schwertern tun? Was stellte sie sich unter dieser Frage vor? Natürlich hatten sie noch weitere Effekte, aber ... nachdem er nicht vor hatte, ihr den Schwertkampf nahe zu bringen, brauchte sie nichts darüber zu erfahren.

„Und – gegen wen?“, bohrte sie nach.

„Gegen Dämonen“, erklärte er in einem Ton, der das Thema für beendet erklärte. Hoffte er.

Aber sie sagte nichts mehr, also nahm er an, dass sie verstanden hatte, auch wenn sie etwas enttäuscht wirkte.

Doch von diesen Ungeheuern wollte er ihr wirklich nicht zu früh zu viel berichten. Es würde kommen – ganz sicher. Aber … erst später. Nach und nach. Erst sollte sie sich die gemütlichen Seiten des Himmels gönnen und dann konnte sie zu den Pflichten wechseln. Mit Halbengeln hatte man Verständnis – nun, eigentlich erwartete man nichts von ihnen. Die meisten ignorierten Halbengel freundlich, einige hassten Halbengel und wieder andere mochten sie.

Nathan hatte einen ganzen Freundeskreis, der sich auf Halbengel Kyrie freute. Er hatte ihnen wirklich die ganze Nacht lang zwanzig Jahre Erdenleben schildern dürfen – dabei hatte er natürlich einige zu private Angelegenheiten ausgelassen, aber den Großteil war es losgeworden. Aber Liana war immerhin dabei – und wo Liana war, blieb kein Auge trocken und kein Geheimnis gewahrt. Dieser Engel mit dem unschuldigen Lächeln hatte es einfach drauf. Hoffentlich verschonte sie Kyrie ein wenig.

Er sah sich um. Heute befanden sie sich nicht mehr am Eingang sondern waren tiefer eingedrungen. Er hatte mit Kyrie das Fliegen ein wenig geübt, ehe sie hierher gekommen waren – das bedeutete, dass Kyrie auch wieder den Weg zurückfliegen musste. Er würde sie natürlich begleiten, falls sie einen Aussetzer hatte. Das hatten Kinder manchmal, aber es war nicht allzu schlimm und nicht allzu lang andauernd.

Sie würde es auch ohne ihn überstehen, aber … er war immerhin ihr Schutzengel. Er musste ihr doch helfen.

„Was machst du als Acedias Assistent eigentlich so? Hast du viel zu tun? Triffst du sie oft?“, wollte Kyrie von ihm wissen, nachdem sie eine Zeit lang geschwiegen hatten.

Er sah sich die golden leuchtenden Wolken an, die unter ihm waren, als sie beide dort mitten am „Fußboden“ saßen und ihr Lerngespräch führten. Hin und wieder rauschte ein Engel an ihnen vorbei, doch diese ignorierten sie einfach. Genau genommen war es der Erde sehr ähnlich. Das zu hören, würde einigen wohl im Hals stecken bleiben. Er grinste.

„Ich lege ihre Termine fest und schaue zu, dass sie sich früh genug auf den Weg macht, um halbwegs pünktlich zu kommen – ich will gar nicht wissen, was diese Frau die letzten zwanzig Jahre für Schabernack mit ihren Kollegen getrieben hat!“, erklärte er ihr.

Es war auch wirklich das meiste, was er getan hatte. Natürlich hatte er ihr auch beim Aufräumen geholfen oder einige Fälle bearbeitet, aber allzuviel hatte sie ihm am Anfang nicht zugetraut. Also hatte er ihren persönlichen ... Assistenten gespielt: Acedia – Ihr müsst dorthin. Acedia – Ihr werdet da drüben gebraucht … Den ganzen Tag lang hatte er ihr berichten müssen, wo man sie brauchte. Und da sagte noch einer, keiner hätte Zugang zu den Todsünden. Scheinbar kamen solche Fälle doch öfter vor, als man dachte. Solche … ganz schlimmen Fälle … Oder die Leute übertrieben einfach.

Apropos – er hatte die Geschichte noch gar nicht fertig erzählt!

„… Schwerter. Wenn die beiden mit ihren Schwertern kämpfen. Da war ich, oder?“, nahm er das vorherige Thema wieder auf.

Kyrie sah ihn total konfus an. „Wovon … Ah – ja. Ja, du warst bei den beiden Schwertkämpfern.“

„Na gut, wenn sie sich also bei so einem Übungskampf verletzen, dann kommen sie zu den Sieben Gaben des Heiligen Geistes. Sie wollen Rat, brauchen dafür Weisheit und Einsicht und … wie sie alle heißen mögen. Natürlich heilt die Verletzung sofort – aber es geht ums Prinzip. Es könnte immerhin wirklich einmal ein Kampf auf der Erde stattfinden … und dort dürften sie sich auch nicht leichtsinnig verletzen.“ Er verschränkte die Arme. Ob sie das einsah? "Sie halten den Engeln also Moralpredigten." Dass so ein Schwertkampf auch zu den Todsünden führen konnte, verschwieg er ihr.

Kyrie nickte. „Ich verstehe. Das macht Sinn … Was macht man mit den Wochentagen?“

„Die Wochentage sind dafür zuständig, dass auch jeder seine Frömmigkeit behält – darum arbeiten sie mit Frömmigkeit auch ziemlich zusammen, weshalb sie als schwächstes Glied angesehen wird“, erklärte er ihr, „Sie wollen, dass man daran denkt, dass man ohne den ersten Rang gar nicht erst das Licht erblicken könnte … Darum wird man auch für gottloses Getue hierher geschliffen.“

„Oh, ich hätte gedacht, dass das mehr etwas für die Todsünden wäre …“, gab Kyrie zu bedenken.

„Ich hab die Regeln nicht gemacht – die waren schon da, als ich gekommen bin.“

Kyrie lächelte. „Ich verstehe …“

„Ich gebe dir einfach einen Tipp: Lerne die Namen und schau zu, nirgendwo hinein gezogen zu werden, wo du einen Rang aussuchen müsstest. Die Assistenten haben es nicht gerne, unnötig angesprochen zu werden, wenn man sich im zuständigen Rang irrt … Sie haben Besseres zu tun."

Und es war wirklich so. Wenn sich zwei Engel prügelten und sie kamen zu ihm, weil der eine glaubte, so sehr im Recht zu sein, dass er mit den Todsünden sprechen dürfte … Solche Idioten.

„Aber das mit den Todsünden dürfte dich trotzdem interessieren, aber … nein.“, überlegte er laut, unterbrach sich dann aber selbst, als Kyrie aufgehorcht hatte, „Ich denke, es war genug für heute.“

Kyrie zog einen Schmollmund. „Was wolltest du sagen?“

Wie ein kleines Mädchen!

„Nur, was geschehen müsste, um zu einer Todsünde geschickt zu werden – aber das betrifft dich bestimmt nicht.“

„Du hast aber gesagt … dass das öfter vorkommt, als man glaubt …“, widersprach sie ihm.

Diese … diese Zuhörerin! Hatte sie denn nichts Besseres zu tun?!

„Wenn du fleißig den Weg zurück fliegst – es ist immerhin schon Abend -, dann sag ich es dir, ehe du den Himmel wieder verlässt!“, lockte er sie.

Sie lächelte daraufhin. „Na gut!“

Und ehe er sich versah, erhob sie sich in die Lüfte und flog los.

Dieses Mädchen …

Zwei … es gab tatsächlich nur zwei von ihnen? Eine wahre Rarität … Aber scheinbar hatten die menschlichen Eltern wirklich genug Sorgen um ihren Ruf. Sie wollten einfach ein normales Leben führen … mit einem normalen Kind.

„Es werden jährlich in etwa hundert Halbengel geboren – also recht wenig im Vergleich. Alle drei Tage vielleicht eines …“, hatte Nathan ihr erklärt, „Und davon lehnen mindestens achtundneunzig im Vorhinein bereits ab. Sie wollen ihr Leben behalten – und das ihres Kindes vor der Unnatürlichkeit behüten. Ihnen wird die Erinnerung an Engel, die sie besucht haben, vollends gestrichen.“ Das war auch der Grund, weshalb man die Todsünden schickte. Man brauchte sieben starke Engel, um das Gedächtnis eines Menschen zu löschen. Die anderen Ränge wären dafür noch zu schwach – und Sin und Gott zu wertvoll. Also mussten die Todsünden diese Fragen stellen und auf die Antworten warten – gelöscht wurden auch die Erinnerungen jener, die dieser Frage als Erwachsener - wie sie - ausgesetzt waren.

„Von den restlichen fünf sind die Eltern zuversichtlich, dass ihre Kinder sich selbst entscheiden können – und mittlerweile bist du die Einzige seit Jahren, die wieder zugesagt hat. Das verlangt Mut – Respekt.", hatte er kommentiert.

Sie hatte sich über das Kompliment gefreut.

"Aber in den letzten Jahrhunderten hat sich sogar das gewandelt", meinte er, "Den Menschen geht es so, wie sie es haben, gut genug - sie glauben, ohne Engel auszukommen. Darum lehnen jetzt häufig alle hundert ab." Er hatte irgendwie traurig gewirkt. "Aber Ausnahmen wie du bestehen zum Glück weiterhin."

Mittlerweile wartete sie wieder auf der Mauer. Seit einer Woche kam ihr Vater aus irgendeinem seltsamen Grund immer etwas später – also musste sie länger warten. Aber Ray war eine nette Gesellschaft. Und er hatte sich bisher sechsmal zu ihr gesellt und mit ihr gesprochen.

„Ja, ich wohne wirklich nicht weit entfernt“, sagte der junge Mann, der sich lässig an die Mauer gelehnt hielt, eine Hand im Sack seiner blauen Jeanshose versteckt gehalten. Er grinste sie an. „Aber eigentlich gäbe es zu meinem Haus einen kürzeren Weg.“

Sie legte den Kopf schief. „Warum gehst du den langen Weg?“, wollte sie dann von ihm wissen.

„Weiß auch nicht – vielleicht mag ich es nicht, in Gesellschaft zu essen?“, schätzte er. Und er klang wirklich, als würde er das lediglich vermuten.

„Irgendwie macht das keinen Sinn …“, gab sie zu bedenken – lächelte ihn dann aber an.

„Hey, ich wollte dich eigentlich was ganz anderes fragen“, schoss er dann hervor. Seine blauen Augen fixierten sie entschlossen.

„Was denn?“, wollte sie zaghaft wissen. Was war ihm jetzt schon wieder eingefallen?

„Was studierst du eigentlich?“, fragte er dann bestimmt.

Und dafür machte er so einen Aufwand? „Theologie“, antwortete sie ihm daraufhin.

Er schien einerseits enttäuscht, andererseits aber auch glücklich. Wie jemand, der im Lotto gewonnen hatte und dann den Anruf erhalten hatte, dass sein Lieblingsonkel gestorben war.

„Wieso Theologie?“, wollte er von ihr wissen, wobei er die Arme streng verschränkte, „Ich habe mir schon so etwas gedacht – Kyrie ist immerhin kein gängiger Name, aber … Haben dich deine Eltern gezwungen?“

Sie sah ihn verwirrt an. „Nein? Wie kommst du darauf?“, entgegnete sie leicht empört, „Theologie ist ein Fach wie jedes andere – die Verbindung zu Gott aufrechtzuerhalten, ist sehr wichtig. Und je mehr man über diese abstrakten Begebenheiten weiß, desto eher kann man sich einen Reim auf die Wirklichkeit machen“, erklärte sie ihm – wohl schnippischer als sie das eigentlich vor hatte. Aber er klang so … ablehnend. Und mittlerweile war Gott gar nicht mehr abstrakt! Er existierte wirklich – wie die Engel. Nur dass Menschen das niemals erfahren durften und würden – was ausgesprochen schade war. Aber die Realität lag nun einmal so.

„Wenn du das glaubst …“ Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu – nach einer Weile des Schweigens nahm er dann das Reden wieder auf: „Sag mal, Kyrie, glaubst du an Gott?“

Die Frage überraschte sie doch. Sie hatte ihm doch gerade erklärt, was sie studierte …

„Ja“, antwortete sie bestimmt, „Ich glaube an Gott“, bestätigte sie ihm, „Du nicht?“, mutmaßte sie daraufhin.

Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich habe aufgehört an ihn zu glauben – aber Kyrie … Wenn es wirklich einen Gott gäbe … warum existiert dann so viel Leid und Böses auf dieser Welt?“

„Dämonen“, antwortete sie ohne nachzudenken, „Dämonen … sie brechen durch einen Schutzwall hindurch, weißt du?“, erörterte sie, „Diesen Schutzwall hat Gott aufgebaut. Und er beschützt uns dadurch, indem er die böse Macht draußen hält. Aber er ist alleine – und darum sickern hin und wieder böse Gefilde durch … Doch ihm einen Vorwurf zu machen, wäre nicht gerecht.“

Ray sah sie an, als wäre sie eine Außerirdische. „Was für einer Religion gehörst du bitte an?“

Sie lachte kurz. „Der einzigen, die es gibt?“, vermutete sie, „Sie … sie wird nur ein wenig anders gelehrt“; gab sie zu, „Und das ist meine … interpretierte Version.“ Sie log nicht. Es war schon … interpretiert. Bloß, dass es ihr Nathan so erklärt hatte. Und plötzlich hatte sie sehr viel Zuneigung zu Gott gefühlt. Sie hatte sich auch immer diese Frage gestellt – warum gab es Böses? Warum ließ Gott Böses passieren? Nathan hatte es ihr ausführlich erklärt.

Aber wie würde die Welt ohne Gottes Schutz aussehen? Sie wollte gar nicht daran denken. Und darum fand sie es auch schade, dass nicht alle Menschen Gott unterstützten, obwohl er auch ihren Lebensraum schützte. Zumindest durch den Himmel hindurch, soweit sie das verstanden hatte.

„Aber … es klingt plausibel“, gestand er ein, „Aber dennoch ist es ungerecht.“

Leid stand in Rays Augen geschrieben. „Ray …“, murmelte sie, „Was ist dir zugestoßen …?“

Als hätte er den Ausdruck in seinen Augen bemerkt, ließ er ihn sofort verschwinden und ließ sein Lächeln aufblitzen. „Ich studiere übrigens Politik, Medizin und Jura.“ Entweder er hatte sie ignoriert oder überhört.

Kyrie klappte der Mund auf. Schnell schloss sie ihn wieder. Doch ihre Augen waren noch immer aufgerissen – vor Überraschung. „Du studierst – was?“, wiederholte sie, obwohl sie es ganz genau verstanden hatte, „Das ist doch … irre?“

Er zuckte mit den Schultern. „Mit dem nötigen Interesse kann man alles erlernen – auch gleichzeitig. Ein wenig stressig wird es manchmal, aber … es sind erst drei Monate des Studierens um, demnach habe ich erst die Anfangsphase hinter mir. Das wird schon – ich bin zuversichtlich.“

„Du bist verrückt“, richtete Kyrie. Und sie hatte schon mit einem Fach Probleme!

Er lachte leise. „Irgendwie gehören sie zusammen“, erklärte er ihr, „Also ist es in etwa wie ein … großes Fach.“

Sie nickte, obwohl sie ihm weder glaubte, noch zustimmte. „Wenn du das sagst …“

„Aber lassen wir das Thema lieber sein“, schlug er vor, „Und wenden uns Spannenderem zu – Was machst du heute Nachmittag?“

Sie würde wieder in den Himmel gehen. Aber das konnte sie ihm kaum sagen.

„Lernen“, wich sie seiner Frage aus – wieder ohne zu lügen.

Er grinste. „So ein fleißiges Mädchen.“

Sie saß in ihrem relativ langen, weißen Sommerkleid auf der grauen Backsteinmauer, hinter welcher das grüne Gras blühte. „Danke sehr“, sagte sie artig, „Und selbst?“

Er zog eine Schnute. „Mal sehen – vielleicht treffe ich mich mit Freunden, vielleicht treibe ich ein wenig Sport – ich weiß auch nicht. Jedenfalls werde ich das Wetter genießen!“

„Und das trotz drei Fächern zum Lernen?“, informierte sie sich ungläubig. Er musste ein Genie sein!

Ray lachte leise. „Guter Einwand – aber ja. Noch sind die Tests eine Zukunftssache.“

„Nicht sehr weitsichtig“, kommentierte Kyrie. Aber was machte sie? Sie lernte fliegen, Engelsränge und andere Sachen … Heute würde sie Nathans Freunde kennen lernen.

„Ich weiß“, stimmte er ihr zu, dann lächelte er. „Wieso haben deine Eltern eigentlich die Zeit, dich immer abzuholen?“

„Sie arbeiten gleich hier in der Nähe. Da wäre es eine Verschwendung, wenn ich die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen würde. Viele denken zwar, ich sei deshalb verwöhnt, aber …“

Sie zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich dachte er das auch.

Doch er kicherte lediglich. „Dasselbe Problem hier. Ich bin gerade mal fünf Monate in der Stadt und schon nennt mich jeder Schnösel, bloß weil ich keine fünfzehn Minuten nach Hause brauche!“

„Welch ein Jammer“, kommentierte sie, dann horchte sie aber auf, „Erst seit fünf Monaten? Wo kommst du denn her?“

„Ist dir meine Hautfarbe gar nicht aufgefallen?“ Er grinste. „So etwas wäre eigentlich die sommerliche Bräune des Roten Dorfs!“

Das Rote Dorf? Es war sehr weit im Norden, soweit sie wusste. „Habt ihr da so starken Sonnenschein?“

„Hey – da teilen sich fünftausend Leute dieselbe Sonne! Da bleibt viel für den Einzelnen.“ Er grinste spitzbübisch. „Anders als hier – mir kommt das hier wie ein Menschenzoo vor … Voll gestopft und unbequem …“

„Wieso bist du dann hergezogen, wenn es dir nicht gefällt?“, wollte sie von ihm wissen.

Er zuckte mit den Schultern. „Meine Schwester hat gesagt, ich solle zu unserem Vater.“ Er schaute kurz zum Parkplatz. „Apropos Vater – deiner wartet schon. Morgen erzähle ich weiter … Aber du musst mir auch was von dir erzählen!“ Er lächelte.

Sie hielt ihm die Hand hin.

Er schaute sie verwirrt an, reichte ihr dann aber seine.

„Abgemacht“, sagte sie dann und lächelte ihn an. Sie ließ seine Hand los, verabschiedete sich freundlich und ging dann zum Auto.
 


 

„Und ich erzähle dir mehr über mich?“, wiederholte er, als er dem kleinen, schwarzen Auto nachsah, „Wollte ich die Geschichte nicht eigentlich begraben?“

Aber wie hätte er das können? Immerhin trug er die Zeichen am Körper und jedes Mal, wenn er sich auf den Heimweg machte, steuerte er auf den Hauptgrund zu.

Aber er würde sich stellen müssen.

Ray stieß sich von der Mauer ab. Der Ort hier war wirklich gemütlich. Kyrie hatte sich da einen schönen Platz ausgesucht – angenehm. Er mochte es, seine Zeit hier mit ihr zu vertrödeln. Es war viel spannender, als einfach nur extrem langsam durchs Leben zu gehen. Irgendwie war er froh, dass diese zufälligen Worte so über seine Lippen gekommen waren – irgendwie war das makaber, Anbetracht dessen, dass sie damals geweint hatte. Er war froh, sie nicht mehr weinen sehen zu müssen. Sie wirkte wirklich glücklich und zufrieden … Die Theologiestudentin …

Dämonen, sagte sie also? Vielleicht war es wirklich so. Vielleicht gab es diese Dämonen, vielleicht schützte Gott sie. Doch er war damit nicht einverstanden. Wieso widerfuhr das Unglück dann nicht bloß jenen, die es zumindest verdienten? Seine Familie verdiente kein Unglück. Bestimmt nicht.

Er wollte unbedingt wissen, weshalb Kyrie so an ihrem Glauben und an Gott festhalten konnte.

Langsam machte er sich auf den Heimweg.
 

Als er in die Gasse, in der die Villa stand, einbog, bemerkte Ray, dass der Gartenzaun noch geöffnet war. Scheinbar war also noch jemand zuhause. Er ging gemächlich den stählernen Zaun entlang, der gelegentlich in kleinen Blümchenmustern verlief. Man erkannte eindeutig, in welchen der Villen die jeweilige Frau oder der Mann das Sagen hatte.

Die Gärten waren eigentlich alle recht ähnlich angelegt. Grasgrünes Gras, das beinahe schon gefälscht wirkte, war von Blumenbeeten, ausschweifenden Hecken, Gartenhäusern und anderem Schnickschnack umgeben, den sich auch nur die Reichen leisten konnten und wollten. Verschiedene Hängematten, Hängeschaukeln und andere Sachen zum Ausspannen hingen gelegentlich an den relativ niedrigen Bäumen fest, sodass sich der arme, überarbeitete Besitzer darin wohl ausspannen konnte.

Manchmal lief eine verzogene Katze oder ein arroganter Hund in den riesigen Gärten umher und immer wuselten ein paar Angestellte herum.

Im Roten Dorf gab es solche Ausschweifungen nicht. So etwas wurde verachtet. Dort oben im Norden, wo die Sonne einen briet, während man den Schnee wegschaufeln musste, hätte man nicht einmal genügend Zeit für solche Gärten gehabt, da es nur wenige Monate im Jahr gab, in denen man nicht im Schnee versank. Und doch liebte er den weißen Glanz des Schnees – fernab der Zivilisation, umgeben von fünftausend Einheimischen mit ihren Pelzkapuzen, Pelzmützen und stilvollen Mänteln.

Und wie liefen die Leute hier bei dieser Sonne herum? In Kleidern und kurzen Hemden.

Sie wussten wohl einfach nicht, was richtige Kälte war – die neue Freundin seines Vaters hatte vor kurzem über den Regen geklagt, da es ja so „kalt“ wäre. Sie hatte keine Ahnung.

Aber vielleicht ging er zu hart mit ihr ins Gericht …

Doch es war schon erstaunlich, dass die Leute hier alle so blass waren, obwohl die Sonne eigentlich sehr oft schien. Es könnte vielleicht an den Hochhäusern liegen, die die ganze Stadt schattig wirken ließen, doch … War es eigentlich sein Problem? Nein.

Sein Problem schloss nämlich soeben die Haustüre und drehte den Schlüssel im Schloss um. Ihr tiefschwarzes Haar war zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur hergerichtet und ihr natürlich schönes Gesicht mit Make-up noch betont. So etwas gefiel seinem Vater also?

Als sie ihn sah, erstarrte sie. Dann winkte sie ihm zögerlich zu.

Er ignorierte die Geste und lief am Haus vorbei. Die fünf Minuten bis die Frau das Grundstück verlassen hatte, würde er auch noch warten können. Jetzt hatte er fast zwei Wochen lang das Glück gehabt, alleine essen zu können und dann heute …

„Ray …?“, erklang sein Name von hinten.

Würde sie es nie aufgeben?

Er seufzte und drehte sich unbegeistert um.

Sie war ans Gartentor vorgeschritten und auf die Straße getreten. Sie trug ein ebenso leichtes Sommerkleid, wie es auch Kyrie getragen hatte, nur dass ihres bläulich war und sehr viel Schmuck aufwies – sie würde diese Dekoration wohl brauchen.

„Das Essen steht drinnen angerichtet … Wenn du es in die Mikrowelle …“, begann sie.

Er unterbrach sie allerdings barsch: „Ich weiß. Ich bin kein Kind mehr. Ich brauche dich nicht.“ Er klang schneidend – nicht wütend, sondern mehr gefühllos. Es hörte sich wohl wie eine Tatsache an – nein. Es war eine Tatsache.

Sie sah deprimiert zu Boden. „Ich weiß, dass es hart für dich sein muss, aber …“

„Du weißt gar nichts“, ließ er ihre bedachten Worte ersterben, „Also versuch gar nicht, irgendetwas zu verstehen.“ Vielleicht wirkte er streng auf sie. Vielleicht schaffte er es endlich, sie loszuwerden – von sich abzuwenden.

Sie schaute ihm in die Augen. „Ray … Ich hatte auch getrennt lebende Eltern – und mein Vater hatte ebenfalls mit der Zeit eine neue Liebe gefunden … Es ist mir auch sehr schwer gefallen- …“, erzählte sie, doch er schüttelte den Kopf.

Wieso war diese Frau nur so töricht? Als würde ihn das stören! Seine Eltern lebten mittlerweile schon seit fünfzehn Jahren getrennt!

„Lass mich in Ruhe.“ Es war kein Vorschlag. Er schritt weiter.

„Nenn mich bitte einfach Kim“, wollte sie von ihm.

Doch er reagierte nicht erst darauf.

Er hatte ihren Namen fünf Monate lang ignorieren können – wieso sollte sich das jetzt ändern?

Der Himmel erstrahlte weiterhin in seinem goldenen Glanz. Die Wolken, die mit lichter Magie verwoben worden waren, lange bevor Nathan überhaupt geboren worden war, standen noch immer fest unter ihren Füßen. Ihr Schutzengel hatte Kyrie anvertraut, dass sie lediglich vortäuschte zu gehen und stattdessen flog, ohne aber die Flügel zu rühren – würde sie im Himmel ihre Flügel einziehen, so würde sie den Sturz auf die Erde, der folgen würde, nicht überleben können. Das war auch der Grund, weshalb dieser himmlische Ort lediglich für Engel zur Befugnis stand. Niemals durfte ein – oder vielmehr konnte? –einfacher Mensch diese Gefilde betreten.

Kyrie schritt die Treppen, die wohl ebenfalls aus verzauberten Wolken bestanden, hinauf und kam letztendlich an ihrem Treffpunkt an, den sie und Nathan vor einer Woche gewählt und seitdem täglich aufgesucht hatten. Dort wartete sie für gewöhnlich, bis er endlich kam, und dann machten sie sich zu einer neuerlichen Übungseinheit auf.

Ihre Eltern unterstützten dieses Training und sie erzählte ihnen jeden Abend von ihren Erlebnissen im Himmel – und ihr schien, ihre Eltern hatten umso mehr Sehnsucht danach, diesen Ort mit eigenen Augen zu erblicken, je weiter ihre Erzählungen fortschritten. Das betrübte sie auf eine bedauernde Art und Weise – doch die Gesetze waren nicht zu ändern.

Sie hoffte, dass Nathan alleine kommen würde, sodass sie sich seelisch auf seine Freunde vorbereiten konnte – außerdem wollte sie ihm noch eine Frage zur wahren Schöpfung stellen, die die Menschen niemals erfahren durften.

Dinge über die Engelsränge oder die wahre Schöpfung durfte sie ihren Eltern nicht verraten – sie hatte es sogar schwören müssen. Es wären Dinge, die Menschen nicht ertragen konnten – eine Antigöttin …

Sie erschauderte unwillkürlich. Zwanzig Jahre lang hatte sie unerschütterlich an die Lehre geglaubt, die ihre Eltern ihr von Geburt an vermittelt hatten … Und plötzlich war alles ganz anders!

Es lastete sogar Kyrie schwer auf den Schultern, von so etwas zu hören. Dämonen, die Menschen beeinflussten … Sie hoffte, sie hatte den Eid nicht gebrochen, indem sie Ray von jenen erzählt hatte. Es war ihr einfach so herausgerutscht … Aber er glaubte sowieso nicht an Gott. Warum sollten ihn dann Dämonen kümmern? Er hielt sie wohl doch ebenso für ein Hirngespinst … Was er dann wohl zu dieser Antigöttin sagen würde?

„Pünktlich wie die Uhr“, erklang eine erstaunte Stimme und sie wandte den Blick in die Richtung jener – Nathan erschien alleine, seine beiden prächtigen, weißen Schwingen thronten auf seinem Rücken und das kleine Licht, das ihn umgab, verschwand beinahe im Glanz der Wolken. Sein dunkelbraunes Haar, das er immer recht kurz hielt, vor allem, wenn man es mit Ray verglich, stob auseinander und wirkte, als hätte er sich ziemlich gehetzt, hierher zu kommen. Seine Kleidung, die der typischen Mode der Engel entsprach, ließ ebenfalls verlauten, dass er nicht viel Zeit zum Ordnen hatte. Über seiner pechschwarzen Hose, welche eng an seinen durchtrainiert wirkenden Beinen haftete, trug er ein Oberteil mit kurzen Ärmeln, die ziemlich weit und bequem wirkten – allerdings waren sie zerknittert. Das Oberteil endete allerdings nicht im Hüftbereich, sondern lief jeweils vorne und hinten weiter, sodass die Kleidung schön mitschwang, wenn er flog oder sich eilig bewegte – und auch jene vermittelten nicht den Eindruck, als hätten sie vor kurzem ein Bügeleisen gesehen. An den Seiten war es offen – wohl, um den Effekt zu verstärken. Es waren einige Muster eingebracht – sie hatte ähnliche Modelle allerdings auch schon ohne Stickereien gesehen. Es gab sie in verschiedensten Farben – und wie es schien, wurden sie von Engeln des siebten Ranges hergestellt. Sie waren ähnlich gemacht, wie die Wolken, bloß dass man den Stoff nicht ganz so verhärtet hatte. Diese Magie war bloß jenen der oberen Ränge zu Eigen – ein Grund, weshalb sie zu eben jenen Rängen zählten.

Von seinem unordentlich zugeschnallten Gürtel wollte sie gar nicht erst anfangen – und seine Stiefel waren schwarz und weiß gestreift und einer davon reichte sogar bis zu den Knien; der andere war in der Hälfte der Strecke hängen geblieben.

Es gab allerdings auch andere Kleidung – oder die Möglichkeit, einen Einkaufsbummel in der Welt der Menschen zu unternehmen … doch das war weniger geachtet, weshalb sie für ihre Kleidung schon hin und wieder einen empörten Blick kassiert hatte. Aber diese Blicke waren eigentlich das Einzige, was sie von den anderen Engeln bisher mitbekommen hatte. Sie wurde höflich ignoriert. Nathan hatte ihr anvertraut, dass sich dies in einiger Zeit ändern könnte. Er würde sie unterstützen …

Wie auch immer er das meinte.

Kyrie trug noch immer ihr einfaches Sommerkleid, da es genauso weiß war wie die Kleidung, die die größte Anzahl an Engeln häufig trug – und zudem war der Rücken großteils frei gehalten, sodass ihre Flügel keine unnötigen Löcher eingravierten. Ihre Mutter bearbeitete die anderen Kleider bereits fleißig.

„Guten Tag, Nathan“, begrüßte sie ihn freundlich, „Dein Stiefel …“

„Oh!“, machte er, als er an sich herunter blickte und zog den zweiten Stiefel nach oben, sodass er parallel zum ersten stand, „Tut mir leid, ich hatte es eilig. Du stresst mich einfach, wenn du mich mitten am Nachmittag aus den Federn holst!“ Er grinste. Sein Gesicht wirkte um einige Jahre älter als noch vor ein paar Wochen. Vielleicht bildete sie sich das bloß ein, aber … sie hätte schwören können, dass er jünger ausgesehen hatte! … Aber sie wollte ihn noch nicht darauf ansprechen. Immerhin bestünde ja die Möglichkeit, dass sie sich schlichtweg irrte. Und die muskulöseren Beine bildete sie sich auch nur ein.

Sie lachte kurz mit ihm. „Ich entschuldige mich dafür, Meister“, antwortete sie scherzhaft.

Schlagartig wurde er ernst. „Aber ich habe heute schon ziemlich viel Arbeit erledigt – ich habe meine Freunde manövriert, sodass sie meine Schülerin endlich treffen können.“ Er machte eine bedeutende Pause. „Bist du bereit?“

Der gespielte, übertriebene Ernst in seiner Miene, brachte sie beinahe zum Lachen, doch sie verkniff sich die Regung und schüttelte lediglich den Kopf. „Ich habe noch eine Frage“; brachte sie hervor, woraufhin er sie interessiert musterte. „Diese Antigöttin … Wieso ist sie böse?“

„Sie ist nicht wirklich böse …“, verbesserte Nathan sie, „Es ist einfach ihre Natur, nicht Gott zu sein.“

Irritiert blinzelte sie ihn darauf hin an. „Gott ist also nicht böse? Und weil er nicht böse ist, muss sie böse sein? Oder ist Gott böse, sie ist gut, weil ich aber an Gottes Seite bin, empfinde ich seine Boshaftigkeit als gut und ihre Güte als boshaft und …“ Kyrie unterbrach ihren eigenen Redeschwall mit einem bedeutungsvollen Räuspern. „Es tut mir leid“, fügte sie dann peinlich berührt hinzu, „Aber … ich bin verwirrt …“

Nathan grinste, als habe er sie beim Hühnerklauen erwischt. „Verständlich. Ich war ursprünglich auch von euren Auffassungen irritiert – immerhin … Himmel oder Hölle? Wieso sollte Gott über eure Seelen richten? Er nimmt jeden auf! Das ist doch das Gute an ihm. Und damit wäre schon der erste Unterschied bestätigt: Die Antigöttin hätte sich wohl wirklich etwas wie Himmel und Hölle ausgedacht oder euch alle gleich ins Fegefeuer oder ihren Dämonen zum Fraß vorgeworfen.“ Er schüttelte angewidert den Kopf. „Unglaublich!“

Kyrie nickte langsam. „Aber … sie ist doch auch eine Göttin – genauer betrachtet jedenfalls. Und … wieso konntet ihr sie dann zerstören? Wo ist sie? Man kann doch keinen Gott töten …“

„Nein, nein!“, berichtigte Nathan sie sofort, „Gott hat sie getötet und in sich aufgesaugt. Und darum leben auch die Dämonen noch. Hätte er sie einfach annulliert … Ich denke, wir hätten weniger Probleme. Aber vermutlich hat er es ihrer alten Freundschaft wegen getan.“ Nathan strich sich kurz durchs Haar. „Oder so.“

Kyrie lächelte. „Na gut … dann … ich denke, ich bin bereit?“, mutmaßte sie unsicher.

„Keine Sorge, es sind Engel – und keine Dämonen!“, beruhigte er sie grinsend und stob davon.

Doch die wahre Schöpfung ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf.
 

Das Universum bestand aus zwei Mächten – die Macht des Lichts und die der Dunkelheit. Die beiden Mächte agierten miteinander und in Frieden. Sie glichen sich aus und halfen einander. Doch irgendwann entwickelten die beiden Mächte Wesen. Mit ihrem Wesen erreichten sie Gedanken. Und durch die Gedanken eine Gestalt, verschmolzen mit dem Universum - als das Universum selbst. Doch nach Jahrmillionen in Zweisamkeit erschütterte die Anwesenheit ihres Gegenteils sie immer mehr und mehr. Sie hatten niemals dieselben Gedanken, konnten sich niemals einigen und taten immer etwas anderes – und doch waren sie Mal um Mal vereint.

Eines Tages jedoch erreichte beide derselbe Gedanke – sie sehnten sich nach anderen. Während Gott jedoch nach Freunden suchte, suchte sie Antigöttin nach Untertanen. Und so erschufen sie sich solche.

Die Engel wurden aus Gottes lichten Willen geboren, ihre Schönheit stand für seine Güte und ihre reinen, weißen Federn verkörperten das Licht, das jeden von ihnen umgab. Er stattete sie mit seiner eigenen Kraft aus, um sie mit sich zu verbinden – und somit beherrschten die fliegenden Engel die lichte Magie. Das Licht der Engel erhellte das Universum und Gott erkannte, dass er ihnen einen lichten Platz schaffen musste, um sie mit mehr lichter Energie füllen zu können – und so errichtete er den unendlichen Himmel. Einen Kreis des Lichts in der Unendlichkeit – scheinbar niemals endend und doch von überall zu erreichen.

Um den Himmel mit Leuchtkraft zu füllen, erschuf er danach die Sonne und verwies diese, auf ewig dort zu leuchten, wo der Himmel verlief, sodass diese Helligkeit mehrere Teile des Universums traf und somit seine Macht stärkte.

Die Dämonen hingegen erschuf die Antigöttin durch ihre bloße, dunkle Kraft. Sie zwang diese Geschöpfe aus der Dunkelheit heraus und riss damit an Teilen des Universums. Schwarze Löcher, die als Behausung der Dämonen dienten, die in die Unendlichkeit führten und die niemals ein Nicht-Dämon berühren durfte, blieben zurück. Die Dämonen erhielten den bösen Geist der Antigöttin und deren hervorstechende Hässlichkeit. Ihre Haut, dunkel genug, um mit der Finsternis um sie herum zu verschmelzen; ihre Flügel aus Leder, das gefährlich glänzte und ihre Finger, die Krallen aufwiesen, um Gottes Geschöpfe zu töten.

Zu Anfang war dieser Plan der Antigöttin allerdings kaschiert gewesen von der Freude, endlich unter gleich gesinnter Gesellschaft zu verweilen. Doch alsbald nach einer Trennung, die Jahrhunderte überdauerte, sehnten sich die beiden Mächte wieder nacheinander und sie wollten die Balance wieder herstellen. Die Schwarzen Löcher verschmolzen mit dem lichten Himmel und Sterne entstanden, auf denen Dämonen und Engel vereint leben konnten, um einander Tag und Nacht zu bringen. Allerdings hatte diese Harmonie nicht lange gehalten. Die Dämonen führten ein Komplott durch, das unzähligen Engeln das Leben kostete. Erschrocken musste Gott feststellen, dass er die Macht über die Sterne zu jener Zeit verloren hatte, da die Nacht herrschte, denn das war die Zeit der Antigöttin. Und so blieben die Seelen jener Engel, die starben, auf ewig auf diesen Sternen hängen.

Nach einem Krieg zwischen Tag und Nacht, in dem Engel und Dämonen gleichermaßen ihre Leben verloren, da Gott den Engeln Heilige Schwerter gewährte, um die Krallen der Widersacher auszugleichen, zog Gott in seiner Weisheit seine Streitkraft zurück und an jenem Tag entnahm er den Sternen die Teile des Himmels, sodass sie niemals mehr das Licht des Himmels treffen sollte.

Die Sonne war während dieser Kämpfe unbeschadet geblieben, da Gott sie als Gefäß der Macht benutzt hatte, um die Tage heller erleuchten zu lassen.

Er bildete knapp neben der Sonne einen neuen Himmel und sicherte ihn darauf ab, dass nur noch Engel die Chance hatten, diesen Ort zu erreichen.

Gott selbst zog sich zurück in das Licht der Sonne und lebte seine Trauer um den Verlust der Engel, weshalb er die Sieben Ränge einberufen hatte, um seinen Untertanen trotzdem Hilfe zu gewähren. Und so entstanden sie – und bis zum sechsten Rang waren sie erreichbar. Lediglich Sin konnte durch seine enorme, lichte Kraft Gott erreichen und dadurch den wahren Rat an das Volk bringen. Sin war die Beschaffenheit von Gottes Gefühlen. Der stärkste Engel – derjenige, der die Sünde tragen musste, Gott beizustehen, der selbst Sünde begangen hatte, indem er seine Kinder gefährdet hatte. Und letztlich deren Seelen für immer verloren wusstse.

Nachdem er seine Trauer überwunden hatte, kehrte er zurück. Doch ehe er sich den Engeln zeigen konnte, wurde er von der Antigöttin aufgehalten, die ihm beichtete, ihn vermisst zu haben und die ihm beibringen wollte, dass sie sich unendlich grämte aufgrund der Taten, die solange bereits vergangen waren, dass sich weder Engel noch Dämonen noch an die Scharmützel erinnerten und es sich bloß noch um Geschichten handelte, die in die Geschichte der Schöpfung eingewoben wurden.

Gott hatte die Antigöttin genauso gefehlt und deshalb schlossen sie Frieden.
 

„Liebe deinen Feind, liebe deinen Nächsten und übe dich im Verzeihen“, murmelte Kyrie vor sich hin, nachdem sie in ihrem Kopf an diesem Punkt der Schöpfung angekommen war. Menschen hatte es zu jener Zeit noch nicht gegeben. Und Nathan hatte ihr versichert, dass es auch noch lange so bleiben würde.

Er hatte ihr die Geschichte Gottes so lebhaft erzählt, dass er dafür ganze zwei Tage benötigt hatte. Und sie hatte sie noch immer nicht verstanden.

Eine Antigöttin … unfassbar!

Zum Glück hatte er ihr gesagt, sie solle diesen Teil erst verarbeiten, bevor der zweite kam. Irgendwie machte ihr allein der Gedanke an einen zweiten Teil Angst. Immerhin ging es darin dann bestimmt um die Menschen …

„Du wirkst … abgelenkt“, stellte Nathan fest, „Du brauchst wirklich keine Angst zu haben! Liana ist so freundlich wie ein Lehrer unter Idioten und die anderen sind auch nicht schlimm! Und ich versichere dir …“

„Sie mögen Halbengel“, beendete Kyrie seinen Satz für ihn – was ihr ein anerkennendes Nicken einbrachte.

„Wenn du so vertraut von ihnen sprichst, glaube ich beinahe, du würdest sie meiner statt schon seit vierhundert Jahren kennen!“

Vierhundert Jahre! Er war tatsächlich so alt …! Sie konnte es noch immer nicht glauben. Und er hatte ihr noch immer nicht alles über die Entwicklung der Engel gesagt. Und dabei wollte sie so sehr lernen, was sich bei ihnen zutrug! Aber gut – sie war erst seit etwa neun Tagen ein Engel. Sie hatte noch Zeit. Zumindest benahm sich Nathan so, als hätten sie noch ewig Zeit. Doch es störte sie schon ein wenig, kaum Hintergrundwissen zu besitzen. Daran war sie – als Vorzugsschülerin – einfach nicht gewohnt … Aber er würde schon ein System entwickelt haben. Würde er doch. Oder? Immerhin hatte er sich das schon vierhundert Jahre lang überlegen können.

… Vierhundert Jahre!

Und sie wunderte sich, weshalb er plötzlich um fünf Jahre älter aussah? Ironisch.

„Sie müssen dich die letzten Jahre wirklich vermisst haben“, bemerkte Kyrie. Immerhin waren zwanzig Jahre lang, wenn man jemanden nicht sehen konnte, den man mochte. Für sie waren immerhin die fünf Jahre schon schmerzlich lang, in denen sie ihre Großmutter nicht treffen durfte.

„Liana hat gesagt, ich hätte noch weitere fünfhundert wegbleiben sollen und …“, er stoppte abrupt, „Ach – egal. Du kannst sie ja selbst fragen.“ Nathan streckte seine Hand aus und deutete auf vier Personen, die auf einer Treppe, die nach oben führte, saßen und sich eifrig unterhielten. Zumindest eine Frau und ein junger Mann taten das.

Als Kyrie näher herantrat, erkannte sie, dass die Frau, die sich wohl hitzig mit dem anderen Engel stritt, ihr recht kurzes, hellbraunes Haar lose trug, aber auf einer Seite mit einer weißen Blume etwas hochgesteckt hatte, was sie ziemlich jugendlich erscheinen ließ. Ihre Gesichtszüge ließen sie allerdings weitaus älter wirken – bestimmt schon dreißig. Ihre Augen schimmerten grün und funkelten dabei sehr erzürnt. Zu Kyries Überraschung trug sie ein eng anliegendes Kleid im Farbton ihrer Augen, das ihren wunderschön geformten Körper äußerst betonte. Irgendwie wunderte es Kyrie nicht, dass sich jemand wie sie unter Nathans Freunden befand.

Was sie aber wirklich erstaunte, war der Körperbau des jungen Mannes, der sich im Gefecht mit jener Freundin befand. Er war wirklich riesig – bestimmt zwei Meter groß! – und hatte Schultern wie ein Bär und dieselben Pranken. Seine Haut war etwas gebräunt – in etwa in der Farbe, wie man sie jemandem aus dem Roten Dorf zugetraut hätte – und seine Muskeln waren unbeschreiblich gut ausgebildet! Sie waren genau im richtigen Maße angelegt, sodass unter anderem Nathans Körperbau wie der eines Kindes erschien, aber ohne einem richtigen Bodybuilder Konkurrenz zu machen. Seinen erstaunlichen Körper betonte er, indem er bloß eine kurze, ärmellose und vor allem offene Weste trug, die seinen Bauchmuskeln und den Brustmuskeln keineswegs auch nur ansatzweise die Schau stehlen konnte.

„Wenn du den Mund noch weiter aufreist, Mädchen“, erklang eine Frauenstimme, „Dann sabberst du.“

Peinlich berührt, weil sie sich vom leuchtenden Anblick der Statur des Blondschopfs mit den braunen Augen so aus dem Konzept hatte bringen lassen, errötete sie und schloss schleunigst den Mund.

Dann erst betrachtete sie die Frau, die ihr soeben den Rat erteilt hatte. Ihr schwarzes Haar war noch kürzer als das der anderen Frau, deren Haar zumindest beinahe die Schultern erreichte, und verlief in einer geraden Linie. Sie hatte Stirnfransen, die ihr bis zu den Augen gingen und trug – ganz zu Kyries Überraschung – eine rote Brille. Konnten Engel wirklich Augenprobleme haben, wo der Himmel doch seine heilende Wirkung entfaltete? Oder war es nur Schmuck?

Sie hatte einen ziemlich dunklen Teint, dunkler noch als der muskulöse Mann, und ihre Augen blitzten schlau und blau hinter ihrer Brille hervor. Sie trug ein langes, schwarzes Kleid, das andere vielleicht als langweilig bezeichnet hätten, da man die Muster, die dort eingearbeitet waren, kaum erkannte, weil diese in dunklem Grau gehalten waren.

„Danke für den Tipp, Deliora“, erwiderte Nathan ihrer statt, „Kyrie wird ihn beherzigen, ich bin mir sicher!“ Er grinste auf seine typische Weise.

Kyrie warf ihm einen bösen Blick zu, welcher dann aber zu einem sanften wurde, da er genau genommen Recht hatte. Aber … wieso hatte er das bemerkt?

„Kyrie?!“, ertönten plötzlich zwei Stimmen gleichzeitig und ehe sie sich versah, befand sich ein riesiges Gesicht vor ihr, wobei zwei smaragdgrüne Augen sie freundlich musterten.

Vorsichtshalber trat sie einen Schritt zurück, doch Liana – sie vermutete, dass es sie sein musste, da Deliora wohl die Schwarzhaarige war – rückte hinterher.

„Hey, hey!“, rief Nathan plötzlich, „Mich begrüßt du gar nicht?“ Er klang beleidigt.

Das Gesicht wandte sich zur Seite und Kyrie nutzte die Chance um sich hinter Nathan zu verdrücken – als Schutzmaßnahme gegen neugierige Engel.

„Dich brauche ich nicht mehr anzustarren, Freundchen, denn deine Fratze ändert sich auch in vierhundert Jahren nicht - aber das!“ Liana streckte die Hände – Kyrie war davon überzeugt, von diesen getroffen worden zu sein, wäre sie nicht geflüchtet – aus und deutete in etwa auf die Stelle, auf der Kyrie vorhin gestanden hatte. Als sie ins Leere traf, schaute sie zurück. „Wo ist sie hin!?“

Nathan räusperte sich.

Liana sah zu ihm und schien Kyrie zu entdecken.

Okay, was war mit dieser Frau los?

Doch ehe noch eine Sekunde vergangen wäre, stürmte Liana schon wieder fliegend auf sie los und umarmte sie diesmal kräftig – zu kräftig. Kyrie verlor das Gleichgewicht und wurde unter der anderen Frau begraben. Dabei fiel ihr auf, dass die Wolken einen Widerstand bildeten, der sie vor dem Absturz bewahrte, aber auch weich waren, sodass sie sich nicht verletzte.

Aber Liana schaffte es doch irgendwie, schwer zu sein.

„Wuuuh!“, rief die Frau aus und lachte daraufhin schallend los, als hätte sie gerade den besten Scherz gehört, den es je gegeben hatte. Sie lachte weiter und schien wohl nicht daran zu denken, von Kyrie runter zu gehen.

Verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien und warf dabei nach Hilfe suchende Blicke zu Nathan, der sie ziemlich konfus musterte. Doch er schien zu begreifen und machte sich gerade dazu bereit, sich in Bewegung zu setzen, um ihr aus der Patsche zu helfen, als Kyrie an den Schultern gepackt und unter Liana herausgezogen wurde – welche weiterhin schallend lachte, obwohl sie nunmehr am Wolkenboden lag und nicht mehr auf Kyrie. Mittlerweile hatte sie auch damit begonnen, mit den Händen auf den Boden zu hämmern.

Glück für sie, dass sie da nicht mehr lag.

Sie schaute sich um, um ihren Retter zu begutachten, doch ein Umdrehen blieb ihr erspart, da sie – gleich nachdem sie stand – gegen ein riesiges Muskelpaket gedrückt wurde, das sich am Bauch eines mit einer Weste bekleideten Mannes befand.

Sie errötete nunmehr heftig. Aus der Nähe waren diese Muskeln ja noch berauschender!

Sie war sich nicht sicher, wessen Herz so in ihren Ohren dröhnte – ihr eigenes, das so heftig schlug oder das seine, das sie aus dieser Nähe nur zu gut hören konnte.

„Wow – wow!“, erklang dann erneut Nathan, „Thi, lass das arme Mädchen los! Sonst bekommt sie noch Nasenbluten!“

Das peinliche Gefühl verflog in dem Moment, in dem Nathans Worte an ihr Ohr drangen. Es schlug plötzlich und unerwartet in leicht gereizte Resignation um – was war das bloß für ein Auftritt, den sie da hinlegte? Sie blamierte sich hier ja! … Wieso nur?

Sie schritt ganz, ganz schnell mindestens zehn Schritte nach hinten, im gelungenen Versuch, nicht über Liana zu stolpern, und atmete dann – im Umkreis von fünf Schritten ohne andere Person – erleichtert auf. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und mit ihrer Seele wieder im Einklang zu verweilen.

„Der Kerl in der Weste und mit der eng anliegenden Hose, mit dem schiefen Gürtel und den kurzen Stiefeln – dass er ein Muskelprotz ist, brauche ich, denke ich, nicht zu erwähnen – ist Thierry. Kurz genannt – Thi.“ Nathan grinste. „Aber ich denke, du kennst ihn schon.“

Kyrie verschränkte beleidigt die Arme, erinnerte sich dann jedoch an etwas, das man Manieren nannte, und verbeugte sich kurz höflich. „Hallo Thierry – Darf ich dich Thi nennen? Mein Name ist Kyrie und … ich habe keinen Spitznamen.“

Einige Momente der Stille vergingen – Lianas Lachen war schließlich verstummt, doch sie lag noch immer am Boden und grinste mit verschränkten Armen wie ein Schulmädchen – und Thierry lachte. Nachdem er sich beruhigt hatte, drehte er sich zu Nathan und sagte: „Kumpel, du hast recht – sie ist witzig!“ Danach wandte er sich ihr zu und sagte: „Nett, dich kennen zu lernen, Kyrie! Thi ist für jedes Problem zu haben.“

Seine Stimme klang sanft und eigentlich überhaupt nicht danach, wie er aussah. Sie wirkte nicht stark und einschüchternd und wunderschön und beschützerisch und … Seine Stimme klang nett und freundlich.

„Dann – das Ding, das da am Boden liegt und immer gefälschte Blumen im Haar hat, nennt sich Liana. Man kann sie nicht ignorieren, also versuche es gar nicht erst.“ Erneut verzog Nathan seine Lippen wieder zu diesem breiten Lächeln, das für ihn so üblich war. Bloß, dass Kyrie es zumeist aus der Ferne betrachtet hatte. Und jetzt … jetzt stellte er ihr seine Freunde vor. Seine richtigen Freunde. Diejenigen, deren Anwesenheit er genoss.

„Liana …“, wiederholte Kyrie leise, „Schön, dich kennen zu lernen …“ Sie winkte kurz und zögerlich.

Liana erhob sich, nachdem sie Nathan einen beleidigten Blick gewidmet hatte, und schwebte überdimensional schnell zu Kyrie herüber. Vor ihr breitete sie die Arme aus. „Umarmung!“, befahl sie – und ehe Kyrie sich versah, gehorchte sie. Und die beiden umarmten sich.

Das war das erste Mal, dass sie jemand so umarmte. Melinda und sie hatten sich natürlich auch manchmal umarmt, aber … es fühlte sich nie so echt an. Lianas Umarmung empfand sie, als würde Gott persönlich sie umarmen und …

Liana löste sich nach einem kurzen Drücken wieder, was in Kyrie eine seltsame Unzufriedenheit zurückließ. Konnte sie diese Umarmung von Licht und Liebe nicht noch etwas länger spüren …?

„Die Dame mit den ausgesprochenen und unausgesprochenen Weisheiten heißt Deliora“, leitete Nathan ein und deutete auf die Frau mit der Brille, welche sich mittlerweile von der Treppe erhoben hatte und neben Nathan stand, und fügte hinzu: „Sie mag Brillen.“

„Und Nathan mag Fäuste“, erwiderte die Frau mit freundlichem Ton, der so gar nicht zu ihrer steinharten Miene passen wollte, welche ihr Gesicht älter aussehen ließ, als sie wahrscheinlich war. Nein, eigentlich nicht. Aber es ließ sie älter aussehen, als sie aussah, weil sie jünger aussah, als sie war. Glaubte Kyrie zumindest. „Im Gesicht“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu – und ehe Kyrie sich versah, landete die geballte Faust der Frau in Nathans Gesicht. Und das ziemlich schnell dafür, dass sie sogar kleiner als Kyrie war.

„Das hat weh getan“, murrte Nathan und rieb sich das Gesicht, als Deliora ihre Hand zurückzog. Aber er grinste sofort wieder.

„Siehst du?“, machte sie weiter, „Sobald man ihn schlägt, grinst er. Hör nicht zu sehr auf ihn – er ist ein Idiot. Aber du hast immerhin zwanzig Jahre mit ihm ausgehalten. Ich denke, ich brauche dir nicht allzu viel von ihm und seinen Manieren beibringen.“

„Rede nicht so, als wärst du mein Tagebuch!“, wandte Nathan ein und verzog seinen Mund schmollend.

Liana stand noch immer in nächster Nähe zu Kyrie und räusperte sich. „Hey, du hast jemanden vergessen, Nathan.“

„Ach ja!“, machte Nathan und sah zu dem Mann herüber, der auf der Treppe sitzen geblieben war und von dort aus dem Spektakel folgte, „Das ist …“

Der Mann unterbrach ihn kühl: „Ich kann mich auch selbst vorstellen.“

Nathan bedachte ihn mit einem Blick, den Kyrie noch niemals an ihm gesehen hatte. Er war nachdenklich und unsicher und … total unamüsiert. Seltsam.

Er erhob sich ohne merkliche Eile und schlenderte dann die paar Schritte gemütlich her – wobei er sich aber immer noch zwanzig Schritte von ihnen entfernt hielt. Er war wohl in etwa in derselben Größenklasse wie Nathan einzuordnen und hatte pechschwarzes Haar, das noch schwärzer wirkte als das Delioras. Es war geordnet und merklich glatt, wobei es ihm vorne ins Gesicht hing. Seine Kleidung bestand aus einem ärmellosen, schwarzen Oberteil, schwarzen Stulpen, die ihm bis an die Oberarme reichten und einer schwarzen, weiten Hose, sowie schwarzen Stiefeln. Damit wirkte er sehr trübselig und dunkel. Alle anderen hatten leuchtende Farben an, der Himmel leuchtete ... Ob er dafür wohl Beweggründe hatte?

Der Blick aus seinen schwarzen Augen wirkte berechnend, aber genauso kalt. Seine Miene auf seinem auffallend blassen Gesicht war verhärtet und er mochte mit seinem Auftreten gar nicht in diese Gruppe passen.

Nathan, Liana und Thi waren eindeutig zu Scherzen bereit und ihre Gesichter zierte oftmals ein Lächeln – und das hatte Kyrie in nicht einmal fünf Minuten der Zusammenkunft festgestellt. Deliora war zwar bei weitem nicht so spaßhaft, aber ihre zynischen Sprüche konnten ebenfalls als Witz gelten. Vermutlich war sie die Stimme der Vernunft in dieser Gruppe. Aber … aber er?

„Hallo – mein Name ist Kyrie“, stellte sie sich erneut vor, auch wenn sie nicht glaubte, dass er es vorhin nicht gehört hatte. Aber er hatte nicht reagiert … Vielleicht wurde er freundlicher, wenn sie mit ihm sprach? Sie lächelte.

Plötzlich stand Feindseligkeit auf seinem Gesicht geschrieben – doch diese verschwand genauso schnell wieder, wie sie gekommen war. Sie hatte sie sich nicht eingebildet.

Daraufhin erstrahlte ihre eigene Miene in offener Besorgnis. Was war das jetzt? Sagte Nathan nicht, seine Freunde hätten nichts gegen Halbengel einzuwenden? Oder war es nicht gegen ihren Status gerichtet … sondern gegen sie?

Aber er kannte sie doch noch gar nicht …! War sie so unfreundlich …? Auf Anhieb? Hatte sie sich zu sehr blamiert? Das war doch nicht ihre Absicht gewesen …!

„Joshua, komm schon – wir haben nicht den ganzen Tag Zeit“, ermahnte Nathan ihn und grinste. Es schien ihm wieder gut zu gehen.

Joshuas Blick wanderte kurz zu Nathan herüber, wobei er einen genauso nachdenklichen Blick aufbrachte, wie jener zuvor.

Er seufzte daraufhin resigniert. „Meinetwegen – mein Name ist Joshua“, stellte er schlichtweg fest.

Kyrie antwortete zögerlich: „Schön, dich kennen zu lernen … Joshua.“

Er wandte sich ohne Umschweife seinen Freunden zu.

Irritiert tat es ihm Kyrie gleich – und plötzlich bemerkte sie, dass betretenes Schweigen an den Tag gelegt wurde.

Hatte sie einen Fehler gemacht? Nathan hatte sie nie über Höflichkeiten unter den Engeln unterrichtet, sie wusste nicht, wie sie sich zu verhalten hatte. Hatte sie etwas falsch gemacht? Jemanden beleidigt? Sie wollte doch niemanden beleidigen! Wieso lachten sie nicht mehr und alberten herum wie vorhin? Das … sie wollte doch nicht …

„Kyrie, meine Liebe, du brauchst doch nicht zu verzweifeln!“, unterbrach Liana plötzlich das Schweigen und kniff ihr dann in die Wange – und die Frau lächelte wieder.

Kyrie unterdrückte ein erleichtertes Seufzen und lächelte einfach über die Freude, dass Liana ihr nicht böse war.

„Wie viel hat Kyrie denn vom Himmel schon gesehen?“, wollte Liana wissen, „Ich denke, wir sollten sie etwas herumführen!“ Zustimmendes Nicken folgte. „Bisher hast du nur trainiert, oder?“

Sie nickte unsicher.

„Na dann - los!“

Und ehe sie sich versah, schnappte Liana ihre Hand und flog rasend schnell los.

Dieses übereilte Handeln entlockte Nathan und Thi ein Lachen und Kyrie konnte schwören, dass die beiden Männer irgendeinen Scherz aushandelten.

Deliora und Joshua folgten ihnen schweigend.

Kyrie schien sich prächtig mit Liana, Deliora und Thierry zu verstehen. Das ließ Erleichterung in Nathan aufkommen. Dass sie sich mit Liana verstehen würde, war ihm von Anfang an klar gewesen, weil Liana einfach einer jener aufdringlichen Menschen war, mit denen man klarkommen musste, weil sie sich jedem anpasste und jeden mit ihrer Art begeisterte. Bei Thierry war es in etwa dasselbe, weil er einfach so viele dumme Witze auf Lager hatte, dass man über ihn lachen musste. Und Lachen vereinte.

Deliora hatte ihren Zynismus unter Kontrolle und stieß Kyrie damit nicht nieder – sie wirkte heute ausnahmsweise einmal recht vernünftig. Jedenfalls brachte sie sich aktiv in die Gespräch mit ein und ließ sie zwischen Ernst, Boshaftigkeit und Witz herumkreisen. Und solche Gespräche zogen Engel einfach an. Und Kyrie war ein Engel. Die vier saßen ihm gegenüber auf dem Boden und nahmen ihr Abendmahl ein. Es war das erste Mahl, das seine Schutzbefohlene hier einnahm. Zuvor hatte er sie immer rechtzeitig zum Abendessen heimgeschickt. Aber heute war die Zeit schlichtweg verflogen! Wenn sie erst am Nachmittag kam, dann war die Zeit einfach begrenzt. Für Übungsstunden nach dem Studium war es genau richtig – doch für Spaß und Freizeit? Für Welterkundung?

Viel zu wenig.

Aber sie hatten sie bisher gut verbracht. Er würde Kyrie morgen beim Training fragen, wie es ihr gefallen hatte. Heute ließ er sie mit Liana, Deliora und Thierry herumalbern. Sie hatte es verdient, nachdem er sie so lange von wahren Freunden fern gehalten hatte. Aber konnte es unter Menschen überhaupt wahre Freunde geben? Er selbst hatte keine gefunden. Kyrie zählte nicht, immerhin war sie ein Halbengel – und der Rest? Heuchler, Lügner und Gauner. Jeder von ihnen war von den Dämonen irgendwie berührt. Und listige Personen wollte er nicht im Freundeskreis sehen. ... Vielleicht sah er das auch etwas zu ... parteiisch. Sie waren ja nicht von Grund auf schlecht nur ... kein Umgang für Engel.

Sie befanden sich gerade an einer Essstation. Wären sie auf der Erde, hätten sie es wohl Café genannt, doch man durfte doch nicht dieselben Namen benutzen, wie sie auf dem Kontinent gebräuchlich waren. Manchmal waren Engel einfach wählerisch.

„Und er hat dir wirklich noch nichts davon erzählt, dass Engel ihren Körper gewissermaßen selbst herrichten können?“, rief Liana plötzlich erstaunt aus, was Nathan dazu brachte, sich wieder ins Gespräch einzumischen.

„Das war für die nächsten Stunden gedacht!“, rechtfertigte er sich, was den ganzen Tisch – mit Ausnahme von Joshua – zum Lachen brachte.

Sie sprachen daraufhin weiter – er war sich sicher, noch einige unschöne Worte über sich selbst zu vernehmen – und er konnte sich wieder seinen Gedanken hingeben. Er hielt sich einfach an den Lehrplan, den Acedia ihm aufgegeben hatte. Die musste er heute auch noch aufsuchen. Das würde anstrengend werden.

Genauso anstrengend, wie das Gefühl, angestarrt zu werden.

„Wenn du etwas zu sagen hast“, murmelte er leise, „… dann rück raus mit der Sprache. Aber hör auf, mich anzustarren, als hätte ich drei Köpfe.“

Er wandte sich Joshua zu, der ihn unaufhörlich aus diesen dunklen Augen heraus musterte. Er verzog keine Miene, als er antwortete: „Bei deinem aufgeblasenen Dickschädel könnte man es tatsächlich für eine Gegebenheit halten.“ Andere hätten seine Worte wohl als kühl und distanziert ausgesprochen beschrieben, doch Nathan kannte diesen Ton. Bei einem Engel, der seine Gefühle nicht auf diese schreckliche Weise versteckte, wäre es wohl ein Zischen gewesen. Und dass er zischte, bedeutete, dass er wütend war.

Seine Vermutung wurde in dem Moment bestätigt, in dem sich Joshua von ihm abwandte und Kyrie musterte. Sie schien den Blick zu bemerken und sah kurz zu Joshua, woraufhin sich ihre Augen kaum merklich weiteten und sie sich auffällig fest auf das Gespräch konzentrierte.

Joshua konnte sie also nicht leiden. Er würde mit diesem Mann reden müssen. Er sollte nicht auf eine solch gutmütige Freundin verzichten, bloß weil in ihm Eifersucht, Frust oder sonstiges Ungetüm keimte, was ihm kein anderer austreiben konnte als er selbst. Und er schien das wohl für unmöglich zu halten. Damit irrte sich der junge Herr allerdings gewaltig. Sollte er noch vor dem Termin mit Acedia mit Joshua sprechen? Sollte er überhaupt mit Joshua sprechen?

Zwanzig Jahre hatten sie sich nicht gesehen, als er seine Freunde begrüßt hatte, hatte er ihn höflich ignoriert, doch jetzt ... Wenn er so mit Kyrie umsprang und ihr Feindseligkeit vermittelte ...

Nathan wollte nicht auch noch mitverantwortlich sein, wenn sie nicht einmal im Himmel glücklich werden konnte! Er musste mit Joshua reden, aber ... Er fühlte, wie sich in ihm etwas verkrampfte. Was ... wenn dann alles schief laufen würde? Er wollte nicht mit Joshua alleine sein. Also: Er wollte mit Joshua alleine sein, aber er durfte sich nie mehr wieder dazu hinreißen lassen, ihm zu nahe zu kommen! Nein ... Er ...

Er unterdrückte ein Seufzen.

Wie er ihn begrüßt hatte, als er nach zwanzig langen Jahren zurückkehrte! All diese Vorwürfe in seinem Blick hätten Nathan am liebsten dazu gebracht, ihn zu umarmen. Aber er hatte sich zurückgehalten.

Man umarmte seine Freunde nicht.

Nathan widmete sich wieder dem Gespräch. Joshua sollte sich wieder zurückverwandeln – in den Kerl, der er früher einmal war, aber ohne die Verbindung, die sie früher aufrecht gehalten hatten ... Sie waren doch beide mit dem Opfer einverstanden! Warum ... warum nahm es sie dann alle beide so mit? So sehr, dass sie sich so änderten ...

Das sollte dieser schwarzäugige Typ endlich verstehen! Oder sollte er eher sagen: Dieser blauäugige Nathan sollte es endlich verstehen? Dass es nicht sein Schicksal war, dem schwarzäugigen Kerl in die Augen zu sehen und zu wissen, dass sie sich nie mehr wieder trennen würden.
 


 

„Ich bestätige es!“, rief Liana, als sie zurück bei der Treppe angelangt waren, an der Kyrie bisher immer aufgebrochen war. Sie hatten zwar behauptet, dass sie von jedem erdenklichen Ort an jeden anderen Ort kommen konnte, doch sie war sich dem nicht so sicher. Es hatte etwas mit Willensstärke und Denkkraft zu tun, also … Nathan hatte ihr zugestimmt. Darum waren allesamt wieder zurückgekehrt. Sogar Joshua. Auch wenn er sich heute kaum in ein Gespräch mit eingemischt hatte.

Doch Liana, Thierry und Deliora waren einfach wunderbare Gesellschaft – und Nathan natürlich, auch wenn er auch ungewöhnlich still war. Vor allem, wenn Joshua in seiner nächsten Nähe war. Aber ihr wollte nicht einmal Liana sagen, was zwischen den beiden vorgefallen war – aber etwas musste gewesen sein, denn Lianas Reaktion auf ihre Frage diesbezüglich ließ keinen anderen Schluss zu.

Hoffentlich erzählte ihr Nathan davon … denn das würde sein Vertrauen in sie doch bezeugen, oder?

„Ich bestätige, dass Kyrie einfach meine neue Freundin ist!“, fügte Liana daraufhin hinzu und riss Kyrie aus ihrer Gedankenwelt.

„Ich?“, fragte sie überrascht.

Und während sie diese ungeschickte Frage noch stellte, hätte sie am liebsten vor Glück geweint. Und der Kampf gegen die Tränen wurde härter, als Deliora und Thierry zustimmend nickten und einige Worte diesbezüglich an sie richteten.

Sie wollten bereits nach einem Tag ihre Freunde sein? Obwohl sie Nathan schon kannten? Länger als sie selbst es tat? Besser als sie selbst es tat?

Waren sie also wirklich ihre Freunde … um ihretwillen?

Aus einem Reflex heraus streckte sie beide Arme aus. „Ich will eure Freundin sein!“

Und ehe sie sich versah, veranstalteten die Engel ein Gruppenkuscheln mit ihr, bei dem die Flügel der Beteiligten keineswegs im Weg waren.

Thierry, Deliora und Liana umarmten sie fest und liebevoll und … freundschaftlich! Sie fühlte sich inmitten dieser warmen Hände schlichtweg geborgen und … richtig.

„Hey! Ihr habt den Hauptcharakter vergessen!“, ertönte Nathans Stimme und sie wurde von hinten gleich noch dazu umarmt. Sie drückten einander fest.

„Komm gut nach Hause, Kyrie!“, sagte Deliora nach einer Weile, womit sie wieder die Vernunft durchbrachte. Sie verließ die Gruppe und stellte sich neben Joshua, der unbeteiligt daneben stand.

Langsam lösten sich auch die drei Verbliebenen aus der Umarmung.

„Ja, ich bestehe darauf, dass wir uns mindestens einmal die Woche treffen!“, rief Liana daraufhin – Kyrie war sich noch immer nicht ganz im Klaren darüber, weshalb sie immer schrie, obwohl alle in ziemlicher Nähe zueinander standen.

Nathan nickte. „Gut, dann werde ich Kyrie euch noch einmal antun!“ Er grinste. „Wenn sie nichts dagegen hat.“

Vier Augenpaare richteten sich auf sie und sofort entgegnete sie: „Natürlich nicht! Es würde mich wirklich sehr freuen, wenn wir mehr Zeit miteinander verbringen könnten!“ Freunde.

Sie hatte Freunde gefunden! ... Oder vielmehr: Nathan hatte Freunde zu ihr gebracht?

Sie wandte ihren Blick zu Joshua und lächelte ihn kurz zögerlich an, widmete sich dann aber wieder den anderen.

„Gut, abgemacht!“, stimmte Thierry daraufhin zu, „Ich sage, wir sollten uns jeden Mittwoch treffen. Mittwochs gibt es nämlich immer mein Lieblingsdessert von Wölkchen!“ Er grinste.

Kyrie lachte. „Ich bin damit einverstanden!“

Nathan nickte. „Also gut, meine Damen und Herren! Dann lasset uns auseinander stoben!“

„Bis demnächst“, verabschiedete sich Deliora und winkte ihnen zu, als sie davon flog, „Und vergesst nicht, eure Flügel zu stutzen!"

„Flügel stutzen …?“, murmelte Thi verwirrt, grinste daraufhin aber. „Also schön! Dann werde ich mich mal zu meinem Verein aufmachen!“

Thierry war Mitglied im Engel-Sport-Club. Er war Teamchef der „Goldenen“ und führte sie in verschiedenen Rubriken an. Das erklärte auch sein Aussehen. Aber Lianas Worte, die sie heute ausgesprochen hatten, ließen Kyrie keine Ruhe. Engel konnten ihr Aussehen selbst wählen? Wie ging das bloß? Und bedeutete das auch, dass sie sich Nathans Alterung nicht einfach eingebildet hatte? Er sollte ihr das erklären! Morgen. … Behauptete er.

„Kyrie!“, erlangte Liana ihre Aufmerksamkeit, „Auf drei verschwinden wir zusammen – und vergiss ja nicht, dich mittwochs mit uns zu treffen! Und einmal musst du mir deine Welt zeigen!“

Sie lachte. „Natürlich – wie könnte ich etwas davon vergessen?“

„Eins – zwei“, Liana legte eine Pause ein, „Drei! Auf wieder sehen!“

Mit diesen Worten rauschte sie davon.

„Bis dann!“, rief Kyrie ihr nach – es war aber auch an Nathan und Joshua gerichtet, „Und danke.“ Sie lächelte, als sie sich vorstellte, am Hochhaus zu landen.

„Morgen um drei wieder am üblichen Trainingsplatz!“, erinnerte Nathan sie noch schnell, als er ihr zuwinkte.

Bevor sie vollends von oben verschwunden war, nahm sie noch wahr, wie viel Nathan hinzufügte: „Sie macht wirklich rasante Fortschritte. Ich bin echt stolz.“

Sie spürte, wie der Rest ihres Körpers aus dem Himmel gezogen und am Hochhausdach des verlassenen Wohnhauses wieder zusammengebaut wurde.

Kyrie stand dort am Asphalt und hatte die Flügel noch ausgestreckt. Gedankenverloren strich sie über ihre Flügel. Freunde.

Dieser neue Teil ihres Lebens … er war so viel besser als der gesamte alte. Auch wenn sie sich gewissermaßen einer neuen Religion verschreiben musste, so war sie zumindest von lachenden Freunden umgeben und konnte neue Dinge lernen, die sich früher nicht einmal erträumt hatte! Körperveränderung – Licht – Magie und Wolken!

Freunde.

Die Tränen sickerten aus ihren Augen und sie wischte sie sich wieder fort. Sie hatte endlich Freunde … Thierry … Deliora … Liana … Nathan … Vier Freunde. Und es waren mehr als genug, um ihr Herz mit Freude zu ersticken.

Sie lächelte glücklich. „Danke“, murmelte sie daraufhin, „Wirklich … vielen Dank …“

Sie hatten ihr heute nicht nur gezeigt, wie der Himmel aussah. Nein, sie hatten ihr etwas viel Wichtigeres beigebracht: Was wahre Freundschaft wirklich war. Ihr Herz schwor ihr selbst, dass dies die wahre Freundschaft sein musste. Denn sie vermisste sie jetzt schon. Vermisste das Lachen, die Scherze, die Atmosphäre.

Kyrie schritt durch die Tür, die sie zum Treppenhaus bringen würde, durch das sie nach unten steigen würde und woraufhin sie den Weg nach Hause antreten würde.

Freunde.

Ihre Freunde hatten ihr heute gezeigt, was man im Himmel unternehmen konnte. Der Sportplatz war für himmlische Vereine erbaut worden. Ebenfalls aus gehärteten Wolken. Dort hatten sich mehr Engel getroffen, als sich Kyrie je hätte vorstellen können, dass es gäbe! Es waren bestimmt fünfhundert Flügelpaare an einem Ort!

Dort hatte es ebenfalls Essen gegeben. Engel aßen beinahe dasselbe wie sie, bloß dass es Engel des Siebten Ranges aus ihrer Magie herstellten und dass es ständig nur golden war. Es beinhaltete Licht, welches die Energie der Engel stärkte. Ihr wurde erklärt, dass Nathan vor allem diese Schwäche zuteil wurde – in den zwanzig Jahren auf der Erde -, weil er nichts Nahrhaftes essen konnte, da es dieses Licht nur im Himmel gab. Aber Liana hatte durchsickern lassen, dass Nathan nichtsdestotrotz stärker als sie selbst war …

Sie selbst hatte es zum ersten Mal probiert – und es schmeckte ihr! Danach fühlte sie sich auch gleich viel stärker. Es war gerade so, als hätte sie ihr ganzes Leben lang auf Essen verzichtet! Es war so viel Stärke in ihr … sie glaubte, sie hätte mit ihrer Magie einen zweiten Himmel erschaffen können! Doch das wäre natürlich unmöglich. Im Gegensatz zum Licht der anderen, war ihres noch immer mickrig. Sie hatte herausgefunden, dass sie Licht essen konnte, so viel sie wollte, doch niemals mehr Stärke erlangen würde, als von Anfang an für sie vorgesehen war.

Und das war nicht viel – es hatte irgendetwas mit der Evolution der Engel zu tun. Nathan würde ihr Näheres erklären, hatte man ihr gesagt. Aber ob das stimmte ...? Er erschien ihr doch irgendwie planlos - nein, nur chaotisch. Aber sie würde sich auf ihren Lehrmeister verlassen! Nein. Auf ihren Freund.

Die anderen Engel hatten sie noch immer ignoriert, aber es hatte auch keiner herumgeschrieen, dass sie der berühmtberüchtigte Halbengel war, der im Himmel sein Unwesen trieb.

„Halbengel sind … na ja … nicht immer ganz so beliebt“, hatte Liana ihr vorsichtig erklärt, „Manche finden … man solle sie einfach vernichten.“

Diese Worte hatten Kyrie beinahe das Herz aus dem Leibe gerissen. Sie? Vernichten? Bloß, weil sie nicht so vollkommen war? Wieso würde das jemand wollen? Sie störte doch niemanden …!

Thierry hatte gleich vom Thema abgelenkt, da er sie wohl an einem schönen Tag nicht mit einem solch dunklen Gedanken konfrontieren wollte, aber … Sie konnte es nicht vergessen. Was würde sein, wenn sie jemals einem dieser … dieser … Hassenden begegnen würde? … Sie hoffte einfach darauf, dass es ein Mittwoch sein würde – wenn ihre Freunde sie beschützen konnten … Sie würde so etwas alleine nicht durchstehen können …

Danach hatten sie sie noch mit dem Turm der Ränge bekannt gemacht. Es war ein riesiger Turm – mehr einem Schloss gleich, der so hoch hinauf ragte, dass sie das Ende nicht sehen konnte. Er war vollkommen in Gold gehalten und in die Wolken waren Verzierungen eingemeißelt worden, die dem ganzen eine edle Eleganz verschafft hatten. Es war erstaunlich, dieses riesige Ding anzustarren und sich seiner eigenen Winzigkeit bewusst zu worden.

Und an der Spitze dieses Daches, so erzählte Deliora, hauste Gott und beschützte den Himmel und die Erde vor dem Einfluss der Dämonen. Dies bestätigte ihre Theorie. Doch den Rest der Geschichte erzählte ihr Nathan morgen, hatte er ihr geschworen. Liana hatte daraufhin gelacht und gesagt, er solle sie nicht zu sehr erschrecken, denn morgen würde er scheinbar viel vor haben.

Diese Worte besorgten Kyrie. Weshalb erschrecken? Was war bloß mit dieser Welt geschehen, lange bevor sie geboren wurde? Es konnte doch nicht wirklich so schlimm sein, wie sie bereits befürchtete?

Sie schauderte beim Gedanken an Dämonen, die Menschen aßen, an Engel, die für Menschen starben und an Halbengel, die … die sich auf die Seite der Dämonen schlugen, die die Engel betrogen? Was nur konnte passiert sein? Was konnten die Halbengel vor ihr nur falsch gemacht haben, dass man sie vernichten wollte ...?

Sie schaute in den Himmel hinauf und blieb stehen. Es begann zu regnen. Im Himmel gab es kein Wettergeschehen. Thierry und die anderen kannten weder Wind noch Regen, weil er noch nie die Erde betreten hatte, wie er ihr anvertraut hatte. Sie hatte ihm versprochen, dass sie ihn einmal mitnehmen würde. Hierher, auf die Erde.

Sie ging die Asphaltstraße weiter und gab sich im trüben Licht goldenen Gedanken hin.

Freunde.

Sie hatte Freunde! Was würden ihre Eltern bloß dazu sagen, wenn sie dann mit vier anderen Engeln vor der Tür stehen würde? Irgendwann …! Wenn sie ein voll ausgebildeter Engel war!

… Erstaunlich!

„Stolz?“, erklang Joshuas ruhige Stimme, als Kyrie vollends verschwunden war. Nathan hatte sie seine Gedanken absichtlich hören lassen. Hoffentlich hatte sie seine Worte noch vernommen. Aber er war wirklich stolz auf sie. Immerhin lernte sie ausgesprochen schnell und war sehr interessiert.

„Stolz“, wiederholte er mit fester Stimme, ohne den Verbliebenen anzusehen. Warum war er noch nicht gegangen? In letzter Zeit war er immer als erster verschwunden. Nur heute nicht. Bedeutete das, er wollte ihn seines seltsamen Verhaltens wegen aufklären?

„Ich hoffe, sie hat dir nicht zu sehr den Kopf verdreht.“ Joshuas Stimme klang sowohl herablassend, wie auch provokant. Und zwar eindeutig, ohne die vorgestellte emotionslose Kälte.

Nathan glaubte, sich verhört zu haben. Was dachte der Mann sich da eigentlich zusammen?!

Konnte man ihn wirklich keine zwanzig Jahre alleine lassen, ohne dass er sich Horrorgeschichten zusammenreimte? Nicht dass es ein Horror wäre, Kyrie zu küssen, aber …

„Steck deine Fantasien anderswo hin, Joshua, aber lass sie nicht an mir aus.“

Er sah den Schwarzhaarigen an. Er hatte einen sturen Blick aufgelegt und das Kinn leicht vorgeschoben. Wollte er es tatsächlich heute klären? Wollte Nathan es tatsächlich heute klären? Er hatte ein schlechtes Gefühl dabei - so eines, das ihm sagte, dass alles schief gehen würde.

„Stell dich nicht an wie ein Hundertjähriger, Joshua! Darüber sind wir doch alle längst hinaus.“

Und das war wahr. Sie waren schon lange keine hundert mehr und sollten sich dementsprechend auch nicht wie senile Greise verhalten. Das hatten sie immerhin gemeinsam durchgenommen. Schreckliche Zeiten.

Sein Gegenüber kniff die Augen leicht zusammen und schenkte ihm ein erbostes Funkeln. „Das sagst gerade du“, entgegnete Joshua, ohne dass jegliche Emotion mitschwang, „Wie du sie ansiehst – dein Blick. Ich hoffe, ihr hattet die letzten Jahre über Spaß miteinander.“

Ehe sich Nathan Besseren bewusst war, schritt er auf Joshua zu und hatte diesen am Kragen hochgehoben, sodass er ihn überragte. Nebenbei bemerkte er, wie leicht der Mann geworden war. Oder Nathan einfach schwerer? ... Er hätte weniger Kuchen essen sollen!

„Kyrie ist mein Schützling“, knurrte er ihn an, „Und meine Freundin. Mehr nicht.“ Er hoffte, dass sein Blick annähernd so böse und einschüchternd war, wie er sich fühlte. Was fiel Joshua ein? Was für ein Märchen hatte er sich da bloß ausgedacht? Aber jetzt wusste er zumindest mit Gewissheit, woher der Wind wehte – Joshua war furchtbar eifersüchtig. Und das war dann vermutlich auch der Grund, weshalb er ihn seit neun Tagen kaum angesehen hatte: Er wollte wohl seine Fantasiegeschichte einfach verdrängen, indem er ihn verdrängte!

… Das war genau richtig so! Warum störte es Nathan dann so, dass er es tat? Warum wollte er es aufklären? Joshua sollte einfach seinen Abstand wahren, er sollte den Abstand wahren - alle wären glücklich und zufrieden, ihre Herzen wären gebrochen und sie wären auf ewig getrennt und einsam und ...

Er drückte seine Hände weiter zusammen – seine Knöchel traten weiß hervor, da er solch einer Anstrengung unterlag. Oder war es die wütende Verzweiflung, alles, was sich in ihm aufgestaut hatte, die ihn zu solch Anstrengungen trieb? Joshua ... Er ... er musste ihn einfach davon ätzen! Dann wäre er auch weg und ... Wieso war Joshua nach zwanzig Jahren überhaupt zurückgekommen? Hätte er nicht einfach fortbleiben können?

„Ich bin der Assistent einer Todsünde! Ich stehe im Rang also über dir“, fügte er hinzu. Nein. Er betonte es. Musste es betonen, sie daran erinnern. Er war es - er war ein Assistent! „Hüte deine Zunge! Kyrie ist viel reiner, als du oder ich es seit hundert Jahren je gewesen sind! Und sein werden.“

Auf Joshuas Miene stand Überraschung geschrieben. Er hatte wohl nicht mit einer solch heftigen Reaktion gerechnet. Verrechnet - so nannte man das wohl.

Als Nathan seine kurze Predigt beendet hatte, nahm Joshuas Gesicht weichere Züge an. Es stand wohl ziemlich in Kontrast zu seiner eigenen Fratze der Wut. Aber so sollte es auch sein.

Er ließ den anderen Mann wieder auf den Boden hinabsinken, wobei dieser kurz vor ihm stehen blieb. Sein Blick zeugte von Entschuldigung – aber auch von etwas anderem. Er wirkte traurig und … War es Einsamkeit, die er dort ablesen konnte? Natürlich war es Einsamkeit. aber warum ... wirkte er so? Joshua ... Er wollte ihn trösten ... Er wollte ...

„Joshua …“, murmelte er. Er hielt sich davon ab, sanft durch das weiche Haar des anderen zu streichen. Es war aus damit.

„Wie nur …?“, fragte er leise, für Nathan kaum verständlich – aber er vernahm es dennoch, „Wie nur könnte ich je jemand anderen lieben als dich?“, hauchte er leise, wobei er seinen Blick zu Boden wandte. Er wirkte überhaupt nicht mehr kühl und kalkulierend – hier war er wieder.

Joshua, derjenige, in den er sich vor so unglaublich vielen Jahren verliebt hatte.

Aber es war vorbei. Verdammt! Wieso konnte er das bloß nicht akzeptieren? Immerhin … immerhin hatten sie sich doch für seinen Vorteil dafür entschieden!

Sein Pflichtgefühl brachte ihn dazu, auf Joshuas Worte einzugehen. Doch … was sollte er sagen? Dass er ihn ebenfalls auf ewig lieben werde? Dass in seinem Herzen kein Platz für einen anderen erübrigt werden konnte? Das würde doch nur schmerzen. Sehr viele Schmerzen verursachen. Sich liebend, doch niemals zusammenfindend.

Verfluchte Karriere.

Vor allem die Unsicherheiten, die diese mit sich brachte … Er konnte Joshua doch keine ewig lange Wartezeit antun!

„Danke.“ Er entschied sich für die einfachste Variante. Doch ehe er sich versah, berührten seine Lippen die Joshuas. Für diesen kurzen, einen Moment des Abschieds durfte er sie endlich wieder fühlen. Nach so langer Zeit.

Nathan zwang sich, sich wieder vom überraschten Gesicht des Mannes zu entfernen.

Nein! Was hatte er schon wieder getan?! Konnte er niemals nachdenken? Ehe … ehe er seine Reflexe über sich herrschen ließ?

Und bevor er sich anders entscheiden konnte, dachte er schleunigst daran, auf der Erde zu landen.

Das Letzte, was er sah, bevor er sich vollends auf der Erde materialisiert hatte, war die Hand, die ihm bittend hinterher gestreckt wurde – zusammen mit dem flehenden Gesichtsausdruck, des noch immer überraschten Joshuas.

Zum Glück hatte es keinen Zweck, ihm zu folgen. Denn von diesen Punkt aus, hätte er überall hin verschwinden können. Wie vor zwanzig Jahren.
 


 

Kyrie war überrascht, als sie die Uhrzeit erfahren hatte. Bereits zehn Uhr. Solange war sie wirklich noch nie im Himmel geblieben. Durch den Himmel hatte sie es gar nicht so ablesen können. Aber jetzt, wo sie davon in Kenntnis gesetzt worden war … erschien es schon dunkel. Dunkler zumindest. Das konnte aber durchaus auch am noch immer prasselnden Regen liegen. ... Wenn sie im Himmel kein Zeitgefühl hatte ... woher hatten es dann die Engel? Nathan würde ihr das wohl hoffentlich irgendwann erklären ... Wenn er gerade dazu kam.

„Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wir könnten dich nicht einmal finden, falls etwas passieren würde!“, jammerte ihr Vater – den Kopf schüttelnd und die Hände verschränkt.

Sie saßen zusammen am Esstisch in der fröhlich eingerichteten Küche, die von verschiedenen Bildern – unter anderem Kindheitsbilder von ihr und Nathan, aber auch Kunstwerke, die sie damals fabriziert hatten – geschmückt wurde. Die Küchenzeile war einheitlich in einem schlichten Weiß gehalten, das von einem hellen, braunen Holz vervollständigt wurde, und glänzte wie immer, als wäre es vor wenigen Augenblicken frisch geschrubbt worden. Auf dem Vorratsschrank standen ein kleines Radio und eine orange Blume, deren Name Kyrie entfallen war. Die Farbe der Blüte war auf das Braun des Holzes um sie herum abgestimmt. Eine kleinere Version der Blume war vor ihr am Küchentisch platziert, wobei auch die Stühle dieselbe Farbe innehatten. Ihre Mutter liebte die Farblehre, das Dekorieren, das Gärtnern und sämtliche Haus- und Handarbeit. Eine fleißige und kluge Frau.

Sie stand gerade am Herd und bereitete Appetithäppchen vor, da Kyrie sie nicht davon überzeugen hatte können, dass Licht sättigend war. Aber hier auf der Erde fühlte es sich auch anders an … Wenn sie im Himmel war, konnte sie schwören, dass sie kein bisschen mehr Licht vertragen konnte – aber jetzt … sie fühlte sich wieder … leerer.

Ob das Materialisieren auf die Erde so viel von ihrer Energie abzapfte?

„Und was für Gefahren am Nachhauseweg auf dich warten können! Um diese Zeit!“ Ihr Vater lamentierte vor sich hin, wobei er sich immer wieder über den kläglichen Rest seines ergrauten Haares fuhr, um gleich darauf wieder mit verschränkten Händen streng dreinzublicken.

„Ach, John“, fuhr ihre Mutter ihn an, „Kyrie ist zwanzig und keine vierzehn mehr! Langsam solltest du ihr etwas zugestehen.“

„Ja – aber!“, widersprach er, wobei er leicht überrascht wirkte, dass seine Frau gegen ihn aussagte.

Dies brachte Kyrie zum Kichern. „Du brauchst dir wirklich keine Sorgen um mich zu machen, Papa!“, beruhigte sie ihn, wobei sie ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte, „Ich steige immer am Hochhaus in unserer Nähe hinunter, um ja den kürzesten Weg zu wählen, und im Himmel passiert mir nichts! Heute habe ich zum ersten Mal mit anderen Engeln gesprochen und sie waren alle wirklich sehr nett und zuvorkommend – wahre Engel!“

Plötzlich schlug sein Gesichtsausdruck um. Von besorgt und ängstlich hellte seine Miene zu neugierig und beeindruckt auf. Und je weiter Kyrie vom heutigen Tag und von Liana, Thierry, Deliora und Nathan erzählte, desto weiter schienen seine Sorgen in Vergessenheit zu rücken.

Wie schön!

Aber sie ließ Details über Verpeiltheit und menschliche Eigenschaften aus. Immerhin ... wollte sie sein Weltbild nicht ganz zerstören.
 

Nathan spazierte durch die südliche Hauptstadt. Hier kannte ihn niemand. Hier war er noch nie gewesen. Er war kein großer Fan des Südens, also hatte er sich gleich hierher auf eines dieser riesigen Häuser verfrachtet. Von denen gab es auch genug.

Die südliche Hauptstadt ähnelte der nördlichen, also der, in der er die letzten zwanzig Jahre zugebracht hatte, ziemlich. Die hohen Häuser und Wolkenkratzer waren dicht aneinander gereiht und wenn man gut hinsah, konnte man von oben viele Kirchen erblicken.

Also genug Möglichkeiten, um rechtzeitig vor dem Termin mit Acedia wieder zurückzukehren.

Es war in etwa zehn Uhr. Also war es bei Kyrie ebenso spät. In Geographie hatte er gut aufgepasst – es gab auf diesen beiden Kontinenten, die die Welt ausmachten, bloß drei Zeitzonen, die der Sonne angepasst waren. Er konnte sich das bloß so erklären, dass Gott hier einen Kampf gegen die Antigöttin verloren hatte, von dem nichts überliefert worden war.

Oder es war einfach aus Jux heraus geschehen, dass man die Sonne nicht überall vom gleichen Standpunkt aus betrachten konnte. Aber das war ihm eigentlich egal.

Hauptsache er war weg von Joshua.

Wie dieser Mann es einfach immer wieder hinbiegen konnte, ihn schwach werden zu lassen! Wie konnte er ihn bloß küssen? Er hatte sich jetzt sechsundachtzig Jahre lang zurückgehalten – inklusive den zwanzig Jahren, in denen er unerreichbar für Joshua war. Oder war es mehr andersherum?

Er spürte, wie die Röte in sein Gesicht stieg. Wieso war er nur so schwach geworden? Das war doch gar nicht seine Art! Er hatte es geschafft, ihn von sich zu weisen, bloß dass er zum Assistenten der Todsünde erwählt werden konnte!

Er hatte doch nicht einmal ernsthaft damit gerechnet, wirklich Acedias Assistent werden zu können. Aber als Assistent waren Liebeleien eben nicht erlaubt. Und auch keine Spielereien. Auch wenn die Todsünden selbst das anders sahen. Aber ihre Assistenten?

Sie mussten sich erst einen Ruf verschaffen.

Acedias Nachfolger …

Er schauderte. Hoffentlich würde das noch lange dauern. Er hatte jetzt immerhin schon eine Sache mehr erledigt als sie – sie hatte ihm anvertraut, dass sie nie einen Halbengel betreuen hatte müssen, als sie bloß Assistentin von Acedia war. Damals, bevor sie ihren Namen abgelegt hatte …

Acedia.

Huh. Hoffentlich machte sie es noch lange. Irgendwie hatte er keine Lust, von allen „Acedia“ gerufen zu werden. Wieso musste er auch in ihre Fußstapfen treten? Iras Assistent hatte es schön. Er konnte sich auf mindestens zwei Generationen von Männern berufen, die Ira geheißen hatten!

Aber er? Die letzten drei Acedias waren allesamt Frauen!

Und jetzt er. Haha.

Oh Mann! Wie peinlich. Stand er wirklich nicht darüber, ordentlich über Joshua nachzudenken, einen Schlussstrich zu ziehen und ihn zu vergessen? Ihn mit einem anderen davonfliegen zu sehen?

Macht war einfach grausam. Wenn man Macht hatte, war man einfach eingeschränkt. Vollkommen eingeschränkt.

Wenn Acedia aber unvermittelt sterben würde und er ihr Nachfolger wäre, so könnte er Joshua und sich selbst von dieser Trennung befreien und ihn wieder offen in die Arme nehmen … Immerhin wäre er dann eine Todsünde. Und kein Assistent mehr.

Wie grausam! Er konnte Joshua nicht in den Armen eines anderen erblicken, wollte aber auch nicht, dass Acedia starb und dazu bereit, ihr Amt einzunehmen, war er genauso wenig! Ihm fehlte die nötige Übung. Er brauchte viel mehr Zeit. Er würde bestimmt noch hundert Jahre lang üben müssen, um in etwa so viel Ahnung und Weisheit wie Acedia zutage zu bringen! Es war einfach kompliziert … Kompliziert und grausam.

Als er bemerkte, dass er wieder an einem leer stehenden Wohngebäude mit mindestens zehn Stockwerken vorbei gekommen war, wandte er sich zu dessen Tür um und ging hinein. Er erklomm die Treppen des Hauses und bahnte sich seinen Weg nach oben zur Dachterrasse.

Arbeitszimmer von Acedia. Okay – und los.

Von der Dachterrasse aus erhaschte er noch einen kurzen Blick über die Stadt, die keine für ihn ersichtlichen Grenzen hatte. Die Häuser verschwanden irgendwo am Horizont und er war sich sicher, dass es hinten noch weiter ging. Durch Elektrizität waren die Straßen hell erleuchtet und in dieser Dunkelheit wirkten die beleuchteten Fenster wie kleine Sterne am Nachthimmel.

Vermisste er das Leben in einem solchen Haus? Auf dieser Welt?

Apropos – eigentlich wollte er gar nicht mehr hierher zurückkehren. Toll. Wie lange hatte er das jetzt eingehalten? Neun Tage? Er übertraf sich selbst. Nicht.

Aber vermutlich sträubte er sich so davor, auf die Erde zu kommen, weil er um seine Schwäche wusste: Würde er sich dazu ermuntern können, wieder zurück in den Himmel zu kommen? Dort, wo Verpflichtung und Joshua auf ihn warteten? Während hier sein Leben voller Freude und Freizeit wartete? Er musste. Er war die Assistenz einer Todsünde. Es war seine Pflicht, zurückzukehren.

Und doch … wenn er sich hier am Kontinent versteckt halten würde … Jeder würde ihn nach fünfundzwanzig Jahren für tot halten. Er würde ein Leben gänzlich in Freiheit genießen. Frei vom Training – frei von Joshua. Aber andererseits … Er besaß so etwas wie Ehr- und Pflichtgefühl. Und nebenbei musste er Kyrie auf ihr Leben als Engel vorbereiten.

Und dann waren noch die Menschen an sich ein Problem …

Er hatte Kyrie nicht angelogen. Die Menschen hier waren fürchterlich. Sie waren allesamt anfällig für Dämonen, vor allem, wenn es ihnen schlecht ging. Man sollte nicht zu viel Zeit mit ihnen verbringen. Als Engel.

Aber war nicht eigentlich er selbst der Engel, der unter ihnen geweilt hatte? Der die Zeit mit ihnen genossen hatte? Zumindest das, was er tat. Die Gesellschaft war ihm egal. Aber es hatte ihm sehr zugesagt, dass er hier tun und lassen hatte können, was er wollte.

Als Assistent hatte er kaum Zeit für etwas anderes als seine Pflichten. Er hätte nie geahnt, dass er als Assistent der Todsünde so viel zu tun haben würde - dass er so viel lernen müsste! Er dachte immer, er wäre von Natur aus einfach begabt und stark gewesen … Und dabei? Dabei hatte er bloß die Basis eines Starken und musste lernen, stark zu sein. Beschützen zu können.

Darum auch der Auftrag, einen Schützling unter seine Fittiche zu nehmen. Mit einem Menschen begann man, die ganze Welt zu retten. Einen Halbengel zu versorgen, um daraufhin die Last der Welt auf den Schultern zu tragen … Das war ihm klar – obwohl er noch bemerkenswert wenig wusste.

Acedia hatte es gut. Sie konnte sofort die Welt retten. Sie hatte niemals eine Einzelperson schützen müssen. Sie war niemals in Versuchung geraten, auf der Erde ihren Tod vorzutäuschen. Sie war stark. Aber er wusste auch nicht, worauf sie damals verzichtet hatte, als sie selbst Assistentin gewesen war. Er wusste kaum etwas über sie, weil sie Abstand wahren wollte - natürlich. Ein Assistent erinnerte Todsünden an ihren näherkommenden Tod.

Aber ... je länger sie lebte, desto glücklicher war er.

Er würde sehr viel Zeit damit zubringen müssen, wie sie zu werden. Ihrer ebenbürtig zu werden. Viel Spaß dabei.

Und damit entfaltete er seine Schwingen und warpte sich in den Himmel. Direkt ins Büro Ihrer Majestät der Todsünde.

Als sich die massive Tür aus Wolkengewebe öffnete, erwachte Nathan langsam. Er öffnete die Augen und blinzelte. Man brauchte hier nicht zu schlafen, aber wenn einem vor lauter Langeweile nichts anderes mehr übrig blieb, tat man es eben gerne! Und es war bei ihm genau dieser Fall eingetreten. Wobei Schlaf an sich auch nichts Schlechtes war. Und ein guter Zeitvertreib.

„Gut geschlafen, Schlafmütze?“, ertönte Acedias Stimme, als sie die Tür hinter sich schloss. Ihr glänzend rotes Haar war hinten durch eine weiße Schleife zusammengehalten und erweckte somit den Eindruck eines jungen, niedlichen Mädchens. Diese Frau war allerdings weder jung noch niedlich.

Die Todsünde schritt langsam voran, dennoch wehte ihr Schleier, der an ihrem goldenen Rock haftete, fleißig, als stünde sie mitten in einem Tornado. So etwas hatte einfach Stil.

Als sie ihren eigenen thronartigen Bürosessel erreichte, überschlug sie die weiß bestiefelten Beine und musterte Nathan geschäftsmäßig.

„Ihr seid zwei … nein, drei Stunden zu spät“, merkte er mürrisch an und gähnte daraufhin übertrieben laut, „Was hätte ich sonst tun sollen, nachdem ich Eure Papiere nach dem Alphabet geordnet und sämtliche Neuheiten niedergeschrieben hatte?“ Dass er sich auch noch unterschiedliche Fälle durchgesehen und nach Priorität geordnet hatte, brauchte er gar nicht zu erwähnen. Er war eben ein Assistent - und das war seine Aufgabe. Und ihre wäre es eigentlich, ihn mit Arbeit zu versorgen. Und das pünktlich!

Sie lächelte amüsiert. „Ich wusste, du würdest kein Fehlgriff sein.“

Ihr Schreibtisch war zwischen ihnen. Die Papierstapel, die darauf lagerten, waren fein säuberlich geordnet, sodass Acedia sogleich ihre Arme am Tisch verschränken und sich ein wenig nach vorne beugen konnte. Bei der Unordnung, die sonst auf ihrem Platz herrschte, wäre das wohl kaum möglich gewesen.

„Ihr wirkt etwas bedrückt“, merkte Nathan an. Er war vermutlich diejenige Person, die Acedia am besten kannte, neben ihren Todsündenkollegen zumindest. Er bemerkte am Winkel ihres Mundes oder am Nichtsitzen ihrer Frisur, wenn etwas nicht stimmte.

Und die Überraschung, die sich jetzt in ihren Augen zeigte, verdeutlichte ihm, dass sie wohl glaubte, zwanzig Jahre der Abwesenheit würden irgendetwas an dieser Verbindung ändern. Die Sechsundsechzig Jahre zuvor überwogen!

Sie lachte kurz auf, antwortete ihm dann aber ernst: „Ganz recht. Mich bedrückt die Abwesenheit Luxurias. Sie ist bereits seit fünf Tagen nicht mehr auffindbar.“

„Fünf Tage bloß? Ihr wart manchmal doch selbst schon länger weg“, entgegnete Nathan, wobei er es sich auf seinem Sessel gemütlicher machte, indem er das Gewicht verlagerte und eine lässigere Haltung einnahm. Man wollte doch nicht weich wirken, wenn man mit einer starken Frau sprach! "Und öfter", fügte er noch sachlich hinzu.

Sie rollte kurz mit den Augen und murmelte etwas Unverständliches, rechtfertigte sich dann aber laut: „Ja, ich.“ Die Betonung war eindeutig. „Aber Luxuria ist einfach nur bissig und korrekt.“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Jemand wie sie verschwindet nicht so plötzlich und ohne etwas anzudeuten.“

Nathan zuckte mit den Schultern. „Hm“, machte er, „Da bin ich mir nicht so sicher … Vielleicht möchte sie euch bloß veralbern? Oder sich ein neues Image zulegen?"

„Luxuria albert nicht“, klärte Acedia ihn hart auf, wobei sie dann ihre Augen niederschlug und seufzte, „Was rede ich da aber bloß mit einem Assistenten darüber? Du würdest es sowieso nicht verstehen. Und so jemand soll mein Nachfolger werden? Aber bitte …“

Sie erhob sich graziös und streckte sich daraufhin kurz, ehe sie sich wieder ihm zuwandte.

Er überging ihr Murmeln einfach. Ja, er würde es einfach übergehen.

Sein Mund bildete dennoch eine unbeeindruckte Linie.

„Wie geht es unserem Sonderfall?“, wollte sie daraufhin wissen, wobei ihre Tonlage verdeutlichte, dass das nur Smalltalk war, um eine etwaige Stille zu unterdrücken „Dem Halbengel. Wie war ihr Name? Kira?“

„Kyrie“, verbesserte er seine Vorgesetzte, „Und es geht ihr gut. Sie versteht sich mit Vollwertigen und wird in den Grundlagen immer besser. Ich halte mich streng an Euren Plan. Bin ich eigentlich der erste, der ihn anwendet?

Acedia nickte. „Ja“, antwortete sie ihm, fuhr dann aber ohne Pause fort: „Es hat doch keinen Ärger mit Aufsässigen gegeben?“ Sie wirkte nicht besorgt.

„Nein, noch nicht. Kyrie hält sich eher im Hintergrund, da denke ich, dass sie weniger Gefahr läuft, einen Hasser zu erzürnen“, beantwortet Nathan ihre Frage aufrichtig. Ob der Plan dann geeignet war? Ihm erschien er relativ logisch, aber …Nun, er konnte den Aufbau nicht ganz verstehen und wusste auch nicht, ob Kyrie damit zufrieden war. Aber sie würde sich wohl melden, wenn etwas nicht stimmte. Oder? … Hätte Acedia das nicht im Vorhinein prüfen können? Es würde ihm Sorgen und Arbeit ersparen! ... Aber vermutlich war er so vollständiger, als wenn er ihn selbst angefertigt hätte. An einige Themen hätte er überhaupt keinen Gedanken verschwendet, wenn er sie nicht auf diesem Zettel gelesen hätte.

„Weshalb habt Ihr eigentlich plötzlich einen Assistenten haben wollen?“, fragte Nathan daraufhin. Er hatte das schon öfters von ihr wissen wollen, doch meistens gab sie ihm irgendwelche nichts sagenden Antworten. Also versuchte er es immer und immer wieder. Irgendwann würde sie wohl mit der Sprache rausrücken! Sie war eine der jüngsten Todsünden und die Einzige der jungen, die bereits einen besaß. Die drei alten hatten natürlich schon welche, aber die Richtlinie besagte eigentlich, dass man einen Assistenten erst ein- bis zweihundert Jahre vor dem theoretischen Ableben benötigen würde. Und davon war Acedia wohl noch meilenweit entfernt!

„Ich wollte schon von Anfang an einen haben. Aber keiner war annähernd stark genug.“ Plötzlich drehte sie sich wieder zu ihm um und schenkte ihm ein Grinsen. „Und dann ist mir einer in die Arme geflogen.“

Nathan erinnerte sich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen. Er hatte sich mit Joshua gestritten, weil dieser davon überzeugt war, dass Nathan stark genug wäre, zum Assistenten und damit zum Nachfolger eines Ranges zu werden. Sie hatten daraufhin sämtliche Assistenten, die nicht völlig abgehoben waren, aufgesucht und mit ihnen gesprochen.

Jeder hatte ihm zu geschworen, dass er furchtbar stark wäre.

Als Joshua ihn dann beinahe gezwungen hatte, sich zu bewerben – koste es, was es wolle -, hatte es ihm gereicht. Er wollte sein Leben damals nicht von Regeln bestimmen lassen, sondern von seinen Gefühlen Joshua gegenüber. Vor allem, da er um das unangenehme Verbot für Assistenten wusste – man musste sich das Recht, sein Leben leben zu dürfen, verdienen, nachdem man genug gelernt hatte, um leben zu können. Vor allem in einer hohen Position. Das traf auch auf andere Assistenten zu – sogar die der siebten Ränge. Doch je höher der Rang, desto mehr wurde darauf geachtet. Beziehungsweise ... desto weniger Zeit für irgendetwas blieb übrig! Assistenten hatten keine Freunde, keine Leidenschaft. Sie widmeten ihr Leben ihrer Arbeit. ... Wenn es doch so einfach wäre, wie es klang.

Na ja – er war schleunigst weggeflogen, ehe der andere ihn gezerrt hatte, und hatte eine kleine Kollision angerichtet – er war voll in Acedia hineingedonnert, welche seine Stärke wahrgenommen und ihm das Angebot der Assistenz unterbreitet hatte.

Und jetzt war er seit sechsundachtzig Jahren ihr Unterstützer. Verdammter Joshua.

„Hör mir zu, wenn ich mit dir rede“, schalt sie ihn, wobei sie ihre Augenbrauen leicht zusammenzog, um wütend zu wirken. Aber sie war nicht zornig. Acedia war nie wirklich zornig - immerhin war sie eine Todsünde und somit besaß sie eine große Portion Selbstbeherrschung. Musste sie besitzen. Sie brauchte einen kühlen, sachlichen Kopf, der nicht von Gefühlen gelenkt war.

„Tut mir leid – ich war im Gedanken“, entschuldigte er sich peinlich berührt. Blöd. Wie konnte ihm nur das wieder passieren? Er unterdrückte ein Seufzen. „Was habt Ihr gleich gesagt?“, wollte er höflich von ihr wissen, wobei er sein charmantestes Lächeln aufsetzte.

„Ich habe gefragt, ob es irgendwelche annähernd interessanten Neuigkeiten gibt.“

Nathan durchstöberte seine Erinnerungen, doch ihm fiel nichts Nennenswertes ein. Er hatte alles aufgeschrieben. Sie konnte sich die unwichtigen Sachen dann später – oder in ihrem Fall: in ein paar Jahren – durchlesen.

Aber eine Frage hatte er ihr stellen wollen. „Warum seid Ihr in letzter Zeit eigentlich häufiger und auffallend länger zu spät als noch vor zwanzig Jahren? Mir fehlt es an Hintergrundwissen.“ Oft hatte er sich seit seiner Rückkehr nicht mit ihr getroffen, doch auch er schnappte Gerüchte auf. Er fragte sich, wer diese in die Welt setzte. Die anderen Todsünden wohl eher nicht, aber sie konnten vor ihren Assistenten lamentieren, diese wendeten sich an den verbliebenen Rest ihrer Freunde, denen sie zu wenig Aufmerksamkeit schenkten, und diese plauderten dann aus dem Nähkästchen, weil sie sonst nichts zu tun hatten.

Jedenfalls stellte er fest, dass Acedia ohne ihren gewissenhaften Assistenten völlig missriet!

Sie kicherte und lächelte dann geheimnistuerisch. „Das geht einen kleinen Auszubildenden nichts an“, wies sie ihn ab, wobei sie mit der Hand wedelte, als wolle sie eine lästige Fliege loswerden. Nicht, dass es im Himmel Fliegen geben würde. Aber auf der Erde. Er konnte diese lästigen Tierchen nicht leiden!

Er lächelte. „Verstehe.“

„Na dann – ich hoffe, ich habe dich nicht umsonst aufgeweckt.“ Sie wandte sich um und nahm den Türgriff in ihre zarte Hand. „Wenn ich dich wieder benötige, werde ich es dir zukommen lassen. Und falls du etwas von Luxuria aufschnappst – und sei es nur ein Gerücht -, dann melde dich unverzüglich bei mir.“

„Das werde ich“, versprach er.

Sie öffnete die Tür und schritt hinaus – graziös und anmutig wie eine Königin.

Nicht, dass er je eine Königin gesehen hätte.
 


 

Ray musterte sein Handy und starrte auf das Display. Wollte sie sich nicht beeilen oder war ihre Pause schon vorbei? Na gut – er hatte nichts Wichtiges geschrieben, aber sie antwortete doch auf jeden Blödsinn sofort. Und es war doch nichts dabei, dass er vom Zustand seiner Mutter erfahren wollte! Einmal wieder. Wie jeden Tag.

Plötzlich vibrierte das Mobilfunkgerät und eine Nachricht wurde angezeigt.

„Du Schnarchnase, ein paar Leute haben – verdammt noch einmal! – zu tun! Stör später.

Aber deiner Mutter geht es gut. Sie hat nach deinem Studium gefragt.

Und lass mich jetzt arbeiten, du fauler Student!"

Na gut, für so einen langen Text durfte man länger brauchen.

Schnell tippte er eine Antwort: “Nenn mich nicht Schnarchnase", beantwortete er ihren ersten Vorwurf, dann fuhr er fort mit: "Grüße sie nett von mir und richte ihr aus, dass mein Studium super läuft." Bevor er den letzten Satz eintrug, dachte er kurz nach: "Nein, ich lasse dich nicht in Ruhe. Du bist ein toller Botenjunge!"

Es war einfach abwechslungsreich mit seiner alten Freundin zu kommunizieren. Sie kannten sich schon seit sie klein waren. Kylie. Kylie Immenson. Die vermutlich blondeste Blondine der Welt. Sie war oft genervt, immer frech und vor allem seine beste Freundin, die er je haben würde. Und dazu noch freiwillige Betreuerin seiner Mutter, um seine Schwester und deren zukünftigen Ehemann abzulösen. Er sollte wirklich nicht so gemein zu ihr sein, nach dem, was sie bereits für ihn getan hatte, aber … Sie war seine beste Freundin. Sie pflegten das immer so zu tun - und auch eine komplette Zugstrecke zwischen ihnen konnte das nicht ändern.

Sein Handy ertönte erneut und ein dummer Smiley war darauf zu sehen. Sehr witzig. Er steckte das Gerät wieder ein und ging weiter seines Weges.

„Hallo!“, ertönte plötzlich hinter ihm.

Er drehte sich um und erblickte Kyrie. Ihr langes, schwarzes, ungezähmtes Haar stand in dieser chaotischen Ordnung ab und rahmte ihr freundliches Gesicht mit diesen unfassbar dunklen Augen ein.

„Hey, Kyrie“, begrüßte er sie, „Bist du heute später dran?“

„Ja. Der Dozent hat überzogen. Aber es war sehr interessant. Wir haben heute Gottesbeweise durchgenommen.“ Sie wirkte überaus amüsiert.

Er konnte das nicht nachvollziehen. Es gab keinen Gott. Auch wenn es ihn beunruhigte, dass er, seit Kyrie ihm manchmal von ihren Studien erzählte, öfter gen Himmel blickte und stumme Fragen stellte. Er wusste selbst nicht, an wen genau er sie stellte. Immerhin gab es da oben keinen.

Aber das war eine andere Geschichte.

„Und – haben sie einen Beweis vorzubringen, der einen begeisterten Atheisten umstimmt?“ Er schaute sie interessiert an.

Kyrie lachte daraufhin.

Plötzlich stolperte sie nach vorne und ein genervter Mann drängelte sich murrend an ihr vorbei.

Ray stützte sie sogleich, sodass sie das Gleichgewicht nicht verlor und sich sofort wieder fangen konnte.

„Mitten in der Hauptstraße zu stehen, ist unklug“, verkündete er trocken und wandte sich um, um Richtung Mauer zu gehen, wo sie sonst immer saßen, „Hoffentlich hat keiner den Platz weggenommen.“

„Ich denke nicht, dass den jemand haben will“, wandte Kyrie ein.

Er blickte kurz zurück, um sicherzugehen, dass sie ihm folgen konnte und als er zufrieden gestellt war, schritt er voran.

„Natürlich“, widersprach er ihr, „Immerhin sind wir dort gewesen. In hundert Jahren wird da ein Denkmal stehen, darauf wette ich!“ Er grinste – wohl wissend, dass sie es nicht sehen konnte.

Sie lachte amüsiert über seinen Einwand und setzte sich auf die Mauer, wobei sie ihn nachdenklich anschaute.

Er platzierte sich neben sie, sodass er sie wieder um mindestens vier Köpfe überragte, und musterte sie. Heute trug sie wieder einen kurzen, schwarzen Rock und eine dazu passende, weiße Bluse, wodurch sie noch mehr wie ein Schulmädchen wirkte. Sie vermittelte so schon den Eindruck, als wäre sie ziemlich jünger, als sie eigentlich sein konnte, doch ihre Kleidung unterstrich das heute besonders.

„Um mit dem tollsten Thema anzufangen“, sagte sie und blinzelte ihm kurz zu, „Nahtoderfahrene berichten von einem paradiesähnlichen Zustand im Moment des Todes …“ Sie pausierte.

Tod … der verdammte Mistkerl war tot … Hoffentlich war er in die verfluchte Hölle gekommen!

„Kommen alle ins Paradies?“, wollte Ray von ihr wissen, wobei er sich gezwungen an Selbstbeherrschung erinnerte und dadurch ein Knurren unterbrach. Allein der Gedanke an den Kerl machte ihn rasend! Der Kerl inklusive Paradies brachte ihn zum Ausflippen! Warum ... Warum musste all das geschehen sein?

„Ja“, antwortete sie ohne Umschweife, „Gott nimmt alle auf – Menschen, En…" Sie stockte kurz. "Enten … Katzen …“

„Mörder? Verbrecher?“, informierte er sich so kühl wie möglich. Es war ihm klar, wie kalt und mürrisch er wirken musste, doch dieses Thema … Allein das ständige Wissen um seinen Arm verhinderte es, es jemals zu vergessen. Und seine Anwesenheit in dieser Stadt. Seine Mutter im Roten Dorf.

„Ich denke … Gott nimmt sie auf, aber er wird ihnen eine Moralpredigt halten. Immerhin sollten sie sich auch an die Gebote halten, die er uns im Laufe der Schöpfung vermacht hat", antwortete Kyrie, "Ich bin mir sicher, dass er jedem noch eine zweite Chance gibt."

Ray nickte. Sie konnte nichts dafür. Sie konnte nichts dafür, dass Gott so unfair war. Dass er Unfaires zuließ. … Aber sie war so überzeugt davon, dass es diesen gerechten Gott gab. Würde er ihn auch jemals so sehen können wie sie?

Oder würde er sie davon abbringen können, an dieser Geschichte hängen zu bleiben?

Er hatte ihr einen Teil seiner Geschichte erzählt. Immerhin hatte er es versprochen. Sie wäre seit … seit Jahren die erste gewesen, der er das Geschehene wiedergegeben hätte, doch … er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie damit zu belasten. Oder sich selbst allzu detailliert daran zu erinnern. Er wollte vergessen. Verdrängen. Nicht daran denken ...

Er hatte es ziemlich zusammengekürzt. Aber irgendwann würde er ihr mehr erzählen …

Sie hatte ihm im Gegenzug dafür von ihrer damaligen Freundschaft zu Nathan Princeton, dem Über-Drüber-Studenten, erzählt. Ray hätte nicht gedacht, dass Kyrie mit einer solchen Persönlichkeit zu tun gehabt hätte.

Nathan war scheinbar vor vierzehn Tagen ins Blaue Dorf gezogen – was auch immer man genau dort wollte.

Sie brauchten dringend ein anderes Thema. „Hast du wieder einmal etwas von Nathan gehört?“, wollte er von ihr ins Schweigen hinein wissen, „Immerhin sollte man sich um alte Freunde kümmern.“ Er selbst hielt sich daran zwar nicht, da er wirklich nur noch mit Kylie den Kontakt aufrecht erhielt, aber es klang immer gut, irgendwelche Weisheiten von sich zu geben.

„Nathan?“, fragte sie überrascht. Ein seltsames Glitzern machte sich in ihren Augen breit, danach schüttelte sie den Kopf. „Nein – ich sagte doch, dass wir keine Freunde mehr waren. Er wird sich bestimmt nicht bei mir melden … Wenn ich ein Autogramm von ihm hätte, würde ich es dir wirklich geben!“ Sie sah ihn flehend an – nach dem Motto „Bitte glaube mir doch endlich!“.

Er lachte kurz. „Natürlich glaube ich dir! Als könntest du lügen.“ Er grinste. „Ich habe Nathan zwar nur das eine Mal getroffen, aber er hatte einfach etwas Beeindruckendes und Anziehendes an sich. Aber … ohne dich würde ich ja nicht einmal wissen, dass er Nathan heißt!“

Sie nickte, wirkte aber, als wolle sie nicht bei diesem Thema bleiben. Na gut – verständlich. Immerhin waren ihre Wege auseinander gegangen. „Hast du eigentlich noch Freunde aus deiner alten Heimat?“, wollte sie dann interessiert von ihm wissen.

„Freunde? Hm – ja“, antwortete er dann, wobei er so tat, als müsste er darüber nachdenken, „Auf Anhieb fällt mit da Kylie ein. Sie ist ein wenig verrückt, aber ansonsten ganz nett.“

Man sah Kyrie an, dass sie die Informationen verarbeitete, ehe sie darauf einging: „Was macht diese Kylie so? Studiert sie auch?“

„Nein, sie ist im Dorf geblieben. Sie arbeitet jetzt als Krankenschwester. Beziehungsweise - sie macht die Ausbildung dazu. Unter anderem pflegt sie meine Mutter.“ Er hatte durchsickern lassen, dass seine Mutter pflegebedürftig war. Aber mehr auch nicht. Es war einfach nicht leicht, über seine Mutter zu reden – im Wissen, dass er hier war und sein Leben lebte und sie weit weg im Stich ließ …

„Deine Schwester schafft das. Und wenn sie dann noch Hilfe von Kylie hat, werden sie es schon hinbekommen!“, meinte Kyrie aufmunternd und lächelte ihn freundlich an.

Er blinzelte überrascht. Woher wusste sie …?

„Jetzt lächle bitte wieder … Sonst macht mich das traurig …“, bat sie ihn daraufhin und sah ihn mit ihren tiefbraunen Augen besorgt an.

Er strich sich kurz durchs braune Haar und schüttelte danach den Kopf. „Vor Frauen kann man einfach nichts geheim halten …“ Er lächelte. „Und im Gegenzug dafür lassen sie einen immer lächeln.“

Jetzt war es für Kyrie an der Zeit, überrumpelt dreinzuschauen, doch sie tat die Überraschung mit einem hellen Lachen ab.

„Du bist einfach herrlich“, lobte sie ihn fröhlich.

Ein Hupen ertönte.

Beide schauten zum kleinen Auto, das ungeduldig am Parkplatz stand und auf eine Mitfahrerin wartete.

„Die Zeit hier vergeht eindeutig zu schnell!“, befand Ray.

Kyrie nickte bekräftigend. „Viel zu schnell.“ Sie schob sich von der Mauer, Ray tat es ihr gleich.

Er hob seine Hand zum Gruß. „Bis morgen, Kyrie! Kommt gut nach Hause.“

Sie lächelte. „Danke, bis morgen." Dann ging sie los. "Du auch.“

Danach eilte sie winkend an ihm vorbei und schlüpfte ins Automobil, nachdem sie dieses erreicht hatte. Ihre Mutter winkte ihm ebenfalls zu.

Er winkte zurück.

Und dabei fragte er sich, ob seine Mutter jemals wieder so winken können würde.

Ray lehnte sich gegen die Mauer. Irgendwann bestimmt. Er würde einen Weg finden, alles zu heilen.
 


 

„Ray … So heißt dieser junge Mann, oder?“, fragte John Kingston, als er in der Küche hockte und seiner Frau beim Geschirrspülen zuschaute. Er hatte seinen Teil der Arbeit bereits erledigt. Kyrie war auch schon wieder im Himmel.

Magdalena wandte sich zu ihm um und zog eine Augenbraue mahnend nach oben. „Du hast doch nicht vor, dich einzumischen, oder?“, wollte sie schnippisch wissen.

Sofort hob er abwehrend die Hände. „Keinesfalls! Nie im Leben! Es war nur … Interesse …“, erläuterte er ihr, „Wobei ich es bemerkenswert finde, dass sie jeden Wochentag lächelnd ins Auto steigt, während sie sonntags einfach ausgelaugt und weniger glücklich wirkt und sonntags …“

„Sonntags steht sie um sechs Uhr auf, um mit dir zur Kirche zu gehen“, entgegnete seine Frau, „Und wenn nicht, dann geht sie frühmorgens bereits in den Himmel mit Nathan! Erwarte nicht, dass Ray ihr gleich einen Ring schenkt.“

„Es wäre das Schlimmste“, kommentierte John und grummelte vor sich hin. Kyrie – seine Tochter, ein Engel! – hatte eindeutig einen Engel verdient. Nathan zum Beispiel. Er kannte ihn, sie kannte ihn, Nathan kannte sie … Die beiden waren doch schon vor zwanzig Jahren füreinander geschaffen! Es schockierte ihn zwar, dass er bereits über hundert Jahre alt war, aber …

„Mische dich nicht zu sehr in ihr Leben ein, John“, ermahnte Magdalena ihn, „Sie fängt an zu erwachen.“ Sie hielt in ihrer Tätigkeit, einen Topf sauber zu bekommen, inne und starrte scheinbar ins Leere. „Es wundert mich auch nicht … Sie hat zwanzig Jahre lang ihr wahres Wesen unterdrücken müssen …“ Dann lächelte sie. „Ich bin stolz auf meine Kleine.“

„Und ich erst“, stimmte John zu. Und das war er. Er war verdammt stolz auf sie.

Aber von diesem Ray sollte sie dennoch die Finger lassen. Oder lieber andersherum.
 


 

Nathan saß ihr gegenüber. Er wirkte relativ gut gelaunt, doch irgendetwas schien an ihm zu nagen. Aber er wollte ihr nicht sagen, was. In dieser Hinsicht erinnerte er sie irgendwie an Ray. Beide waren immerzu versucht, ihre Gefühle vor ihr zu verbergen, um ihr ja keinen Grund zur Sorge um die beiden zu verschaffen …

Sie fragte sich, ob sie wussten, dass sie in diesen Fällen immer dreinschauten, als wäre ihre Lieblingskatze vor ein Auto gesprungen. Und ob ihnen klar war, dass sie ihr dadurch das seichte Gefühl gaben, dass sie des Geheimnisses nicht wert war, aber …

„Also leben Engel sozusagen dreimal?“, fasste sie das Gehörte zusammen. Sie saß am Wolkenboden, während Nathan wieder auf der Treppe Platz genommen hatte. Er schien mehr herumzulungern, als zu sitzen, doch Kyrie störte sich daran nicht. Auf der Erde hätte er sie damit vermutlich gestört. Immerhin wären zwanzig Chaoten gekommen, die es ihm nachgetan hätten, und vermutlich noch jeden, der es nicht nachahmen wollte, beschimpft hätten.

Er nickte. „Genau – also – wie lautet der Zyklus?“

„Ein Engel wird geboren … Wie eigentlich?“, wollte sie von ihm wissen.

Sofort verschränkte er ernst die Arme. „Was haben wir zu dem Thema gesagt?“

Sie seufzte und rollte mit den Augen, um ihrer Genervtheit Ausdruck zu verleihen. „Erst die Antwort, dann die Fragen …“ Er nickte zufrieden.

„Ein Engel wird geboren und hundert Jahre alt. Dieser erste Zyklus wird ‚menschlich’ genannt, da die Engel eigentlich denselben Weg, altersmäßig, wie Menschen gehen. Der zweite ist dann der verdrehte. Sie werden von einem hundertjährigen Greis wieder zu einem neugeborenen Kleinkind. Damit sind ihre Kräfte vollendet und sie leben noch etwa sechs- bis siebenhundert Jahre in der Altersgruppe und Gestalt, die sie sich von ihren vorherigen Zyklen ausgesucht hatten.“

Nathan nickte. „Wenn du kein Mensch wärst, könntest du dir nach dem Rückwärtsgang auch aussuchen, wie gut aussehend du sein möchtest!“ Er machte eine kurze Pause. „Wenn du gut aussehend bist, heißt das – was du bist.“ Er grinste, wobei sie kurz errötete und einen Dank murmelte. Dieser Schleimbeutel! Doch der Ernst der Lage nahm in ihrem Kopf wieder die Überhand.

„Jetzt ist mir noch eine Frage eingefallen …“, bemerkte Kyrie, „Aber zuerst die andere …“

„Über Geburten reden wir später“, unterbrach Nathan sie barsch, „Nächste Frage?“

„Du bist mit mir aufgewachsen … Wie geht das? Du hast erwähnt, dass man sich nach den ersten zweihundert Jahren für den Rest seines Lebens entscheiden muss, welches Erscheinungsbild man annehmen möchte.“

Nathan grinste. „Todsünden. Todsünden sind so stark, dass sie einem diese Entscheidung abnehmen und einen Zyklus rückkehren können. Sie haben mich also wieder in den ersten Zyklus gesteckt.“ Er überlegte kurz. „Das war auch der Grund, weshalb ich den Himmel zwanzig Jahre lang nicht betreten durfte. Im Himmel hätte ihre Magie gegen die Natürlichkeit und das Alter meiner Flügel versagt und ich hätte meine ursprüngliche Gestalt angenommen – die Zyklen wären also an mir vorbeigezogen und es wäre Zeit- und Energieverschwendung für die Todsünden gewesen. Und so etwas hassen sie.“

Kyrie nickte. Kompliziert … Aber es musste sein. Sie wollte alles über Engel erfahren! Sie waren so tolle und komplexe Wesen … Dass sie ihr eigenes Alter und Aussehen bestimmen konnten, die Magie, die sie über ihre Flügel lenken konnten. Nur der Fakt, dass sie auch Waffen schwingen konnten, schockierte sie ... Aber wenn sie diese nutzten, um für das Gute und für Gerechtigkeit zu kämpfen, war es wohl legitim ... Obwohl es immernoch so ein komisches Gefühl in ihr zurückließ. Waffen waren schlecht, sie verletzten.

„Ich denke, das war das Letzte, was ich dir verraten musste“, eröffnete ihr Nathan dann. Er schaute unberührt drein.

Kyrie hingegen war sich des Schocks, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, bloß zu bewusst. Ließ er sie wieder allein? Musste sie sich ab jetzt alleine durch den Himmel kämpfen?

„Beruhige dich!“ Er grinste sie feixend an. „Aber schön, dass es seinen Effekt hatte.“ Daraufhin lachte er kurz laut auf. „Jedenfalls – jetzt gehen wir zu praktischeren Dingen. Ich werde dir beibringen, wie man Magie benutzt.“

Und während sie zum Trainingsplatz aufbrachen, erinnerte sich Kyrie daran, dass er ihr den zweiten Teil der Schöpfungsgeschichte vorenthalten hatte. Und das mit den Geburten - und, wie sie ihn kannte, noch zeitausend andere Sachen. War das beabsichtigt?

„Du musst dich mehr konzentrieren!“, schalt er sie, als der Lichtstrahl erneut versagte. Entnervt seufzend, trat Nathan ein paar Schritte zurück und verschränkte die Arme. Er erschien sehr nachdenklich und darauf bedacht, irgendeinen Fehler zu finden, gegen den er einen Verbesserungsvorschlag aufzuweisen hatte.

Kyrie hingegen hatte kaum mehr die Kraft, aufrecht zu stehen. Sie fühlte sich regelrecht ausgezehrt – und das im Himmel! Ihr war nur zu sehr bewusst, dass sie sehr gekrümmt dastand, sich zwischen ihren Augenbrauen eine Sorgenfalte gebildet hatte und ihre Augen kurz davor standen zu tränen. „Es tut mir leid“, brachte sie daraufhin niedergeschlagen hervor, „Ich kann mich einfach nicht mehr konzentrieren …“

„Das gibt es nicht!“, entgegnete er barsch, „Du bist einfach zu abgelenkt!“

Sie schwieg für einen Moment – und nickte daraufhin. „Ja, das kann sein …“

Es gab so viele Dinge, die in ihrem Kopf nisteten und die unbedingt bearbeitet werden wollten … Wie sollte sie all jene Dinge nur verdrängen? Es erschien ihr kaum möglich, nicht über die Schöpfung nachzudenken, während sie sich um Rays Vergangenheit sorgte und dann noch um die Beziehung zwischen Nathan und Joshua! Dazu kam noch, dass sie Magie in ihrem Körper hatte und dass … dass sie Welt von Dämonen befallen war und die Antigöttin – diese verdammte Antigöttin!

Schockiert über den unabsichtlich gedachten Fluch, schlug sich Kyrie die Hände vor den Mund.

„Ist dir schlecht?“, fragte Nathan – plötzlich besorgt.

Sie ließ sich auf die Wolken sinken. „Ich glaube nicht, dass ich heute noch etwas zustande bringe …“, murmelte Kyrie, während sie sich mit den Händen auf die Wolken stützte.

Nathan schritt langsam auf sie zu und ließ sich dann neben ihr fallen. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich, „Ich hätte dich nicht so antreiben sollen.“ Er lag einfach am Boden.

Kyrie schaute nach unten auf Nathans gealtertes Gesicht. Aber es waren noch immer dieselben Augen, die sie von dort aus beobachteten. Nur starrte er sie jetzt auf eine andere Weise an. Nicht mehr so … herrisch. Sondern mehr … freundschaftlich … Ja, das war es … Sie waren wieder Freunde. Wie früher.

Sie lächelte ihm zu. „Ich finde es gut – ansonsten hätte ich schon vor zwei Stunden aufgegeben! Und dann hätte ich die Lichtpyramide nicht hinbekommen.“

Er setzte sein übliches, schiefes Grinsen wieder auf. „Die war wirklich beeindruckend!“

„Findest du?“, hakte Kyrie nach, wobei sie ihr Lächeln nicht absetzte. War das ein Kompliment? Erst sagte er, dass er stolz auf sie wäre und jetzt fand er eines ihrer Werke ‚beeindruckend’? Das war … wunderbar! Auch wenn er vermutlich leicht übertrieb ... Aber sie freute sich.

Er nickte. „Selbstverständlich! So eine Pyramide schafft nicht jeder gleich am ersten Trainingstag. Es ist zwar bloß eine Übung – aber eine gemeisterte Übung ist eben eine gemeisterte Übung! Wenn wir die nächste Woche noch fleißig durchgehen und üben, was du alles schaffen kannst, dann sind wir bald fertig!“ Er wirkte aufmunternd, seine Worte klangen motivierend und insgesamt strahlte er eine fröhliche Stimmung aus.

Und Kyrie fühlte sich bereits besser. Sie fragte sich, ob der Himmel sie aufgeladen hatte oder ob Nathans Glück ansteckend war. Vermutlich eine Mischung aus beidem. „Was bedeutet es, wenn wir fertig sind?“, wollte Kyrie von ihm wissen. Mit der Schöpfungsgeschichte würde sie später nachrücken.

„Dass ich dich dir selbst überlassen kann – du darfst dann unbeaufsichtigt im Himmel herumspazieren und eigene Erfahrungen machen!“ Er lächelte. „Aber natürlich bleiben wir in Kontakt. Ich muss mich bloß nicht mehr um drei Uhr nachmittags aus den Federn zwingen.“ Sein Ton ließ auf einen Scherz schließen. Engel schliefen immerhin nicht zwingend.

Sie lachte kurz. „Soll ich mich darauf freuen?“ Diese Frage war ihr ernst. Sollte sie sich wirklich darauf freuen? Immerhin gab es da draußen diese Hasser … und Nathan war eine so angenehme Gesellschaft! Außerdem traf sie sich mit seinen Freunden doch nur mittwochs und … Sie hatte keine Ahnung, wie andere Engel auf sie reagieren würden ...

„Natürlich!“ Er grinste. „So etwas ist dann wahre Freiheit, Kyrie! Über sein Leben selbst entscheiden zu können. So etwas möchte man doch, oder? Wenn du möchtest, können wir natürlich auch weiter üben. Ich habe wirklich nichts dagegen.“ Er lächelte. „Da trainiere ich mich selbst auch mal wieder. Ich bin ja fast eingerostet!“

„Das wäre sehr nett …“, sagte Kyrie daraufhin, „Aber diese Woche führen wir schon noch durch, oder?“ Sie war sich bewusst, dass ihre Stimme besorgt klang. Sie war auch besorgt. Es wirkte alles so sehr wie ein Abschied!

Nathan richtete sich ein wenig auf, indem er sich auf seine Unterarme stützte. Er schaute sie nachdenklich an. „Selbstverständlich.“

„Und … ähm …“ Kyrie stockte kurz. Erst als er eine Augenbraue fragend in die Höhe schob, fuhr sie fort: „Kann es sein, dass du mir noch nichts über den Rest der Schöpfung erzählt hast?“

Er riss die Augen weit auf – so geschockt hatte Kyrie ihn noch nie erlebt. „Oh", rief er aus, "Oh! Tut mir leid! Das habe ich total vergessen! Wirklich - ehrlich!"

Kyrie hob beschwichtigend die Hände. „Keine Panik, Nathan …“, beruhigte sie ihn leicht amüsiert, „Ich habe es verkraftet. Und wenn du es nachholst, sehe ich kein Problem darin.“

Sofort war er auf beiden Beinen und streckte ihr eine Hand hin. „Komm, wir gehen zur Essstation, sodass du dein Licht aufladen kannst. Und dort erzähle ich dir dann weiter. Dafür wirst du Nerven brauchen.“ Er lachte kurz verlegen. "Mann ...", murmelte er dann noch, "Wie konnte ich das bloß vergessen?!"

Sie lächelte und nahm seine Hilfe entgegen. Er richtete sie auf und sie strich ihren Rock glatt.

„Danke sehr“, sagte sie freundlich, „Aber … wieso brauche ich jetzt Licht? Der Himmel heilt mich, oder?“

Ein Nicken war die Antwort – doch er fügte noch schnell hinzu: „Es ist immer besser, aufgeladen zu sein. Und außerdem … so ausgezehrt wie du warst, bräuchte der Himmel Tage, um dich zu regenerieren!“ Er grinste sie an. Aber das Grinsen erstarb sofort wieder, als er hinzufügte: "Und die Tage hast du bekanntlich ja nicht."

Nach einem kurzen Nicken erhob sie sich in die Lüfte. „Ich hätte aber wirklich nichts gegen Essen", stimmte sie ihm zu, ohne auf das andere Thema einzugehen. Vierundzwanzig Stunden im Himmel, fünfundzwanzig Jahre auf der Erde. Und dann sprach er von Freiheit ... Sie durfte sich nicht einmal selbst entscheiden, wo sie ewig bleiben wollte!

Er fand sein übliches Lachen wieder. „Natürlich! Natürlich!“ Auch er schwang sich in die Höhe und flog langsam los – Kyrie folgte ihm.

„Also – erinnerst du dich noch an den ersten Teil der Geschichte oder muss ich ihn wiederholen?“, wollte er von ihr wissen.

„Nun ja“, begann sie und ging das Geschehen kurz noch einmal im Kopf durch, „Ich denke schon.“

„Gut, dann kannst du es mir bestimmt zusammenfassen“, provozierte Nathan sie frech grinsend.

Kyrie seufzte. „Na schön“, fing sie an, „Also … Nachdem Gott und die Antigöttin lange Zeit das Universum und das Kräftegleichgewicht gebildet hatten, haben sie sich zu Wesen entwickelt, die einander sehr nahe gestanden haben. Doch ihre Ungleichheit machte ihnen zu schaffen, weshalb sie sich Untertanen erschufen: Engel auf der einen und Dämonen auf der anderen Seite. Parallel dazu sind Himmel und Schwarze Löcher entstanden, in denen die jeweiligen Geschöpfe hausen.“

Nathan nickte zustimmend. „Und weiter?“ Er hatte einen richtigen Lehrerblick aufgesetzt – den, den sie immer bei einer Prüfung hatten und der Schüler zum Schwitzen brachte. Aber Kyrie ließ sich nicht einschüchtern, sondern fuhr unbehelligt fort: „Sie haben sich getrennt, um Zeit bei ihren Schöpfungen zu verbringen. Doch als sie sich nach einander sehnten, vereinten sie die Rassen und ließen sie zusammen auf den Sternen leben – nicht jedoch auf der Sonne.“ Sie pausierte für einen Moment, um ihre Gedanken in Worte zu fassen. „Durch die Einführung von Tag und Nacht hatte Gott die Macht über die Sterne bei Nacht verloren – und zu dieser Zeit hatten die Dämonen ein Attentat auf die Engel durchgeführt. Gott musste zusehen, wie die Seelen seiner Engel auf den Sternen haften blieben." Kyrie schaute Nathan fragend an. Sie wollte erfahren, ob es ihm auch so passte, wie die Geschichte nacherzählte.

Er nickte anerkennend. "Und weiter im Geschehen!", wies er sie an.

„Es hat einen Krieg gegeben – Schwerter waren auf Krallen geprallt -, doch Gott hat seine Streitmächte zurückgezogen und ihnen einen neuen Himmel geschenkt, den nur noch Engel betreten konnten. Er selbst ist einer Depression verfallen, weshalb er zum Nachdenken seine Kinder verlassen hat – und dabei hat er die Ränge geschaffen, wobei Sin für die Sünde steht, die Gott begangen hat. Und weil er die Last jener trägt, darf er mit ihm kommunizieren. Ist das richtig?“ Kyrie sah ihn leicht unsicher und auch fragend an. War das so gewesen? Ja, wenn ihre Erinnerungen ihr keinen Streich spielten …

Nathan klatschte während des Flugs. „Goldrichtig, meine Liebe!“ Er grinste wieder. „Wirklich gut zusammengefasst. Das merke ich mir.“

„Aber wie geht es weiter, Nathan?“, wollte sie von ihm wissen – sichtlich angespannt und furchtbar neugierig.

„Zuerst noch eine Zwischenfrage: Welche Arten der Magie beherrschen Engel? Was unterscheidet uns von Menschen?“ Er sah sie scharf an.

Etwas perplex blinzelte Kyrie obgleich dieser irritierenden Frage. Was hatte das jetzt damit zu tun?

„Nun“, begann sie, wobei sie sich sammelte – erst beichtete sie ihm, dass sie sich nicht mehr konzentrieren konnte, und dann forderte er all ihr Wissen auf einmal! Wie gemein. „Das Licht und die Flügel sind die Hauptunterschiede, da von denen alles ausgeht. Das Licht ist die Verbindung zur Seele und die Flügel sind die Verbindung zum Körper – eigentlich das Herz, um es … auf Mensch’ zu sagen.“

Nathan nickte. „Und? Was kann man damit machen?“

„Die Flügel sind für das Körperliche verantwortlich. Sie leiten die drei Zyklen des Engelslebens und sie geben einem die Fähigkeit, den Himmel zu betreten. Außerdem sind sie die Verbindung zur Waffe, da die Waffe nicht aus Licht geschaffen wird, sondern aus dem Körper heraus“, gab Kyrie seine Worte der letzten zwei Wochen kurz wieder, dann aber kam sie auf eine lange geklärte Frage zurück: „Lehrst du mich also wirklich nicht den Umgang mit der Waffe?“

Nathan antwortete ausnahmsweise auf die Frage, ohne dass sie zuerst seine Prüfung vollends bestand. „Nein. Du wirst sie nicht benötigen", versicherte er ihr.

Kyrie unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. So sehr sie auch lernen wollte, ein Engel zu sein - genauso abschreckend fand sie den Gedanken an Waffengewalt. Sie war froh, dass er sie von der Schuld bewahrte, handgreiflich zu werden.

"Du bist … ein Halbengel", führte er dann weiter aus, "Und in den nächsten hundert Jahren wird hier kein Dämonenheer einmarschieren – da bin ich mir ziemlich sicher. Also … wäre es Zeitverschwendung. Vor allem, da ich die Waffe selbst ungern trage.“

Kyrie nickte. Das hatte er ihr einmal gesagt. Den Grund hatte er ihr aber nicht genannt … Auch das hatte er mit Ray gemeinsam. Die beiden waren sich alles in allem sehr ähnlich. Wenn sie mehr Zeit miteinander verbracht hätten, wären sie bestimmt sehr gute Freunde geworden … „Ach so“, tat sie das Gesagte ab, ohne weiter nachzuhaken, da Nathan dieses Thema wohl unangenehm war, und fuhr mit ihrem angeeigneten Wissen fort: „Das Licht ist im Inneren eines Engels. Je stärker man ist, desto mehr Licht besitzt man. Man strahlt es aus und blendet andere damit. Man kann es allerdings auch zurückdrängen und nur den eigenen Körper damit erfüllen. Je besser man ist, desto besser kann man es zurückhalten und beherrschen … Die Todsünden würden einen glatt blenden, aber sie lassen immer nur einen kleinen Lichtschein um sich herum bestehen, sodass sich jeder ihrer bewusst ist.“

Ein zufriedenes Nicken unterstütze sie beim Weiterreden. „Das Licht ist die Magie der Engel. Sie können dadurch Dinge schaffen – die siebten Ränge sind für Güter des Alltags zuständig, die sechsten Ränge können kleineren Anforderungen gerecht werden und die Todsünden werden mit wirklich schwierigen Dingen belangt, wie zum Beispiel das Umdrehen des Zyklus’ oder das Sperren eines Engels und Nehmen von Erinnerungen. Die normalen, ranglosen Engel können kurze Lichtbilder erschaffen – aber sie sind vergänglich. Wenn man jemandem etwas bildlich veranschaulichen möchte, ist es sehr nützlich, aber ansonsten … eher nicht.“ Sie hielt kurz inne. „Ich glaube, Thi hat erwähnt, dass er während der Vereinskämpfe immer Bälle herstellt, die dann in Tore fliegen. Und durch Anzeigetafeln werden die Punkte festbehalten. Die Ergebnisse werden dann in Büchern aufbewahrt. All diese Gegenstände werden von den Siebten Rängen hergestellt. Bis auf die Bälle ... Die sollen vergänglich sein, um eine Zeitbegrenzung darzustellen.“ Kyrie lächelte. „Ich würde gerne einmal ein Spiel von Thi sehen. Er hat gesagt, er sei sehr gut darin.“

"Das ist nur bei ein paar Sportarten so", wies er sie hin, "Es gibt ja zahlreiche verschiedene." Plötzlich schaute er drein, als hätte man ihm vor den Kopf gestoßen. Nathan stemmte, gespielt empört, die Hände in die Hüften. "Lenk nicht vom Thema ab!“, befahl er ungehalten.

Kyrie kicherte amüsiert. „Na ja … das passiert, wenn man nicht weiter weiß …“

„Hmpf“, entfuhr es Nathan, doch er lächelte daraufhin. „Wenn man stark genug ist, kann man durch das Licht auch dem Himmel bei Heilung unterstützen … oder Verbindungen zu anderen Engeln aufbauen. Bin ich jemals auf Geburten zurückgekommen?“

Kyrie blinzelte verwirrt. Stimmt! Das hatte er ihr auch versprochen! Verfolgte er überhaupt einen Lehrplan? „Nein, eigentlich nicht“, gab sie zu.

Er schlug sich mit einer Hand ins Gesicht. „Hoppla.“

Sie kicherte. „Kein Problem – ich habe es immerhin auch vergessen!“

„Nein, nein! Ich kann dich doch nicht in die Welt hinaus schicken, ohne dass du weißt, wo der Nachwuchs überhaupt herkommt!“

Kyrie lachte. „Dann erzähl es einfach!“

„Stopp!“ Abrupt blieb Nathan in der Luft hängen.

Sobald sie reagieren konnte, blieb sie auch stehen. Sie schaute sich gehetzt um. „Was? Ist etwas passiert?“

„Nein – keine Bange!“ Er grinste. „Aber das wird jetzt eine Übungseinheit!“

„Schon wieder?“, fragte sie bestürzt, „Sollte ich nicht zuerst etwas essen?“

„Auch in geschwächter Form muss ein Engel immer in guter Form sein!“, wies Nathan sie grinsend hin, „Ich werde es dir erzählen und du wirst es mir mit Hilfe der Lichtmagie bildlich veranschaulichen!“

Kyries Mund sinkte merklich weit nach unten. „Na gut …“, gab sie nach und setzte sich auf den Boden, „Dann fang an.“

Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Sie musste die Quelle des Lichts in sich finden. Ihr ganzer Körper war von Licht durchleuchtet und umgeben. Es schwamm umher – dieser gleißende, edle Glanz, der ihren Körper durchtränkte. Vor allem in ihren Flügeln befand sich eine große Ansammlung. Aber wenn das ihre war … wie sah dann das Licht in den Todsünden, die so viel mächtiger waren, aus? Erstaunlich … Immens …

Sie berührte das Licht und sonderte einen Teil davon aus ihrem Körper ab. Nathan hatte gesagt, dass starke Engel es damit leichter hatten, da ihr Licht die körperlichen Grenzen unterbrach. Kyrie war aber sogar so schwach, dass ihr Licht nicht aus dem Körper heraustrat. Sogar wenn sie etwas Licht gegessen hatte, durchtrat es kaum ihre Haut. Wenn man nur das Licht einer Person sehen würde, wäre sie wohl unsichtbar.

Das Licht, das sie aufsog, wehrte sich. Es schwappte immer wieder zurück zu der Quelle. Sie konzentrierte sich fester, presste die Augen zusammen. „Komm schon“, murmelte sie kaum hörbar, „Komm schon!“

Unvorbereitet trat ein ganzer Brocken von Licht nach draußen. Es wirkte, als habe sich in ihrer Brust ein Loch gebildet und als würde Wasser aus einem Glas durch eben jenen Spalt heraustreten. „Licht! Oh, Licht! Bleib drinnen!“, rief sie panisch aus und fasste sich schockiert an die Stelle, an der das „Loch“ war – und ihre Konzentration war vorüber.

Nichts hatte sich geändert – nichts außer Nathans Gesichtsausdruck, der ihr verdeutlichte, dass sie sich wohl im Moment wie eine Verrückte benahm.

„Ich habe ja noch nicht einmal angefangen“, wunderte er sich. Er war stehen geblieben und sah sie von oben herab an. „Ich denke, es ist wirklich keine gute Idee.“

„Hast du nicht gesehen, dass mein Licht gerade heraus geflossen ist?“, wollte sie verschreckt von ihm wissen, „So … so als wäre ich aufgeplatzt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nein, es ist so unsichtbar wie immer.“ Er ging in die Knie und beugte sich nahe zu ihr. „Hey“, machte er dann, als er nicht einmal mehr eine Handbreite vor ihr angelangt war, „Kann das sein?“ Er wirkte sehr überrascht – aber glücklicherweise weder besorgt, noch schockiert.

„Was … was denn?“, wollte Kyrie unsicher wissen. Was war jetzt schon wieder falsch mit ihr?

„Es ist mir ja schon vorhin sehr seltsam vorgekommen, dass du nur so wenig Licht haben sollst, dass es in deinem Körper Platz hat, aber … kann es sein, dass du es einfach unterdrückst?“

Sie widmete ihm einen verdutzten Blick. „Was soll das schon wieder heißen?“, fragte sie ungehalten.

„Das, worüber wir vorhin gesprochen haben – die Todsünden würden uns blenden, wenn sie sich nicht zurückhalten würden. Kann es sein, dass du das bereits automatisch tust?“, wollte er von ihr wissen.

„Woher soll ich das wissen?“, beschwerte sie sich – verzweifelt gestikulierend, „Ich bin bloß eine Schülerin!“

Er grinste. „Keine Panik! Vorhin hast du es ja auch geschafft, mir die Pyramide zu zeigen! Wie hast du das gemacht?“

Er hatte Recht. Gut – sie war also nicht völlig kaputt. Schön zu wissen … bloß … Wie?

„Ich wollte sie dir unbedingt zeigen …“, erkannte sie, „Deshalb vielleicht?“

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Dann versuche es!“, ermutigte er sie lächelnd.

Und als sie es erneut versuchte, floss das Licht gleichmäßig aus ihr heraus und bildete ein Abbild Nathans.

Kyrie saß Nathan gegenüber auf einem Stuhl, der aus Licht gewoben worden war. Es war einfach nur erstaunlich, was die Ränge zu Stande brachten! Es wäre bestimmt toll gewesen, so etwas auch zu können. Aber sie durfte wohl bereits damit zufrieden sein, überhaupt zur Gesellschaft der Engel zu gehören. Immerhin war sie sehr lange ein Mensch gewesen – fernab jeglicher Gedanken an ein Leben im Himmel mit Stühlen und Tischen und Essen aus Licht.

Der Gedanke entlockte ihr Schmunzeln.

„Hey, es ist nicht zum Lachen“, ermahnte Nathan sie, während er ein Stück Licht verschlang, welches verdächtig nach Kuchen aussah.

Sie lächelte entschuldigend. „Tut mir leid – war nicht meine Absicht …“

„Also – nachdem die Schülerin ständig über ihrem Essen abschweift, werde ich es noch dieses eine Mal wiederholen!“, bot Nathan übertrieben streng an, wobei er feixend grinste. Kyrie fragte sich, ob er immer absichtlich grinste oder ob dieser Ausdruck an ihm festgewachsen war. „Wenn du ein nicht identifizierbares Ziehen in deinem Körper spürst, ist das ein eindeutiges Anzeichen, dass du in den Himmel musst. Ist das Ziehen schmerzlicher Natur, bedeutet es dir, dass du ausgelaugt bist, weil du dem Licht des Himmels zu lange fern geblieben bist.“

Sie nickte. So etwas war wohl schlimm … Sie war froh, es noch nicht gespürt zu haben. „Nach fünfundzwanzig Jahren außerhalb des Himmels stirbt ein Engel doch, oder?“, fragte sie, obwohl sie bereits wusste, dass er bejahen würde. „Wie kommt es dazu, dass er das Ziehen ignoriert?“

Nathan zuckte mit den Schultern. „Engel, die gegen das Gesetz verstoßen, werden hinaus geworfen. Auf die Erde. Und wenn die Todsünden ihrer ‚vergessen’ …“ Er beendete den Satz nicht. „Es kommt auf das Verbrechen an.“ Er verschränkte die Arme. "Die Todsünden haben die Macht, eine Aus- oder Eingangssperre zu verhängen. Es ist unschön."

Also waren Engel auch nicht perfekt. Aber das war ihr bereits zuvor aufgefallen. ... Aber es musste wirklich ... schlimm sein, ausgesperrt zu werden. Immerhin ... dieser Glanz. Diese Schönheit ... Und auf der Erde konnte man seine Flügel auch nicht ausstrecken. Und ... einfach zu verenden, weil man zu lange fort war? Keine schöne Alternative ... Ihr taten all diese Engel leid.

„Jedenfalls gibt es auch Varianten. Das üben wir dann noch. Wenn es ganz leicht ist, ruft dich ein Engel, der relativ schwach ist und ein schwaches Bedürfnis nach dir hat. Das bedeutet, dass du deine Aufgaben noch erledigen darfst, aber bestenfalls an diesem Tag zu diesem Engel zurückkehren sollst. Wer auch immer dich ruft … du wirst es fühlen.“

Kyrie konnte ein Stirnrunzeln nicht unterdrücken. „Bist du sicher?“

Er nickte entschieden. „Ja. Ich werde dich in den nächsten Tagen nur noch per Ruf beordern, okay? Und du wirst mir Folge leisten. Bisher war das ja nicht nötig, weil du jeden Tag gekommen bist, aber … nachdem du nun so weit bist!“ Er grinste.

Sie bejahte unsicher. Hoffentlich würde sie alles richtig machen …

„Wenn es etwas stärker zieht, ist es bereits eine dringendere Angelegenheit und du solltest dich beeilen. Man sagt, zwei, drei Stunden könne man sich dann noch Zeit lassen, aber man sollte sich beeilen. Natürlich ist dieses Ziehen immer nach eigenem Ermessen, aber …“ Er zuckte mit den Schultern. „Gegen das harte Ziehen … von einigen auch „der Magnet“ genannt …“ Er schüttelte den Kopf. „Du müsstest wirklich einen triftigen Grund haben oder verrückt sein, bei dem Ziehen nicht sofort in den Himmel und zur Zielperson zu gehen. Beim Magnet wünschst du dir vermutlich, dass du schon gestern oben gewesen wärst.“ Er dachte kurz nach. „Als ich ihn das erste Mal gespürt habe, habe ich geglaubt, jemand habe mir das Schwert zwischen die Rippen gerammt.“ Er grinste. „Na ja, fast zumindest.“

Kyrie hörte ihm schweigend zu, bemerkte aber, dass sich ihre Augen unweigerlich weiteten und sie den Atem unwillkürlich anhielt. Magnet? Schwertstich? „Was könnte denn so dringend sein?“, fragte sie atemlos. Atmen, Kyrie! Atmen!

Nathan wurde schlagartig ernst. „Engelsversammlungen.“

Sie sah ihn verständnislos an – und sie war wieder zu Atem gekommen. Glück gehabt.

„Hab ich das auch ausgelassen …?“, fragte er sich leise, „Ich werde den Zettel besser vom Büro mit nach Hause nehmen, sonst wird das hier nie was“ Der letzte Satz war lediglich ein gut verständliches Murmeln.

„Was sind Engelsversammlungen?“, formulierte Kyrie die Frage aus.

„Versammlungen, die alle Engel, die existieren, betreffen. Also alle im Himmel und auf der Erde. Sie gehen meist von Sin oder den Todsünden aus. Dafür sind die Todsünden zum Beispiel auch geschaffen – sie haben die Macht, alle Engel gleichzeitig so stark zu berühren, dass sie wissen, dass sie sofort anzutreten zu haben. Ich bin froh, dass sie die letzten zwanzig Jahre keine Versammlung einberufen haben …“ Er schauderte. „Während der Schule wäre ich ungern abgeflogen!“

Kyrie lächelte. „Ich denke, das hätte für Aufsehen gesorgt.“

„Ja, aber man hält es wirklich kaum aus …“, grummelte er.

„Was besprechen sie auf diesen Versammlungen?“, wollte sie von ihm wissen.

„Immer etwas, das eine gesamte Veränderung betrifft. Eine Veränderungen in den Reihen der Ränge ab dem dritten Rang zum Beispiel – oder wenn Gott etwas Wichtiges verlauten ließ … oder aber wenn es von der Seite der Dämonen etwas Neues gibt. So etwas wird sofort mitgeteilt. Und …“ Er machte eine kurze Pause. „Es ist nicht sehr ratsam, eine Versammlung zu schwänzen. Schwänzt man eine Versammlung, ist eine Sperre die Folge. Ich glaube, seit ungefähr dreitausendzweihundertvierundsechzig Jahren hat es kein Engel mehr gewagt, einer Versammlung nicht nach zu kommen." Er blickte streng drein. Kyrie fragte sich, ob er sich alle Zahlen bloß ausdachte oder sie wirklich kannte. Aber die Strenge, die auf seinem Gesicht vorherrschte, ließ sie zurückschrecken. "Aber … eigentlich ist es unwahrscheinlich, dass dich eine Versammlung betrifft.“ Er zuckte erneut mit den Schultern. „Ob zwanzig oder hundert Jahre … für Engel macht es keinen Unterschied. Für Menschen und Halbengel aber …“ Er unterbrach sich selbst mit einem Räuspern. „Tut mir leid“, fügte er leicht verlegen hinzu, „Das hätte ich nicht anschneiden sollen.“

Kyrie bemerkte, dass ihr Gesicht einen unangenehm kühlen Ausdruck annahm, als er diesen dezenten Unterschied klarmachte. Er hatte Recht. Es war also sehr dumm, darum wütend zu sein, aber … aber … Wieso machten sie diese Unterschiede? Nur, weil sie nicht so alt werden würde? Nur, weil sie schwächer war? War das nicht … unfair? Sie hatte es sich nicht ausgesucht, schwach zu sein!

„Jedenfalls werde ich dir kleine Kostproben aufhalsen. Und beim Magnet … du wirst ihn erkennen, wenn er auf dich angewendet wird.“ Er grinste wieder.

Sobald sie in den Zauber seines Grinsens geriet, konnte sie nicht anders, als ihre Miene aufzulockern und zurückzulächeln. Wie machte er das bloß? Entweder er litt unter Stimmungsschwankungen ... oder er wollte sie aufheitern. Aber sie war dankbar für den durchaus gelungenen Versuch.

"Werden auch gesperrte Engel zu Engelsversammlungen berufen?", hakte sie nach.

Nathan ließ sich Zeit mit Antworten. "Kommt ganz auf das Thema an. Wenn man eine Armee zusammen stellen muss, werden sie kommen - wenn bloß ein Rang neu besetzt wird, dann kann man sie wohl ignorieren."

Kyrie nickte verstehend. Eine Armee ... Um so etwas aufzustellen, musste wohl wirklich etwas Schreckliches passieren. Eine ganze Dämonenhorde müsste einmarschieren. ... Sie hoffte, dass so etwas niemals eintreffen würde. Vielleicht würde ihr die Schöpfungsgeschichte ja verraten, dass so etwas gar nicht passieren konnte?

„Und was ist jetzt mit der Schöpfungsgeschichte und den Kindern?“, wollte sie freundlich von ihm wissen. Und hoffnungsvoll. Sehr hoffnungsvoll.

„Babyengel werden vom Licht geboren, wenn sich zwei Engel verlieben. Das ist ein Grund, weshalb wir den Himmel unbedingt beschützen müssen“, teilte er ihr mit, ohne einen dummen Kommentar dazwischen abzugeben, „Sonst sterben die Engel aus. Wenn sich etwas Grundlegendes verändert …“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin nur ein Assistent der Todsünden … Manchmal schneiden die Todsünden das Thema an und protokollieren es, wodurch ich davon erfahre." Er zuckte mit den Schultern. "Nur Gott – vielleicht auch Sin – weiß, wie es funktioniert … wir müssen also sehr, sehr vorsichtig sein.“ Jetzt klang er wieder besorgter.

„Denkst du wirklich, Gott würde Engel aussterben lassen?“, fragte Kyrie leicht geschockt über diese Annahme. Gott würde so etwas doch nicht tun! Immerhin war er … Gott … und Gott war gut! Schließlich war er nicht die Antigöttin!

Er schüttelte den Kopf. „Nein, nicht direkt, aber … wir wollen den Dämonen doch kein Futter geben, oder? Immerhin beschützen wir euch Halbengel auch vor ihnen. Da brauchen wir keine Bresche in unsere eigenen Reihen zu schlagen.“

Kyrie nickte. Sie glaubte, verstanden zu haben. Hoffte. Gott war nicht böse. Nur die Antigöttin. Und die konnte er durch die Macht des Lichtes hoffentlich besiegen!

„Gar nicht so spektakulär, stimmt es nicht?“ Sein Gesicht zierte erneut dieses charmante Grinsen. „Hab ich es überdramatisiert?“

„Eindeutig“, gab Kyrie belustigt zurück.

„Gut!“, freute er sich aufrichtig, „Dann zum nächsten Wunsch der Kandidatin – und danach ist sie für heute entlassen!“

Kyrie legte den Kopf schief. „Dass ich wieder alleine darüber nachgrübeln kann?“, murmelte sie ungehalten.

Er lachte sie nur an. „Nein, dass ich dir endlich ein paar Rufe austeilen kann!“
 

Gott und die Antigöttin lebten in Frieden zusammen. Sie waren Freunde. Beinahe mehr. Sie wollten eins sein, doch konnten sie sich nie erreichen. Allerdings verbittert waren sie nicht, da beide jeweils ihre Schöpfungen hinter sich wussten. Eines Tages hatte Gott jedoch die Idee: Sie sollten gemeinsam eine Rasse schaffen, die ihnen beiden gleich diente – die perfekt ausbalancierte, vollkommen im Gleichgewicht befindliche Rasse.

Die Antigöttin war einverstanden. Zu diesem Zweck brauchten sie jedoch einen neuen Platz. Gott wollte keine Schwarzen Löcher bewohnen und die Antigöttin scheute sich vor dem Himmel.

So entdeckten sie die Erde. Eine Mischung aus Dunkel und Hell, aus Feuer und Wasser, aus Luft und Boden … Die perfekte Balance herrschte an diesem Ort, den sie als Planeten geschaffen hatten. Gott schenkte der Erde die Sonne, die seinen Teil immer bescheinen möge, sodass „Tag“ herrschte, während die Antigöttin die Nacht vermachte, durch welche man die Schwarzen Löcher leuchten sah – Sterne - und Dunkelheit über die Erde brachte und ihr somit immer den jeweils anderen Teil zu Eigen machte. Tag und Nacht. Zwei Seiten eines Ganzen.

Nachdem sie also einen ausgeglichenen Lebensraum geschaffen hatten, beschlossen sie, genau gleich viele Teile ihrer Untertanen in die neue Rasse einzuarbeiten. Liebe und Hass, Gut und Böse, Heiler und Kämpfer … So hatten die den perfekten Charakter in der perfekten Umgebung – hergestellt aus ihren Träumen der Gemeinsamkeit. Diese Perfektion wollten sie erreichen. Denn diese Balance war das Universum – und sie waren die beiden auseinander gegangen Teile des Universums. Die beiden Mächte, die sie in sich hatten.

Sie brauchten aber noch eine Hülle für ihr Werk. Und so erschufen sie ebenfalls wieder aus ihren eigenen Kreaturen heraus die Rasse: den Menschen.

Im Aufbau ähnelten sich ihre eigenen Rassen so sehr, dass sie auf die Idee kamen, die neue Rasse bloß zu lassen. Ohne Ausrüstung für den Kampf. Die friedlich kämpfende Rasse. Die perfekten Lebewesen.

Dämonen, Engel und Menschen lebten zusammen auf der Erde. Gott und Antigöttin herrschten gleichmäßig auf der Erde. Die Erde war die Welt des perfekten Gleichgewichts. Der vollendeten Ausgeglichenheit.

Die Menschen hatten die Wahl, sich entweder beiden Göttern anzuschließen oder nur einem. Die Anhänger der Engel und Dämonen blieben immer gleichmäßig.

Doch irgendwann begannen die Dämonen, den Menschen einzureden, dass die Antigöttin ihnen mehr einbrächte. Und die Seite, die die Antigöttin ihnen gegeben hatte, hörte darauf. Als die Engel von diesen Untaten erfuhren, gaben sie es an Gott weiter, der sofort mit der Antigöttin Kontakt aufnahm, um diesen Krisenherd zu unterbinden … doch diese wies die Anschuldigungen stur von sich.

So starteten die Engel in Gegenschritten – wie es vom Gleichgewicht verlangt wurde -, die Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Und alsbald bekämpften sich die Menschen gegenseitig und heilten bloß jene ihrer eigenen Gruppierung, die denselben Gott liebten.

Weder Gott noch Antigöttin konnten diesen blutigen Kampf, in dem auch Dämonen und Engel mitwirkten, aufhalten, da die Menschen aus ihrer beider Kontrolle geraten waren, weil keiner die totale Überhand hatte und der Mensch somit über einen freien Willen verfügte.

Aus diesem Grund standen Gott und Antigöttin erneut vor der Entscheidung: Wer war der Stärkere der beiden?

Die Balance der Erde stand auf dem Spiel. Das Blau des Wassers und das Grün der Erde färbten sich immer roter und roter … und dieses Rot war das Blut von Engeln, Dämonen und schließlich auch Menschen.

Gott zog die Engel zuerst von der Erde zurück, da seine Weisheit ihn zum Rückzug aufforderte. Er hatte der Antigöttin zu dieser Zeit vertraut. Er hatte gehofft, dass sie die gute, richtige Entscheidung treffen würde, die für alle zu einem glücklichen Ende führen würde.

Doch erneut nutzte die Antigöttin Gottes Güte aus, um sich selbst zu bereichern. Sie schickte mehr Dämonen auf die Erde, um sämtliche Menschen mit ihrer eigenen Macht zu erfüllen. Gott verlor die Überhand und die Macht der Antigöttin wuchs mit dem Glauben an sie. Sie hatte die Menschen kontrollieren können – und Kriege, die die Menschen bloß gegen sich selbst führten, ungeachtet der Dämonen, brachen aus. Gier, Hochmut, Zorn fanden ihren Sitz in den Herzen der Menschen, genauso wie die Faulheit, der Neid, die Wollust und die Völlerei ihnen anheim fielen und sie verdarben, sodass sie sich von den Dämonen nur noch durch Äußerlichkeiten unterschieden.

Gott konnte an diesem Punkt nicht länger zusehen. Er liebte seine Schöpfung, er liebte die Menschen. So erschien er vor ihnen – und wurde als Ketzer und Fälschung bezeichnet. Die Menschen glaubten nach all der Zeit unter dem Joch der Antigöttin nicht mehr an ihn. Kannten ihn nicht mehr.

So musste er, um sie zu retten, Engel auf die Erde schicken, welche die Dämonen von dort in langen und harten Kämpfen vertrieben. Gott benutzte seine Kraft, um sich selbst und die guten Eigenschaften wieder in den Menschen hervorzubringen. Er schenkte jedem Mensch und jedem Engel einen Teil von sich. Die Engel erstarkten – doch er wurde schwach.

Schwächer als die Antigöttin.

Diese natürlich wusste diesen Moment gezielt auszunutzen. Egal, welche Gefühle sie ihm vorschwindelte, so war sie doch bloß die Antigöttin, die Verkörperung der schlechten Eigenschaften, das Böse. Sie attackierte Gott, um seine Macht in sich aufzunehmen und selbst wieder zum Universum zu werden.

In dieses Universum wollte sie alle Kreaturen wieder einbauen, um ihrer Habgier gerecht zu werden: Mit der Energie aller Lebewesen würde sie das stärkste und einzige Lebewesen sein, keiner würde es mit ihr aufnehmen. Die Einsamkeit wollte sie umarmen.

Doch Gott konnte das nicht zulassen. So kämpften sie. Gott wusste, dass er keine Chance hatte, da er seine Kraft verschenkt hatte. Allerdings war ihm auch klar, dass, wenn er aufgeben und sterben würde, alles, wofür er je gestanden hatte, verschwinden würde.

Engel. Menschen.

Liebe.

Alles. Nur noch ein leeres, dunkles Universum, welches allein zwei Mächte darstellte, die dann wieder Eins waren, würde übrig bleiben. Dies würde zwar den Krieg verhindern, doch würde es auch alle schönen Momente auslöschen. Zwei Seiten eines Ganzen. Und er wollte für die zweite Seite kämpfen.

Viele, viele Millionen Jahre lang.

Nachdem Gott nur noch ein kleines Licht war und der Sieg der Antigöttin beinahe gewiss, als diese die Erde bereits schwarz gefärbt hatte und die dunklen Löcher und Sterne zu einem großen dunklen Loch gemacht hatte, besaß Gott lediglich noch den Himmel, in dem seine Engel warteten und beteten. Egal wie viel Hoffnung, Glaube, Liebe, Tugend, Glück und Licht sie ihm gaben, so war es doch nur genug, ihn am Leben zu halten. Den Angriffen der Antigöttin, die ihn kalt und brutal attackierte, konnte er kaum standhalten.

Eines Tages beschloss Sin, der Oberste der Engel, dass die Engel endlich aktiv in den Kampf schreiten mussten. Sie wussten, dass sie schon immer durch ihr Einmischen die Kämpfe angespornt hatten, so wollten sie dieses Mal bloß hoffen und beten, doch er war sich sicher, dass, wenn sie all ihr Licht, alles, was den Himmel darstellte, auf die Erde und die Menschen übertragen würden, wenn sie dies alles der Antigöttin nehmen würden und dadurch Gott geben, er so gewinnen könnte.

Und dadurch entwickelten sie die Magie, mit der heute Dinge geformt wurden. Sie nahmen sich alle an den Händen. Alle Engel bildeten im geschützten Himmel eine Einheit. Und alle gleichzeitig begannen, ihr eigenes Licht auszustoßen und das gesamte Licht des Himmels einzusaugen. Sin, der an ihrer Spitze stand, erhielt all das Licht und lenkte es gezielt auf die Erde.

Während der Himmel immer weiter erdunkelte, begannen Lichter auf der Erde zu brennen – und in den Herzen der Menschen. Die blutigen Kämpfe fanden nach so langer Zeit ein Ende – und mit ihnen endete auch der Himmel.

In jedem Engel war nur noch ein kleines Licht verblieben, nicht genug, um lange am Leben zu bleiben, doch Gott erstarkte in einem kleinen, kurzen Moment.

Und weil er in diesem Moment, in dem die Antigöttin geschockt war und nicht wusste, wie ihr geschah, zuschlug, konnte er die Antigöttin vernichten. Dadurch, dass sie noch immer so viel Macht hatte, Gott diese allerdings nicht aufnehmen wollte, erlangten die Dämonen, welche im großen Schwarzen Loch gehaust hatten, die Macht ihrer Herrin und eigene Befehlsgewalt. Und ihr erstes Ziel war das Attackieren des Himmels.

Gott, der durch den machtvollen Angriff auf die Antigöttin geschwächt war, warf sich zwischen Dämonen und Himmel.

Und seit jeher, seit all jenen Jahren, kämpfte Gott am Rand des Himmels gegen die anpreschenden Horden der Dämonen.

Hin und wieder gelang es einem minimalen Trupp auf die Erde zu gelangen, da sie den Himmel übersprangen, sobald sie Gott überquerten, um Unheil auf die Erde zu bringen – und dafür suchten sie sich Gefäße. Halbengel eigneten sich durch ihre inkomplettes Dasein genauso gut wie böse Menschen, die noch von der Zeit der Herrschaft der Antigöttin stammten.

Die Engel konnten sich, ehe ihr letztes Licht erlosch, durch die Nähe zu Gott wieder aufladen. Der Himmel erstrahlte zu neuem Glanz – und die Engel beschützen hinter Gott die Menschen und die Erde.

Und seither ist die Erde der Austragungsort des Kampfes zwischen Gott und Dämonen.

Man sagte, Halbengel seien Überbleibsel aus der Welt, in der Engel, Dämonen und Menschen zusammenlebten. Wo Dämonen einst waren, so sagen einige, bleibt Unrat zurück.

Diese einen, die auch wissen, dass Gott für immer kämpfen kann und niemals verlieren wird.

Doch wer wird je gewinnen?


 

Kyrie lag in ihrem Bett und überdachte die Geschichte. Menschen. Menschen waren der Auslöser für Gottes Leiden. Menschen, die seine Liebe nicht würdigten. Menschen, die sich so einfach manipulieren ließen! ... Und noch immer waren sie nicht vor dem Einfluss der Dämonen gewappnet. Noch immer waren sie leichte Opfer! Und die einfachsten Opfer waren die Halbengel.

Nachdem Nathan die Geschichte erzählt hatte, sagte er ihr, er sei müde. Sie könne ihm beim nächsten Mal mehr dazu fragen … Ja, sie hatte einige Fragen …

Warum?

„Warum?“, fragte sie sich selbst leise. Das war die dringendste Frage.

„Du bist ja … in deinem Büro“, stieß Nathan verwundert aus, als er die Rothaarige auf ihrem Sessel erblickte, während sie ein Buch las. Sie schreckte kurz auf, als er gesprochen hatte und wandte sich dann zu ihm um.

„Schon einmal etwas von Anklopfen gehört, Assistent?“, fragte sie ungehalten, während sie beiläufig ihr Buch zuklappte und die Hände verschränkte. „Was gibt es?“, fügte sie schnell hinzu, um ihn zu unterbrechen, bevor er angefangen hatte zu antworten.

„Also: meine Schülerin kann jetzt bereits mit Magie umgehen und … sie kennt alles und weiß alles und mir gehen langsam die Ideen aus, was ich ihr noch beibringen könnte“, erklärte er ihr, wobei er lässig zu seinem eigenen Sessel schlenderte und sich ungefragt hinsetzte. Er war die Assistenz der Todsünde. Er durfte das. "Den Plan, den du mir zur Verfügung gestellt hast, habe ich auch komplett durch ..."

Acedia lehnte sich gelassen zurück und seufzte. „Weißt du, Nathan …“, begann sie, pausierte dann aber kurz, ehe sie ihre Worte wieder fand. „Eigentlich … interessiert mich das gar nicht.“ Sie sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue unbeeindruckt an.

„Oh“, machte er überrascht. Verlegenheit überkam ihn. Wie gemein von ihr, ihm das so plump zu sagen. Aber ja … wie kam er eigentlich auf die Idee, dass er ihr das alles mitteilen müsste?

„Ich hatte selbst nie einen Schützling und bin auch froh darum“, sagte sie, „Also belästige mich bitte nicht mit deiner Kreatur.“

Nathan wusste, dass sie keine Abneigung gegen Menschenengel hegte, sondern dass sie sie einfach nicht interessierten. Sie war eine Todsünde. Ihre Entscheidungen richteten den Himmel. Wie konnte sie sich unter diesen Umständen um eine Halbe sorgen? Eine, mit der sie nie etwas zu tun gehabt hatte.

„Tut mir leid“, murrte er, „Ich habe bloß das Bedürfnis, über sie zu sprechen, weil …“ Weil. Warum?

Plötzlich lächelte Acedia mit ihren roten Lippen besonders mitfühlend, während auch ihre Augen einen ungewohnt weichen Ausdruck annahmen. „Invidia hat mir von ihrem Schützling erzählt …“ Sie stockte kurz. „Vor wie vielen Jahrhunderten wohl? Es war ganz am Anfang … Ich bin so alt …“, stellte sie unzufrieden fest, schüttelte dann aber amüsiert den Kopf und wirkte plötzlich wieder total konzentriert, „Jedenfalls hat sie mir von ihrem Halbengel erzählt. Zu dem Zeitpunkt war der Halbengel bereits seit hundert Jahren tot. Er war einhundert Jahre alt geworden – und sie hatte alle einhundert Jahre mit ihm verbracht, weil sie Freunde geworden sind, nachdem er zum Halbengel erhoben worden war.“ Sie musterte ihn kurz. Nathan hielt seine Miene gleichgültig. „Sie vermisst ihn immer noch“, schloss Acedia, „Und genau darum bin ich froh, keinen Menschen aufwachsen gesehen zu haben. Wenn man sich mit schwachen Leuten anfreundet, erwacht ein Beschützerinstinkt – und der macht ein Vermissen noch weitaus schmerzlicher.“ In ihrer Stimme schwang ungewohnte Sanftheit mit. „Gewöhne dich besser schnell daran, sie nicht mehr bei dir zu haben – oder bleibe noch achtzig Jahre bei ihr und vergesse sie dann nie mehr. Es ist deine Entscheidung." Sie stockte, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. "Und dein Schmerz.“

Er nickte daraufhin langsam. Manchmal erzählte sie ihm Dinge aus ihrem Leben … Dinge, die einer Todsünde keine Freude bereiteten, Dinge, die ihn vorbereiteten. Es war nett von ihr, wie sie sich um ihn sorgte, auch wenn er nichts Privates erfuhr. Vermutlich genau aus demselben Grund, wie er sich von Kyrie fernhalten sollte. „Ich denke, Kyrie ist zäh. Sie wird sicher hundertfünf", sagte er frei heraus – grinsend. Aber sie hatte recht … Durch ihre so kurze Lebensdauer würde er sie sehr lange vermissen. Wenn sie starb würde er noch immer fünf- bis sechshundert Jahre ausharren müssen. All seine anderen Freunde würden gemeinsam mit ihm sterben. Er würde bestimmt nur ungefähr hundert Jahre nach ihnen sterben – oder eben vor ihnen. Und bei ihr war es so viel. Das war nicht gerecht.

Aber … nur um ihren Tod zu vermeiden, auf ihre Gesellschaft zu verzichten? Niemals wieder. Den Fehler hatte er einmal gemacht. Er würde ihn nicht wiederholen. Moment - was dachte er da eigentlich? Konnte ... konnte es sein, dass er ihre Gesellschaft angefangen hatte zu meiden, weil ... weil er sie mochte? Weil er sogar ... Angst um sie gehabt hatte? Angst darum, dass sie das Engelsleben ablehnen würde? Dass sie dann einfach so von ihm gegangen wäre? Nein. Nein, nein, nein! So durfte er nie mehr wieder denken.

Er würde die achtzig Jahre mit ihr auskosten und sie dann eben fünfhundert Jahre lang gut in Erinnerung behalten, bis er sie in Gottes Armen wieder begrüßen konnte. Ende.

„Danke … aber, hey“, machte er ungerührt weiter, „Kann es eigentlich sein, dass man von Natur aus seine Kräfte zurückhält?“ Er ließ sich nichts davon anmerken. Keinen seiner Gedanken. Das war sein Leben - und wie ihm Acedias nichts anging, so brauchte sie auch nichts von ihm zu erfahren. Ganz nebenbei, wo es sie doch sowieso nicht interessierte.

„Ja, es ist leicht möglich“, sagte Acedia geschäftsmäßig, „Du redest von deinem Halbengel? Ist es dir erst jetzt aufgefallen?“ Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. „Ich muss wohl wirklich noch tausend Jahre ausharren, ehe du gut genug bist, mein Nachfolger zu werden, Stümper.“

Nathan grinste breit. „Ich hoffe doch, dass ich noch lange Assistent bleiben kann! Ach ja – Invidias Assistentin ist vorhin gekommen und hat gesagt, dass ein neues Halbengelbaby zur Welt gekommen sei. Ich denke, du musst heute Abend wieder früher aufstehen.“

Die Todsünde seufzte entnervt und murmelte irgendetwas Unverständliches. „Danke.“

„So etwas richte ich doch gerne aus“, konterte er leichthin, „Also gehe ich jetzt?“

Die Frau ihm gegenüber nickte zustimmend.

Er erhob sich.

"Einen Moment noch." Ihr schien spontan etwas eingefallen zu sein, das ihren Gesichtsausdruck verfinsterte. Das verlieh ihr einen sehr unheimlichen Touch. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten Luxurias Verschwinden betreffend?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, mir ist nichts zu Ohren gekommen. Keiner hat sie gesehen oder etwas von ihr gehört. Aber hör mal …“ Er zuckte mit den Schultern. „Jeder braucht einmal eine Auszeit. Vielleicht ist sie auch frisch verliebt?“

Die Rothaarige schaute unbeeindruckt drein. „Denkst du wirklich?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich bin kein Schwarzmaler.“

„Einen schönen Tag noch, Nathan“, verabschiedete sie ihn. Jetzt fehlte nur noch, dass sie ihn nach draußen winkte. Das Thema Luxuria zerstörte ihre Laune einfach immer wieder. Sie musste ihre Konkurrentin wirklich sehr vermissen. Oder sie hatte einfach Angst, auf das Thema zu sprechen zu kommen, wenn alle einsahen, dass es nicht nur ein langer Urlaub war – er verstand sie vollkommen. Wie Acedia es tagtäglich betonte, dass Luxuria nicht einfach so verschwand ... Nathan hoffte einfach, dass sie sich wirklich nur eine Auszeit gönnte. Der anderen Wahrheit ins Gesicht zu sehen ...

Er erhob sich – wie befohlen - und verließ eiligst den Raum. „Bis später“, murmelte er, während er die Tür schloss und sich dann in den goldenen Gängen umsah. Es war leer. Hier würde auch niemand sein. Immerhin waren hier die Arbeitsräume der Todsünden. Und niemand, der zu schwach war, sie zu betreten, konnte sie betreten. Nur Assistenten, Todsünden, Sin und Gott waren dazu in der Lage. Und vielleicht ein paar starke Engel, die herumlungerten - aber die würden es nicht wagen, hier hoch zu kommen, weil sie sonst ins Visier der Todsünden gelangen könnten ... Und dann winkte ihnen eine Stelle als Assistent. Und das war nicht jedermanns Wunschtraum.

„Und ich bin einer von ihnen“, murrte er unerfreut. Er erschauderte kurz. Was war er bloß für ein Weichei? Der Versuchung zu erliegen, einfach auf der Erde zu bleiben und sich im Problemherd „Himmel“ nie mehr blicken zu lassen … Er seufzte. Manchmal war es nicht so einfach. Er wollte nicht einfach so verschwinden wie Luxuria. Er musste sich seinen Problemen stellen, egal, wie viel Überwindung es ihn kostete. Wenn er jemals ein ganzes Volk anführen wollte, dann musste er mit sich selbst im Reinen sein. Stark sein. Und solange er nicht loslassen konnte, nicht selbst aufstehen konnte, weglaufen wollte ... Solange hatte er kein Recht auf den Titel Acedia.

Aber zumindest wusste er, dass es möglich war, dass Kyrie sich selbst abschirmte. Gut, also hatte sie keine plötzlichen Superkräfte. Das vereinfachte alles. Er würde sie dann bald rufen müssen. Aber er wollte nicht gleich mit dem Magnet anfangen. Sonst würde sie ziemlich maulen, glaubte er. Jedoch lebte er nach dem Grundsatz: Je schneller, desto besser! Also sollten sie es ziemlich schnell hinter sich bringen.

Er setzte sein Lächeln wieder auf. Wann sie es wohl am wenigsten erwarten würde?
 


 

„Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht lang nicht geschlafen“, kommentierte Ray – sichtlich überrascht -, als Kyrie sich neben ihn setzte und ein Gähnen unterdrückte.

Sie hätte doch noch im Himmel vorbeischauen sollen. Sie hätte! … nur ganz kurz …

Sie lächelte ihn ruhig an. „Könnte hinkommen“, gab sie zu. Sie hatte die ganze Nacht lang über die Schöpfungsgeschichte nachgedacht, während sie versucht hatte zu schlafen. Nun wusste sie also um die wahre Entstehung des Menschen – so viel zu „in sieben Tagen voller Friedlichkeit“ – und um das Ende der Antigöttin. Zumindest etwas. Das war positiv. Hoffentlich konnte Gott die Dämonen irgendwann besiegen. Sonst würde er niemals zur Ruhe kommen …

„Du wirkst, als hättest du erfahren, dass dein bester Freund umzieht …“, stellte Ray daraufhin fest, „Willst du darüber reden?“

Kyrie starrte ihn an. Warum konnte er sie so gut lesen? Als wäre sie ein Buch? Wie … gemein. Aber was sollte sie ihm jetzt sagen? Dass sie nicht wollte, dass Gott immer kämpfen musste?

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, es ist nichts“, wehrte sie ab, „Aber danke für das Angebot. Hast du schon etwas von deiner Schwester oder Kylie gehört?“, fragte sie, um vom Thema abzulenken – und weil es sie interessierte.

Er hatte ihr mitgeteilt, dass seine Mutter sehr pflegebedürftig war nach einem … Unfall. Zu dem Unfall wollte er sich einfach nicht äußern. Sie hatte nur durchgehört, dass er aufgrund dessen hier war.

Dieses Mal lag es an ihm, überrascht zu sein. „Oh – nun … meine Schwester hat gestern Abend angerufen und mir gesagt, dass alles Bestens wäre“, gestand er, „Wehe, sie lügt!“

„Warum sollte sie lügen?“, wollte Kyrie wissen.

Er sah auf den Boden. Seine grünen Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. „Um mich davon abzuhalten, zurückzukehren … Ich würde in den nächsten Wagen steigen, um meiner Mutter zu helfen!“ Er schüttelte unbesonnen den Kopf. „Ich würde alles tun, um ...", er brach plötzlich ab, scheinbar realisierend, was er gesagt hatte. „Vergiss es“, murmelte daraufhin.

Kyrie legte eine Hand auf seine Schulter, um ihn zu beruhigen. Was auch immer er erlebt hatte … es musste schrecklich gewesen sein. Sie wollte ihn nicht zwingen, es ihr zu erzählen. Aber sie würde zuhören, was auch immer er ihr sagen wollte.

„Danke“, fügte er leise hinzu.

Sie nahm ihre Hand wieder weg. „Keine Ursache“, murmelte sie verlegen. Egal was.

„Ich glaube, du und Kylie würden euch prächtig verstehen“, sinnierte er plötzlich.

Kyrie sah ihn verwirrt an. „Ach ja?“

Er nickte und lächelte sie dann an. „Ja. Dann könntet ihr euch beide ständig Sorgen um mich machen – es wäre interessant zu sehen, wer den Wettbewerb gewinnen würde.“

Sie lächelte amüsiert. „Stell sie mir vor?“, schlug sie scherzhaft vor. Es war schwer vom Roten Dorf hierher zu kommen, da es am ganzen Kontinent nur diese eine, völlig überteuerte Zugverbindung gab. Vermutlich würde Kyrie Ray nie mehr wieder sehen, falls er je zurückkehrte … wobei … wenn sie ein freier Engel wäre … Mit Teleport ... Nun! Hoffentlich blieb er einfach für immer hier … auch wenn Kylie vielleicht keine Möglichkeit hatte, zu ihm zu kommen. ... Das tat ihr leid.

Ray musterte sie kurz eindringlich. Und sie sah ihm in die grünen Smaragde, die seine Augen darstellten, welche immer noch diesen traurigen Hauch an sich hatten.

„Ray“, wollte sie gerade sagen, als sie plötzlich ein schreckliches Ziehen spürte.

Sie krümmte sich für einen Moment.

„Kyrie?“, fragte er stirnrunzelnd, „Alles in Ordnung?“

Das Ziehen kam von überallher gleichzeitig. Im Rücken. Im Bauch. Im Herz. Alles drückte sich in ihr zusammen. Aber es tat nicht weh … es zog einfach und … zog! Und hörte nicht auf … Was … was war das?

„Kyrie?“

Sie drückte sich mit beiden Armen den Bauch. Es sollte verschwinden … Verschwinden sollte es … Was war …

„Der Ruf“, schoss es ihr plötzlich und sie hatte das Bedürfnis, sich zu schlagen, weil sie verwundert war. Nathan rief sie gerade. Ob das der Magnet war? Nein … aber wenn das das leichte Ziehen war … Würde der Magnet ihr dann die Eingeweide zerquetschen?

Als Kyrie die Welt wieder richtig und ohne Schmerzen wahrnahm, bemerkte sie, dass Ray aufgestanden war, und sich vor sie beugte, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Er hob ihr gerade die Stirnfransen an – wollte er wissen, ob sie Fieber hatte?

Sie errötete leicht, als sie das bemerkte – und er ebenso, als er sah, dass sie sich beruhigt hatte.

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich schnell, „Ich wollte dir keine Sorgen bereiten … es ist nur, dass …“ Was sollte sie sagen? Was?! „… dass ich furchtbaren Hunger habe … Der Ruf … des Magens … und so …“

„Sollen wir etwas essen gehen?“, schlug Ray – mit besorgter Miene – vor, „Ich hole dir etwas. Um die Ecke ist gleich ein Laden …“

Sie schüttelte eilig den Kopf. „Meine Mutter kocht zuhause.“ Sie lächelte. „Mein Bauch wird es aushalten müssen. Mach dir bitte keine Sorgen … sonst kann ich mir ja keine um dich machen.“

Jetzt lächelte er wieder leicht amüsiert. „Wenn du meinst … aber bevor du in Ohnmacht fällst, hole ich dir etwas – ohne Widerrede.“ Trotz des Witzes seiner Stimme klang ein bestimmter Ernst durch. Es klang, als würde er ihr, wenn nötig, selbst etwas kochen.

Seine Augen nahmen plötzlich einen anderen Ausdruck an. „Hey … woher bekommst du eigentlich immer deine Kleider? Wenn ich mich sonst so umsehe, erkenne ich immer in etwa die Mode der Woche, aber bei dir …“ Er schüttelte verwundert den Kopf. „Du bist immer einfach anders und besonders.“ Er lächelte. „Das war ein Kompliment.“

Sie kicherte kurz. „Fällt das wirklich so sehr auf?“ Sie erwiderte sein Lächeln. „Meine Mutter näht gerne … sie bearbeitet alles, was ich kaufe, oder näht gleich schon selbst etwas. Mir gefällt ihr Geschmack, darum …“

„Näherin?“, rief er überrascht aus, „Das nenne ich mal beeindruckend.“ Er grinste. „Und praktisch.“

Sie nickte. „Ja … Anfangs war es mir immer peinlich, aber jetzt … Ich finde es toll.“

Heute trug sie einen weißen Rock, der hinten den Boden berührte, vorne aber den Schnitt eines Minirocks aufwies. Dazu ein schwarzes Mieder, das ihre Mutter mit Schnüren, Schleifen und Knöpfen geschmückt hatte und dazu wieder ein schlichtes, weißes Shirt. Ihre Mutter war einfach ein Genie. Vor allem, weil sie immer wieder etwas fand, zu dem ihre weißen Stiefel passten. Sie mochte ihre weißen Stiefel. An ihrer heutigen Kleidung bevorzugte sie am allermeisten den Umstand, dass die Engel ähnliche Kleidung trugen. Ihre Mutter hatte sich über Engelskleider informiert - und Kyrie hatte beschrieben. Als dann dieses Prachtexemplar aufgetaucht war, hätte Kyrie am liebsten vor Glück geweint.

„Sag deiner Mutter, dass sie Talent hat“, lobte Ray, „Arbeitet sie als Näherin?“

Kyrie schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nur ein Hobby. Sie ist Kellnerin in einem Restaurant.“

Er nickte verstehend. „Was macht dein Vater?“

„Religionslehrer und Prediger in der Kirche.“ Sie lächelte. „Ich möchte in seine Fußstapfen treten.“

Ray nickte. „Es klingt interessant – wenn man sich für Religion interessiert.“ Er lächelte. „Ich wäre mehr der Politiklehrer.“

„Politik, Medizin und Rechtswissenschaften würdest du leicht unterrichten, Genie!“, gab Kyrie dazu. Sie fand es noch immer unglaublich, dass er drei Fächer gleichzeitig studierte. Dass sich das überhaupt ausging - und das ausgerechnet in diesen drei Fächern! Er hatte zwar erzählt, dass seine Zeiteinteilung gut war und dass er sehr viele Jahre an der Universität verbringen würde, aber dass er das wirklich durchzog ... Er hatte ihr gesagt, dass er einen wichtigen, tiefgehenden Grund hatte, sich für diese drei zu entscheiden. Er wollte die Welt verstehen und sie verändern. Er war einfach ein guter Mann. Kyrie vermutete, dass es etwas in seiner Vergangenheit war, das ihn dazu bewegte. Vielleicht der Unfall seiner Mutter?

„Genau genommen vereint Religion die drei sowieso. Ihre eigenen Ränge, ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Vorgänge …“ Er zuckte mit den Schultern. „Die Schreiber der Heiligen Schrift waren wohl kreative Kerle.“

Sie konnte nicht umhin zu nicken. Waren sie. Immerhin stimmte kaum etwas, was man daraus las, mit der Wirklichkeit überein.

Ray wirkte verwirrt. „Du … gibst mir Recht?“

„Alles nur Unfug“, stimmte sie ihm amüsierte lächelnd zu.

Und ein Hupen unterbrach ihr Gespräch. „Ich muss los“, informierte sie ihn hektisch, als sie das Auto ihrer Eltern erkannte, „Bye, bis morgen, Ray!“, verabschiedete sie sich daraufhin sofort und ging winkend los.

„Hey – warte!“, rief er hinter ihr her, „Meinst du das ernst?“

Sie kicherte bloß und stieg ins Auto.

Er verschränkte auf der Straße die Arme und schüttelte mahnend den Kopf.

Sie lachte im Auto, was ihr verwirrte Blicke ihrer Eltern einbrachte.

„Er sagt, er finde deine Näharbeiten gut“, richtete sie ihrer Mutter dann aus, was ihr ein wütendes Schnauben ihres Vaters einbrachte. Warum?

„Danke, Liebes“, sagte ihre Mutter dann fröhlich, „Wie war dein Tag?“

Kyrie legte ihr Religionsbuch zur Seite und hörte auf, darin zu lesen. Sie würden bald die ersten Prüfungen haben. Sie durfte darin nicht versagen. Das wäre ziemlich peinlich.

Aber genauso unwillkommen wäre es, wenn sie im Himmel nicht ihren Arbeiten nachginge.

Es war halb zwölf. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, auf den Ruf zu antworten.

„An diesem Tag solltest du noch auftauchen“, wiederholte sie Nathans Worte, wobei sie auch seine Stimmlage imitierte, „Na dann … sollte ich vielleicht losgehen?“ Sie erhob sich von ihrem Lernstuhl in ihrem kleinen Zimmer, wobei sie die Bücher ordentlich stapelte. Bevor sie das Zimmer verließ, schaute sie noch kurz auf die Feder, die sie neben ihrem Bett platziert hatte. Die erste Feder, die sie verloren hatte. Ihr Glücksbringer, wie Nathan gesagt hatte … Ob der ihr auch Prüfungsglück bescheren würde?

Daraufhin ging sie die Treppen leise nach unten.

Der Fernseher lief noch. Also war noch jemand wach. Sie machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter am Sofa saß und ihr Vater daneben lag. Ein lieblicher Anblick.

„Ich gehe noch in den Himmel“, flüsterte Kyrie, wobei sie sich an die Wand schmiegte, die das Wohnzimmer von der Eingangshalle trennte – es war keine Tür vorhanden.

Ihre Mutter sah müde zu ihr auf. „Jetzt noch?“, wisperte sie träge. Sie musste kurz vor dem Einschlafen sein.

Sie nickte bestimmt. „Nathans Anweisung“, erklärte sie ruhig.

Plötzlich trat ein schelmischer Ausdruck in die Augen ihrer Mutter – und durch das Licht des Fernsehers, der die einzige Lichtquelle im Raum war, zeichnete sich ein amüsiertes Lächeln auf deren Mund ab. Warum?

„Natürlich, Liebes“, hauchte sie, „Geh ruhig! Bis morgen. Kommst du am Morgen zum Frühstück?“

Guter Punkt. Sie würde nicht schlafen müssen, falls Nathan vorhatte, eine ganze Einheit einzurichten, weil sie die Nacht dann im Himmel verbrächte – und der würde sie von Müdigkeit erlösen. Aber sie bezweifelte es. Vermutlich war der Ruf lediglich ein Übungsruf gewesen. Doch trotzdem hatte sie einige Fragen. Hoffentlich war Nathan darauf vorbereitet …

Sie schüttelte den Kopf. „Und hinzubringen braucht ihr mich auch nicht … Nur Abholen wäre nett …“ Sie lächelte. „Aber ihr könnt euch ruhig mehr Zeit lassen!“ Es war angenehm mit Ray zu sprechen … und in letzter Zeit – so schien es ihr – kamen ihre Eltern immer früher an.

Ihre Mutter kicherte leise, aber sehr belustigt. „Geh jetzt, Liebes. Er wartet bestimmt schon.“

„Danke sehr. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um, zog sich die weißen Stiefel an und nahm eine Jacke mit. Es war dunkel und etwas kühl. Sobald sie die Flügel ausstreckte, würde sie die Jacke liegen lassen müssen … Na ja. Sie würde morgen sowieso wieder nach oben gehen – morgen war endlich Mittwoch! Sie würde Thi und Liana und Deliora wieder sehen! … Und Joshua … Joshua …

Sie spazierte durch den kleinen Garten vor ihrem Haus und schloss das Gartentor hinter sich, als sie auf die Straße trat.

… Joshua warf auch so viele Fragen auf … Vor allem was ihn und Nathan betraf … Sollte sie erst noch Informationen von Thi und den anderen einholen oder aber sofort Nathan darauf ansprechen? Mit Joshua wollte sie nicht alleine reden, aber … Ja. Ja – sie würde gleich heute Nacht Nathan dazu befragen.

Würde sie!

Nach einem kurzen Fußmarsch, in dem sich zeigte, dass die Jacke kein Fehler war, bog sie in das leer stehende Hochhaus ein, welches vor vielen Jahren einmal ein Wohnhaus gewesen war. Sie schaute sich kurz um, nur um festzustellen, dass kein Mensch in der Nähe war. Danach erklomm sie die Stufen. Achtzehn Stufen pro Stockwerk. Bei zehn Stockwerken …

Schwer atmend erreichte sie die hundertachtzigste Stufe … Zum Glück besaß der Himmel Heilfähigkeiten … ansonsten würden nicht sehr viele Engel auf die Erde kommen und zurück … Treppen waren schlichtweg anstrengend!

Nach einer kurzen Atempause entledigte sie sich der Jacke und versteckte sie hinter einem Sockel, der auf dieser ehemaligen Dachterrasse angebracht war. Die Dachterrasse war groß und breit, bestand vollkommen aus grauem Beton und wirkte heruntergekommen. Passend um in den goldenen Himmel aufzusteigen.

Kyrie konzentrierte sich, berührte ihr Licht und streckte ihre Flügel aus. Sie fühlte sich erfüllt und stark mit diesen kräftigen Schwingen auf ihrem Rücken, die so viel Licht und Energie bedeuteten.

Ihr Wunsch war es, dem Ruf zu folgen und somit in den leuchtenden Himmel zu gelangen … In den Himmel … Sie wollte die goldene Treppe in den Himmel hinauf gehen!

Und schon spürte sie, wie sie sich dematerialisierte und auf den Wolken zum Stehen kam.

„Und wie finde ich jetzt Nathan?“, fragte sie sich, als sie bemerkte, dass sie keine Ahnung hatte, wohin sie jetzt eigentlich gehen sollte.

Der Himmel war wirklich groß, wenn man nicht wusste, was man wollte. Sie flog mit gespreizten Flügeln über die goldenen, leuchtenden Wolken hinweg, in wunderschönem Licht, das einen niemals erkennen ließ, ob es auf der Erde Tag oder Nacht war, das gleichmäßige Licht des Himmels, das sie in diesen zwei Wochen so sehr lieben gelernt hatte …

Darin zu baden, Zeit mit ihren Freunden zu verbringen … so war das Leben eines Engels. So schön. So gleichmäßig …

Tschag.

Kyrie fühlte, dass sie gegen etwas gestoßen war. Sie speckte ein wenig zurück, gewann ihre Balance jedoch sehr schnell wieder und konnte sich dadurch in der Luft halten. Sie schüttelte den Kopf, um die Verwirrung loszuwerden und starrte ihr Gegenüber an. Eiskalte, schwarze Augen trafen auf ihre.

„Joshua!“, rief sie überrascht aus, „Hallo – guten Tag … ähm … Hallo …“, begrüßte sie ihn daraufhin unsicher. Sie hatte noch nie mit ihm alleine gesprochen! Warum bloß er? Wo sich doch jeden anderen Engel hätte über den Haufen fliegen können – warum gerade ihn? „Tut mir leid, ich wollte dir nicht im Weg sein …“, begann sie, als er sich nicht regte, „Hab ich dir wehgetan?“ Sie musterte ihn kurz besorgt. Er wirkte unverletzt.

Daraufhin schüttelte er leicht den Kopf, wobei er die Augen beruhigend schloss. „Nein. Ich war unachtsam.“ Er pausierte für einen Moment. „Es tut mir leid.“

„Ach – keine Ursache! Ich war ja auch mit den Gedanken woanders und- …“ Sie unterbrach sich, als sie bemerkte, dass Joshua bereits wieder in Bewegung war – strikt an ihr vorbei. „Äh!“, rief sie aus, „Einen Moment … bitte!“

Joshua verharrte in der Luft, ohne sich zu ihr umzuwenden.

„Weißt du, wo Nathan ist? Er hat mir einen Ruf erteilt und …“

„Dann weißt du, wo er ist“, unterbrach er sie ruhig und überaus sachlich – ohne ihr in die Augen zu sehen.

„A-Ach ja?“, fragte sie verwundert und flog ein wenig in seine Richtung. Sie schaute ihn so fragend an, wie es ihr möglich war.

„Horche in dich hinein und finde heraus, woher der Ruf kam“, wies er sie informativ an, „Dann weißt du es.“ Er warf ihr einen kurzen, trockenen Blick zu.

… In sich selbst hineinhorchen also? Wie sollte das möglich sein? Sie wusste ja auch nur, dass der Ruf von Nathan kam, weil sie sonst niemand rufen würde … Hätte sie also genauer hingehört, würde sie es jetzt wissen?

Joshua seufzte plötzlich. „Der Ruf bleibt in dir. Er überreicht dir einen kleinen Teil der Magie des Absenders. Durch diesen kleinen Teil kannst du etwas über den Aufenthaltsort des Absenders herausfinden. Dafür ist er gedacht.“

Hatte sie jetzt so dumm dreingeschaut, dass er …?

Aber einen kleinen Teil … Sie hatte also Nathan in sich. Gut … und wo fand sie Nathan?

Sie versuchte es auf die Weise, auf die sie ihre eigene Magie ebenfalls finden konnte. Zu diesem Zweck schloss sie ihre Augen und konzentrierte sich auf ihren Körper. Auf das Licht in sich, das sie erleuchtete, bereicherte … dieses Licht, das alles in ihr betraf …

Doch da … Da war etwas anderes – etwas … Es war ebenfalls Licht. Aber ein anderes Licht. Sie vermochte den Unterschied nicht genau zu beschreiben, doch etwas störte sie daran. War die Intensität anders? Die Farbe …?

Sie versuchte, auf dieses Licht zuzugreifen, es an sich zu nehmen und zu benutzen. Sie war kurz davor, es anzufassen, als ihr Körper plötzlich erneut zuckte – auf dieselbe Weise schmerzte er, wie er bereits bei Aussendung des Rufs geschmerzt hatte.

Ja, also war es der Ruf …

Und wie …?

Plötzlich fühlte sie, dass sie in eine bestimmte Richtung gehen musste. Sie wusste zwar nicht ganz genau wohin, aber sie erhielt irgendwoher eine Vorstellung von ihrem Ziel. Es war eher klein und eingeengt und lag genau zwei Treppen über ihr und dann einige Maße geradeaus.

Da war er also …

Sie löste ihre Konzentration auf. „Danke für deine Hi- …“ Sie stoppte ihre Danksagung, als sie bemerkte, dass Joshua verschwunden war … Jetzt hatte sie sich gar nicht bedankt …

Kyrie seufzte. Wenn sie ihm das nächste Mal begegnete, würde sie sich bei ihm bedanken. Ja.

Also morgen – wenn alles gut ginge.

Sie machte sich auf den Weg zur nächsten Treppe – und plötzlich bemerkte sie, dass es das erste Mal war, dass sie alleine durch den Himmel wanderte. Eigentlich hatten sie immer diesen einen Treffpunkt gehabt – zu jenem war sie gekommen und dort geblieben, bis jemand mit ihr woanders hingegangen war.

Und jetzt … war sie ganz allein … Wie aufregend! Und so würde es dann sein, wenn sie keine Schülerin mehr war? Einsame Spaziergänge im goldenen Licht …! Sie würde alles erkunden können! Sie freute sich schon sehr auf diesen Tag! Darauf endgültige Freiheit genießen zu können - ihre Freunde immer und überall aufsuchen zu können ...! Uneingeschränkt durch die Welt zu kommen ... Wunderbar!

Sie schaute sich um. In einiger Entfernung flog eine kleine Gruppe Engel vorbei. Sie fragte sich, was diese Engel den ganzen Tag über trieben. Jene, die den Rängen nicht angehörten … Einige waren wie Thi in einem Verein und trainierten dort – ähnlich wie auf der Erde … Aber die anderen? Liana schien ja spaßhalber alle Gerüchte des Himmels aufzuschnappen ... Über Joshua hatte sie keine Informationen erhalten ... Und mehr ranglose Engel kannte sie nicht.

Sie erklomm die beiden Stiegen und wanderte geradeaus – als sie plötzlich vor dem riesigen, goldenen Turm mit den meisten Verzierungen, die sie jemals gesehen hatte, stand.

Das Schloss der Ränge.

Ihr Blick wanderte nach oben – instinktiv. Der Ruf teilte ihr mit, dass sie weiter nach oben musste. Nathan hatte ihr erzählt, dass man in den obersten Stockwerken ziemlich einsam war, weil dort nur Engel mit gewisser Stärke Zutritt hatten, da es sehr viel Energie brauchte, nach dort oben zu kommen.

Sie hatte dieses Magiearsenal leider nicht. Das wusste sie. Aber wie würde sie jetzt zu ihm kommen? Vermutlich war er sowieso in einer Besprechung mit Acedia … Er sprach mit einer Todsünde – persönlich! Sie selbst war ja ganz überwältigt gewesen, als sie die Sieben auf einmal gesehen hatte … Aber mit ihnen privat zu sprechen! Vermutlich würde ihr Vater dafür sterben … Wobei er schon einmal öfter Kontakt mit ihnen gehabt hatte als sie.

„Du kannst ihn ebenfalls rufen“, ertönte eine Stimme hinter ihr. Sie wandte sich überrascht um – Joshua!

„Du bist wieder da?“, wunderte sie sich, „Danke für vorhin. Es hat mir sehr geholfen – aber du bist einfach verschwunden … Nun ja …“ Sie lächelte freundlich. „Danke.“

„Ruf ihn“, fasste er seinen Tipp zusammen, „Dann wird er auftauchen.“

„Suchst du ihn ebenfalls?“, wollte Kyrie verdutzt wissen – weshalb sonst sollte er so ambitioniert sein, ihr zu helfen? Er konnte sie immerhin nicht wirklich leiden.

Als Antwort zuckte der Dunkelhaarige lediglich mit den Schultern.

Kyrie ließ sich einen Moment Zeit, ehe sie eine weitere Frage stellte: „Wie benutze ich den Ruf?“

Die trockene Gelassenheit auf Joshuas Gesicht wich für einen kurzen Moment einer Grimasse, die aussagte, dass er nicht glaubte, dass Kyrie irgendetwas wusste. Seine Stimme hingegen war wieder völlig glaubwürdig und informativ, als er ihr berichtete: „Du musst dich konzentrieren und deiner Magie den Wunsch unterbreiten, dass du Nathan sehen möchtest.“ Er machte eine kurze Pause. „Je dringender dein Wunsch ist, desto stärker verspürt er die Nachricht.“

Kyrie nickte.
 

Nathan hatte Kyrie bereits vor Stunden gerufen. In der Mittagspause, wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte. Sie hätte also durchaus Zeit haben müssen. Außer sie wollte nicht kommen. Aber weshalb sollte sie das Kommen verweigern? Höchstens, um zu beweisen, dass sie sich die Stundenanzahl gemerkt hatte, die man Zeit hatte, um auf eine bestimmte Art des Rufs zu reagieren – wenn das so war, würde er ihr demnächst einen Magneten aufhalsen!

Er saß in Acedias Büro – wie sooft – und sortierte ihre liegen gelassenen Sachen. Er konnte vermutlich so viel er wollte aufräumen – es würde jeden Tag wieder so unordentlich sein, wenn er zurückkam. Acedia war einfach eine Chaotin – und daran bemerkte man, dass man, um eine Todsünde zu sein, keinen tugendhaften Charakter benötigte.

Eigentlich war Nathan hergekommen, um Acedia zu berichten, dass Luxurias Verschwinden nicht an die Öffentlichkeit geraten war – jeder dachte, sie wäre noch hier. Also war es doch ziemlich gewiss, dass sie sich bloß eine Auszeit nahm. Wieso auch nicht? Todsünden hatten ein ziemlich stressiges Leben – natürlich nicht so stressig, wie das ihrer Assistenten.

Man mochte zwar meinen, diese schlimmen Fälle, die die Sünden zu behandeln hatten, wären nicht allzu häufig, aber da irrte man sich gewaltig! Immer wieder kamen Halbengel zur Welt – vor gut sechshundert Jahren gab es einen Boom: vier Kinder in einer Nacht! ... hatte er gehört – und Sie mussten bei Engelsversammlungen anwesend sein, sie hielten untereinander Konferenzen ab … Wenn ein Engel verbannt werden musste, wurde das ebenfalls von ihnen übernommen – und mit Sin konnten auch nur sie sprechen! Falls zwei Engel Streit hatten und sich ernsthaft verletzten oder falls sie sich versehentlich, aber gefährlich verletzten, wurden die Strafen ebenso von den Todsünden ermessen – auch wenn keine Verletzung blieb. Und wenn jemand Erinnerungen besaß, die er loswerden wollte oder musste, dann waren sie auch für das Blockieren zuständig. Doch, da sammelte sich schon ziemlich etwas an.

Und er war der Assistent. Zu ihm rannten die Leute dann, sodass er Acedia ausrichten konnte, dass sie dort und dann dafür anwesend sein musste. Er fragte sich, wie lange Acedia Assistentin gewesen war. Und ob sie es auch so hart gehabt hatte – na ja, zumindest hatte sie keinen Halbengel zu betreuen gehabt. Nicht, dass Kyrie ihm besonders viel Arbeit machen würde – er liebte es, mit ihr Zeit zu verbringen –, aber trotzdem … Eine Arbeit weniger bedeutete meistens eine Stunde Schlaf mehr!

Plötzlich verspürte er ein heftiges Ziehen. Ein richtiger Krampf bildete sich in seinem Körper – es fühlte sich an, als würde sämtliches Glied sich doppelt und dreifach verknoten und sich dann noch einmal verknoten! Dieser … Schmerz … Würde er sterben? Würde er verrecken?

Er konnte sich nicht mehr bewegen. Es war wie eine Lähmung – eine Lähmung, die ihn ermahnte, dass er sofort dieses Stockwerk zu verlassen hatte und auf den Boden der Tatsachen zurückkehren sollte.

So ein starkes Ziehen. Nein – kein Ziehen. Ein Reißen.

Scheinbar hatte Kyrie herausgefunden, wie man den Ruf verwendete. Das wollte er ihr eigentlich gar nicht so richtig beibringen – zumindest noch nicht! Das Mädchen hatte noch keinerlei Feingefühl! Wenn er im Moment geflogen wäre, wäre er wie eine tote Kartoffel einfach abgestürzt! Er wäre tot, Mann! … Fast zumindest. Wenn man im Himmel eines unnatürlichen Todes sterben könnte.

Aber das hieß wohl, dass sie dem Ruf nun nachgekommen war. Und er musste sofort springen? Das, was sie veranstaltet hatte, war zwar noch lange kein Magnet gewesen, doch es war bereits deutlich, dass sie ungeduldig herumstand.

„Tut mir leid, Büro, aber du musst warten“, verabschiedete er sich. Er verließ den abgeschlossenen, fensterlosen Raum durch die massive Goldtür, welche er sorgsam hinter sich schloss. Nicht, dass hier jemand etwas stehlen würde … Die anderen Assistenten hatten genug zu tun und die Todsünden trauten einander. Mussten einander trauen – ansonsten wäre ihre Macht geschwächt. Engel waren keine Dämonen. Und Misstrauen war eine Kunst des Bösen. Etwas, was kein Rang in sich tragen sollte. In etwa so wie Herzschmerz.

Dass man Herzschmerz verdrängen lernte, war auch der Grund dafür, dass Assistenten eine Liebesbeziehung untersagt war – immerhin mussten sie so ihren Frust bekämpfen, sodass sie als Todsünden – oder Wochentage oder was auch immer – dann ihre Gefühle unter Kontrolle hatten und rein und tugendhaft sein konnten – wie richtige Engel es sein sollten. Gefühllose Richter der Gerechtigkeit mit einem sachlichen Blick auf sämtliches Unrecht! Sie mussten unparteiisch und fair sein.

Anstatt all die Treppen nach unten zu steigen, marschierte Nathan auf das Fenster im Gang zu und öffnete es. Nathan hatte den Trick von Acedia gelernt. Keinen störte ein offenes Fenster hier oben – wer sollte auch hinaufkommen können?

Er kletterte auf das Fenstersims und spreizte die Flügel. Und Absprung!

Er fiel nach unten, da er die Flügel nicht als Fallschirme verwendete, und sauste auf den Wolkenboden zu. Irgendwie erinnerten die Wolken auf diese Weise ganz und gar nicht an Schäfchen.

Er breitete die Flügel richtig aus und ließ sie schlagen – und plötzlich sauste er wie ein Engel nach unten. In einem gleichmäßigen Flug – voller Anmut und Eleganz.

Nathan brauchte gar nicht lange nach der Verdächtigen zu suchen.

Kyrie stand genau dort, wo er sie erwartet hatte. Ihr Ruf war wirklich zu genau.

Als er den Boden berührte, wandte sie sich erschrocken zu ihm um – scheinbar hatte sein Ruf auf die plötzliche Nähe reagiert.

Während sich seine Schülerin schwungvoll umwandte, erblickte Nathan Joshua. Joshua.

Was machte von allen Engeln genau Joshua hier? Er und Kyrie konnten sich doch nicht leiden! Wieso war Joshua dann bei Kyrie?

War ihm aufgefallen, dass Nathan ihn gemieden hatte? Hatte er Kyrie ausgenutzt, um an ihn heranzukommen? Wie gemein.

„Hey Kyrie!“, sagte er locker und nickte Joshua dann freundlich grinsend zu, „Joshua!“ Seiner Stimme war seine Missgunst keineswegs irgendwie anzuhören. Negative Gefühle musste man aus seinem Erscheinungsbild verbannen.

„Du bist wirklich gekommen!“, rief Kyrie erfreut – aber auch sehr überrascht – aus, „Ich habe dich gerufen!“ Sie strahlte wie ein Kind, das seine Süßigkeiten alleine auspacken konnte und plötzlich einen Ozean von Ideen vor sich hatte, wie es diese Gabe nutzen konnte. Sie war einfach zu niedlich.

Plötzlich ergab es Sinn, dass sie ihn rufen konnte. Joshua musste ihr geholfen haben. Wollte er jetzt die Lehrerkonkurrenz spielen? Oder einfach nur helfen? Oder sein Ziel schnellstmöglich erreichen?

„…meinen etwas stärker platzieren … Wie ist es gelaufen?“, wollte Kyrie von ihm wissen.

„Was?“, fragte Nathan – leicht verwirrt. Verdammt. Er hatte sie ausgeblendet. Er durfte nicht so auf Joshua fixiert sein!

Sie wirkte niedergeschlagen. „Habe ich gestört?“, fragte sie unsicher, „Ich dachte, du wolltest, dass ich die Zeit ausnutze, die du mir gegeben hast …“

Er riss sofort beschwichtigend seine Hände nach oben und gestikulierte wild. „Äh – nein! Keine Bange! Du hast alles richtig gemacht – ich meine nur … Also … Was … hast du gesagt?“

Sie blinzelte irritiert. „’Ich habe auch deinen Ruf gespürt. Es hat etwas wehgetan. Ich wollte meinen etwas stärker platzieren … Wie ist es gelaufen?’, habe ich gesagt …“, wiederholte sie stirnrunzelnd für ihn.

„Oh – äh … Es hat ziemlich fest wehgetan. Meiner war ein weicher Stoß … ein Ziehen in die richtige Richtung und deiner war …“ Er suchte nach den richtigen Worten.

Kyrie sah ihn erwartungsvoll an.

„Ein Stoß in die Rippen, der dazu führt, dass man ein Hochhaus hinunter fällt und am Asphalt aufschlägt und danach elendig verblutet!“, vollendete er seine Rede, „Also falls dir jemals etwas dieser Art passieren sollte – benutz den Ruf. Jeder wird dir zu Hilfe eilen … aber wenn ich bloß runter kommen sollte, mach es weicher“, riet er ihr, wobei er Joshua einen kurzen Blick widmete. Was hatte dieser Mann ihr bloß erzählt?

„Oh! Tut mir furchtbar leid!“, sagte sie schnell, wobei sie merklich erblasste, „Ich wollte nicht, dass du dich fühlst, als würdest du sterben!“ Sie schlug die Hände aufeinander und verbeugte sich, „Es tut mir leid!“

„Keine Sorge! Dafür benötigt man Feingefühl.“ Er lächelte sie freundlich an.

Sie richtete sich wieder auf. „Hast du Zeit zu üben?“, wollte sie von ihm wissen.

Er nickte. „Ja. Aber der Ruf ist nur auf Entfernung möglich. Wenn ich es jetzt probieren würde, würde er sich selbst aufheben.“

„Weshalb?“, verlangte sie zu erfahren, wobei ihre Augen wieder diesen wissbegierigen Ausdruck annahmen, der ihm das Gefühl gab, sie würde jedes seiner Worte einzeln vertilgen.

„Weil man sich, sobald man den anderen richtig mit den anderen Sinnen wahrnimmt, die Magie zurückholt. Wenn ich also vor dir stehe, nehme ich den Ruf wieder zurück.“

Sie nickte bestätigend. „Klingt logisch.“

„Gut“, stimmte er lächelnd zu, „Joshua? Weshalb bist du da?“

„Ich wollte mit dir reden“, sagte der andere Mann trocken, „Aber lasst euch von mir nicht stören.“

Für andere mochte er vielleicht gleichgültig klingen – für ihn jedoch war seine Verletztheit und Trübseligkeit sichtbar wie seine Hand. Er war also traurig, weil Nathan ihn so lange ignoriert hatte? Das tat ihm leid, aber … Er musste Herzschmerz bekämpfen, okay?!

Anstatt, wie geplant, zu sagen: „Gut, dann bis morgen“, hörte er sich selbst sagen: „Hast du Lust, mit mir zusammen die Stunde zu halten?“

Joshuas Augen weiteten sich in etwa genauso überrascht wie Kyries. Doch die Augen des Mannes hielten ihn in seinem Bann. Er freute sich über das Angebot.

Schön. Wirklich … schön …

Eine Stunde … halten? Um diese Uhrzeit? Na gut – sämtliche Müdigkeit war von ihr gewichen, da sie den erlösenden Himmel betreten hatte, aber … die Uhrzeit nagte noch immer an ihr. Zwanzig Jahre auf der Erde ließen einen eben verweichlichen. Oder was auch immer …

Kyrie lächelte freundlich, als sie Joshuas Nicken wahrnahm. Na gut – aber auf diese Weise konnte sie doch etwas über die beiden herausfinden? Hoffentlich … Warum interessierte sie das überhaupt so brennend? Vielleicht hatte der Umstand etwas damit zu tun, dass sie Nathan nunmehr seit zwanzig Jahren kannte und eigentlich nichts über ihn wusste, während er … Er wusste sehr viel über sie … Sie musste alles lernen – er konnte alles anwenden. Lehrer. Schüler.

„Kyrie ist derzeit damit beschäftigt, Magie anzuwenden, um Dinge zu formen. Den Ruf zu formen, hast du ihr ja beigebracht, aber …“ Nathan, dessen Stimme ziemlich tadelnd geklungen hatte, räusperte sich übertrieben laut. „Sie ist wohl etwas unsensibel damit.“

Jetzt setzte sie ein entschuldigendes Lächeln auf. „Tut mir leid …“, entschuldigte sie sich kleinlaut, wobei sie sich ein wenig duckte.

Er schenkte ihr ein aufmunterndes Grinsen. „Keine Panik! Du wirst das Teil sowieso nie verwenden und … um es dir richtig beizubringen, sind wir ja da!“ Er warf Joshua einen vielsagenden Blick zu. Dieser blickte lediglich nach oben, als würde er die unsichtbare Turmspitze betrachten.

„Bist du bereit, Kyrie?“, wollte er von ihr wissen.

Sie nickte.

Und der Spaß begann.
 

„Die Pyramide beherrscht sie doch toll, oder?“, fragte Nathan, während er auf einem Stuhl aus Wolken saß, den er sich selbst hergestellt hatte. Für Joshua hatte er ebenfalls einen gewoben, da auch dieser die Fähigkeit dazu nicht besaß – genau wie Kyrie, welche vor ihm kniete und die nächste Form ausprobierte.

Joshua nickte gelassen. „Besser als du damals“, murmelte er unbeeindruckt.

„Stimmt“, gab Nathan zu. Damals … Huh – das war gut gesagt. Dreihundert Jahre? Vierhundert? Er benutzte diese Kräfte – und noch viel mehr – bereits so lange, dass er sich kaum noch an die Übungseinheiten erinnerte. Joshua und er kannten sich schon ewig – sie waren miteinander aufgewachsen. Und manchmal kam es Nathan so vor, als würde Joshua sämtliche Erinnerung, die Nathan vergaß, in sich aufsaugen und behalten.

Der dunkelhaarige Mann beobachtete unauffällig Kyries Versuche, einen Bewegungsablauf nachzustellen. Nathan fragte sich, ob er wusste, wie schön er war. Sein glänzendes, schwarzes Haar, das ihm so frech, doch auch traurig ins Gesicht fiel … Seine Augen, in denen man für Stunden versinken konnte, seine Figur, die …

Joshua erwiderte den Blick unmerklich fragend.

„Dein erster Bewegungsablauf waren doch wir beide, wie wir zusammen Ball gespielt haben, oder?“, fragte Nathan laut, da ihm diese Erinnerung plötzlich schoss. So viele Jahre …

„Nein, das war deiner“, verbesserte Joshua ihn trocken. Nathan bemerkte, dass er noch etwas hinzufügen wollte, jedoch stockte.

„Wenn du das sagst, wird es stimmen“, gab Nathan nach – wobei er feixend grinste, „Was war dann deiner? Bestimmt irgendetwas Geniales.“

„Du und dein dämliches Grinsen“, flüsterte Joshua kaum hörbar – und plötzlich erschien ein magisches Bildnis vor Nathan. Es war nur klein, aber es war ein Bewegungsablauf. Eine sehr, sehr, sehr viel jüngere Version von Nathan. Der Ablauf war komplett in Gold, doch die Züge waren so fein, dass man dafür keine Farben gebraucht hätte. Er hatte sogar noch das seltsame Kraushaar, das Nathan früher getragen hatte, nicht ausgelassen.

„Das bin ja ich! Stimmt …“, rief Nathan überrascht aus, als die Nachbildung den Mund zu einem frechen Grinsen verzog und dazu noch spitzbübisch zwinkerte.

„Du hast wirklich völlig gleich ausgesehen?“, stieß Kyrie verwundert hervor.

Verdammt. Sie war ja noch da! Er hatte sie völlig ausgeblendet! Joshua!

Er wusste, weshalb er auf die Erde geflohen war – und wieder dort bleiben wollte. Der Himmel war kein Ort für ihn, solange sein Herz nicht von Joshua ablassen konnte. Im Himmel warteten Verpflichtungen, auf der Erde konnte er frei sein ... frei von allem ...

„Wie meinst du das?“, wollte Nathan von ihr wissen, wobei er hoffte, dass seine Wangen sich nicht röteten. Es war eine peinliche Situation! Wenn sie ihn nicht unterbrochen hätte, hätte er Joshua vermutlich erneut geküsst! Dieser Kerl …

„Als du … für mich ein Kind warst – da hast du genauso ausgeschaut …“, erklärte Kyrie, wobei sie wild gestikulierte, was alles so wirken ließ, als wüsste sie nicht genau, was sie sagen wollte. Dann deutete sie auf ihren eigenen Bewegungsablauf, der diesmal funktionierte.

Er zeigte Kyrie und Nathan im Kindergarten, als sie gemeinsam mit Holzklötzen gespielt hatten. Der kleine, goldene Nathan nahm einen Holzklotz und vollendete damit einen Turm, woraufhin die kleine Kyrie freudig klatschte.

Erst jetzt fiel Nathan auf, wie sehr sie sich verändert hatten. In zwanzig Jahren … und für Kyrie gab es kein Zurück mehr. Er selbst hatte die Altersstufen bereits alle durchgemacht – sie würde älter und älter werden … und alt und hässlich sterben. Das Schicksal eines Menschen … Aber wie sollte er dieses Mädchen nur alleine lassen können? Er würde den langen Trennungsschmerz auf sich nehmen. Was Invidia überlebte, überlebte er doch dreimal! … Außer die Sache mit Joshua … Er war überhaupt nicht so stark, wie er es gerne hätte. Wie er sich gab. Das bedauerte Nathan.

„Habt ihr oft miteinander gespielt?“, warf Joshua plötzlich interessiert ein.

„Einen Moment“, sagte Kyrie hektisch und schloss dann schnell und voller Konzentration ihre Augen. Plötzlich veränderten sich die beiden Kinder mit den Holzklötzen und das Licht wurde zu zwei Jugendlichen, welche aneinander vorbeigingen, ohne sich auch nur anzusehen. Eine davon war die junge Kyrie, während der andere er selbst vor acht Jahren war. Stimmt. Er hatte sie während der Schule ignoriert, weil er sich zu sehr auf die anderen Leute eingelassen hatte – aber sein Blick blieb immer auf ihr haften! Immer! Er hatte sie nie aus den Augen gelassen … Na gut – fast nie! Gut ... als er sicher war, dass keine Dämonen in der Nähe waren, hatte er vielleicht hin und wieder den Blick abgewandt ...

„Ah – ihr habt euch dann also … getrennt …“, stellte Joshua langsam fest. Und ein zufriedenes Blitzen trat in seine Augen, welches Kyrie vermutlich aber nicht auffiel.

„Ja – bis von vor … acht Jahren waren wir Freunde“, erklärte Kyrie, „Und jetzt sind wir es wieder?“ Es war eindeutig als Frage gestellt! Was … was für einen Eindruck hinterließ er eigentlich!?

„Natürlich sind wir Freunde! Jetzt wo ich dir alles erzählen kann, brauch ich mich nicht mehr zu schämen! Und in Gefahr bist du auch nicht mehr – jetzt können wir total dicke Freunde werden.“ Er grinste. Natürlich war das nur die halbe Wahrheit. Aber die ganze konnte er ihr nicht verraten, sonst würde sie vermutlich ausflippen und nicht mehr seine Freundin sein wollen. Das war ein Geheimnis der Engel, das lieber begraben werden sollte - und nie mehr ausgeschüttet.

Sie lächelte erfreut. „Danke!“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Und ihr beide? Ihr scheint euch ja schon lange zu kennen.“

Joshua warf ihm einen bedeutungsschweren Blick zu, während Nathan mit einem fragenden antwortete. Was konnte er ihr erzählen? Vor einer Sekunde hatte er gesagt, dass es keine Geheimnisse zwischen ihnen mehr gab. Immerhin war sie jetzt ein Engel. Und in dem Moment hatte er schon gelogen.

Also … machte es wohl nichts aus, noch mehr zu verheimlichen.

„Wir sind zusammen groß geworden – wir sind nämlich in etwa gleich alt. Wir haben zusammen gelernt, unsere Magie zu entfesseln und … na ja – eigentlich waren wir immer zusammen. Bis ich mich dann dazu überreden lassen habe, Assistent der Todsünde Acedia zu werden. Dann … haben unsere Wege sich ziemlich getrennt“, erklärte Nathan ihr. Es war eine ziemliche Zusammenfassung. Und vielleicht fehlten ein, zwei wichtige Details.

„Ah“, machte sie, wobei sie kurz zwischen ihnen hin und her schaute. „Kindheitsfreunde. Wie schön. Zwar eine lange Kindheit …“ Sie lächelte. „Ihr müsst euch sehr gut kennen.“

Nathan nickte fest. „Natürlich! In- und auswendig! Wir sind wie Pech und Schwefel!“

„Viel mehr wie zwei schwarze Läufer auf einem Schachbrett“, verbesserte Joshua ihn kalt, „Immer auf derselben Seite, doch nie dazu bestimmt, sich wirklich zu begegnen.“

Sollte das Kritik sein?

Kyrie schaute betroffen drein und berührte mit einer Hand ihre Brust. „Oh“, gab sie mitfühlend von sich.

„Aber – das hat sich ja erledigt! Hey – sind wir nicht da, dir etwas beizubringen?“, lenkte Nathan vom Thema ab, „Hast du irgendwelche Fragen?“

Kyries Blick verriet ihm, dass tausende Fragen in ihr schlummerten. Bloß zum falschen Thema. Klatschtante.

„Ja – zur Schöpfungsgeschichte. Du hast mir den Rest ja erzählt und … also …“ Sie stockte.

„Ja?“, forderte er sie zum Weitersprechen auf.

„Liebt Gott die Antigöttin?“, fragte sie daraufhin geradeheraus.

„Äh“, machte Nathan ahnungslos. Das war auch alles, was er zu dieser Frage sagen konnte. Lieben? Gott? Die Antigöttin?! Gott liebte alles und jeden! … Vermutlich alle außer die Antigöttin – nach allem, was sie ihm angetan hatte …

„Ich vermute es ebenfalls“, mischte sich Joshua plötzlich kühl ein, „Sooft wie er ihr Fehler um Fehler verzeiht, muss ihm sehr viel an ihr liegen.“ Wieder landete ein bedeutungsschwerer Blick auf Nathan. Dieser Kerl!

„Aber … sie können sich doch nie erreichen …“, machte Kyrie weiter, wobei sie wieder betrübt klang, „Sind nicht eher sie die beiden Läufer? Meinetwegen auch die weißen?“

Joshua zuckte lediglich mit den Schultern. „Darüber brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen.“

„Die Antigöttin ist immerhin Geschichte. Nur noch ihre Dämonenbrut ist übrig“, wiederholte Nathan für sie, um sie von dieser seltsamen Liebesidee abzubringen. Gott! Und die Antigöttin!

„Na gut … dann noch zur Verteidigung der Antigöttin – ist die Geschichte nicht etwas zu sehr gegen die Antigöttin aufgestellt?“, wollte Kyrie wissen. Sie wandte sich an Nathan. „Wir haben die Heilige Schrift, die die Menschen verfasst haben, ja untersucht und dabei Übertreibung zu Gottes Gunsten festgestellt. Könnte es möglich sein, dass hier dasselbe Spiel getrieben wird?“

„Denkst du, dass Gott mit einem Krieg angefangen hätte?“, wollte Nathan ungläubig von ihr wissen, „Niemals! Gott ist Friede.“

„Wenn er wirklich reiner Frieden wäre, wäre es niemals zu Krieg gekommen. Für Krieg benötigt man zwei Seiten“, entgegnete Kyrie heftig, „Und weshalb sollten die Menschen mehr auf die Dämonen als auf die Engel hören? Für euch erscheinen wir zwar etwas … dümmlich, doch der Wunsch nach Frieden lebt in uns – zumindest in den meisten.“

„Ja – aber früher war das bestimmt anders! Jetzt ist die Antigöttin tot und ihr gesamter Einfluss verloren gegangen, weshalb sich die Dämonen auf Labile stürzen. Ihr habt es Gott zu verdanken, dass ihr dem Friede nahe lebt“, rechtfertigte Nathan sich.

Joshua hielt sich heraus. Der Mann hasste Diskussionen.

„Aber die Antigöttin war doch auch bestrebt, in Frieden zu leben. Sie ist bestimmt auch in Gott verliebt gewesen … Es wäre doch sinnlos, wenn sie alles aufgeben würde, nur um an mehr Macht zu gelangen … Ich denke, sie wird in den Geschichten etwas zu böse und gemein und hinterhältig beschrieben …“

Nathan zuckte mit den Schultern. Worüber machte sich das Mädchen nur Gedanken? „Es kann sein. Ich war nicht dabei … Konzentriere dich lieber nicht zu sehr darauf. Und … sag so etwas nicht vor anderen. Einige reagieren auf solche Anschuldigungen noch härter als auf Halbengel.“

Kyrie nickte – sie schien aufzugeben. „Na gut …“

Nathan grinste sie frech an. „Möchtest du noch etwas weiter üben?“

Sie lächelte. „Natürlich!“

Und so trainierten sie bis in den Morgen, ohne dass noch eine Frage gestellt worden wäre.
 


 

„Wenn heute keine Vorlesung wäre, könnte ich gleich hier bleiben“, sagte Kyrie, als sie völlig erschöpft am Boden saß und Licht zu sich nahm. Joshua und Nathan waren ebenfalls bei ihr und aßen zusammen. Sie saßen in der Nähe der Trainingsplätze. Nathan und Joshua warteten hier auf Thi, sodass Nathan ein wenig mit ihm trainieren konnte, während Joshua ihnen bloß zusehen wollte.

Joshua widmete ihr hier und da einen freundlichen Blick.

Diese Trainingsnacht hatte sich gelohnt. Sie hatte zwar bei Weitem nicht alles herausgefunden, was sie wissen wollte, doch sie hatte etwas viel Wertvolleres als Wissen erlangt – Joshuas Freundschaft. Sie war sich sicher, dass er sie jetzt nicht mehr so sehr ignorieren würde.

„Und du kommst einfach nach dem Mittagessen zurück, oder?“, schlug Nathan vor, „Dann sollten Thi, Deliora, Liana, Joshua und ich so weit sein und wir können zusammen den Tag verbringen.“ Er grinste.

Sie nickte. „Und ich kann dich wirklich einfach so manchmal rufen?“, fragte sie nach.

Er nickte. „Ja – und versuche dabei, das anzuwenden, was wir dir gezeigt haben. Sei schön sachte. Ich werde mir alles notieren, was mir auffällt, sodass du mir nichts, dir nichts zur Rufmeisterin werden wirst!“ Er lachte über seinen Scherz, wobei Kyrie mit einstimmte und Joshua seine Lippen zu einem amüsierten Lächeln verzog.

„Na dann – bis später!“, rief Nathan und winkte fest. Joshua nickte ihr kurz zu.

Und dann konzentrierte sie sich darauf, dass sie die himmlischen Treppen wieder nach unten steigen wollte. Sie wollte auf das verlassene Hochhaus in der Nähe der Universität. Das verlassene Hochhaus in der Nähe der Universität. Ihre Magie zog an ihr – und riss sie nach unten. Sie dematerialisierte sich winkend und landete dann auf einem Hochhaus. Es war nicht ganz so hoch wie das vor ihrem eigenen Haus, aber es war hoch genug, um leicht als Aufzug benutzt werden zu können. Als sie die Tür zur Dachterrasse, auf welcher sie gelandet war, öffnete, schritt jemand hindurch. Derjenige sah sie kurz interessiert an – und plötzlich verdunkelte sich dessen Miene. „Menschenengel“, schnauzte er sie an und schmiss die Tür vor ihr zu, drängte sich an ihr vorbei, obwohl genug Platz gewesen wäre, breitete seine Flügel aus und dematerialisierte sich auf der Stelle.

Kyrie rieb ihren Arm, obwohl es eigentlich gar nicht fest wehgetan hatte. Es war mehr eine Reaktion auf das Frösteln, das sie überlief. Dieser Blick … Eiskalte, blaue Augen aus einem Gesicht mit einer großen Nase und kurzen, goldenen Locken, die es umrahmten, hatten sie angestarrt, als wäre sie noch viel weniger als eine Kakerlake. Woran hatte er sie identifiziert? ... War das einer der ... Halbengelhasser? ... Es war der erste Engel, der ihr - außer Nathan und den Todsünden - auf der Erde begegnet war. Und dann musste gleich ... so einer sein? ... Aber es stand ja nicht fest, dass er ihr etwas tun würde. Er war ein Engel. Und Engel waren gute, nette Wesen. Vielleicht hatte sie sich auch nur verhört und seinen Blick falsch gedeutet und ... Nein, nein. Eher nicht. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihm nie mehr begegnete.

Sie schloss die Augen und sehnte sich nach Nathan. Der erste Ruf. Gleichmäßigkeit. Sachte. Er musste nicht kommen. Er sollte bloß in ihrer Nähe sein – heute noch … Sanft. Feingefühl …

Ihre Augen öffneten sich wieder und sie schritt durch die Tür nach unten, ohne einem weiteren Engel zu begegnen. Ziemlicher Zufall, bei allen Hochhäusern der größten Stadt der Welt genau mit einem Halbengelhasser zusammenzustoßen … Hoffentlich ließen sich Zufälle dieser Art in nächster Zeit vermeiden.

„Ray!“, ertönte eine Stimme hinter ihm, als er gerade das Vorlesungszimmer verließ, „In letzter Zeit hast du es so eilig, dass man glauben könnte, der Teufel wäre hinter dir her, Mann! Wo ist der gelassene Ray nur hin?“

Er wandte sich zum Sprecher um. Es handelte sich um Ted Dickston. Er überragte Ray um gut zwei Köpfe und hatte extrem kurz geschnittenes, dunkles Haar, welches beinahe wie eine Glatze wirkte. Dazu hatte er zwei stechend grüne Augen, die etwas Gefährliches anhaften hatten – doch er war ganz in Ordnung. Er hatte sich mit ihm angefreundet. Manchmal unternahmen sie abends zusammen etwas – und in den Pausen verbrachten sie auch recht viel Zeit miteinander. Man konnte sie fast als Kollegen bezeichnen.

„Ich muss nach Hause. Das Essen brennt an“, gab er trocken zurück.

Ted lachte. „Warum? Hast du um sieben den Backofen eingeschaltet, um dir dein Essen beim Heimkommen warm zu halten?“ Er grinste feixend.

Ray schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Heute sind wir doch sowieso später dran, oder? Da darf ich mich wohl noch mehr beeilen als sonst.“

„Wartet irgendwo da draußen etwa ein heißer Feger auf dich, von dem du mir nichts erzählt hast?“, fragte Ted ungläubig – dann lachte er lauthals los.

„Nein, aber jemand, mit dem man sich besser unterhalten kann, als mit dir“, antwortete Ray sachlich, machte auf der Stelle kehrt und eilte davon.

„Was – Was soll das heißen!?“, erklang Teds laute, überraschte Stimme hinter ihm.

Morgen würde er sich bei ihm entschuldigen müssen. Aber der Rechtswissenschaftsdozent hatte heute überzogen – das bedeutete, dass er wohl nach Kyrie ankommen würde. Ray konnte es selbst kaum fassen, dass er sich schnell auf den Nachhauseweg machte. Immerhin war er schwer bemüht, diesen Weg zu meiden und so lange wie möglich vom Haus fernzubleiben. Entsprechend hatte Ted wohl Recht – er hatte sich verändert. Er schlenderte nicht mehr so sehr. Immerhin hatte er jetzt wichtige Termine einzuhalten.

Und die Gespräche mit Kyrie waren so erfrischend, so auflockernd, so wohltuend, dass er auf keinen Fall eine Sekunde davon verschwenden wollte.

Aber er konnte Leuten wie Ted nichts davon sagen – sie würden es alle falsch verstehen. Sie würden Romanzen sehen, wo keine waren. Sie würden Kyrie unbedingt kennenlernen wollen und sie würden sie bedrängen. Er kannte ihrerlei. Kylie hatte auch immer mit seinen alten Freunden zu kämpfen gehabt.

Zuerst war sie in Frieden gelassen worden, weil jeder sie für ein Paar gehalten hatte – als sie ihm schlussendlich geglaubt hatten, dass da zwischen ihnen nicht mehr war als pure Freundschaft, war sie ständig von ihnen belästigt worden. Kylie war immerhin nicht hässlich. Nein, eigentlich das Gegenteil. Und klug obendrein. Zu klug. Ein Wunderkind - wortwörtlich.

Er verließ das Universitätsgebäude. Rechtswissenschaften wurde an der vordersten Front unterrichtet, sodass er es zu ihrem Treffpunkt immer sehr nah hatte – darum war er meistens wohl der Erste, der dort erschien.

Außer heute. Als er sich durch die Massen an Studenten und Arbeitern drängte, die hier tagein, tagaus vorbeiliefen, ohne ihn wahrzunehmen, erkannte er bereits das schwarze Haar von Kyrie, welches ihr bis zur Taille reichte. Heute trug sie einen aufbauschendes, weißes, kurzes Kleid, welches kurze Ärmel besaß und mit Rüschen verziert war. Und dazu ihre weißen Stiefel. Sie wirkte wie ein Engel, wie sie ruhig da saß und verträumt in den Himmel starrte. Weiße Federschwingen würden perfekt zu ihrem Antlitz passen. ... Warum dachte gerade er an Engel? ... Scheinbar unterhielt er sich eindeutig zu oft über ihr Studiengebiet!

„Hallo, Kyrie!“, begrüßte er sie, „Hast du heute besser geschlafen als gestern?“ Er lächelte freundlich, als er sich neben sie setzte und sie darum wieder ziemlich überragte. Sie schaute aus ihren dunklen, braunen Augen zu ihm herauf und schenkte ihm ein erfreutes Lächeln. „Ray, da bist du ja! Ich habe gut geschlafen, danke.“

„Tut mir leid, der Dozent hat überzogen. Da bin ich dann nicht so schnell wie sonst.“ Er grinste.

Wenn er bei ihr war, fühlte er sich viel fröhlicher als sonst. Wenn er hier war, konnte er so vieles ausblenden.

Sie nickte. „Ich verstehe! Hat sich seit gestern etwas verändert?“

Ray schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht merklich viel. Neben dem ganzen Lernen bleibt kaum Zeit für anderes. Habt ihr auch bald Prüfungen?“

„Ja, haben wir. Aber verglichen mit dir muss ich ja nichts dafür tun!“, brachte sie hervor. Ihre Augen nahmen wieder diesen begeisterten Glanz an, der immer auftauchte, wenn sie davon sprach, dass er gleich drei Studiengänge auf einmal belegte. Mal sehen, wie lange das gut gehen würde.

„Du musst bestimmt auch genug büffeln“, entgegnete er beschwichtigend.

Sie nickte und seufzte daraufhin. „Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie du das hinbekommst.“

„Mir auch“, gab er lachend zu.

Sie grinste. „Ich hoffe, du fällst nicht durch. Das wäre schade.“

Er nickte. „Erinnere mich bloß nicht daran! Das wäre eine sehr tragische Enttäuschung.“

Kyrie tätschelte plötzlich seine Schulter und sagte beruhigende Worte.

Bei ihrer Berührung ging es ihm kalt den Rücken runter. Aber weshalb? Eigentlich hatte er nichts gegen Berührungen – vor allem von einem Freund. Er schüttelte kurz, kaum merklich den Kopf. Vielleicht war es nur ein Windstoß.

Und so sprachen sie weiter – und als Kyrie in das Auto ihrer Eltern stieg und sich verabschiedete, wobei er ihr zuwinkte und sich bereits auf den nächsten Tag freute, fiel ihm auf, dass ihre Eltern eine halbe Stunde Verspätung hatten. Und ihm war es dennoch viel zu kurz vorgekommen. Er wollte mehr Zeit mit ihr verbringen.

Mit diesen Gedanken schlenderte er seinen Weg übertrieben langsam nach Hause.
 


 

Nachdem Kyrie sich versichert hatte, dass ihre Jacke noch an dem Ort lag, an dem sie sie letzte Nacht zurückgelassen hatte, dematerialisierte sie sich und empfing das heilende Licht des Himmels. Sie erschien an dem Ort, an dem sie sich das erste Mal getroffen hatten. Doch die Treppe stand leer.

Vielleicht hätte sie sich doch nicht so beeilen müssen und das Essen ein wenig länger genießen können – doch lieber zu früh als zu spät, wie sie immer zu sagen pflegte. Manchmal.

Sie setzte sich auf die Treppe und schaute sich um. Hier war wie immer wenig los. Kaum einmal ließ sich ein ihr fremder Engel hier blicken. Diejenigen Engel, die vorüber kamen, waren wunderschön. Wenn Kyrie ihnen in die Augen sah, verlor sie sich in einer seltsamen Welt. So viel Grazie und so viel Weisheit vereinte sich auf ihren Gesichtern – und sie alle waren so viel älter als sie selbst und das, obwohl einige jünger aussahen als sie.

Zwei Zyklen und achthundert Jahre … Das war das Leben eines Engels. So viel länger als ein Menschenleben. Es betrübte sie, zu wissen, dass nur so wenig Zeit im Leben ihrer Engelsfreunde beanspruchen würde. Sie würde ja kaum Zeit haben, sie richtig kennen zu lernen … Engelsfreunde …

Nathan hatte ihr gesagt, sie wären Freunde …

Ein Seufzten entrann ihrer Kehle. Sie hatte sich so lange schon richtige Freunde gewünscht – Freunde, die sie jetzt gefunden hatte. Und trotzdem dachte sie schon an die Zeit der Trennung … Ihr war wohl einfach nicht zu helfen!

„Du schaust drein, als hätte man dich ein Hochhaus runter geworfen und wieder hochgehoben, nur um dich noch einmal runter zu werfen“, erklang eine Stimme über ihr, „Muss echt weh getan haben!“, fügte Thierry hinzu, als er am Wolkenboden vor ihr aufkam und sich umschaute, wobei er seinen muskulösen Hals ein wenig reckte. „Sind die anderen noch gar nicht da? Solche unpünktlichen Chaoten!“ Er grinste, wodurch sein breites Gesicht ein wenig schief wirkte – und umso niedlicher. Er musste ein wahrer Frauenschwarm sein. Allein sein Oberkörper …

„Nein, ich denke, wir sind bloß zu früh!“, antwortete Kyrie fröhlich und erhob sich, wobei sie das Flügelpaar auf ihrem Rücken kurz durchschüttelte, wodurch ihr einige der weißen Federn abhanden kamen. Die erste Feder, die ihr abgefallen war, stand noch immer bei ihr zuhause herum. Mittlerweile hatte sie bestimmt schon sehr viele Federn verloren. DIe hatte sie liegen lassen. Im Himmel lösten sie sich mit der Zeit auf. Auf der Erde nicht. Aber in der kurzen Zeit, die sie sie auf der Erde trug, verlor sie nicht so viele Federn.

Sie umarmte Thierry fröhlich – wobei sie mehr seine Hüfte umarmte als ihn, was ihr allerdings auch schon schwer viel. Der Mann war breit, groß und schien nur aus Muskeln zu bestehen!

Er legte seine Hände ebenfalls um sie und drückte sie für einen Moment – dann ließen sie wieder voneinander ab.

„Wie war deine Woche?“, wollte sie von ihm wissen, als sie sich wieder auf die Treppe setzte.

Er pflanzte sich auf den Boden und konnte ihr dadurch direkt ins Gesicht sehen. So groß!

„Ha – ganz gut. Unser Verein hatte drei Freundschaftsspiele und wir haben alle drei gewonnen.“ Sein Tonfall verhieß: „Ich habe alle drei gewonnen und die andern haben ein bisschen geholfen.“ Aber bei seiner Statur konnte sie ihm das irgendwie aufs Wort glauben …

„Und in die Meisterschaften nächstes Jahr sind wir auch eingetragen – ich hoffe, du wirst dabei sein!“ Er grinste.

„Das klingt alles sehr gut!“, lobte Kyrie ihn, „Ich würde sehr gerne einmal zusehen – wenn ich keine Prüfungen habe, werde ich bestimmt vorbeischauen.“

„Ich werde Nathan die Termine geben – er soll sie dann an dich weitergeben.“ Thi grinste höhnisch. „Ans Springen und Nachtragen ist der Junge eh gewöhnt!“

Kyrie lachte kurz. „Sei nicht so gemein – er ist immerhin fast eine Todsünde!“ Fast eine Todsünde … Ob die Todsünden viel Zeit für Freunde hatten? … Vermutlich würde sie seine Zeit als Todsünde sowieso nicht mehr erleben. Was waren schon hundert Jahre?

Thierry stimmte in ihr Lachen mit ein. „Er wird’s verkraften! Ist ja ein starker Junge! War immerhin auch einmal mein Schüler!“

Kyrie blinzelte überrascht. „Ach wirklich? Das wusste ich gar nicht.“

„Du weißt vieles nicht, Schätzchen“, ertönte eine Stimme hinter ihr, was sie erschrocken herumfahren ließ. Deliora stand auf der Treppe, was bedeutete, dass sie von oben gekommen war, „Thierry und Nathan haben aber nur etwa achtzig Jahre miteinander gespielt. Es war während ihrer Zyklen.“ Deliora grinste. „Für alte Männer und Kinder haben sie gar nicht so schlecht gespielt.“

Erstaunt sah Kyrie wieder zu Thi. „Ach ja? So lange spielst du schon?“

Er nickte stolz. „Natürlich! Seit nunmehr fünfhundertelf Jahren!“ Er zuckte danach mit den Schultern. „Nathan hat dann aufgehört. Wenn er weitergemacht hätte, wäre er heute bestimmt genauso beeindruckend wie ich.“

Kyrie versuchte, sich Nathan so arg muskulös wie Thierry vorzustellen, was ihr aber nicht wirklich gelang – ihre Gedanken von einem überfetteten Nathan entlockten ihr ein kurzes Lachen. „Natürlich“, sagte sie daraufhin kichernd.

Deliora ließ sich neben ihr nieder. „Thierry spielt aber wirklich gut“, stellte Deliora sachlich fest, „Ein Spiel mit ihm zu sehen, ist wirklich spannend.“

Der große Mann errötete leicht. „Das ist zu viel der Ehre!“

Deliora lächelte berechnend. „Keineswegs.“

Thierry schaute dann – mit seiner normalen, bräunlichen Gesichtsfarbe – zu Kyrie: „Wie läuft es mit deinem Training?“

Überrascht darüber, angesprochen zu werden, zuckte sie kurz zusammen, fing sich dann aber gleich wieder. „Einen Moment“, bereitete sie ihre Freunde vor und konzentrierte sich dann fest. Sie benutzte die Magie und zwang sie in die Form eines bewegenden Ablaufs. Sie formte das Licht, das ihr entsprang in die Richtung, dass sie die gestrige Stunde mit Nathan und Joshua wieder hervorrief.

Thierry klatschte daraufhin erfreut. „Wow! Du bist echt gut!“

Von Deliora erhielt sie ein anerkennendes Nicken. „Ich kenne sonst keine Halbengel, also weiß ich nicht, wie ich deine Leistung bewerten soll – aber sie ist nicht schlecht.“ Sie schenkte ihr noch dazu ein zufriedenes Lächeln, wobei sie ihre Brille zurechtrückte.

Plötzlich dämmerte Kyrie etwas: „Soll ich versuchen, Nathan zu rufen?“

„Den Ruf beherrschst du auch schon?“, rief Thi überrascht aus, „Genial – du übertriffst dich!“

Sie lächelte höchst erfreut, doch errötete auch ein wenig obgleich des vielen Lobs. Währenddessen ließ sie die Magie des Ablaufs in sich zusammenfallen und benutzte die Magie, um einen leichten, sachten Ruf, wie sie ihn gelehrt bekommen hatte, zu erschaffen. Es wäre zwar die Zeit für einen Magneten gewesen, doch das war nicht ihre Aufgabe.

„Mal sehen, wie er darauf reagiert“, murmelte Deliora schmunzelnd.

„Was machst du eigentlich immer so?“, wollte Kyrie von Deliora wissen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin Assistentin eines Siebten Ranges.“

Kyrie staunte nicht schlecht, als sie das hörte. Schon eine zweite wichtige Persönlichkeit – Thi gezählt, eine dritte! „Was kannst du denn erschaffen?“, wollte sie interessiert wissen. Der Siebte Rang erschuf, das wusste sie.

„Ich helfe meinem Boss dabei, Bücher und Zettel herzustellen, die unter anderem Nathan verwendet“, antwortete sie kühl.

„Habt ihr euch dabei kennen gelernt?“, hakte Kyrie weiter nach.

Deliora kicherte belustigt. „Schlaues Mädchen.“ Dann nickte sie. „Ja. Es war ziemlich am Anfang seiner Zeit als Assistent. Nathan hatte sämtliche Blätter, die Acedia besessen hatte, zerstört – wie genau er das geschafft hat, hat er nie jemanden erzählt.“

Kyrie kicherte obgleich dieses Einwandes. Irgendwie hörte sich das total nach dem Nathan an, der ihr Freund war – und passte überhaupt nicht auf den beliebten Schuljungen, den sie solange kannte.

„Er musste jedenfalls alle Treppen zu Fuß nach unten laufen. Wir produzieren im Erdgeschoss des Turms. Er benötigte eine so große Ladung Papier, dass mein Chef mich um Hilfe bitten musste. Dabei habe ich ihn das erste Mal verflucht. Als er dann alleine zu schwach war, alle Treppen wieder hochzusteigen, musste ich ihm helfen.“ Sie lächelte. „Ich denke, dadurch sind wir Freunde geworden. Aus Kulanz und Mitleid bin ich nämlich auch dieTreppen zu Fuß hochgestiegen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es waren sehr viele Treppen, bis ich nicht mehr weiter konnte. Da habe ich ihn das zweite und dritte Mal verflucht. Er war der Erste, der mir meine Grenze gezeigt hat." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich wollte sie eigentlich nie kennenlernen."

Kyrie starrte Deliora an. So … sozial und nett war sie? Wow … „Das ist ja total nett von dir gewesen! Also ohne das Fluchen … Aber … Moment, bitte … Bis du als Siebter Rang nicht mehr hoch kannst …? Grenze?“

Thierry kicherte belustigt. „Nathan ist einfach Nathan, oder? Weißt du, es gibt nicht nur Sieben Todsünden und sieben Assistenten, die stark genug sind, so weit nach oben zu fliegen. Einige sind sogar stark genug, die vorletzte Treppe zu erreichen. Aber der schwächste Assistent kommt eine Treppe weiter. Nur weil man weiter unten zugeteilt ist, heißt das nicht, dass man, wenn es einen Engel weniger gäbe, nicht weiter nach oben käme!“

„Und die meisten Stockwerke gehören sowieso den Siebten Rängen“, fügte Deliora informativ hinzu.

Sie nickte verstehend. Zumindest verstand sie halbwegs. Also konnte Deliora bis direkt unter das Stockwerk der sechsten Ränge fliegen … und war damit ziemlich beeindruckend stark! … Oder? Aber … das war zu hoch für sie … Sie selbst würde vermutlich nicht einmal ein Stockwerk hoch kommen, also …

Gerade als sie fragen wollte, wann Liana zu ihnen gestoßen war, erschien Nathan vor ihr.

„Hallo Leute! Tut mir leid – ich bin spät dran! Aber ich musste ja noch einige Rufe beantworten.“ Er grinste Kyrie frech an. Plötzlich fühlte sie etwas, das in ihr hoch kam. Es war das Gefühl, wieder vollständig zu sein. Ihre Magie war wieder zu ihr zurückgekehrt. Dieses Gefühl war seltsam … prickelnd.

„Ich übe noch, okay?“, wehrte sie sich unernst, „Wie war es?“

Er nickte zufrieden. „Du hast dich ziemlich gebessert!“ Danach beugte er sich ein wenig in Thierrys Richtung. „Schau lieber zu, dass sie dich niemals rufen muss.“ Dazu machte er eine Halsabschneider-Gestik.

Kyrie zog einen Schmollmund – und das brachte Nathan zum Lachen. „Nein, ernsthaft!“ Er grinste. „Du bist gut!“

Eine schwarze Gestalt näherte sich ihnen dann gemütlich – und Joshua stellte sich neben Nathan, wobei er jedem einmal kurz zu nickte. Sogar Kyrie erhielt eines. Hatte sie es also tatsächlich geschafft, ihn als Freund zu gewinnen?

„Oh, Joshua! Gut – dann sind alle anwesend!“, rief Thierry erfreut, „Gehen wir los!“

Deliora nickte. „Ja. Wohin gehen wir dieses Mal?“

„Moment …“, unterbrach Kyrie schüchtern, „Fehlt nicht noch … Liana?“

Thierry starrte sie verständnislos an. „Ja?“

„Sollten wir nicht auf sie warten?“, schlug sie vorsichtig vor.

„Nein?“, mutmaßte Thi stirnrunzelnd, „Sie kommt nicht. Wieso sollten wir da warten?“

„Oh, wo ist sie denn?“, wollte Kyrie wissen.

Sie erntete einen weiteren fragenden Blick. „Keine Ahnung“, antwortete er wahrheitsgemäß.

Nun war es Kyrie, die ihr Gesicht zu einer Grimasse verzog. Was war nur passiert? Waren sie etwa keine Freunde mehr oder …?

„Oh!“, ertönte Nathans Stimme plötzlich, „Tut mir leid, das habe ich vergessen, euch zu sagen, Leute.“ Er räusperte sich kurz. „Die Menschen sind etwas seltsam. Sie erwarten, dass man sich meldet, wenn man nicht kommt.“

Thierry blinzelte verwirrt. „Macht das Sinn?“

„Sie hoffen und beten eben gerne“, erwiderte er lachend.

„Nathan?“, mischte sich Kyrie verwirrt in das Gespräch ein.

Er sah sie belehrend an. „Engel kennen ihre Freunde, Kyrie. Eine pünktliche Person wird nicht unpünktlich kommen – wenn sie nicht kommt, kommt sie gar nicht. Ist doch logisch.“

„Und auf Nathan und Joshua haben wir gewartet, weil sie beide einen etwas unpünktlichen Charakter haben. Wenn sie aber noch viel länger fortgeblieben wären, wären wir einfach ohne sie gegangen“, klärte Deliora sie auf, „Und ihr meldet euch wirklich vorher? Was würdest du dann tun, wenn du zum Beispiel dringend lernen müsstest? Erst noch einen Abstecher machen, dich ablenken lassen und dann die Zeit nicht zum Lernen nutzen? Man kann doch wirklich darauf vertrauen, dass man seine Zeit sinnvoll nutzt, ohne sich dafür Erlaubnis einholen zu müssen.“ Ihre Tonlage drückte Verständnislosigkeit aus.

Kyrie nickte vorsichtig. „Ich … ich denke, es ergibt Sinn … Wenn ich also einfach so nicht erscheine …?“

Nathan beendete ihren Satz: „Werden wir einfach ohne dich Spaß haben!“ Ein Grinsen zierte sein Gesicht.

Kyrie lächelte. „Nun gut … Wenn ihr das so seht … werde ich mich wohl daran halten?“ Es war mehr als Frage gedacht.

„Aber in deiner Welt solltest du es lieber nicht ändern“, wies Nathan sie hin – und er erschauderte. „Ich weiß noch, damals, bei meiner ersten Verabredung …“

Thierry kicherte und klopfte Nathan freundschaftlich auf den Rücken. „Du Held!“

Kyrie beobachtete Joshua, dessen Miene sich für einen kurzen Moment verfinsterte. Aber er wandelte sie sofort wieder in Gleichgültigkeit um. Er passte einfach nicht zu diesem fröhlichen Haufen. Aber er war sehr nett. Jedoch verschlossen …

„Nun – alle Ungereimtheiten geklärt?“, wollte Thierry erneut wissen, „Dann gehen wir! Ich habe Hunger!“
 


 

Liana war wirklich den ganzen Tag nicht aufgekreuzt. Was sie wohl Wichtiges zu tun hatte? Aber es stimmte schon, dass es manchmal wichtigere Dinge gab, als seine Termine mit Freunden einzuhalten. Wenn Acedia ihn plötzlich rufen würde, würde er auch nicht noch schnell absagen können. In dem Fall waren die Telefone der Menschen wohl ganz praktisch. Im Himmel aber kannte man die Leute mit denen man Umgang pflegte – man wusste sehr wohl, ob diese Person sich um Pünktlichkeit bemühen würde oder nicht. Der erste Eindruck war hier einfach der wichtigste. Außerdem gab es keine Straßenstaus. Und kein Telefonnetz, um im Fall der Fälle doch anzurufen.

„Ist es nicht ziemlich schwierig, auf einen Termin so viel zu lernen?“, wollte Deliora von Kyrie wissen, während sie ihr Getränk aus Licht herumwippte.

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nein, es geht. Man muss sich nur Zeit nehmen. Ich habe ja nur ein Fach zu lernen. Einige studieren ja mehr auf einmal.“

„Welcher Idiot würde sich das denn antun?“, fragte Nathan frech, „Mir war der eine Studiengang schon zu hart! Ich beneide dich ja fast darum, dass du es so weit bringst.“

„Er ist kein Idiot“, murmelte Kyrie kaum hörbar, „Und du bist faul.“ Sie verschränkte die Arme und sah ihn anklagend an.

Er grinste jedoch triumphierend. „Endlich jemand, der es anerkennt!“

Thierry lachte laut los. „Ich bin schon gespannt, was für eine Acedia du wirst, Kumpel!“

Das fragte er sich auch. Keine Panik …

Er sagte jedoch leichthin: „Die Beste von allen?“

Hoffentlich würde der Tag noch sehr weit weg sein. Auch wenn für ihn und Joshua … Die letzte Nacht zusammen mit ihm war einfach wunderschön … Sie hatten so viel Spaß … Er musste Kyrie noch dafür danken, dass sie ihm die Gelegenheit geschenkt hatte. Aber wie bloß?

Lachen erschallte vom Tisch – und eine Geschichte nach der nächsten folgte. Sie tauschten Erlebnisse und Ergebnisse aus … Und Nathan hoffte, dass Kyrie jetzt wusste, wie sich Freundschaft anfühlte – nachdem er sie ihr solange verwehrt hatte.

Kyrie erhob sich von ihrem Platz im großen, geräumigen, mit Sitzgelegenheiten voll gestellten Vorleseraum. Sie räumte ihre Notizen zusammen und stopfte sie alle in ihre Tasche. Die Prüfungen rückten immer näher und näher. Bis zum Ende des Wintersemesters war zwar noch Zeit, aber sie wollte so schnell wie möglich das Studium beenden – und das bedeutete, dass sie es ja nicht vermasseln durfte.

Als sie sich in der Universität eingetragen hatte, hatte sie sich damit abgefunden, bestimmt nicht mehr als eine Freundin zu haben, mit der sie vielleicht hin und wieder lernen konnte … Aber das Schicksal hatte ihr da einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und ihr Herz verkündete ihr frohlockend, dass dieses Leben so viel besser war, als ihr vorheriges. Vielleicht hatte sie zuvor bessere Noten gehabt. Vielleicht hatte sie mehr Zeit für sich allein gehabt – aber was sie bestimmt nicht hatte, war so viel Spaß, Freude, Freundschaft und Erfülltheit! Im Himmel war einfach alles besser.

Und auf der Erde hatte sie schlussendlich auch einen Freund, dem sie vertraute. Ray war anders als ihre ganzen bisherigen Freunde. Nicht nur der Umstand, dass er ein Mann war, sonderte ihn ab, sondern auch sein Umgang mit ihr … und ihre Beziehung. Er war ganz bestimmt nicht auf Nathan fixiert. Und das änderte schon einiges.

„Ich habe gehört, er sei gestorben!“, ertönte die aufgeregte Stimme einer ihrer Mitstudentinnen, „Bei einem Meeresunglück ums Leben gekommen!“

„Ja, dass er nicht sicher angekommen sei, habe ich auch gehört“, stimmte ihr eine andere zu.

„Ich habe gehört, Nathan sei in die Südliche gezogen, weil er dort seine längst verlorene Liebe zurückerobert!“, mischte ein Mann aus ihrem Lehrgang mit.

„Seine einzige Liebe bin ich!“, ertönte Melindas erzürnte Stimme, „Er hat es mir selbst gesagt! Unter Tränen!“

Melinda war weiterhin bei der Nathan anhimmelnden Gruppe, da sie in einer – wenn auch kurzen – Beziehung mit ihm gewesen war. Sie hatte Kyrie keines Blickes mehr gewürdigt, seit Nathan verschwunden war. Unerreichbar – für sie.

Ungewohnter Triumph – bösartiger Stolz – keimte in Kyrie auf. Endlich hatte sie etwas, wonach all diese Leute nur trachteten! Vor allem Melinda … Was hatte es ihr da genützt, sie so zu verletzen? Was nur?

„Hey, die Einsame starrt dich an“, erklang ein Murmeln in der Gruppe.

Kyrie wandte sofort das Gesicht ab und marschierte nach draußen. Sie wollte zu Ray.

„Seit Nathan weg ist, ist sie sogar noch arroganter – und das, obwohl sie nicht einmal mehr Grund dazu hat!“, maulte Melinda gut hörbar.

„Vielleicht ist sie noch in Kontakt mit ihm?“, mutmaßte ein anderer.

„Mit ihr – und nicht mit mir? Also bitte!“, keifte die ehemalige Freundin.

Und danach schloss Kyrie die Tür hinter sich und eilte durch die Gänge. Was kümmerte es sie, was diese Leute von ihr dachten? Sie sollten sie in Ruhe ihr Studium machen lassen. Sie glaubte zumindest an die Grundsätze, die sie hier lernten. Nicht so wie diese … anderen …

Einige waren doch ganz in Ordnung, aber diese eine Gruppe nervte sie insbesondere. Und von dieser Gruppe Melinda, die ihr noch immer so ähnlich sah. So, als wollte sie ihr weiterhin die Geschehnisse unter die Nase reiben. Aber Kyrie hatte sich in diesen zwei Wochen geändert. Sie war stärker geworden. Auch wenn Melinda das nie erfahren würde.

Ehe sie sich versah, verließ sie das Gebäude und war schon am überfüllten Weg. Sie drängte sich durch die Menschenmenge. Keiner dieser Menschen hier interessierte sich für sie. Nicht für Nathan. Nicht für Ray. Ihnen waren Engel egal – und einigen vermutlich auch Gott.

Diese Menschen lebten ihre eigenen Leben – und sie hatten vermutlich alle ihre eigenen Geheimnisse und Geschichten. Und darin ähnelten sie sich …

Kyrie erkannte Ray sofort. Er stand mit dem Handy in der Hand vor der Mauer und machte einen bestürzten Gesichtsausdruck.

„Guten Tag, Ray“, begrüßte sie ihn, „Alles in Ordnung?“ Sie blieb neben ihm stehen und sah zu ihm hoch. Sie hoffte, dass die Leute zumindest einen Bogen um sie machen würden.

„Ach, es ist nichts“, murmelte er hörbar betrübt, dann setzte er allerdings ein freundliches Lächeln auf, „Und, wie geht es dir, Kyrie? Fleißig gelernt?“

„Selbstverständlich!“, antwortete sie ihm, auch wenn sie nicht glaubte, dass alles in Ordnung sei. Aber wenn er es nicht erzählen wollte, würde sie auch nicht nachhaken. Das … gehörte sich einfach nicht. Er würde es ihr sagen, wenn die Zeit reif dazu war.

Und so führten sie ihr Gespräch fort. Kyrie vertiefte sich sehr in die Themen, die sie ansprachen, genoss jedes Wort und freute sich in ihrem Herzen auf jede weitere Unterhaltung, die sie mit Ray führen würde. Er war ihr Freund.

Ob er es genauso sah?
 


 

Ihre Jacke hatte sie vor drei Tagen wieder sicher mit nach Hause genommen. Sie war in etwa nach dem Abendessen wieder heim gekommen und hatte sich danach gleich schlafen gelegt – zwar war sie keineswegs müde, allerdings wusste sie, dass sie es am nächsten Morgen sein würde, wenn sie nicht schlief. Sie bevorzugte es, ausgeschlafen zu sein.

Liana war tatsächlich nicht ein einziges Mal aufgetaucht, was sie ziemlich verwunderte. Sie hatte Nathan gestern gefragt, weshalb das so war – er konnte ihr keine Antwort darauf geben. Liana habe ihm nichts gesagt. Aber das war bei Engeln an sich normal.

Seltsames Volk.

Er hatte ihr aufgetragen – mittels eines Rufs während des Mittagessens – dass sie noch einmal kommen sollte. Die Übung zu rufen, hatte sie derzeit zu meistern, also musste es ein ernst gemeinter Ruf sein. Glaubte sie zumindest.

Sie zog ihren roten Rock aus, welchen sie heute zum Studium getragen hatte, und auch das dazugehörige, schwarze Korsett und die weiße Bluse, um sie gegen das leichte, weiße Sommerkleid, das ihren Rücken frei ließ, auszutauschen. Sie wollte die schöne Kleidung einfach nicht zerstören. Ihre Mütter würde bald die meiste Kleidung überarbeitet haben, sodass sie nicht ständig dasselbe für den Himmel tragen musste.

Nachdem sie sich von ihren Eltern verabschiedet hatte, verließ sie das Haus und ging die leere Straße entlang. Diese Straße war so anders als die vor der Universität. Hier fiel sie jedem auf, da es nur so wenige Menschen waren, die hier vorbeikamen. Viele kannte sie. Einer ging auf der anderen Straßenseite vorbei und winkte ihr zu. Jake, der Nachbar. Sie winkte zurück und eilte weiter fort. Es war ... seltsam.

Genauso seltsam wie Joshua beim Treffen. Er hatte nicht ein Wort mit ihr gesprochen. Sie dachte, wenn sie jetzt so eine Art „Freunde“ wären, würde er mehr mit ihr reden, aber … er hatte das ganze Reden Thierry, Deliora und Nathan überlassen. Vielleicht war er auch nicht redselig. Vielleicht hörte er lieber zu? Oder mochte er sie immer noch nicht? War eine gemeinsame Nacht nicht genug für ihn, um sie zu Freunden zu zählen?

Sollte sie Nathan darüber ausfragen?

Nein. Nein – er hatte schon in jener Nacht unzufrieden auf ihre Fragen reagiert. Sie wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Sie wollte ihn nicht verlieren. Er war ihr Freund.

Kyrie stieg die Treppen nach oben, die so unendlich viele waren, und kam auf der Dachterrasse zum Stillstand. Sie beobachtete den Himmel, der in so vielen Gold- und Gelbtönen schimmerte und leuchtete und die Welt erhellte. Die Sonne war einfach ein Geschenk Gottes – und sie ehrte es.

Sie wollte nicht, dass die Dämonen dieses Geschenk je zerstörten. Die Nacht, ohne das Licht des Himmels, war so dunkel und düster ...

Sie konzentrierte sich fest auf das Verlassen des Gebäudes und erschien im Himmel. Danach hörte sie weiter in sich hinein, um herauszufinden, wo Nathan zu finden war. Diesmal schien er an einem ganz anderen Ort zu sein – dieses Gefühl des Rufs, seine Magie, deutete weiter weg.

Kyrie überlegte, ob es nicht klüger wäre, zurück auf die Erde zu gehen und von dort aus direkt zu Nathan – aber so erhielt sie noch ein wenig Flugübung. Ja – sie würde den Weg fliegen. Ganz so weit weg würde es schon nicht sein.

Während sie sich vom Boden abstieß und ihre Flügel wild zu schlagen begannen, erhob sie sich über den Boden und sauste dahin. Die Wolkendecke über ihr berührte sie nicht, aber sie hielt sich in beachtlicher Höhe, um den Flug auch genießen zu können. Einige Engel, an denen sie vorüber sauste, sahen ihr freudlos oder missbilligend nach, doch sie sagten nichts. Zum Glück. Sie wollte nie mehr wieder so einem Engel begegnen, wie sie ihn gesehen hatte. Sie hatte Nathan nichts davon erzählt. Immerhin war nichts passiert – sie machte sich bestimmt nur völlig grundlos Sorgen. Und sonst würde er sich auch noch sorgen. Als Assistenz der Todsünde hatte er bestimmt schon genügend eigene Probleme – da brauchte er nicht noch einen weiteren Krisenherd. Vor allem keinen eingebildeten.

Sie flog die Wolken entlang, immer diesem Gefühl folgend, dass Nathan sich in jener Richtung befand und immer näher kam. Sie wollte dieses Mal beobachten, wie die Magie wieder zu ihm zurück gelangte – sobald ihre anderen Sinne ihn wahrnahmen. Darauf musste sie sich besonders konzentrieren!

Sie war gestern bereits im Himmel gewesen, um mit Nathan noch eine kurze Übungsstunde zu halten. Er hatte mit ihr alles wiederholt, was sie beherrschen sollte. Die Stunde war wirklich sehr kurz gewesen. Er hatte gesagt, sie brauche eigentlich nur noch zweimal die Woche kommen – und zum Mittwochstreffen. Das freute sie auf eine seltsame Weise – da blieb wieder Zeit zum Lernen. Aber sie würde ihren Freund nur noch selten sehen …

Das Gefühl verdeutlichte ihr, dass sie schon ziemlich nahe am Ziel war. Sehr schön. Letztendlich landete sie vor etwas, das sie ein wenig … an eine Kirche erinnerte …

Sie blieb davor stehen. Sie war sich sicher, dass er sich darin befand. In einer … Kirche.

Nahe liegend. Oder auch nicht. Bisher hatte sie gedacht, Kirchen wären Erfindungen der Menschen – und nur zufällig eine Sprunghilfe für Engel.

Sie schritt vorsichtig und unsicher zum riesenhaften, goldenen Tor. Die Kirche war komplett aus Wolken gemacht und hatte – wie alles andere – Goldtöne, Weißtöne, Grautöne und Brauntöne an sich. Im ersten Moment hätte man sie vielleicht auch für ein Schloss halten können. Vielleicht war es auch ein Schloss.

Sie öffnete das Tor und schritt hindurch. Als sie hinein schaute, war sie enttäuscht.

Das Tor selbst war sehr geschmückt, viele Verzierungen umgaben es und ließen es wertvoll erscheinen, da sie alle nach sehr viel Arbeit aussahen. Innen jedoch … war sie leer.

Einfach leer. Hier und dort stand ein Tisch mit ein paar Stühlen drum herum. Aber auch nur sehr wenige. Sie zählte zwei Kästen, die jedoch ebenfalls schmucklos waren. Es wirkte ziemlich eintönig und langweilig.

Als sie den Blick nach oben schweifen ließ, erkannte sie, dass einige weiß-goldene Wolken oben schwebten. Sie schwang sich in die Höhe und flog so leise wie möglich nach oben, um die Wolken zu betrachten.

Es waren insgesamt fünf Wolken, die sich dort befanden. Die erste Wolke, über welche sie sich beugte, war leer. Sie hatte mehr weißliche Farben als goldene an sich, leuchtete jedoch schön. Auf diese Wolke hätte bestimmt ein Engel gepasst. Was sie wohl darstellten? Vielleicht brachte die nächste Wolke Erleuchtung.

Die vier Wolken, die Kyrie hinter sich gebracht hatte, ähnelten sich alle sehr. Sie waren leer und Wolken. Als sie sich von der vierten abhob und auf die letzte zu steuerte, glaubte sie, ihr Herz bliebe stehen.

Nathan lag auf dieser Wolke – ruhig schlafend, friedlich schlummernd. Seine Augen waren geschlossen und sein Brustkorb und hob und senkte sich in beruhigender Langsamkeit. Er schlief!

Plötzlich bemerkte sie, dass der Ruf in ihr selbst verstummt war. Nein! Sie hatte es schon wieder verpasst … Aber was sollte sie jetzt tun? Warten? Ihn aufwecken? Sich auf eine andere Wolke legen? Doch wie hätte sie hier schlafen können?

Der Himmel vertrieb alles, was mit Müdigkeit zu tun hatte. Sie war fit und hellwach! Warum schlief er dann?

Kyrie entschied sich dazu, auf einem ungenutzten Plätzchen auf dieser Wolke zu sitzen und zu warten. Sie setze sich hin, ließ ihre Flügel ausgebreitet, achtete aber darauf, dabei Nathans eigene Flügel nicht zu behindern.

Sie saß dort und musterte Nathan.

Er schlief wie ein Engel. Seine Miene war völlig ruhig, allerdings fehlte auch sein Lächeln. Sein Gesicht war wunderschön, aber es wirkte einfach so viel älter … Ob sie sich je daran gewöhnen würde? Wenn sie nicht scharf darüber nachdachte, ignorierte sie es – oder nahm es zumindest hin -, aber so … Sie hätte gerne einhundert Jahre mit ihm verbracht. Ihn altern sehen … Sie fragte sich, weshalb er sich für diese Altersstufe entschieden hatte. Er war damit merklich älter als Thierry, Joshua und Deliora. Liana hatte sich ebenfalls für ein älteres Gesicht entschieden – obwohl alle beide dennoch jung wirkten.

Sie wunderte sich darüber, was sie denn wohl für ein Gesicht benutzen würde, wenn sie die Chance hätte, sich das auszusuchen. Vermutlich ein viel jüngeres oder viel älteres. Eher noch das ältere. Wenn sie dann weiße Haare und viele Falten hatte.

Kyrie lächelte über ihre eigenen Gedanken – worum sie sich sorgte! Es konnte ihr doch völlig egal sein. Sie würde es sowieso nicht erleben.

„Woah! Du bist ja da!“, erklang eine überraschte Stimme.

Sie schaute zurück und lächelte Nathan ins Gesicht. „Guten Morgen, Schlafmütze!“

„Du hast mich gefunden!“, rief er erfreut aus, „Ich bin stolz auf meine Schülerin!“

„Danke, aber das habe ich nur durch meinen Lehrer geschafft“, antwortete sie lobend.

„Also hast du meinen Ruf tatsächlich wahrgenommen! Sehr schön!“ Er grinste. „Dann denke ich, bin ich bereit, es dir zu sagen!“ Bisher hatte er noch gelegen, doch jetzt erhob er sich ins Sitzen. Kyrie nahm es als Zeichen, aufzustehen. Sie schwebte neben der Wolke in der Luft. Zum Glück trug sie ihre Stiefel. Ob Sandalen rutschen würden?

Nathan stütze sich selbst mit den Händen auf der Wolke ab und schaute sie erwartungsvoll an.

„Was … möchtest du mir denn sagen?“, wollte sie von ihm wissen – zögerlich.

Er streckte ihr eine Hand hin – sie nahm sie langsam und vorsichtig entgegen, wofür sie sich ein wenig nach vorne beugen musste.

„Herzlichen Glückwunsch, Kingston Kyrie!“, rief er laut und deutlich aus, „Du bist von heute an ein freier Engel! Ich entlasse dich aus meiner Obhut – du darfst im Himmel von nun an frei verfügen, fällst unter das Engelsrecht und bist an Engelsgesetze gebunden!“ Er grinste erfreut. „Tolle Leistung!“

Kyrie konnte nicht umhin, ihn mit offenem Mund anzustarren. Ihre Augen mussten ziemlich weit hervorstehen – zumindest fühlte es sich so an. „Frei … Freier Engel?“, wiederholte sie stockend, „Kein Schüler mehr?“

Er nickte stolz und ließ ihre Hand wieder los, nachdem er sie einmal kräftig durchgeschüttelt hatte. „Kein Schüler mehr!“

„Ich … Ich darf ohne deine Erlaubnis hingehen, wohin ich möchte? Kann … kann gehen, wohin ich will? Darf … darf hier oben sein, sooft ich möchte?“, informierte sie sich weiterhin ungläubig. War … war das sein Ernst?

Er bestätigte es mit einem zufriedenen Nicken. „Tun und lassen, was du möchtest! Du bist keine Gefahr mehr für andere Engel und sie sollten auch mit dir klar kommen!“ Er grinste. „Ab jetzt gibt es kein Schüler-Lehrer-Verhältnis mehr, Kyrie!“ Daraufhin entrann ihm ein Lachen. „Wir sind Freunde!“

„Freunde …“, wiederholte sie leise, noch immer geschockt. Und plötzlich realisierte sie alles – alles machte Sinn. „Freunde!“, rief sie erfreut aus – und ohne darüber nachzudenken, umarmte sie Nathan fest. „Wir … ich bin ein Engel!“, stellte sie fest, während sie ihn drückte, „Ein Engel!“

Er klopfte ihr beruhigend auf den Rücken und umarmte sie dann auch. „Ich bin stolz auf dich, Kyrie!“

„Ich … ich doch auch!“, sagte sie erstaunt, „Nathan – Nathan! Ich habe es geschafft!“

Er lächelte.

Und sie lächelte zurück.

Ein waschechter Engel!
 


 

Nathan stand an der Türschwelle zu seinem Haus und schaute Kyrie nach. Sie waren noch eine Weile geblieben und hatten unten an den Tischen gesprochen. Sie schien sich wirklich unglaublich zu freuen. Und das freute ihn.

Die Entscheidung, ihr Verhältnis zu ändern, hatte ihn gestern Nacht übermannt. Während sie Schülerin war, durfte sie den Himmel eigentlich nur auf seinen Befehl hin betreten, musste sich bei ihm melden und etwas mit ihm unternehmen, bis sie die Grundlagen beherrschte. Und die hatte sie allesamt gemeistert. Es waren eigentlich nur noch Kleinigkeiten zu tun – zweimal die Woche eben, aber … Eigentlich war das unnötig. So hatte sie viel mehr davon, denn wie sollte sie sich da jemals mit anderen Engeln anfreunden? Sie sollte doch hier ein neues – oder zumindest ein zweites – Zuhause finden.

Er hatte es auf der Erde doch gleich gemacht. Er hätte eigentlich nicht von ihrer Seite weichen sollen – aber er wollte die zwanzig Jahre genießen. Und er hatte es getan. Dafür hatte er seine Aufgabe eben ein wenig … biegen müssen.

Kyrie hatte weit mehr Jahre vor sich. Sie sollte es sich gleich zu Anfang hier gemütlich machen – sodass niemand sie vergessen würde und dass sie sehr viel Spaß hatte. Vielleicht konnte sie während der Ferien ja einmal länger hier oben bleiben, als nur für ein paar Stunden. Thierry würde sich freuen, wenn sie ein paar seiner Spiele mit ansehen konnte, Deliora konnte ihr vielleicht einige Tricks mit Magie zeigen und Liana hatte bestimmt gerne eine Freundin, mit der sie den ganzen Tag herumtollen konnte. Und wenn Kyrie in der Nähe war, hatte Nathan einfach nicht das unzähmbare Bedürfnis, Joshua zu küssen. Es hielt sich dann ... in Grenzen. Sie hielt ihn irgendwie allein mit ihrer Anwesenheit davon ab. Damit würden achtzig Jahre als Assistent leichter umgehen – und er hatte auch keinen Grund mehr, auf die Erde zu kommen! Die Mittwochstreffen fanden weiterhin statt, auch wenn Kyrie ihm gesagt hatte, dass sie langsam anfangen musste, für ihre Prüfungen zu lernen – aber sie würde versuchen, die Treffen einzuhalten. Und jetzt konnte sie ja auch an anderen Tagen kommen und sich mit den anderen treffen – auch wenn Nathan mit Acedia oder anderen Pflichten beschäftigt war. Dadurch ersparten sie sich das ständige Terminemachen und sie konnte auch einmal für ein paar Minuten kommen, wenn sie Ablenkung brauchte. Einfach praktisch! Doch die Mittwochstreffen blieben. Dass sie alle einen Grund hatten, zu kommen. Sie waren einfach etwas ... Besonderes.

Außerdem hatte er ihr erlaubt, in sein Haus zu kommen, wenn sie wollte. Er hatte sowieso genug Platz und seit Joshua nicht mehr hier wohnte, war es meistens unbesetzt, wenn er nicht gerade schlief. Er würde noch ein sechstes Bett aufbauen, um Kyrie einen Ruheort zu bieten.

Als Assistent der Todsünde lebte man zwar sozusagen im Büro der Todsünde, aber keiner konnte einem verbieten, sich ein Haus zu bauen und dahin manchmal zu flüchten, wenn man genug von Papier hatte. Er hatte die Chance genutzt, um sich einen Ort zum Ausschalten zu gewähren. Leider hatte er kaum einmal Zeit, herzukommen. Manchmal kamen auch Thi, Liana oder Deliora einfach hierher, um sich eine schöne Zeit zu machen, während er nicht da war. Aber es störte ihn keinesfalls.

Immerhin vertraute er seinen Freunden.

Ob Joshua auch noch gelegentlich kam, wusste er nicht.

Er verwob die Magie und verhärtete sie daraufhin, als er sie in Form eines Wolkenbettes gegossen hatte. Die ersten beiden Betten hatte er sich anfertigen lassen – danach hatte er die Magie selbst beherrscht und sich die anderen drei selbst erschaffen. Das war dann der nächste Vorteil als Assistent einer Todsünde: Man war einfach stark und konnte alles machen! ... Und wenn die daraus entstandenen Gegenstände nicht ganz so professionell wirkten, wie die von Profis erschaffenen.

Auch wenn die Betten wieder verlockend wirkten, um sich einfach hinzulegen, wusste er, dass er in Acedias Büro noch genug zu tun hatte – na dann, an die Arbeit!

Und so flog er den Weg zurück zum Goldenen Turm, an der Außenmauer hinauf und durch das Fenster, das jemand offen gelassen hatte, wieder hinein. Praktische Abkürzung.

Im Büro erwartete ihn ein ziemliches Gewirr an Zetteln und Aufgaben.

Wie schön. Und das konnte er jetzt alles als Vollzeit-Assistent erledigen. Er war kein Lehrer mehr!

Wow.

Kyrie hatte geübt. Sie war selbstständig und alleine in den Himmel geflogen und hatte dort ihrer Magie freien Lauf gelassen. Sie war an verschiedenen Orten aufgetaucht und wieder verschwunden – sie konnte wirklich allein durch Konzentration alles erreichen! Jeden erdenklichen Ort im Himmel! Sie war auch in der Nördlichen Hauptstadt an verschiedenen Hochhäusern wieder herunter gekommen. Es funktionierte. Es funktionierte wirklich! Durch den Himmel konnte sie einfach von der Universität nach Hause kommen! Eigentlich brauchte keiner sie mehr abholen, aber …

Sie schaute zu Ray, der neben ihr hockte und telefonierte. Zumindest wartete er darauf, dass jemand auf der anderen Leitung abhob. Er sagte, es würde ihm leid tun, dass er es während ihrer kurzen, gemeinsamen Zeit machte – aber Kylie hatte bloß zu dieser Stunde ihre Mittagspause. Scheinbar hatten sich weder Kylie noch seine Schwester in den letzten vier Tagen bei ihm gemeldet. Und das bereitete ihm Sorgen.

Kyrie verstand das. Sie würde vor Sorge vermutlich umkommen … vor allem, da sich eine der beiden sonst jeden Tag gemeldet hatte … Wenn man es aber als Engel betrachtete, dann waren sie wohl einfach zu beschäftigt - aber darauf wollte sie hier bei Gott nicht schwören!

„Geh ran, verdammt!“, knurrte er plötzlich ungehalten in sein Telefon, „Wenn du diese Nachricht hörst, sollst du auf ewig verdammt sein, Verdammte!“ Sichtlich genervt drückte er den Abbruchsknopf und steckte sein Handy wieder ein.

„Gehen beide nicht ran?“, überprüfte Kyrie noch einmal, woraufhin sie ein Kopfschütteln als Antwort erhielt.

„Ich verstehe es nicht“, murmelte er daraufhin, „Wieso können sie mir nicht einfach die Wahrheit sagen?“ Er schüttelte verbittert den Kopf. „Als könnte ich sie erreichen! Keiner würde extra für mich diesen langen Weg auf sich nehmen und … Geld?“ Er gab ein ablehnendes Geräusch von sich. „Als bekäme ich genug dafür.“ Er schloss die Augen. „Ich will doch nur die Wahrheit hören – die Wahrheit, wie es um meiner Mutter steht!“ Plötzlich erhob er sich. Kyrie legte aus Reaktion eine Hand auf seine Schulter.

Er schaute daraufhin kurz zu ihr. „Immerhin habe ich eine Teilschuld an ihrem Leid … Da habe ich doch das Recht und die Pflicht, mich nach ihr zu erkunden … mich … um sie zu kümmern …“

„Was ist … damals genau passiert?“, wollte Kyrie wissen, ehe sie über die Frage nachgedacht hatte. Wieso sollte er es ihr jetzt erzählen? Gerade jetzt und heute, wo er es doch sonst immer vermieden hatte?

Ray ging drei Schritte zurück und ließ sich an die Mauer sinken. Kyrie erhob sich und setzte sich neben ihnen. Und so saßen sie schweigend, an die Mauer gelehnt da, bis Ray plötzlich leise und mit zitternder Stimme anfing, seine Geschichte zu erzählen.
 

Ray war ein kleiner Junge von etwa fünf Jahren gewesen, als er eines Tages nicht zum Kindergarten gehen konnte, weil sein Bauch so fest schmerzte. Aufgrund dessen konnte auch seine Mutter nicht zur Arbeit gehen. Sie musste sich um ihren Sohn kümmern – immerhin arbeitete ihr Lebensgefährte sehr wohl und sein Vater … Sein Vater war nie da, wenn er ihn brauchte. Manchmal besuchten Rays Schwester Diane und er ihren Vater, wenn dieser Zeit für sie hatte. Doch Radiant Sonicson arbeitete sogar noch härter als seine geschiedene Frau Maria – und als Midas Kabelson, derjenige, der immer bei ihnen ein und aus ging und sich so darstellte, als wäre er wirklich Rays und Dianes Vater. Doch Ray mochte diesen Mann niemals leiden. Er war nicht sein Vater. Er würde nicht sein Vater sein. Niemals.

Er benahm sich nämlich nicht wie ein Vater. Er fragte Ray nie, ob es ihm gut ginge. Fragte Ray nie, was er so gemacht hatte und forderte ihn nie auf, mit ihm zu spielen. Ständig klagte er nur über Müdigkeit und darüber, wie hart er doch gearbeitet habe, um dieser Familie – um Marias Familie – Geld einzubringen.

Seine Mutter war zu dieser Zeit eine sehr schöne Frau gewesen. Sie hatte langes, dunkles Haar gehabt und Augen, die Smaragden glichen, mit einem Blick, der Mut und Fröhlichkeit ausstrahlte. Ein Gesicht, das Ray immer wieder aufmunterte.

Und egal wie lange sie gearbeitet hatte, egal wie müde sie war – sie nahm sich Zeit für ihre beiden Kinder. Spielte mit Diane und Ray und half ihnen bei Aufgaben. Oder blieb für sie zuhause, wenn sie krank waren.

Ray hatte sich schon immer gefragt, weshalb seine Mutter Midas so viel Vertrauen schenkte. Weshalb sie einen Mann wie ihn ins Haus ließ. Er war anders als seine Mutter – er hatte hellbraunes Haar, eiskalte, blaue Augen und ein hartes Gesicht, das einem einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Für Ray stellte er das Böse in Person dar. Er hatte seinen Vater vom Platz vertrieben. Plante, diesen Platz einzunehmen.

Doch Ray würde seinen Papa verteidigen. Ein Papa war ein Mann mit freundlichem Gesicht, mit warmen Augen und einem Lächeln, das Kindern das Gefühl gab, geliebt zu werden. Er opferte seine freie Zeit für die Kinder auf. Nicht so wie Midas, der immer da war, aber nie für sie.

„Man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt“, hatte seine Mutter ihm einst erklärt, „Wo die Liebe hinfällt, entscheidet bloß dein Herz. Manchmal ist es ein Fehlschlag. Doch ein anderes Mal erlangst du so viel Glück, dass du vor Freude beinahe platzt.“ Sie lächelte. „Aber das wirst du noch früh genug erfahren. Letzten Endes waren alle Fehlschläge es wert, wenn du dafür auf den richtigen Weg gelangst.“ Danach hatte sie ihm durch die Haare gewuschelt und war mit ihm in den Garten gegangen, um eine Schneeballschlacht gegen ihn zu verlieren.

Seine Mutter kam überall hin mit, wohin er wollte. Seine Mutter war immer für ihn da – passte auf ihn und auf seine Schwester auf. Seine Mutter war ein Engel. Seine Mutter hatte ihnen von diesen Wesen erzählt - sie sagte, sie würden immer über einen wachen. Also musste seine Mutter ein Engel sein!

Doch am dritten Tag, an dem Ray krank im Bett gelegen hatte und seine Mutter bei ihm geblieben war, weil er sich alleine nicht zu helfen gewusst hatte, war Midas in sein Zimmer gekommen. Seine Mutter war gerade bei ihm gewesen, weil sie ihm Tee gemacht hatte.

Plötzlich stand Midas in der Tür. Ray hatte über Nacht leichtes Fieber bekommen, weshalb er die meiste Zeit über geschlafen hatte. Durch ein dumpfes Geräusch war er aufgewacht.

Midas hatte mitten im Raum gestanden. Seine kalten Augen auf seine Mutter gerichtet, welche schützend vor ihm stand.

„… dieses Balg!“, beendete Midas gerade einen Satz. Seine Stimme klang wütend, völlig erzürnt. Und seine Augen … Als Ray in diese Augen geschaut hatte, hatte er Angst. Er war bewegungsunfähig. Wie versteinert. Er wusste, dass in diesen Augen mehr war, als nur Böses. Es war absolut Böses. So böse … so viel Wut … Wieso blieb seine Mama stehen? Warum konnte sie sich noch bewegen? Hatte sie keine Angst?

„Mama …“, brachte er heraus, „Ein Teufel …“, hauchte er schockiert. Denn Midas erinnerte ihn an die Dämonen, vor welchen er Angst hatte. Die bösen Wesen aus den Geschichten, die ungezogene Kinder fraßen.

„Ray!“, rief sie überrascht aus und drehte sich zu ihm, „Du bist wach … Hier, willst du einen Schluck …“

Mit zwei großen Schritten stand Midas hinter ihr, fuhr ihr ins Genick und hob sie hoch. Das war bei seiner Größe gar nicht so erstaunlich. Maria hing in der Luft und strampelte ein wenig mit den Füßen.

„Lass mich … lass mich los!“, forderte sie mit fester Stimme. Sie schien zu versuchen, ihn mit ihren Beinen zu treffen, welche wild umher stießen.

„Ignorier mich nicht für dieses Kind!“, erklang seine zornige Stimme, „Lass dieses Balg nicht zwischen uns stehen!“

„Er ist mein Sohn!“, rief sie – plötzlich wütend. Ihre ganze Sanftheit war verschwunden, „Und jetzt lass mich auf der Stelle los und verlasse dieses Haus! Ich möchte dich nie mehr wieder sehen!“

Die Miene des Mannes erschien Ray wie versteinert. Und er war auf seine Mutter fixiert. Wut zeichnete sich noch immer auf seinem Gesicht ab. Bloßer Zorn.

Er sollte seine Mama los lassen!

Ray erhob sich schnell aus dem Bett. Gut – Midas hatte ihn nicht bemerkt!

Er nahm Anlauf und rannte ohne lange nachzudenken gegen Midas. Er rempelte den großen Mann, was ihm selbst Schmerzen bereitete, aber den Mann kaum zu stören schien.

Er schenkte ihm lediglich einen Blick, der besagte, dass Ray nichts weiter als eine Kakerlake war. Plötzlich nahm er ihn am Kragen hoch und hielt ihn neben seine Mutter – deren Gesicht mittlerweile dem einer Furie glich.

„Lass auf der Stelle meinen Sohn los, Midas!“, befahl sie laut, während sie versuchte, nach Midas zu stoßen und nach Ray zu greifen.

„Lass meine Mama los!“, rief Ray kleinlaut. Er sollte seine Mutter gehen lassen! In Ruhe lassen! Abhauen! Aus Reflex versuchte Ray, auch sich selbst aus den Klauen dieses Monsters zu befreien. Er biss ihm schnell in die Hand, die ihn festhielt.

An den Händen schien er empfindlicher zu sein. Jedenfalls heulte er kurz auf und ließ Ray anschließend fallen. Der Junge kam am Boden auf und sein ganzer Körper zitterte vor Schmerz. Sein Kopf, sein Bauch, seine Beine, seine Zähne und seine Arme …

„Du kleiner …“, knurrte Midas, „Niemand beißt mich ohne Nachspiel!“

Er griff wieder nach Ray, doch dieser rollte sich davon und erhob sich.

„Lauf weg, Ray, lauf!“, rief Maria verzweifelt, „Lauf und hole Hilfe!“

„Sei still, Frau!“ Panik war aus Midas Stimme zu hören – und daraufhin ein Klatschen.

Ray hatte die Tür des Zimmers erreicht und drehte sich noch einmal um. Midas hatte seine Mutter geschlagen! Ins Gesicht.

„Lass meine Mama in Ruhe!“, wiederholte Ray laut schreiend, „Lass meine Mama in Ruhe!“

„Mir geht es gut, Liebling!“, sagte diese nach einem kurz Moment. Sie hatte aufgehört zu strampeln. Midas hielt sie noch immer mit Leichtigkeit fest „Lauf jetzt …“

„Wenn du jetzt gehst, dann bringe ich deine Mutter um, Balg“, drohte Midas mit tonloser Stimme, „Dann hast du deine Mutter umgebracht, weil du eine ungezogene, kleine Ratte bist.“ Er klang so emotionslos. Kalt. Mörderisch. Ray glaubte ihm jedes Wort.

Er blieb stehen.

„Das würde er nicht wagen!“, schrie Maria und trat wieder nach ihm, "Bei Gott, das würde er nicht!"

„Schweig!“ Und noch ehe er die Worte fertig gesprochen hatte, warf er Maria gegen die Wand über Rays Bett. Sie krachte dagegen und landete am Bett. Ein Knacken war zu hören.

„Mama!“, entwich Ray ein panischer Schrei, „Mama!“ Er rannte reflexartig zu ihr zurück, er wollte an Midas vorbei, doch dieser packte ihn. „Mama!“

„Sei ruhig, Balg, oder du landest gleich neben ihr. Deiner Mama geht es gut“, sagte er jedoch erneut ausdruckslos. Dabei beobachtete Ray, wie sein Bett sich rot färbte, „Mama!“ Er musste ihr helfen! Musste Hilfe holen! „Mama!“

„Schau was du angerichtet hast, Ratte“, redete Midas weiter, „Du hast deiner Mutter das angetan. Wärst du nicht gewesen …“

„Mama!“ Er hielt es nicht mehr aus. Er wollte helfen! Helfen! Erneut versuchte Ray, Midas in die Hand zu beißen – doch dieser hatte dazugelernt und ließ es nicht zu. Ray spuckte ihn daraufhin an und wehrte sich mit Händen und Beinen, kratze an Midas herum.

„Balg!“, rief dieser wütend, nachdem Ray dreimal auf ihn gespuckt hatte, „Niemand benimmt sich so in meiner Gegenwart …“ Wütendes Schnauben entrang Midas.

Langsam, doch mit festen Schritten ging Midas auf die Treppe zu, die kurz nach Rays Zimmer kam. „Wenn du dich nicht sofort entschuldigst und wie ein braves Balg Ruhe gibst, dann fliegst du da runter und brichst dir alle Knochen, Ratte“, knurrte er.

„Mama!“, rief Ray ängstlich, „Mama!“ Er musste ihr helfen! Seiner Mama helfen! Er konnte jetzt nicht Ruhe geben! Midas musste ihn loslassen. Tränen der Hilflosigkeit stiegen in seine Augen, als er an seine Mutter dachte, die dort lag … Das war bestimmt Blut gewesen … Seine Mama war verletzt … blutete … Und er? Er war hier! Bewegungsunfähig … unfähig …

Er fing an zu schluchzen. Seine Mama … Sie würde bestimmt sterben … Seine Mama …

„Ich sagte …“, hörte er leise Worte, „… du sollst meinen Sohn in Ruhe lassen!“

Ray erkannte, dass seine Mama in der Zimmertür lehnte. Sie lebte! Seine Mama lebte! Sie würde ihm helfen. Da bemerkte er, dass aus ihrem Mundwinkel und ihrer Nase jede Menge Blut tropfte. Ein Arm hing schlaff an der Seite hinab … Nein … seine Mama …! So viel Blut … er musste …

Midas drehte sich zu ihr um und streckte Ray von sich über die Treppe. Eine Drohung.

„Wenn du das wagst, Midas …“, kreischte Maria, „Wenn du ihm irgendetwas tust!“ Sie hob eine Faust.

„Wenn du dich bewegst, Maria, dann fällt der Junge“, sagte der Mann gelassen, „Gib mir einfach mein ganzes Geld zurück und komm mit mir. Wir verschwinden von hier. Übergib die Nervensägen dem Vater!“

„Niemals! Nicht mehr mit dir! Ich hasse dich, Midas!“, rief Maria aus. Zornesröte bedeckte ihr ansonsten blasses Gesicht. „Und jetzt lass meinen Jungen los!“

„Dann gib mir einfach das Geld und ich verschwinde. Ich lasse euch am sozialen Abgrund liegen.“ Er lächelte sie an. „Alleine verdienst du für diese Geldfresser nicht genug. Ihr werdet einer nach dem anderen verhungern. Und ich werde lachen. Über deine Dummheit.“ Er schüttelte den Kopf. „Deine Kinder könnten noch leben, wenn du mit mir gegangen wärst und sie bei ihrem reichen Vater gelassen hättest, du dumme Mistkuh.“

Ray biss ihm daraufhin in die Hand.

Und danach ging alles ganz schnell. Midas ließ ihn los.

Seine Mutter rief seinen Namen.

Und als Ray das nächste Mal erwachte, schmerzte sein ganzer Körper. Sein Arm war verrenkt. Seine Mutter lag neben ihm.

Sie bewegte sich nicht.

Auf der anderen Seite neben ihm lag Midas. Blut trat aus seinem Kopf … neben ihm lag ein Revolver …

Ray verlor das Bewusstsein. Die Schmerzen übermannten ihn.


 


 

„Nachdem ich gefallen war, hat meine Mutter versucht, mich aufzufangen. Dafür hat sie an Midas, der ebenfalls überrascht von meinem Sturz war, vorbeimüssen. Sie muss unglücklich gestolpert sein. Jedenfalls ist sie genauso wie ich die Treppen nach unten gestürzt. Midas hat vermutlich nach uns geschaut und uns beide für tot gehalten …“ Ray hatte den Kopf geschüttelt. „Er war betrunken. Glaubte, sein Leben sei nun vorbei. Er hat sich selbst erschossen.“

Kyrie wischte sich die Tränen fort. „Deine Mutter und du …?“ Ihr Herz verkrampfte sich. Es tat weh, von so viel Leid zu hören. So weh ... Aber sie musste sich zusammen reißen. Stark sein. Für ihn.

„Ich bin gut davon gekommen. Ich lag auf der Intensivstation, da ich unzählige Knochenbrüche erlitten hatte … Alles ist gut verheilt, außer mein linker Arm … Er … mein linker Arm … Er erinnert mich jeden Tag an Midas und meine Mutter …“ Tränen standen in Rays Augen. Kyrie legte ihren Arm um ihn, drückte ihn fest an sich. Ray ...

„Meine Mutter ist vermutlich mit Wirbelsäule und Genick auf den Treppen aufgekommen. Es stand einige Wochen lang nicht fest, ob sie überleben würde. Ob sie aufwachen würde … Wie die Zukunft nun aussehen würde … Doch sie hatte … Glück. Sie kann sich nicht mehr bewegen. Nicht ein Körperteil bis auf den Kopf. Ihr Gesicht ist entstellt … und doch lächelt sie noch immer, wenn sie jemanden von uns sieht … Es ist dasselbe Lächeln …“ Tränen waren seine Wange hinab geflossen. Sie wischte seine Tränen fort und ließ ihn nicht los.

"Ich bin bei dir", flüsterte sie ihn leise zu.

Er hatte sich beruhigt gehabt, bevor ihre Eltern gekommen waren. Sie hatte sich entschuldigt. Sie hatte diese schrecklichen Erinnerungen nicht wecken wollen. Schreckliche Erinnerungen waren die lebhaftesten.

„Dieses Schwein hat Selbstmord begannen. Er floh vor dem Gesetz. Er floh vor seiner gerechten Strafe“, hatte Ray leise hinzugefügt, bevor Kyrie gehen wollte, „Flieht zu einem Gott, der ihm sowieso alles verzeiht …“

„Studierst du … deshalb Medizin und Jura?“, fragte sich Kyrie leise, als sie sich auf den Weg in den Himmel machte, „Möchtest du deine Mutter heilen und Leute wie ihn nicht so einfach davonkommen lassen? Politik, um Gesetze zu ändern?“, fragte sie sich. Ray … Wie konnte er das nur aushalten …? Er wollte seiner Mutter helfen … und jetzt verhinderten Diane und Kylie, dass er etwas über den Zustand seiner Mutter erfuhr, aber … Wenn Kyrie so darüber nachdachte … traute sie es ihm auch zu. Sie traute ihm zu, dass er, wenn es seiner Mutter schlecht ging, sich einfach in ein Auto setzte, um ins Rote Dorf zu fahren. Immerhin … immerhin war er kein Engel … Zumindest keiner im eigentlichen Sinne.

Kyrie materialisierte sich in den Himmel. Sie stand an ihrem Treffpunkt, den Nathan und sie für ihre Trainingsstunden verwendet hatten.

Doch sie würde nicht hier bleiben.

Sie konzentrierte sich. Sie wollte es unbedingt. Sie wollte es für Ray tun. Sie würde nach seiner Mutter schauen und ihm morgen sagen, wie es ihr ging. Sie … sie fühlte sich verpflichtet. Er traf sich immer mit ihr. Und sie hatte diese schlimmen Erinnerungen wieder geweckt. Sie hatte ihn zum Weinen gebracht … Sie hatte … Sie hatte außerdem die Möglichkeit in weniger als zwei Minuten zu seiner Mutter zu gelangen! Sie musste es tun.

Es war ihre Pflicht.

Ihre Pflicht als Freundin.

Kyrie erkannte eine Stadt vor sich. Nein, keine Stadt … ein Dorf. Das Rote Dorf … Sie hatte es erreicht! Sie …

Ein eisiger Wind zog an ihr vorüber und sie fror. Sie hätte sich eine Jacke mitnehmen sollen … das Rote Dorf befand sich weit oben im Norden. Schnee stand an der Tagesordnung … Sie fröstelte und schauderte. Die Sonne schien zwar auch hier, aber der Himmel war nicht so golden wie in der Nördlichen Hauptstadt, sondern er war gräulich mit goldenem Schimmer. Ziemlich seltsame Mischung. Und vor allem eine kalte!

Dann sah sie sich um. Sie war am höchsten Haus der Stadt gelandet. Sie wusste nicht, welches es war. Ob es leer stehend war oder nicht. Hier gab es bei weitem nicht so viele Häuser wie in der Nördlichen Hauptstadt. Also war es wohl wirklich ein Dorf.

Noch ein Windstoß.

Sie zog ihre Flügel zurück und lief dann zur ersten Tür, die sie fand, um sich ins warme Innere zu retten. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, befand sie sich wirklich, von angenehmer Wärme umgeben, in einem Treppenhaus. Sie schlich die Stufen nach unten. Alles wirkte sauber. Also kein verlassenes Haus.

In ihrem Kopf legte sie bereits Ausreden zurecht, falls sie auf jemanden treffen sollte. Ihr Herz schlug schnell. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie kannte hier niemanden! Wie aufregend …!

Sie hatte keine Ahnung, wie dieses Dorf aufgebaut war. Außerdem würde sie bestimmt durch ihre Kleidung auffallen! Warum hatte sie nicht an die Temperaturen gedacht, ehe sie losgeflogen war? Nicht, dass sie bereit gewesen wäre, eine ihrer Jacken zu durchlöchern … Vermutlich hätte sie nach weiterem Nachdenken ohnehin einen Rückzieher gemacht – manchmal musste man eben leiden, wenn man es gut meinte. … Hoffentlich nicht zu oft.

Als sie vor einer Glastür am Ende der Stiegen zu stehen kam, staunte sie nicht schlecht, als sie lauter weiß gekleidete Menschen umher irren sah. Einige trugen einen Mundschutz. Andere liefen mit Klemmbrettern durch die Räume. Viele Räume …

Ein Bett wurde vorüber geschoben und eine schlafende Person lag darauf.

War das etwa … ein Krankenhaus?

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie nicht einmal genau wusste, wo sie nach Rays Mutter suchen sollte. Sie hatte sich die Dörfer nie genau angeschaut. Sie dachte immer, sie wären … nun ja – Dörfer. Jeder kannte jeden und man fand überall sofort hin … Aber was sie von dort oben gesehen hatte … Es war zwar sehr viel kleiner als die Nördliche, aber dennoch ... wenn man in dieser Eiseskälte alles absuchen musste ... dann hatte es doch ganz schön groß gewirkt ...

Aber im Krankenhaus zu suchen, war vermutlich keine schlechte Idee. Immerhin suchte sie nach einer … Kranken … Und dass sich Diane und Kylie nicht gemeldet hatten, hieß vielleicht, dass sie auch hier waren … Hoffentlich begegnete sie ihnen nicht bei Rays Mutter. Vermutlich würden sie Erklärungen fordern.

Und seine Mutter. Seine Mutter bestimmt auch!

Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen? Sie war total unvorbereitet! Sie wusste gar nichts …! Wie sollte sie all das nur erklären? Sie …

Plötzlich öffnete sich die Glastür und ein Mann in weißem Kittel stand vor ihr. Sein Mund war bedeckt. Grüne Augen funkelten sie neugierig an.

„War die Tür verschlossen?“, fragte er, „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, wollte er wissen.

„Oh – äh – ja! Ja. Ich habe mich verlaufen, ich suche eine Patientin, aber …“, stotterte Kyrie vor sich hin. Was sollte sie sagen? Maria. Sie suchte Maria. Maria Sonicson. Aber …

„Der Informationsstand ist am Ende des Ganges rechts. Sie können ihn kaum verfehlen. Jetzt verlassen Sie bitte die Brandschutztreppe“, bat er sie, ohne den Tonfall merklich zu ändern.

Kyrie nickte steif. „Danke sehr!“ Sie drängte sich an ihm vorbei und hastete den Gang entlang. Peinlich … Aber … sie war jetzt da … Jetzt musste sie nur noch hoffen, dass seine Mutter auch hier war … und keine Fragen stellte und … Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Weshalb startete sie so dumme Aktionen? Das war doch gar nicht ihre Art … Als sie zu gehen begann, erkannte sie, was für ein Risiko sie noch dazu eingegangen war, auf einem bewohnten Gebäude zu landen! Wenn sie jemand gesehen hätte?! ... Sie unterdrückte ein erleichtertes Seufzen, als ihr klar wurde, wie viel Glück sie doch gehabt hatte. Jetzt durfte ihr Glück sie bloß nicht verlassen.

Sie war an vielen Zimmern vorüber gelaufen und fand letztendlich zum Informationsschalter.

Gutmütigkeit. Gutmütigkeit, Dankbarkeit und Freundschaft. Darum startete sie solche Aktionen. Und Mitgefühl. Ein triftiger Grund.

Sie atmete tief durch.

Eine Frau befand sich vor ihr. Als diese ihre Erledigungen gemacht hatte, war Kyrie an der Reihe. Sie schritt nach vorne und schaute ins Gesicht der älteren Dame, deren Haar rötlich war. Sie schaute leicht ungeduldig drein.

„Ich suche nach … Maria Sonicson“, erklärte Kyrie förmlich.

„Sonicson …“, wiederholte die Frau und klickte daraufhin auf einem kleinen Computer herum. Nach wenigen Augenblicken fuhr sie fort: „Maria Sonicson – Zimmer 21, zweiter Stock. Der Aufzug befindet sich rechts von Ihnen.“

„Vielen Dank“, sagte sie daraufhin und wandte sich ab. Zweiter Stock. Zimmer 21. Keiner hatte bisher etwas gefragt, was sie nicht beantworten konnte … gut …

Kyrie ging zum Aufzug hinüber. Weshalb konnten in verlassenen Wohnhäusern nie funktionierende Aufzüge sein?

Sie drückte den Knopf und stieg ein. Dabei bemerkte sie, dass sie sich im dreizehnten Stock befand. Also musste sie hierhin zurück, wenn sie wieder nach Hause wollte. Um ein anderes Gebäude zu suchen, war sie nicht richtig angezogen. Sie würde schon froh sein, wenn sie die Kälte auf der Dachterrasse überstand! … Zumindest war es hier schön aufgeheizt.

Sie verließ den Fahrstuhl und schaute sich um. Dieser Gang glich dem anderen haargenau. Auch der Infostand war dort – diesmal mit einer wesentlich jüngeren Frau mit dunkelbraunem Haar besetzt. Die Frau hatte nichts zu tun – sie lächelte Kyrie bloß an.

Sie lächelte zurück. Und ging spontan den Gang entlang – nach links. Glücklicherweise gingen die Zimmernummern in die richtige Richtung. So brauchte sie nur noch vor Zimmer 21 stehen zu bleiben. Und tief durchzuatmen. Gut. Sie … sie wusste eigentlich, dass seine Mutter noch lebte. Also … warum …

Aber sie wollte doch wissen, was genau sie hatte. Weshalb Kylie und Diane sich nicht bei Ray meldeten … Was … was mit ihr los war … Aber so schlimm konnte es nicht sein. Ansonsten hätte es bestimmt einen Vermerk gegeben, dass nur Angehörige sie besuchen durften – und das hätte die Frau am Informationsstand ihr gesagt. Vermutete sie zumindest.

Am Namensschild stand, dass Maria völlig allein hier drinnen war. Maria Sonicson … Rays Mutter … Sie war bereits so nah … und wollte doch wieder einen Rückzieher machen?

Was für ein Feigling war sie nur?

Sie tat es doch für Ray! Er hatte ihr die schreckliche Geschichte anvertraut. Er hatte sich für sie an diese Ereignisse erinnert … Er … er hatte geweint … Und das nur wegen ihr – und dabei hatte er sie damals getröstet! Das … das musste sie wieder gut machen!

Ehe sie sich versah, befand sich ihre Hand an der Türklinke und drückte diese vorsichtig nach unten.

Außerdem hatte sie die Möglichkeit. Sie konnte seine Mutter besuchen – er nicht so einfach! Sie musste es tun. Es gab kein Zurück mehr.

Kyrie schob die massive, orange Tür vorsichtig auf – stets in der Hoffnung, kein Geräusch zu verursachen – und drückte sich dann ins Zimmer, wobei sie die Tür genauso lautlos wieder schloss. Sie hoffte, dass sie Rays Mutter nicht aufwecken würde – was, wenn sie schlief? Wie sollte sie denn das alles dann erklären? Was sollte sie denn erklären? Woher sollte sie kommen? Es war alles so schrecklich … so schrecklich spontan!

Dennoch trugen ihre Beine sie weiter. Weiter zum Bett, welches alleine in diesem schmucklosen Zimmer stand – direkt vor einem Fenster, durch welches Sonnenschein drang. Und auf diesem Bett lag jemand. Der Kopf war nicht in Kyries Richtung gedreht. Kurzes, dunkles Haar, das mit einigen grauen Strähnen durchsetzt war, konnte sie erkennen. Sie war zugedeckt. Ihre Hände waren an Kabeln angeschlossen. Eine Maschine gab ein schreckliches Piepen von sich – ohne Unterbrechung.

„Diane?“, ertönte eine leise, freundliche, erfreute Stimme.

Kyrie schluckte schwer. „Nein …“, antwortete sie genauso leise.

Dann ging sie um das Bett herum zum Fenster. Zwischen Fenster und Bett befand sich ein kleiner Abstand. Ein Besuchersessel war vors Fenster gestellt worden.

Sie schaute auf die Frau, die dort reglos lag. Nun konnte sie auch ihr Gesicht erkennen. Smaragdgrüne, schlaue, freundliche, müde Augen schauten verträumt aus dem Fenster – der Mund zu einem Lächeln verzogen. Langsam rührte sie sich dann und schaute ans Bettende – ihre Blicke trafen sich. Sie wirkte müde.

„Oh, junges Fräulein“, begrüßte sie sie lächelnd, „Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich bin Kyrie. Kingston Kyrie.“, stellte sie sich unsicher vor, „Sie sind … Maria Sonicson? Die Mutter von Ray?“

„Ja, ich bin Maria. Und bitte nenne mich einfach Maria.“ Ein weiteres Lächeln. Ihr freundliches, aufmunterndes Lächeln erinnerte sie an Ray. Ja – diese Frau konnte nur Rays Mutter sein. „Aber was macht ein Mädchen soweit abseits der Nördlichen Hauptstadt?“

Kyries Augen weiteten sich obgleich dieser Annahme. Woher … woher wusste sie …?

Sie musste ziemlich überrascht wirken. Ein heiseres Lachen ertönte von Maria. „Dein Nachname. Kingston. Eindeutig ein Name der Nördlichen Hauptstadt.“

Sie schlug ihre Augenlider nieder und seufzte. „Stimmt …“, gab sie zu. Daran hätte sie denken können. Einfach das t durch ein s zu ersetzen … und dann wäre es keinem aufgefallen! ... Natürlich hätte sie auch einfach ablehnen können ... aber sie wollte nicht lügen ... Was in dieser Situation ziemlich kompliziert war, weil sie ja zwangsläufig lügen musste, also ... Sie unterdrückte ein Seufzen. ... Einfach nicht darüber nachdenken.

„Nun? Was machst du hier? Du bist auch ziemlich sommerlich gekleidet …“ Die Frau musterte sie besorgt. „Wo bleibt denn dein Mantel?“

„Mein Mantel hängt draußen“, sagte sie schnell, ehe sich Maria noch die Frage stellen konnte, wie sie es ohne Mantel überstanden hatte, den Weg zum Krankenhaus zu kommen, „An der Garderobe …“

„Ich verstehe … Aber … weshalb bist du nun eigentlich hier? Du kennst Ray? Wie geht es ihm? Ist er auch hier?“ Eine Sorgenfalte bildete sich zwischen den Brauen der gealterten Frau.

„Äh – nun …“, stammelte sie. Doch dann räusperte sie sich. „Darf ich …?“, fragte sie, während sie bedeutungsvoll auf den Besuchersessel zeigte.

„Oh, selbstverständlich, meine Liebe! Setz dich“, lud die Frau sie höflich ein.

„Danke sehr“, antwortete sie, während sie tat, wie es ihr aufgetragen wurde. Dann fuhr sie fort: „Ray ist leider nicht hier – auch wenn er es sehr gerne wäre. Er macht sich Sorgen um Sie …“

„Dich“, unterbrach Maria sie freundlich– und doch eindeutig korrigierend.

„Sorgen um dich …“, murmelte Kyrie dann, wobei sie fand, dass es sehr seltsam war, jemanden zu duzen, der so viel älter war als sie und den sie gar nicht kannte … „… und seine Schwester schreibt ihm nicht mehr zurück – das besorgt ihn so sehr … Ich konnte es nicht mit ansehen.“ Sie gewährte sich ein schiefes Lächeln. „Also bin ich hergekommen, um nach … dir zu sehen … und Ray zu sagen, wie es dir geht …“

Die Frau lachte freundlich. Ein Geräusch voller Fröhlichkeit und Freude. „Oh, das klingt sehr nach meinem Jungen.“ Sie lächelte zufrieden. „Es wundert mich, dass er sich nicht in deinen Koffer gezwängt hat, um unbemerkt mitzukommen … Wie gefällt es ihm in der Großstadt? Hat er sich eingewöhnt? Wie geht es seinem Vater? Hat er- …“ Plötzlich unterbrach sich Maria selbst. „Oh. Ich weiß gar nicht, wie ihr zueinander steht. Bist du seine Freundin?“

Kyrie hatte versucht, auf die ersten Fragen zu antworten, wurde jedoch vom Redeschwall der Mutter unterdrückt, bei der letzten Frage hielt sie jedoch inne. Und errötete. „Ja, schon, aber nicht so! Ich … ich kenne ihn nur von der Universität und er spricht manchmal mit mir und …“ Wollte sie jetzt seiner Mutter erzählen, dass er sie getröstet hatte und sie ihn jetzt zum Weinen gebracht hatte? Nein … Das würde sie nicht tun. Ende.

„Wir sind einfach nur Freunde“, sagte sie gerade heraus. Mauerfreunde. Sie fühlte sich mit ihm verbunden – also waren sie Freunde. Ob er das genauso sah, wusste sie nicht, aber ... Sie wollte seine Freundin sein. Seine Mauerfreundin.

„Ah, ich verstehe. Du musst eine zuverlässige Freundin sein, um für einen Freund solch eine teure und aufwändige Reise auf dich zu nehmen“, fuhr die Mutter fort, „Ich bin froh, dass er Freunde wie dich gefunden hat. Ich hatte schon Angst, dass er Kylie zu sehr vermissen würde …“

Sie schmunzelte. „Ich bin auch froh, einen Freund wie ihn zu haben. Er unterstützt mich sehr.“ Kyries Blick fiel kurz aus dem Fenster. Dabei bemerkte sie, dass es zu schneien begonnen hatte. Schnee fiel in der Nördlichen Hauptstadt nur an wenigen Tagen im Jahr. Hier stand es an der Tagesordnung … Sie fragte sich, ob Ray den Schnee vermisste.

Sie schaute zurück zu Maria, wobei sie bemerkte, dass die Frau sehr blass war. Alle anderen Leute aus dem Roten Dorf hatten einen etwas dunkleren Teint, da die Sonne hier erbarmungslos auf den Schnee schien und reflektierte, aber -wie sie sich jetzt bestätigt hatte - keinerlei Wärme absonderte. Maria schien davon aber nicht betroffen zu sein. Ob sie oft nach draußen kam? Anbetracht ihrer Situation wohl eher nicht …

„Aber nun zu deinen Fragen …“, nahm Kyrie das vorherigen Thema wieder auf, „Ich denke, er mag die Universität … Er lernt sehr viel … Er studiert auch gleich drei Themen! Und …“

„Drei Themen?“, unterbrach Maria sie richtig erstaunt, „Er sagte doch, er studiere lediglich Politik!“

Kyries Augen weiteten sich. Oh nein! Warum log er seine Mutter an?! Warum sagte er ihr das nicht?! Na gut – er hatte vermutlich nicht erwartet, dass sie seine Mutter aufsuchen würde, also …

Die Frau schüttelte leicht den Kopf. „Oh, mein Junge … Politik, Justiz und Medizin … Er setzt es wirklich durch …“ Sie lächelte. „Ich bin stolz auf meinen Jungen.“ Sie zwinkerte ihr zu. "Irgendwann wird er sich selbst verraten, das warten wir ab."

Kyrie errötete. Schon wieder hatte sie ihren Schock durchschaut! Was für eine … eine schlaue Frau!

„Er hat es nicht sehr eilig nach Hause zu kommen …“, stellte Kyrie daraufhin fest, das eben besprochene Thema ignorierend, um auf das folgende einzugehen, „also …“

„Also gibt er seinem Vater noch immer eine Teilschuld daran …“ Erneut schüttelte Maria den Kopf. „Er sollte zu verzeihen lernen …“ Sie seufzte leise und murmelte: „Oder Einsicht erlangen …“

„Teilschuld?“, wiederholte Kyrie. Redete sie etwa von … von diesen tragischen Erlebnissen? Gab er seinem Vater etwa die Schuld an Midas’ Handeln, da dieser von seiner Mutter getrennt gelebt hatte? Half sein Vater seiner Mutter nicht aus?

„Hat dir Ray etwas darüber erzählt, weshalb ich hier liege?“, fragte Maria urplötzlich sehr neugierig.

Kyrie nickte. „Heu …“ Sie räusperte sich. „Ja. Darum habe ich mich auch dazu entschieden, hierher zu kommen.“ Man brauchte mindestens einen Tag zum Roten Dorf.

„Er denkt, wenn ich mich nicht von seinem Vater getrennt hätte, wäre all dies nicht geschehen … Er sieht nicht ein, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann – egal, wie sehr man es sich wünscht …“ Maria schenkte ihr erneut ein Lächeln. „Dabei hat es auch so viele schöne Momente gegeben – doch an die denkt Ray kaum …“ Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Er sieht immer nur einen unendlich bösen Midas vor sich und …“ Daraufhin seufzte sie. „Kann man es ihm überhaupt verübeln? Immerhin … immerhin hat auch er sich damals ernste Verletzungen zugezogen. Midas hat uns beiden sehr viele Schmerzen zugefügt – aber …“ Die Stimme Marias erstarb für einen kurzen Moment. „Er gibt jedem die Schuld daran. Bloß nicht mir … Mich hat er nie beschuldigt …“

„Er liebt dich. Und er dankt dir dafür, dass du dich so für ihn eingesetzt hast“, erfasste Kyrie leise, „Und am meisten beschuldigt er sich selbst dafür, dass er dabei war.“

Maria nickte traurig. „Ja. Du wirst vermutlich recht haben … Er … er denkt, es sei alles seine Schuld …“ Sie schloss die Augen. „Er wollte nie die ganze Geschichte hören. Er hatte gesagt, dies verfälsche lediglich seine Erinnerungen. Er könnte es nicht erlauben, Midas zu verzeihen – egal, was ich sagen wollte. Egal, was das für alle anderen bedeutete.“

„Ob er damit auch meinte …“, begann Kyrie, stoppte dann aber. Hatte sie das Recht, solche Mutmaßungen anzustellen? Es betraf sie nicht. Sie kannte diese Geschichte gerade einmal seit ein paar Stunden.

„Sprich weiter, Kyrie …“, lud Maria sie ein, „Ich möchte hören, was du zu sagen hast.“

„… Ob er damit auch meinte, dass er es sich nicht erlauben könnte, sich selbst zu verzeihen?“, sprach sie die ganze Frage aus, die ihr durch den Kopf schwebte.

Maria nickte erneut. „Dasselbe geht mir ebenfalls schon lange durch den Kopf, aber … ich kann ihn nicht ändern. Er hört nicht auf mich …“ Sie schlug erneut ihre Augen auf.

Ein fester Blick traf Kyrie. Sie war wie gefangen in dem Befehl, der darin lag. Und in der Bitte.

„Kyrie? Kannst du Ray bitte davon abbringen, sich selbst dafür verantwortlich zu machen? Kannst du ihm erklären, was sich damals zugetragen hat?“, bat die Mutter leise.

Kyrie schaute sie an. Und nickte. Das war doch das Mindeste, was sie tun konnte – als Freundin. „Was … was hatte sich zugetragen?“

„Ich hatte Midas um Geld gebeten. Einmal, hatte ich gesagt. Und dann zweimal. Und irgendwann haben wir uns unsere Löhne geteilt – dabei hatte er viel mehr verdient als ich zu jener Zeit. Er hatte also Verluste in Kauf genommen, um meine Familie zu ernähren. Bereits als ich mit ihm zusammen gezogen war, hatte ich beschlossen, dass ich sein Geld nicht annehmen würde. Die Beziehung zu meinem Mann ging ebenfalls aufgrund von Geld in die Brüche. Das Leben im Roten Dorf ist teuer – das Wegziehen kostet aber noch viel mehr. Rays und Dianes Vater Radiant war deshalb hierher gezogen. Es ist einfacher, aus der Stadt nach draußen zu kommen, als vom Dorf in die Stadt umzusiedeln. Dass er hierher gekommen war, hatte bereits viel Geld verschlungen. Dann hat er noch die Arbeit wechseln müssen – er hat viel weniger verdient als zuvor. Konnte weniger sparen … Er war nicht glücklich. Er hatte seine vorherige Arbeit so sehr geliebt … und für mich hat er sie aufgegeben … Ich habe mich von ihm getrennt, sodass er dorthin zurückkehren kann, wo er seine geliebte Arbeit ausüben konnte.

Ray hat diese Entscheidung nie verstanden. Ich habe ihn bereits fortgeschickt, als Ray noch ein kleines Kind war. Jedes Wochenende hat mein Mann allerdings die Reise von der Nördlichen Hauptstadt zum Roten Dorf auf sich genommen, um für zwei Tage bei seinen Kindern zu sein und mit ihnen zur Kirche zu gehen, wie es sich gehört, und hat mit ihnen für unser aller Wohl gebetet. Und dann ist er wieder gegangen. Und jedes Mal hat er Haufenweise Geld bezahlt.

Ich habe das Leid in den Augen meiner Kinder nicht mehr ertragen können, welches sie in dem Moment plagte, in dem ihr Vater wieder ging. Doch er war so viel glücklicher. Er war glücklich, wenn er bei seinen Kindern war und seiner Arbeit nachgehen konnte. Ich wollte ihn nicht abhalten – doch wollte ich auch meine Kinder nicht verlieren … Aber vier Personen vom Roten Dorf in die Nördliche Hauptstadt zu bringen war nicht möglich … Nicht einmal, als mein ehemaliger Mann seine alte Arbeit wieder aufgegriffen hatte und zu sehr viel Geld gekommen war. Es war billiger, wenn eine Person sooft mit dem Zug hin und her fuhr, als einmal mit einer Familie umzuziehen. Aber irgendwann ... musste mit dieser Verschwendung Schluss sein.

Also wollte ich ihnen zumindest einen Ersatzvater bringen. Midas war der perfekte Mann dafür. Er ähnelte Radiant in Geschick und Charakter – ich verliebte mich sofort in ihn. Und ich war glücklich, als er mich trotz meiner Kinder akzeptierte. Doch ich hatte mich geweigert, auf seine Ersparnisse zurückzugreifen oder ihn in seiner Arbeit zu beeinflussen. Ich habe ihn als ihren Vaterersatz vorgestellt, ohne dass er sich um sie kümmern hätte müssen. Ich wollte dies alleine tun. Ich wollte ihn nicht behindern … Ich wollte nur, dass die Kinder einen Vater hatten … Doch es ist nicht so ausgegangen, wie ich es erhofft hatte …“ Sie lächelte traurig. Tränen schimmerten in ihren Augen – sie wirkten wie Freudentränen, doch es war eindeutig nichts Schönes an dieser Geschichte. „Ich selbst war krank geworden. Daraufhin Diane. Und schließlich Ray. Ich hatte kein Geld mehr. Ich hatte drei Wochen lang keine Arbeit verrichtet. Wir wären verhungert. So musste ich Midas bereits nach der ersten Woche um Geld bitten. Das Leben im Roten Dorf ist hart. Für Nordstädter vielleicht nicht vorstellbar – aber hier gibt es lange nicht so viel von allem wie bei euch. Es kostet, hier zu leben. Doch es kostet noch viel mehr, von hier wegzukommen.

Nach der zweiten Woche also … Es war viel Geld. Ich brauchte immer meinen gesamten Lohn auf, um für die Haushaltskosten aufzukommen. Midas Geld benötigte ich also dringend, da, seit ich Midas bei mir hatte, ich mich Radiant gegenüber schlecht fühlte, hätte ich dessen Geld genommen.

So lehnte ich es Mal um Mal ab. Midas unterstützte mich in diesen drei Wochen sehr. Ich war ihm sehr dankbar. Um ihm danach das Geld zurückzuzahlen, arbeitete ich noch härter, auch wenn Midas sagte, ich bräuchte ihm nichts zurückzuzahlen – und doch griff ich endlich auf das Geld meines ehemaligen Mannes zu, um den Schulden zu entrinnen.

Midas erfuhr davon.

Und seitdem hatte er sich verändert. Er wurde jeden Tag übler und übler gelaunt. Hatte keine Lust mehr auf gar nichts. Und er bezeichnete Ray und Diane plötzlich als Ratten und Balgs … so kannte ich ihn gar nicht. Vorher war er immer freundlich und lieb zu ihnen und … und …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es nicht, woher dieser plötzliche Wandel kam … Jedenfalls war Diane erneut krank geworden, weshalb ich wieder nicht arbeiten konnte. Und als sie gesund war … hatte sie Ray angesteckt und … zu dieser Zeit trug es sich zu … Midas wollte, dass ich ihm sein Geld zurückgab, das er in der vorherigen Woche in Diane gesteckt hatte. Aber ich hatte es noch nicht. Ich hätte dafür noch einmal zu Radiant gehen müssen, sodass er mir erneut etwas überweist. Aber Midas hatte mir nicht zugehört – und plötzlich hatte er doch wieder mit mir weg wollen. Seit er sich verändert hatte, hatte er manchmal davon gesprochen, mit mir wegzugehen und die Kinder bei ihrem richtigen Vater zu lassen … Aber dazu konnte ich mich nicht durchringen … Manchmal, wenn ich sehr abgelenkt bin, kommen die Gedanken durch … Sie fragen mich, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, nachzugeben. Wegzulaufen. Ob dann nicht alles einfacher wäre … Aber … dann kommen all die schönen Erinnerungen hoch, die ich mit ihnen teile. Wie sie mich am Krankenbett besuchen. Wie sie mir Neuigkeiten erzählen – wie sie Zeit mit mir verbringen … Wie sie aufwachsen …“ Ihr Blick klärte sich. „Kyrie … Wenn ich damals weggelaufen wäre … hätte ich Ray und Diane dann aufwachsen sehen? Wäre ich genauso glücklich, wie ich es jetzt bin? Wären sie glücklich darüber, ohne Mutter aufgewachsen zu sein?“

Kyrie schwieg. Sie wusste, dass sie darauf nicht antworten sollte. Es waren Fragen, die keiner beantworten konnte. Die Frage, ob es manchmal besser war, ein Feigling zu sein. Oder ob man Mut beweisen musste, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.

„Du bist sehr mutig. Du bist die beste Mutter, die man sich wünschen kann. Eine Mutter, die ihr Leben riskiert, um das Kind zu retten. Und um beim Kind zu bleiben“, sagte Kyrie, nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten, „Ray liebt dich. Er ist stolz auf dich. Er möchte nicht, dass du dir wünschst, dass du etwas anders gemacht hättest. Deshalb will er auch nicht die umfassende Geschichte hören. Er will ohne Zweifel wissen, dass du die beste Mutter bist.“

Maria lächelte. „Vielen Dank … Kyrie.“
 


 

Kyrie schlich aus Marias Zimmer, als diese eingeschlafen war. Sie hatte sehr viel Zeit bei Rays Mutter verbracht. Sie hatte nur einmal nach draußen gehen müssen, als eine Arzthelferin gekommen war, um Maria zu versorgen. Daraufhin war Kyrie wieder nach innen gegangen und hatte weiter mit ihr gesprochen.

Diane und Kylie schrieben Ray nicht, weil beide sehr beschäftigt waren. Außerdem war Marias Zustand vor zwei Tagen schlechter geworden – aber bereits morgen durfte sie wieder nach Hause kommen, wo sie wieder von Diane und Kylie gepflegt würde und nicht mehr von namenlosen Arzthelferinnen.

Kylie war zurzeit vollständig in ihrer Lehre als Krankenschwester vertieft, während Diane bereits hier im Krankenhaus als Assistentin arbeitete. Maria war froh, hier bekannte Gesichter zu sehen. Das hatte sie ihr alles anvertraut.

Sie hatten auch über den Schneefall gesprochen und dass es in der Nördlichen Hauptstadt nur sehr selten schneite. Maria hatte gesagt, sie wollte die Nördliche unbedingt einmal wieder besuchen. Und Kyrie.

„Wenn Ray dich einmal besuchen kommt, werde ich ihn bitten, mich mitzunehmen“, hatte Kyrie daraufhin geantwortet. Sie fühlte sich nun noch mehr mit Ray verbunden. Und sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen … Ray … Er tat ihr so leid! Und seine Mutter …

„Wenn es Dämonen gäbe, dann wäre Midas von einem besessen gewesen …“, hatte Maria beiläufig erwähnt, „Solche Änderungen haben Menschen sonst nicht von heute auf morgen. Ich kann es mir nicht erklären.“ Kyrie wollte ihr sagen, dass es bestimmt Dämonen gewesen waren – aber Dämonen besetzten nur Labile.

… Ob Midas ein Halbengel gewesen war? Nein. Nein – das war lächerlich … Der letzte Halbengel neben ihr war achtzig Jahre alt geworden … Vielleicht war Midas wirklich böse gewesen? Sie wusste es nicht.

Sie wusste bloß, dass Maria versprochen hatte, keinem von ihrem geheimen Besuch zu erzählen. Als Maria gefragt hatte, wie lange Kyrie blieb, hatte sie ihr gesagt, dass sie bereits heute wieder abreisen würde. Spontan hatte sie geantwortet, dass sie "auf demselben Weg" noch ihre Großmutter zu besuchen hatte und darum auch gleich hier vorbeigeschaut hatte ... Es war eine Lüge, weil sie ganz genau wusste, dass Maria sie anders verstehen würde, als es die Wahrheit wäre, aber ... mit Fehlinterpretationen musste man in Notlagen leben können.

Als sie den Gang entlang ging, kam ihr die Frau vom Informationsschalter entgegen. Sie hatte smaragdgrüne Augen und ein freundliches Lächeln zierte erneut ihre Lippen. „Einen schönen Abend wünsche ich noch“, sagte sie freundlich und ging an Kyrie vorbei.

Plötzlich fiel ihr die Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und Maria auf. War das etwa Diane …?

Sie fuhr mit dem Lift nach oben in den dreizehnten Stock und kehrte zur Brandschutztreppe, die auf die Dachterrasse führte, zurück, wobei sie darauf achtete, von niemandem gesehen zu werden.

Sie würde Ray morgen sagen, dass es seiner Mutter bestimmt gut ginge. Dass Kylie bestimmt bloß so sehr auf ihre Ausbildung konzentriert war, dass sie nicht schreiben konnte. Dass Diane bestimmt nur so viel arbeiten musste. Und wie würde hoffen, dass Diane so viele Leute am Tag sah, dass Kyrie ihr nicht in Erinnerung bleiben würde. Falls sie das war. Ob Ray ein Foto von ihr dabei hatte ...?

Aber auf alle Fälle war eines sicher: Sie würde Ray morgen aufmuntern! So wie er es bei ihr getan hatte! Er verdiente es.

Immerhin war er Ray.

Und ihr Freund.

Kyrie fühlte die Kälte auf der Dachterrasse kaum mehr – vermutlich, weil sie solch herzerwärmende Stunden hinter sich hatte, die ihr einfach ein Hochgefühl verschafften, das Eindrücke von Außen unwichtig erscheinen ließ. Es war einfach schön, endlich einmal im Leben zu wissen, dass man sich richtig entschieden hatte.

Sie führte ohne Umschweife ein Warpen in den Himmel durch, sodass sie wieder von jenem goldenen Licht beschienen wurde, welches ihr so unendlich gut tat. Sie war an keinem bestimmten Ort gelandet – aber sie glaubte, es musste wohl irgendwo in der Nähe des Trainingsplatzes sein, auf dem Thi immer zu trainieren pflegte. Ein fröhliches Lächeln zierte ihre Lippen, als sie erfreut den Weg in Richtung der Trainingsvorrichtungen, welche nach wenigen Flügelschlägen bereits sichtbar wurden, einschlug, um zu überprüfen, ob sie einen ihrer Freunde vielleicht dort antraf. Das wäre doch eine schöne Abrundung eines Tages, der so schmerzhaft angefangen hatte und dann letztendlich noch so ... erleichternd geendet hatte, gewesen. Sie fühlte sich aus irgendeinem Grund mit Maria verbunden. Sie hatte eine Aufgabe übertragen bekommen – etwas, was sonst niemand erledigen konnte, da die anderen das Rote Dorf nicht verlassen konnten. Sie wollte diese Aufgabe unbedingt erledigen. Sie wollte Ray glücklich sehen – wollte, dass er verzeihen konnte. Mit seiner Vergangenheit fertig wurde – und ihm klar machen, dass er seine Mutter ohne Zweifel lieben und ehren konnte! Maria war eine tolle Frau. Eine Frau, die Bewunderung verdiente. In ihrer Situation noch solche Stärke aufzuweisen …

Kyrie schüttelte gedankenverloren den Kopf, als sie letztlich vor den Spielfeldern aus Gold und Weiß zu stehen kam und sich nach bekannten Gesichtern umschaute. Thierry konnte sie nicht ausmachen. Also besaß er doch noch andere Hobbys, anders als er ihnen immer weiß machen wollte! Sie lächelte darüber. Oder er schlief einfach.

Als sie ihren Blick noch einmal über die Anwesenden, die überall verstreut herumsaßen, -gingen, -flogen, -lagen oder –standen, blieb er auf einem paar eiskalter, blauer Augen hängen. Blondes Haar umrahmte das kantige Gesicht – es war der Engel, der durch die Tür gegangen war und sie angefahren hatte. Plötzlich wandte er den Blick vom Spielfeld, auf dem gerade einige Engel umherliefen – Kyrie konnte damit nichts anfangen –, ab und starrte ihr direkt ins Gesicht, wobei sich sein Gesichtsausdruck kurz verfinsterte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Hass. Dann schaute er wieder weg.

Innerhalb weniger Augenblicke.

Vielleicht hatte sie sich auch das nur eingebildet? Wieso sollte jemand etwas gegen sie haben? Sie hatte nichts getan … Nathan starrte sie nicht an und … und es waren keine Gruppen zugegen. Niemand tat ihr hier etwas. Sie war hier im Himmel. Hier war alles gut …

Aber dieser Hass ... Sie konnte ihn doch deutlich spüren, aber ... Himmel! Hier war doch alles gut, oder?

Warum sollten die Halbengelhasser heute auf sie losgehen? Nein … das würden sie nicht. Sie gingen nicht auf Halbengel los, die sich sittlich benahmen, die nicht unanständig und nicht frech waren – diejenigen, die sich integrierten … Sie hatte sich angepasst. Sie war unauffällig. Hatte niemanden etwas getan! Er konnte sie doch nicht einfach hassen, oder?!

Kyrie atmete tief durch und zwang sich, auf das Spielfeld zu blicken, welches ein wenig unter ihr lag, da die Wolke, auf der sie mit einigen anderen, ihr unbekannten Engeln stand, etwas höher gesetzt war, um ein Stehpodium zu ergeben. Der andere Kerl stand direkt am Spielfeldrand. Als wäre er ein großer Fan. Vielleicht war auch nur seine Mannschaft gerade am Verlieren gewesen? Gab es hier überhaupt Mannschaften? Was machten diese Engel eigentlich? Sie könnte jemanden fragen. Hier waren bestimmt alle nett …

Sie rührte sich nicht vom Fleck. Ihr Rücken war durchgestreckt, als hätte sie einen Stock verschluckt und vermutlich war es nur zu auffällig, wie sie verzweifelt versuchte, den anderen Mann nicht im Auge zu behalten.

Trotzdem wagte sie noch einen Sicherheitsblick.

Der Engel war verschwunden.

Plötzlich löste sich die Anspannung in ihr.

Vielleicht hatte sie ihn bloß verwechselt. Vielleicht hatte er gar nicht zu ihr geschaut. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal grimmig dreingeschaut! Alles war übertrieben.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. Vermutlich war sie einfach paranoid. Sie baute gerade nur das überschüssige Adrenalin ab, das sie vor dem Gespräch mit Maria angesammelt hatte. Ja, so musste es sein. Sie sollte wohl besser nach Hause gehen.

Sich in ihr Bett legen.

Lernen.

Die Prüfungen rückten immer näher.

Nur noch wenige Wochen waren übrig.

Sie hatte viel zu wenig getan.

Ja – ja. Sie würde aufbrechen. Was wollte sie auch hier, wo Thi nicht anwesend war? Und auch sonst niemand? Vermutlich waren alle beschäftigt. Sie wollte keinen stören. Das war doch so. Sie würde ihnen hier nur im Weg stehen– sie hatte ihre eigenen Pflichten. Und morgen würde sie sie ohnehin wieder antreffen! Auf das Mittwochstreffen konnte sie sich dann wohl bereits freuen. Vielleicht würde sie ihnen schließlich von diesem Mann erzählen, der sie so angepöbelt hatte. … Sie würden sie beruhigen. Sie würden ihr sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Und sie würde auf sie hören. Ja.

Warum bekam sie nur das Gefühl nicht los, dass sie in Gefahr war? Dieses verfluchte Gefühl der Angst, das sie immer umgab, wenn sie an einer dunklen Gasse vorbeilief? Das Gefühl, dass sogleich eine Horde Mitschüler heranstürmen und sie anschreien würde? Ihr sagen würde, dass sie sich von Nathan fern halten solle … dass sie ihn nicht verdiene … dass er zu ihnen gehörte und sie sie nicht dabei haben wollten … dass sie ein Nichtsnutz war ... ein Außenseiter ...

Sie schüttelte sich kurz. Nein.

Sie war ein Engel. Sie war etwas Besonderes. Sie war nicht mehr die Kyrie von damals, die vor Angst in die Knie ging und ihnen nachgab. Die sich von Nathan abwandte, um sich selbst zu schützen. Die sich nichts sehnlicher wünschte als nur einen einzigen Freund! Sie würde niemanden mehr nachgeben. Sie würde Einsicht beweisen – aber sie würde sich nicht beugen! Sie hatte Flügel, die sie aufrecht stehen ließen! Und das würde sie tun.

Zumindest nahm sie sich das jetzt vor …

Und wenn sie dann zuhause ankam, würde sie wissen, dass alles in Ordnung war, sie umsonst einen Panikschub hinter sich hatte, und am Ende würde sie über ihre eigene Dummheit lachen!

Mit diesem Gedanken konzentrierte sie sich auf das leer stehende Gebäude in ihrem Viertel, von dem aus sie immer den Nachhauseweg antrat.

Als sie auf der Dachterrasse landete, zog sie ihre Flügel ein und schaute sich um. Es war so wie immer – und es war angenehm warm! Kein Vergleich zum Roten Dorf. Nun – dort hatte es auch geschneit. Ob sie ihren Eltern erzählen sollte, wo sie heute gewesen war? Sie wären bestimmt überrascht! Vielleicht würde sie eine Runde durch alle Dörfer machen – sie könnte ihren Eltern immer Ansichtskarten mitbringen! Sie würde ihre eigene Großmutter besuchen und es ihren Eltern mitteilen. Sie könnte als schnellerer Korrespondent dienen! So viele Ideen strömten in dem Moment auf sie ein. So vieles, was sie tun konnte. Wodurch sie sich nützlich machen könnte!

Ein richtiges, unverfälschtes Lächeln trat erneut auf ihre Lippen. Ja – sie konnte ihren Eltern dienlich sein! Ihre Eltern mussten die Entscheidung, die sie getroffen hatte, dann nicht bereuen – würden all die Vorteile erfahren! Sie brauchten sich nicht mehr zu sorgen!

Freude tat sich in ihr auf. Und Maria konnte sie dann auch besuchen. Vielleicht würde sie auch Diane und Kylie kennenlernen? Nur vor Ray müsste sie ihre Ausflüge dann geheim halten. Aber darüber konnte sie später auch noch sinnieren! Jetzt sollte sie sich erst an ihr Studium machen.

Sie schritt den kurzen Weg zur massiven Tür und öffnete diese geübt – es war eine Brandschutztür, also hatte sie einen besonderen Mechanismus. Einen etwas veralteten vor allem. Hoffentlich würde dieses Haus noch lange bestehen bleiben. Es war immerhin schon abgesperrt. Abrissbereit. Das nächste leer stehende Hochhaus befand sich ein ziemliches Stück entfernt – also weitaus weniger praktisch. Auch wenn sie heute erfahren hatte, dass man auch problemlos bewohnte Gebäude erklimmen konnte. Die Krankenhäuser der Nördlichen Hauptstadt waren allerdings ein ziemliches Stück von ihrem Wohnort entfernt … Aber es gab dafür erhöhte Einkaufszentren! Und die Kirche.

Sie stieg die Treppen nach unten, die sie mittlerweile sooft herunter gegangen war – und jedes Mal hatte sie den Tag, der hinter ihr lag, genossen. Und der heutige Tag war vermutlich der beste von allen! Sie würde …

Plötzlich spürte sie einen abrupten Ruck auf ihrem Rücken. Er war schwer, hart und gezielt. Unangespannt wie sie war, fehlte ihr die Zeit zu reagieren – und wie in Zeitlupe musste sie dabei zusehen, wie ihre Beine nachgaben, da sie dem Übergewicht, das sich bildete, nicht gewachsen waren. Ihr Knie knickte quälend langsam ein und im letzten, erbärmlichen Versuch, die Balance zurück zu gewinnen, schlug sie wild mit den Armen um sich – und ein weiter Schubs gab ihr letztendlich den Rest. Sie versuchte, mit ihren Händen nach etwas zu greifen, das Halt gab, doch Geländer war keines in der Nähe und um sie herum befand sich nichts – was auch immer sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, konnte sie sich nicht erklären.

Es fühlte sich zeitlich versetzt an, als der Schmerz in ihren Beinen sie erreichte, sobald sie auf den Treppen aufschlug und sich nicht mehr abfangen konnte – sie fiel schief und ihr Kopf …
 

… Kyrie kam auf einer Zwischenstelle der Treppe zu sich. Brandschutzmaßnahmen schrieben vor, dass die Treppen nicht zu steil sein durften – und nicht zu lang … brauchten Zwischenebenen ... Sie benötigten ein Geländer … Das waren alles Details, die diese Stiege nicht erfüllte – vermutlich Gründe für die Schließung des Gebäudes … Immerhin war es alt … und … Ihr Kopf schmerzte. Ihre Gedanken strömten wild umher.

Sie schlug ihre Augen auf. Es war hart. Sie sah verschwommen – die Nebelflecken verschwanden quälend langsam. Nach wenigen Momenten erreichte sie eine neue Dimension von Schmerz – am ganzen Körper zog es, überall drückte es, alles war zu eng, zu klein, zu schmerzhaft … zu … Sie atmete schwer. Jeder Atemzug schmerzte …

Als ihr Blick sich klärte, erkannte sie, dass sie wirklich direkt vor der Treppe lag – und ihr Arm war seltsam von ihr gestreckt … in einem … unmöglichen Winkel … und der Schmerz, der von ihm ausging, war beinahe unerträglich! Es tat weh … höllisch weh … was … was war das? Wie hatte sie es geschafft, nach unten zu fallen …? Wie nur …?

Im kläglichen Versuch, aufzustehen, gab sie ein ächzendes Geräusch zu sich, das ein unerbittertes Brennen in ihrer Lunge verursachte. Schmerzen … überall …

Und plötzlich fühlte sie Druck.

Druck an ihrer Seite. Sie bewegte ihre Augen in die Richtung – und starrte in ein wunderschönes, schmales Gesicht mit zwei glänzenden, grauen Augen, umrahmt von pechschwarzem, langem Haar, welches durch einen Pferdeschwanz zurück gebunden und gezähmt war. Der Mann schaute sie grimmig an – und plötzlich fielen ihr weiße Schwingen auf, die hinter ihm aufschienen.

„Es lebt“, grollte er missmutig und wandte den Blick von ihr ab – er schaute Richtung Treppe.

Als Kyrie seinem Blick angestrengt folgte, erkannte sie, dass dort oben jemand stand. In diese weite Entfernung wurde ihre Sicht unscharf, doch sie glaubte, ebenfalls zwei weiße Flügel zu erkennen … Engel … Engel … Sie waren hier, um ihr zu helfen … Sie waren hier, um sie in den heilenden Himmel zu bringen … Nathan … vielleicht hatte er Hilfe geholt? War er für sie hierher gekommen … Sie dankte ihm vom ganzen Herzen, als der Schmerz ihr erneut einen Strich durch die Rechnung machte und sie zusammenzucken ließ, wobei ihr ein Keuchen entkam.

„Was bewegt es sich ohne Erlaubnis?“, erklang die grimmige Stimme des Mannes und er stieß etwas – seinen Fuß?! – gegen ihren Rücken. Dies strafte sie erneut mit einer Welle des Schmerzes, was sie laut ächzen ließ. Tränen des Schmerzes sammelten sich in ihren Augenwinkeln an … Nein … nein … sie wollte doch nicht weinen … sie … durfte nicht …

„Das Mischwesen rührt sich“, erklärte der Mann mit dem Rossschwanz, „Soll ich es von seinem Leiden erlösen? Ich habe mal etwas von …“ Er stockte kurz. „Tierquälerei und damit verbundener Erlösung gehört.“

„Ich denke, das würde ihm mehr Gutes tun, als es wert ist“, ertönte die Antwort des anderen, „Es soll ruhig dafür büßen, was es und seinesgleichen uns antun.“

„Es … tut …“, begann Kyrie schwer atmend, „mir …“ So viel zu nicht mehr zurückweichen … Es waren Engel ... sie ... halfen ihr ... mussten ihr helfen ...

Plötzlich wurde sie am Hals gepackt und in die Luft gehalten.

Sie dachte, der letzte Rest an Luft würde ihr noch aus der Lunge gepresst.

Atemnot machte sich in ihr breit.

Ihr Blick wurde verschwommen. Warum?

„Es spricht, ohne gefragt zu werden“, stellte der Mann fest, „Man sollte ihm Manieren lehren. Ich werde an Acedia weitergeben, dass sie ihrem Küken beibringen sollte, wie man mit Würmern umgeht!“

Der andere lachte laut auf. Kyrie schloss die Augen. Plötzlich ertönten Flügelschläge.

Rettung. Nahte Rettung? Echte Rettung? ... Woher hatten diese Dämonen Flügel? Trugen Dämonen ebenfalls Engelsflügel? Es waren Dämonen. Es mussten Dämonen sein. Und jetzt würden Engel kommen. Richtige Engel, die ihr halfen.

Voller Hoffnung öffnete sie ihre Augen wieder. Doch Enttäuschung übermannte sie.

Der andere Engel war lediglich zu ihr geflogen. Er packte sie am Haaransatz und hob sie höher, als sie bereits zuvor war.

Es schmerzte höllisch. Ihr Körper drückte nach unten. Ihr Genick musste alles halten. Alles … Würde sie jetzt sterben? Die Schmerzen … sie taten so weh … alles … alles tat so höllisch weh …

Plötzlich wurde alles ganz locker – sie wurde losgelassen – und durch ihre Schwäche, schlug sie am Boden auf, ohne sich irgendwie abfangen zu können. Als sie aufprallte, durchzuckten die Schmerzen sie erneut. Dämonische Schmerzen ... zugefügt von ... ihnen ...

Doch sie saß … sie saß dort … gebeugt … schwach … schwer atmend …

Einige Momente ließen sie sie durchatmen … Einfach … Luft holen … Stärke sammeln …

Ihr Blick klärte sich letztlich wieder … Doch der Schmerz … Jedes Gelenk … jeder Knochen … War etwas gebrochen? Sie schaffte es nicht, sich mit den Händen aufzustützen … Ihre Hände … was war mit ihnen? Ihre Arme …

„Xenon hat mir erzählt, dass du ihn bereits zweimal belästigt hast“, begann der Engel ohne Rossschwanz, der rotes, zurückgekämmtes Haar hatte, wie sie jetzt erkannte, wobei er sich die Hände rieb, „Das können wir von einem Dämon leider nicht durchgehen lassen – in einem Moment starrt ihr, im nächsten fresst ihr. Ihr seid unberechenbar, Brut.“

Kyrie verstand seine Worte nicht. Dämon? Wie ... Er war es doch ... er war ein ... Sie beschäftigte sich damit, ihrer verschwindenden Atemnot komplett Herr zu werden und die Schmerzen davon abzuhalten, sie in die Bewusstlosigkeit zu treiben – auch wenn sie sich nicht sicher war, ob das nicht vielleicht doch angenehmer gewesen wäre … Doch es wäre genauso feige und schwach gewesen … wie sie früher ...

Sie hätte auf sich selbst hören sollen … sie hätte … sie hätte Nathan rufen sollen …

… Sollte sie Nathan rufen?

Sie konzentrierte sich – und ihre Flügel sprossen hervor.

Zumindest ansatzweise – im nächsten Moment hielt ihr der Rothaarige ein Schwert vors Gesicht.

Sie zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. Ein resignierter Blick traf ihren. Ein Blick, der aussagte, dass es ihm egal war, was aus ihr würde, solange sie wusste, dass sie Abschaum war.

„Wage es nicht, unser Heiliges Zeichen mit deiner Unwürdigkeit zu beschmutzen, Dämonenbrut.“ Er klang todernst. „Oder ich töte dich.“

Sie wollte leben.

Sie wollte nachgeben. Sie wollte die Flügel einziehen.

Aber die Flügel jetzt einzuziehen … würde sie dann nicht die letzten Wochen – die besten Wochen ihres gesamten Lebens – verleugnen? Würde sie nicht auch diese einziehen? Ihr Dasein als Engel beenden? Nur für diese Dämonen in Engelskörpern, die dachten, sie sei ein Dämon? Halbengelhasser. Das waren sie also.

Glücklicherweise hatte sich ihr Atem erholt.

„Es schaut dich an, Jeff. Achtung – sonst bekommst du noch Dämonenaugen!“ Der Mann mit dem Rossschwanz grinste vor sich hin. „Erledige es einfach. Niemand wird es vermissen.“

Jeffs Blick verfinsterte sich – doch diesmal war es gegen den anderen gerichtet. „Erteile mir keine Befehle. Versuch es gar nicht erst. Ich bin hier, um über es zu richten, um ihm seinen Platz in der Welt zu verdeutlichen. Einem Nichts, dem die Güte des Herren versucht hat, eine Chance zu geben. Einem Nichts, das alles weggeworfen hat. Einem Nichts, das schon immer unwürdig war und es auch immer sein würde.“ Seine Augen wanderten erneut zu Kyrie.

Sie sah ihn immer noch an. Zwang sich, den Blick zu halten. Den Kopf oben zu behalten.

Einmal in ihrem Leben wollte sie Stolz bewahren.

Dieser Augenblick war wohl jetzt gekommen. Sie durfte nicht auf sie hören.

Dieser Wille, ihr Gesicht zu wahren, drängte die hereinstürmenden Schmerzen zurück. Ließ sie für einige Momente verschwinden. Sie wollte ihm beweisen, dass sie ein Engel war. Ein Engel … kein Dämon …

„Ich bin … kein Dämon …“, brachte sie hervor, „Ich bin … ein Halbengel … und ich …“

Plötzlich hob Jeff sein Bein und trat ihr mitten ins Gesicht.

Kyrie verlor alles an Gleichgewicht, was sie noch hatte aufbringen können, und fiel wie ein Stein zurück. Ihr Kopf schlug am Boden auf.

Alles sackte zusammen. Sie spürte, wie die Bewusstlosigkeit an ihr kratzte – viel stärker und attraktiver als zuvor. Aber sie hielt sich wach. Musste wach bleiben. Widerstand leisten … Sie wollte … sie wollte doch nicht mehr die Kyrie von früher sein … Nicht mehr das schwache, ängstliche Mädchen … Sie würde sich nie mehr wieder von Nathan trennen lassen … nicht … nicht nachdem sie ihn endlich für sich gewonnen hatte … Zwanglos … als … als Freund …

„Es hat noch immer nicht gelernt, wie man sich vor Respektpersonen verhält“, kommentierte der Mann mit dem Rossschwanz, „Vielleicht …?“ Er beschwor nun auch sehr Schwert herauf.

In dem Moment bemerkte Kyrie, dass sie es geschafft hatte, den kleinen Teil ihrer Flügel draußen zu lassen … Sie hatte … sie hatte widerstanden … war … war für einen kurzen Moment stark gewesen …

„Soll ich ihm die Flügel abhacken? Es verdient sie ohnehin nicht. Soll es doch das Leder tragen, das ihm zusteht.“ Der goldäugige Mann schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Federn gehören bloß den Reinen und Guten.“

„Was … ist gut daran …“, zischte Kyrie schwach, musste sich dann aber eine Pause gönnen, um wieder zu Atem zu kommen. Sie musste bei Bewusstsein bleiben … bei … Bewusstsein … „… einen … wehrlosen … Eng- …“ Ihre Kehle war trocken. Jedes Wort kratzte. Und doch wollte sie sprechen.

Aber weiter kam sie nicht.

Zwei Schwerter zielten auf ihre Kehle ab. Und zwei resignierte Blicke ruhten auf ihr. Resignierte Blicke mit der Bereitschaft zu töten.

„Wage es nicht, uns anzuzweifeln, Dämon“, drohte der rothaarige Engel und seine Augen blitzten wütend, „Oder dein letztes Stündlein hat damit geschlagen.“

„Du bist zu gütig, Jeff“, knurrte der andere, „Nachdem dieser Dreckswurm sich nicht zu benehmen weiß. Ich denke …“ Der Mann mit Rossschwanz hob sie eine Arme – holte zum Stich aus.

Kyrie starrte stur die Schwertklinge an. Wenn sie jetzt sterben würde … dann mit … mit gerecktem Kinn. Mit … mit Würde … Mit … Angst ...

Das Öffnen der Tür erklang – die Gesichter der beiden wandten sich sofort zum Neuankömmling.

Nathan … bitte – bitte ließ es Nathan sein! Dieses eine Mal … musste er ihr doch helfen können, oder? Sie hatte Angst … Angst! Sie wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht heute. Nicht unter diesen Umständen! Sie hatte doch noch so viel vor … so … so viel …

Erneut sammelten sich Tränen in ihren Augenwinkeln. Die alten waren unverflossen vertrocknet.

So viel zu Würde. So viel zu Stolz oder Stärke.

Sie war ein Schwächling. Ein ängstlicher Feigling.

Instinktiv hatte sie alles, was sie noch halbwegs lenken konnte, eingezogen. Sich klein gemacht - mit Rücksicht auf die Schwerter vor ihr.

„Was treibt ihr beiden denn da?“, ertönte eine Frauenstimme. Sie kannte diese Stimme nicht.

Als sie in Richtung der Tür schaute, ohne dabei ihre Kehle zu gefährden, um die Frau zu begutachten, löste sich eine Träne – doch die anderen hielt sie fest. Die Frau hatte silbernes Haar und dunkle Augen. In ihrem Blick lag etwas Ungeduldiges. „Ihr sollt sie nicht töten, hat Xenon gesagt, verdammt!“

„Es hat uns aufs Übelste beleidigt!“, verteidigte sich der Schwarzhaarige, „Wollte uns als gottlos bezeichnen, dieser Dämon!“

Die Frau runzelte missbilligend die Stirn. „Ich denke, ihr habt ihm einen Denkzettel verpasst. Sein Blick winselt doch schon förmlich um Gnade – und zu menschlichen Emotionen greift es auch schon! Ha!“ Sie lächelte zufrieden. „So viel zur unbändigbaren Stärke und Härte der Dämonen. Aber sie ist auch nur ein halber. Aber das ist auch schon genug, um die Welt ins Unheil zu stürzen.“ Jetzt schüttelte sie den Kopf. „Aber kommt jetzt. Wir haben nicht ewig Zeit – und wer weiß, ob ihr Aufpasser nicht nach seinem entlaufenen Schoßhund schaut.“ Sie machte ohne Umschweife kehrt und verschwand hinter der Tür.

Kyrie wandte sich wieder ihren Peinigern zu.

Jeffs Gesicht wanderte nahe an ihres. Sie erkannte seine silbernen Augen, sein Gesicht, das wie das eines 30-Jährigen wirkte und ihr hasserfüllt und wütend entgegen starrte. „Nie wieder“, knurrte er, „Nie mehr wieder sollst du in den Himmel zurückkehren. Lebe deine verfluchten 25 Jahre auf der Erde – doch halte dich vom goldenen Glanz des Herren fern! Halte dich fern und verschmutze mit deiner puren Anwesenheit nicht unsere reine Luft. Jemand wie du gehört nicht in unsere Welt, Dämon. Also verschwinde.“ Er entfernte sich langsam von ihr. Bedeutungsschwere Blicke lasteten auf ihr. Erst jetzt nahm er sein Schwert von ihrer Kehle, ließ es verschwinden. Danach schritt er nach oben, wobei seine Flügel in den engen Gängen streiften. Er verlor wenige Federn, ehe er durch die Tür verschwunden war.

Der Mann mit dem Rossschwanz stand noch genauso wütend da wie zuvor. „Beleidigung. Respektlosigkeit – und trotzdem sollst du noch so lange leben?“ Er verzog sein Gesicht zu einer unzufriedenen Grimasse. „Ein zu gütiger Mann. Sei ihm dankbar, Dreck.“ Er wandte sich ab – sein Schwert hing immer noch an ihrer Kehle. „Wenn ich dich noch ein einziges Mal im Himmel erblicke, so sei dir sicher, dass du von uns hingerichtet wirst, wie es sich gehört, Dämonenbrut. Ohne deinesgleichen wäre die Welt letztendlich ein schöner Ort. Gott wäre von all seinen Problemen erlöst. Und wir hätten keinen Grund, an diesen Ort zurückzukehren. Genauso wie du kein Recht hast, Fuß in unseren Lebensraum zu setzen.“

Er widmete ihr noch einen bedeutungsschweren Blick, ehe er ihr mit seiner Waffe über die Wange strich, was ein schmerzliches Brennen verursachte. Für diesen einen Moment, in dem das Schwert ihre Haut berührte und ihr Blut die Klinge beschmutzte, begann sie sich zu erinnern. Wie Melinda … und all die anderen zuvor und Nathan … und ihr Leben … All die schrecklichen Momente … Ihre Einsamkeit, die Isolation, nein – sie wollte nicht wieder so sein! Die Schmerzen, die der Verrat mit sich brachte. Die Tränen, die sie einsam vergossen hatte. Nichts davon hatte sie je erzählt. Alles hatte sie zurückgedrängt. Zurück, dorthin, wo sie es nie wieder sehen musste. Das schämische Grinsen ihrer Peiniger. Nathan, der sich von ihr abwandte. Wie er weg ging. Zu den anderen. Weg von ihr. Schmerzen, unsägliche Schmerzen, die ihre Seele zerschmetterten ...

Als die Klinge sich von ihr entfernte, stoppte die Flut an Erinnerungen.

Was war das!?

„Stirb hier. Oder lebe hier. Aber halte dich fern – denn ein zweites Mal lasse ich mir deinen Anblick nicht gefallen.“ Er schaute sie hasserfüllt an.

Die Tür wurde aufgerissen und die Frau erschien mit gehetztem Blick. „Drake, beeile dich! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, uns um Ungeziefer zu kümmern!“, knurrte sie.

„Ja, ja“, wimmelte er sie ab und schritt langsam die Stufen nach oben, wobei er dasselbe Problem mit seinen Flügeln hatte wie Jeff zuvor, „Hetz nicht immer so, Milli! Die Menschen bauen alles viel zu eng!"

Als Drake die Tür hinter sich schloss, fühlte Kyrie, wie die Stille um sie herum sie erdrückte. Und doch erleichterte sie sie. Sie hielt die Tränen weiter zurück. Sie wollte nicht weinen.

Sie würde hier sterben.

Aber sie wollte nicht mehr weinen. Die Bewusstlosigkeit erlöste sie von Schmerzen und Angst.
 

Als Kyrie erwacht war, lag sie noch unbewegt am selben Ort. Sie war nicht gestorben.

Und sie war kräftiger geworden. Sie schaffte es, sich aufzurichten, sich an die Wand zu lehnen. Dabei bemerkte sie, dass sie mit einem Arm gar nichts anfangen konnte – und mit dem anderen nur bedingt etwas. Ihre Beine trugen sie mehr schlecht als recht.

Ihr Blick war zur Türe hinauf gewandert. Nur so wenige Meter nach oben auf die Dachterrasse. Nur so wenige Meter hinauf in den Himmel, der ihr Licht und Heilung spendete.

Und doch überwog ihre Angst.

Angst davor, was sie dort oben erwartete. Tod. Sie gefror auf der Stelle.

Würden dieser Xenon, Jeff, Drake und Milli warten? Würden sie sie letztlich töten?

Sie sehnte sich aufgrund der Schmerzen nach einem Ende – doch sie wollte nicht sterben. Sie wollte leben. Ihre Zeit genießen. Glücklich sein.

Sie ... sie musste weg hier! Weg ... weg vom Himmel ... nach unten, tief, tiefer nach unten ... Sie musste ... fort ...

Ins Glück. Zu Ray … Ray war fünf Jahre alt, als er das geschafft hatte. Sie war besser weggekommen als Maria, welche sich gar nicht mehr bewegen konnte. Sie würde … sie würde wohl … heim … in ihr weiches … weiches Bett kommen … heim … wo sie sicher vor ihnen war … Nach … Hause … Sie brauchte keinen Himmel, musste glücklich werden ... zuhause ... auf der Erde.

Sie stolperte die Treppen nach unten. Nur noch … viele, viele … Treppen …
 

Kyrie glaubte an Wunder, als sie durch die Eingangstür des Gebäudes schritt und die Straße erreichte. Die … die Straße … nur noch … nur noch fünfzehn Minuten … fünfzehn … lange … quälend … lange … Minuten …

John Kingston pendelte wohl zum tausendsten Mal vor dieser Tür hin und her. Links. Rechts. Links. Rechts. Unruhig. Überfüllt – und leer. Alles war seltsam. Alles war komisch. Nichts konnte er fassen – seine Welt brach zusammen. Blieb stehen. Fiel ins Nichts. Seine Gefühle … ein schreiender Haufen.

Im Hintergrund hörte er, wie seine Frau das nächste Taschentuch beschmutzte. Ein Schluchzen entkam ihr. Wie lange weinte sie schon? Minuten? Stunden? Tage? Jahre? Er konnte es nicht bemessen. Wie lange rannte er schon vor dieser Tür auf und ab? Wie lange schon konnte er nicht mehr still sitzen? Wann hatte ihn die Schreckensnachricht ereilt? Was war nur geschehen … Ein Tag … Ein Tag – und sein Leben sollte sich ändern? Was nur war geschehen?

„Oh, Herr …“, murmelte er leise, vielleicht nur für sich selbst hörbar, „Oh, Herr – sie ist doch eine der deinen … Wie kannst du sie nur so bestrafen?“ Und damit hatte er das erste Mal in seinem Leben Gott die Schuld an etwas gegeben. Wie konnte er nur zulassen, dass seiner Tochter so etwas widerfuhr?

Es fühlte sich so an, als wäre Jake, der Nachbar, vor wenigen Sekunden erst in sein Haus gestürmt. Als hätte er vor wenigen Sekunden erst diese Hallen betreten. Und als wären in jenen Sekunden Stunden vergangen. Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr. Er wollte nur noch Wissen. Wissen darüber, was vorgefallen war – weshalb. Und wer dahinter steckte. Und vor allem: Was nun geschehen würde.
 

Der Abend war bereits eingetreten, Magdalena kochte eine ihrer berühmten Mahlzeiten. Sie hatten heute beide frei – er hatte keine Messe zu besuchen und Magdalena brauchte nicht zu kellnern. Sie konnten dann also ausführlich mit Kyrie über ihre neuesten Errungenschaften sprechen! In letzter Zeit hatte ihre Tochter es nämlich sehr eilig gehabt – zu eilig für seinen Geschmack. Sie waren kaum mehr dazu gekommen, miteinander zu reden. Und das störte ihn – vor allem, da sie sehr beschäftigt wirkte. Als würde irgendetwas sie bedrücken, ihr keine Ruhe mehr lassen. Er wollte mit ihr darüber reden. Aber wenn er die Ansätze dazu brachte, lehnte sie ihn freundlich ab. Konnte nicht mit ihm darüber reden. Ihm schien klar, dass es nur zwei Auslöser für derlei Situationen geben konnte: Entweder dachte sie über Erkenntnisse aus dem Himmel nach … oder über den Jungen, der ihr scheinbar jeden Tag nach der Universität auflauerte! Aber nicht einmal während der – mittlerweile wohl viel zu kurzen – Autofahrten, sprach sie. Sie blockte einfach.

John fühlte sich ziemlich davon gestört, dass seine Frau seit einigen Tagen immer nach der Arbeit noch eine Erledigung zu machen hatte – sonst hatte sie das auch immer am Nachmittag erledigt. Aber jetzt bestand sie darauf, das zu machen, noch bevor sie Kyrie abholten! Aber was sollte er denn gegen den weiblichen Charme seiner Liebsten unternehmen?

John saß vor dem Fernseher und besah sich der Nachrichten. Die Welt war eigentlich recht friedlich. Seit Jahrhunderten hatte es keine Kriege mehr gegeben – nach dem letzten hatten die Nördliche und die Südliche einen Vertrag unterzeichnet. Seither war die gesamte Welt eigentlich ein Land – und das förderte Frieden. Auch dass Menschen wieder zu Gott gefunden hatten – unter anderem durch Prediger wie ihn – hatte ihnen für ein friedliches Miteinander geholfen. Traurig war dabei nur, dass es noch Einzelne gab, welche einem Gesamtfrieden im Wege standen. Verbrecher – Mörder, Räuber, Schläger. Kriminelle aller Art.

Gerade als John die Fernbedienung zur Hand nehmen wollte, um umzuschalten, begann es, laut und heftig an der Tür zu hämmern. Wie verrückt donnerte jemand darauf ein.

„John! Magda! John! Macht die Tür auf! Schnell!“, rief jemand, „John, verdammt!“

Er erhob sich. Die Stimme kam ihm bekannt vor.

Im selben Moment steckte Magdalena ihren Kopf ins Wohnzimmer – ein besorgtes Stirnrunzeln zierte ihr ansonsten schönes Gesicht. „Mach auf!“, drängte sie ihn.

Er ging schnellen Schrittes zur Tür und öffnete sie – wie er erwartet hatte, stand sein Nachbar davor. Der Mann überragte ihn um gute drei Köpfe, sein hellbraunes Haar war ordentlich kurz geschnitten und seine blauen Augen strahlten erregte Besorgnis aus. Er wirkte beinahe geschockt. Und ausgelaugt – als wäre er ein ziemliches Stück gerannt.

„Kyrie, John!“, schrie er ihn an, obwohl er direkt vor ihm stand.

Sein Magen zog sich zusammen. „Kyrie?“, wiederholte John unsicher. Was hatte Jake nur? Etwas in ihm zog sich zusammen.

„Kyrie, verdammt!“, brüllte er, „Ich …! Sie hat mich nicht begrüßt – das war so komisch! Und dann … sie taumelte! Ich ging zu ihr – und … sie fiel! Verdammt, John! Sie ist einfach gefallen!“ Er holte hörbar Atem.

Und John fühlte, wie er erblasste. Wie alles in ihm zusammenrutschte. Ohnmacht schien ihn zu überrumpeln. Was sollte er tun? Was war geschehen?

Kyrie.

Kyrie war in Gefahr.

„Wo ist sie?!“, wollte John wissen, wobei er aus Verzweiflung den anderen Mann schüttelte, „Wo?!“ Er musste sich beruhigen. Musste sich einkriegen! Was nur?!

„Die Ambulanz hat sie abgeholt!“, kreischte der andere, „Verdammt! So viel Blut! So … anders! Verdammt!“

Kyrie …

Kyrie – er musste zu ihr. Die Sorge umhüllte ihn, drängte alle anderen Gefühle beiseite. ER musste zu seiner Tochter!

Und während er sich umdrehte, starrte er in das weiß gewordene Gesicht seiner Frau, aus deren Augen Tränen fielen.


 

„John …“, ertönte die erstickte Stimme seiner Frau hinter ihm, „Was … was kann nur passiert sein?“ Sie war fertig. Magdalena war einfach fix und fertig – und es war nicht zu überhören.

Ein Blick auf die Uhr, die dort angebracht war, besagte, dass sie bereits seit sieben Stunden hier warteten.

Das Schild, auf dem „Intensiv“ stand, leuchtete in aggressivem Rot. Seit sieben Stunden.

„Ich weiß es nicht …“, gab er zu und beendete seinen Rundlauf, weil er sich zu seiner Frau setzte. Er nahm sie in den Arm. Sofort drückte sie sich an ihn und versteckte ihr Gesicht an seiner Brust. Er umarmte sie fester. Er würde sie nicht loslassen. Er konnte es nicht. Er würde daran zerbrechen. „Ich will es herausfinden“, fügte er leise hinzu.

„Wo … wo kann sie nur gewesen sein …?“, stotterte Magdalena, „Mit wem? … Was kann sie nur getan haben? Sie ist doch … sie ist doch unser liebes Mädchen … unsere gute Tochter … Ein … ein Engel …“ Ein erneuter Tränenschwall erstickte die restlichen Worte, die seine Frau wohl noch aussprechen wollte.

Ihre Tochter. Ihr Engel … Wer konnte Kyrie so etwas nur antun? Wer?

Zu seiner Trauer, seiner Verzweiflung mischte sich von Stunde zu Stunde mehr Wut. Wut auf denjenigen, der ihr das angetan hat.

„Ich … ich …“, begann er.

„Entschuldigen Sie, sind Sie Familie Kingston?“, erklang eine Stimme hinter ihm.

John drehte sich um, ohne Magdalena loszulassen. Eine Krankenschwester stand dort. Sie hatte das typische, weiße Kleid an und trug dazu noch einen Hut mit Kreuz. Sie hatte dunkles Haar und wirkte sehr jung – vielleicht war sie nur ein Lehrling.

„Ja, John Kingston ist mein Name“, bestätigte er ihre Vermutung.

„Die Ärzte haben die Polizei alarmiert. Sind Sie bereit, mit den Herrn und Damen Beamten zu sprechen?“, wollte das Mädchen wissen – sie klang dabei ein wenig beunruhigt, vielleicht auch besorgt. Verstand sie ihre Situation?

Er nickte entgegen seines Willens. Er wollte nicht mit Polizisten reden, ohne dass Kyrie mit ihm gesprochen hatte, aber er stimmte trotzdem zu. Er musste so viel wie möglich über den Vorfall herausfinden.

„Dankeschön“, fügte sie hinzu und machte daraufhin kehrt.

Magdalena verhielt sich still, als die Polizisten um die Ecke traten.

Es war ein großer Mann mittleren Alters, der in der Uniform der Polizeiwache steckte. Die Uniform war dunkelblau und viele Streifen markierten einen hohen Stand im Amt. Neben ihm stand eine Frau, die sogar noch mehr Streifen trug, allerdings wesentlich kleiner war.

„Guten Tag. Wir haben gehört, dass Ihre Tochter überfallen worden sein soll – ist sie bereits vernehmungsfähig?“, fragte der Mann. Doch er beantwortete seine Frage mit einem Blick zur rot strahlenden Tafel. „Dürfen wir Sie in der Zwischenzeit vernehmen?“

„Natürlich“, sagte John ernst, wobei er auf die Sitzbank ihm gegenüber deutete.

Die Polizisten sahen einander bedeutungsvoll an. Die Frau nickte.

„Vielen Dank“, antwortete der Beamte und nahm Platz. Die Polizistin blieb stehen.
 

„Schädelbrüche, Rippenbrüche, Armbrüche, Beinbrüche, Hämatome, Schnittwunden … Verletzungen an der Wirbelsäule“, las John leise vor sich hin, als er zuhause am Küchentisch saß. Es war Mittwoch, doch er arbeitete heute nicht. Magdalena und er hatten sich frei genommen – sie mussten Kyrie unterstützen.

Sie hatten bis fünf Uhr morgens ausgeharrt. Sie hatten gewartet. Und gehofft. Und dann war die Nachricht gekommen: Sie war außer Lebensgefahr.

Die Krankenschwestern hatten vorgeschlagen, dass Magdalena und er nach Hause fahren sollten. Sie würden nichts tun können. Sie waren unfähig zu helfen.

Kyrie würde erst heute Abend erwachen. Sie würde viel Kraft schöpfen müssen. Sie würde sehr ausgelaugt sein. Und vielleicht würde sie Erinnerungsprobleme haben. Vielleicht würde sie nicht mehr diejenigen sein, die sie zuvor war … Nichts mehr … Alles konnte sich verändert haben … Alles … konnte anders sein …

Er verkrampfte seine Hände, was dem Papier Risse zufügte. Er hatte die Erklärung zu einer Vordiagnose erhalten. All diese Dinge hatten sie festgestellt. Prognostiziert. Es war ihr Verdacht. Dieses Wort hatten sie betont. Reiner Verdacht. Vielleicht würde sie mehr gehabt haben – vielleicht auch weniger. Hoffentlich. Gott musste ihr doch helfen! Er musste sie heilen!

Nach der Operation hatte er mit keinem Arzt mehr gesprochen. Niemand war zu ihnen gekommen, um ihnen die Sachlage zu erklären – die Informationen dürften niemandem zukommen, den Kyrie Kingston nicht selbst dazu auserkoren hatte. Es war deprimierend. Dabei waren sie doch ihre Eltern! Zählte dieser Stand denn heutzutage gar nichts mehr?

Der Polizei waren sie nebenbei auch keine große Hilfe gewesen. Ob Kyrie in der Schule oder beim Studium Probleme mit Mitschülern hatte? Ob Kyrie private Feinde hatte? Ob sie mit besonders viel Geld oder Schmuck unterwegs war? Ob etwas aus ihrem Eigentum fehlte? Ob sie sich jemanden vorstellen könnten, der zu solcher Handlung fähig wäre? Ob sie wüssten, was es bedeutet, dass in ihrer Kleidung viele Vogelfedern gehangen hatten …

Er war kurz davor gewesen, die Sache mit den Federn zu erklären, um zumindest eine richtige, hilfreiche Antwort geben zu können. Doch er hatte geschworen, niemals gegenüber einem anderen Menschen die Engel zu erwähnen. Und er würde sich daran halten … Sie war also im Himmel gewesen … Hoffentlich würde sie sich erinnern. Hoffentlich würde sie darüber reden …

„Denkst du, dass sie Feinde hat?“, wollte Magdalena, die plötzlich hinter ihm stand, wissen, „Denkst du, sie wurde gehänselt?“

Wer nur würde es wagen, seiner Tochter so etwas anzutun? Sie war doch so lieb!

„Ich … ich bin mir nicht sicher …“, grummelte er, „Sie hat nie darüber gesprochen …“ Und er hatte sich nie Sorgen gemacht. Hätte nie mit so etwas gerechnet! Was für ein Mensch würde ihr so etwas antun?!

„Melissa wird es wohl nicht gewesen sein …?“, fragte Magdalena plötzlich, „Sie hat sie nicht mehr ein einziges Mal erwähnt, seit …“

John schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Er seufzte. „Uns wird nichts anderes mehr übrig bleiben, als abzuwarten … Abzuwarten, zu hoffen … und zu beten.“
 

Ray saß auf der Steinmauer. Im Ein-Minuten-Takt blickte er über die daherströmende Menge, um Kyrie zu sichten. Doch sie war bisher einfach nicht aufgetaucht. Heute schienen sie ziemlich zu überziehen.

Ein Blick auf sein Handy verriet ihm die Uhrzeit. Es war beinahe schon spät genug, dass sie bereits wieder aufbrechen müsste.

Hatte er sie verpasst? Hatte sie heute früher aus gehabt – oder viel später? Aber dann hätte sie das gestern doch wohl angemerkt … War sie auf die Schnelle krank geworden? Sie hatte gar nicht mehr so erschöpft gewirkt …

Er holte sein Mobiltelefon erneut hervor und ging die Kontaktliste durch.

Nein. Er hatte es tatsächlich in drei Wochen nicht einmal geschafft, sich nach ihrer Handynummer zu erkunden! Am liebsten würde er sich selbst schlagen. Was wenn sie wirklich krank war?

Oder wenn sie … oder wenn sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte? Sein Auftritt gestern war auch wirklich peinlich gewesen … Er hatte ihr wirklich etwas vorgeheult … Es war schon fast fünfzehn Jahre her und dennoch … dennoch weinte er noch immer, wenn er darüber reden musste … wenn … wenn er es jemanden erzählte … Er verstand es, wenn sie von nun an Umwege machte, um ihn nicht mehr anzutreffen. Um diese Schmach zu umgehen …

Er konnte es nachvollziehen. Aber … aber er wollte es nicht akzeptieren!

Der Gedanke, sie nicht mehr an dieser Mauer zu treffen, war … war schlimm. Einfach … zerstörend. Wieder einfach nach Hause zu pendeln. Einfach auf die Freundin seines Vaters zu treffen … Seit er sie vor zwei Wochen einmal gesehen hatte, war er ihr nie mehr wieder begegnet. Dadurch, dass er mit Kyrie reden konnte, verflog die Zeit – er verspürte kaum Hunger und danach war Kim nicht mehr zu Hause! Und sein Vater sowieso nicht.

Er war einfach frei.

Und … und er genoss es nebenbei noch, sich mit ihr auszutauschen. Kyrie hatte so einen angenehmen Charakter – man wollte einfach mit ihr reden, wollte ihr erzählen, wollte, dass sie etwas über einen wusste … Die Geschichte mit seiner Mutter … Niemals hätte er sie irgendeinem dahergelaufenen Menschen erzählt. Fünfzehn Jahre lang hatte er geschwiegen, als wäre nie etwas geschehen … Und da kam sie – da kannte er sie gerade einmal drei Wochen und schon sprudelte er wie ein Wasserfall! Und dann … und dann hatte er bei ihr auch noch das Gefühl, als würde es sie wirklich ernsthaft betreffen. Als wollte sie sofort etwas tun … Wenn es nicht ganz so lächerlich wäre, würde er fast glauben, dass sie zum Roten Dorf gefahren wäre, um dort seine Mutter zu besuchen und deshalb wäre sie nicht hier, aber das … das war doch … unmöglich … Dabei wollte er ihr doch unbedingt erzählen, dass Diane sich gestern endlich wieder bei ihm gemeldet hatte - dass sie ihm nicht geschrieben hatten, weil sich in ihrem Leben gerade viel aufstaute. Ausbildung, Arbeitswechsel ... Und dass seine Mutter einen Schwächeanfall erlitten hatte, weil sie die neue Medizin nicht vertragen hatte. Wenn er ausgebildet war würde ihm so etwas bestimmt nicht passieren! Seine Mutter war wegen dieses Fehlers für eine Woche im Krankenhaus - auf Beobachtung. Aber laut Diane erholte sie sich gut. Und dadurch, dass Kylie derzeit Abschlussprüfungen hatte - was für diese kein Problem darstellen würde, auch wenn diese eine Woche vorverschoben waren -, wodurch zie dann die Hauptpflegerin für seine Mutter sein würde. Er wollte Kyrie beruhigen, wie er selbst beruhigt worden war.

Noch einmal ließ er seinen Blick über die Menschenmenge schweifen.

Es schien keinen Zweck zu haben.

Sie war nicht hier.

Er bewegte sich dennoch nicht vom Fleck. Er würde einfach weiterwarten.

Bis sie kam.
 


 

„Luxuria ist und bleibt verschwunden“, schnaubte Acedia, welche auf ihrem pompösen Bürostuhl saß und ungehalten einige Zettel hin und her schleuderte, „Und sie erkennen noch immer nicht, dass ich Recht habe!“

Sie war so rechthaberisch. Immer bestand sie darauf, dass sich ihre Meinung – wenn sie denn ausnahmsweise einmal eine hatte – durchgesetzt würde. Aber so spielte sich das eben nicht.

„Zwei hast du schon überzeugt“, beschwichtigte Nathan sie, „Einen wirst du wohl noch dazu bekommen!“ Er grinste. „Und sonst lässt du einen eben verschwinden – oder zwei.“

Sie sah ihn unbeeindruckt an. „Und dann würden sie die beiden auch einfach als ‚kurzfristig abgängig’ abstempeln und die Sache wäre für sie gegessen.“ Sie seufzte und verschränkte beleidigt die Arme. „Manchmal nehmen sie alles zu sehr auf die leichte Schulter! Ira und ich kennen Luxuria besser als unsere eigenen Stiefel – wenn wir beide sagen, Luxuria sei kein Urlaubstyp, dann meinen wir es auch beide so!“

Nathan fragte sich immer wieder, was zwischen Ira, Luxuria und Acedia geschehen war. Alle drei schienen keine allzu nahe Beziehung mehr zueinander zu haben. Aber wenn eine der seltenen Gelegenheiten kam, an denen Acedia auspackte, dann ließ sie nicht allzu viel darüber verlauten. Nathan glaubte, dass sie alle einmal Freunde waren. Aber er wusste nicht, ob das gewesen war, als sie alle schon Todsünden waren oder nicht. Sie hatte ihm aber bereits zu deutlich klar gemacht, dass er das auch nicht herausfinden würde – „Mische ich mich in deine Angelegenheiten ein, Kindchen?“, hatte sie ihn ziemlich am Anfang äußerst genervt gefragt, „Also lass uns ein Arbeitsverhältnis pflegen. Wir werden niemals Freunde werden. Akzeptiere das.“ Er hatte sich daran gehalten. Und ihre Beziehung ebenfalls – rein geschäftlich mit einigen Späßen.

„Das fasse ich dann so auf, dass du meinen Vorschlag ablehnst“, fügte er schmunzelnd hinzu, „War auch nur so eine Idee – vielleicht würden mehr Verschwundene sie aufrütteln.“ Plötzlich fiel ihm etwas ein. „Wobei … Hast du gehört, dass in den tieferen Rängen auch ein paar Leute abhanden gekommen sind? Mittwoch zum Beispiel … oder Genesis.“

Sie sah ihn überrascht an. „Ach wirklich? Wirklich vermisst oder auch nur Urlauber?“ Sie wirkte erneut ungehalten.

„Noch Urlauber. Aber wenn nicht bald welche aufkreuzen oder noch mehr vermisst werden, werden sie sich an die Todsünden wenden. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn Luxurias Verschwinden der Öffentlichkeit mitgeteilt …“

„Nein“, unterbrach Acedia ihn barsch, „Wird es nicht. Haben sie beschlossen. Wollen Panik vermeiden.“ Sie antwortete schnell und abgehakt. So wütend hatte er sie nur selten erlebt. „Wir sollen uns keine Sorgen machen, beschließen sie! Und dann wollen sie Panik vermeiden! Wozu Panik – es gibt doch nichts, worüber wir uns Sorgen machen sollen. Sie ist ja nur auf Urlaub!“ Die Frau atmete tief durch – und runzelte die Stirn.

Aber er verstand ihren Punkt. Sie wussten, dass etwas nicht stimmte. Sie glaubten Acedias Worte. Doch sie unternahmen nichts. Denn etwas zu unternehmen, würde bedeuten, dass etwas geschehen war. Und das wäre das Schlimmstmögliche – immerhin war Luxuria eine Todsünde.

Er nickte verständnisvoll. „Weißt du …“, begann er vorsichtig, „Vielleicht … vielleicht sind wir doch mehr wie Menschen, als wir von uns glauben.“

Sie horchte auf.

Sie kannte die Menschen ja nicht. Sie hatte nie engeren Kontakt zu einem – und wenn sie es auch als Vorteil betrachtete … für Nathan war es das nicht. Diese zwanzig Jahre auf Erden hatten ihn viel gelehrt. „Sie schieben auch alles auf. Die Friedensverträge zwischen den beiden Ländern waren erst nach einer langen Kriegsaison entstanden. Die Gesetze wurden erst eingeführt, nachdem die Verbrecher die Länder verwüstet hatten … Alles wird erst im Nachhinein geregelt.“ Er erlaubte sich ein schiefes Grinsen. „Mich würde es nicht wundern, dass sie bei uns erst etwas ändern, wenn der Himmel in zehn Schwarzen Löchern zerteilt liegt.“

Acedia entblößte ihre Zähne vor Belustigung. „Vielleicht würde sie das endlich wach rütteln.“

Dann erhob sie sich und schlug dreimal mit den Flügeln, um ihre Gelenke zu lockern – und ihr Gemüt, wie es schien. „Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit. Heute räume ich selbst auf.“ Sie hatte die Zettel irgendwann einfach liegen lassen. Nathan hatte das gar nicht so stark wahrgenommen. „Du kannst gehen. Ich denke, jemand wartet auf dich.“ Sie lächelte.

Stimmungsschwankungen …

Er sprang von seinem Sessel auf und verbeugte sich übertrieben. „Kein Problem! Wenn du wen zum Reden und Lästern brauchst – ich bin gerne zur Stelle.“ Er grinste sie frech an. „Schönen Tag noch. Wenn du mich brauchst … du weißt, wie du mich rufst.“ Dann stockte er. „Aber möglichst nicht mittwochs!“

Sie nickte, wobei sie sich so tief über den Schreibtisch beugte, dass ihre tiefroten Haare darauf zu liegen kamen.

Nathan verließ das Büro – und dabei bemerkte er, dass er noch viel zu früh dran war! Da würden die anderen ja gar nicht auf ihn warten müssen. Und er wollte Kyrie ja eine faire Chance geben, sich mit den anderen ohne ihn besser anzufreunden. Eile mit Weile – so lautete ein Sprichwort, das er aufgeschnappt hatte. Er mochte diesen Spruch, er traf seine Einstellung nämlich ziemlich genau.

Also ging er locker-lässig alle Treppen nach unten. Vielleicht würde ihm sogar Deliora noch begegnen – dann konnten sie zusammen ihre Runde drehen.

Nathan kam schon ziemlich ins Schwitzen, als er sich noch einmal aufzwang. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Da nützte auch die Heilkraft des Himmels nichts – immerhin war er nicht verletzt. Und genau darin bestand der Sport: Konditionstraining und Muskelaufbau. Einen Körper wie den seinen bekam man nicht vom Faul-Herumsitzen.

Erschöpft blieb er liegen. Sein Kopf ruhte auf dem Wolkenboden, seine Beine lagen noch auf der Treppe. Es musste für Außenstehende wohl so wirken, als wäre er gestürzt und liegen geblieben. Vielleicht hätten sie ihm geholfen – wenn da nicht zwei kichernde Frauen gestanden hätten, ein entnervt seufzender Mann und ein Sportstiger mit niemals endender Kondition. Thierry vollführte weitere Übungen, als würden sie das jetzt nicht schon seit sicher fünfzehn Minuten durchziehen.

„Weißt du …“, kam es von seinem Sportsfreund, „… Du vernachlässigst dein Training. Du verbringst zu viel Zeit im Büro.“

„Ich bin deine nächste Todsünde“, murrte Nathan leise, ohne ihn anzusehen, „Ich muss das tun.“

„Gib nicht damit an“, schnarrte Deliora sofort und beugte sich tadelnd über ihn, „Du bist nicht die einzig wichtige Persönlichkeit.“

„Ich hab doch nicht …“, wollte er sich rechtfertigen, wurde allerdings barsch von Liana unterbrochen.

Sie schnauzte: „Entwickle mehr Pflichtbewusstsein!“

Schnaufend erhob er sich langsam und vorsichtig. Zum Glück gab es im Himmel keinen Muskelkater – der würde nämlich geheilt werden. Das war wohl das, was er auf der Erde nach dem Sportunterricht am meisten vermisst hatte: Heilung. Von Muskelkater. Er hasste diese Milchsäuregärung.

„Wer war denn letzte Woche nicht anwesend?“, gab er ungehalten zurück, „Wohl nicht etwa ich? Nein? Du. Ah, stimmt.“ Er schaute seine beiden Freundinnen unbeeindruckt an. „Sie hat jetzt Prüfungen. Da hat sie nicht einfach so den ganzen Mittwochnachmittag über Zeit.“

„Aber …“, wollte Liana widersprechen.

„Nichts aber“, gab er dazwischen, „Gleiches Recht für alle – sie hat sich letzte Woche ja sogar danach erkundigt. Da wird es auch gleich ausnutzen.“ Schließlich schaffte er es, sich ganz zu erheben, ohne seine Erschöpfung zu fest preiszugeben – Joshuas Blick erstach ihn beinahe mit Sorge. Er deutete auf sich selbst. „Ich kenne sie jetzt schon seit zwanzig Jahren. Ich weiß, wie sie tickt. Beim Ruf hättet ihr sie erleben müssen.“ Er grinste. „Keine Bange – wenn sie dann zum nächsten oder übernächsten Mittwochstreffen erscheint, wird sie euch Folgendes zurufen.“ Er machte eine dramatische Pause und räusperte daraufhin, wonach er mit verstellter Stimme rief: „Leute! Leute! Ich bin im nächsten Semester! Ich habe es geschafft! Klassenbeste!“

„Ja – gut … Ich … Du hast vermutlich recht … Aber können wir sie dann nicht kurz besuchen?“, wollte Liana wissen, „Ich habe sie jetzt schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen! Ich vermisse meine Kyrie!“

Deliora nickte. Thierry stoppte seine Übungen und starrte ihn entschlossen an.

Joshua wirkte emotionslos, doch Entschlossenheit war auch in den Tiefen seiner Augen, beinahe verborgen, zu finden.

„Nein“, sagte er fest, „Wir haben beschlossen, dass wir uns hier treffen. Jeder, der hierher kommt, hat Zeit. Was hättest du denn letzte Woche gesagt, wenn wir dich einfach so aufgesucht hätten, um deine Zeit, die du anders einzusetzen geplant hast, zu verwenden, Liana?“, forderte er zu wissen. Felsenfest und hart. Es war eine Lektion für Kyrie – falls sie nicht wirklich lernte, würde sie so zumindest erfahren, dass er genau das meinte, was er sagte! Sie könnte fernbleiben – und sie würden ohne sie Spaß haben. Selbst Schuld, wenn sie es unbedingt herausfinden wollte.

„Also gehen wir jetzt?“, fragte Deliora zweifelnd.

Nathan nickte fest entschlossen, bestimmt und ohne zu zögern. „Natürlich.“

„Zeit mit Kyrie verbringen …“, stellte Liana trocken fest, „Ohne dass diese anwesend ist?“

Nathan bejahte. „Immerhin ist es ja auch ein Treffen zwischen uns. Ich sehe euch genauso nur mittwochs wie auch Kyrie!“

„Na dann los!“, rief Thierry munter und sprang auf, wobei er mitten im Sprung seine Flügel komplett ausbreitete und damit in die Höhe stieg, „Wer zuerst beim Turnierplatz ist, hat gewonnen!“ Und schon düste er los.

Liana schaute Nathan noch einmal verständnislos an, folgte Thi dann aber wortlos.

Deliora und Joshua blieben bei ihm stehen und beide sahen ihn anklagend an.

„Thierry wollte sie heute persönlich zu seinem nächsten Turnier einladen. Dieses findet in genau fünfzehn Tagen statt“, erklärte sie ihm gereizt, „Wie lange dauern die Prüfungen denn?“

Es war einfach erstaunlich, dass sie alle keine Ahnung von den Menschen hatten. Die Erfahrungen, die er gesammelt hatte, waren einfach … unersetzlich.

„Eine Woche“, erklärte er, „Wenn sie nächsten Mittwoch also wieder nicht auftaucht, schreibt sie vermutlich gerade eine Prüfung. Also können wir in zwei Wochen bestimmt wieder mit ihr rechnen.“ Da war es sich ziemlich sicher.

„Verstehe“, sagte Deliora und stieg hoch empor, um daraufhin davonzufliegen.

Joshua nickte. „Es klingt einleuchtend“, kommentierte er, „Gleiches Recht für alle.“

Er erhob sich in die Lüfte.

Nathan folgte ihm.

Schade, dass sie heute nicht kommen konnte. Es war immer sehr schön zu sehen, wie sie sich hier oben entspannen konnte und sich wohl fühlte. Aber er hatte es ja fast schon im Verdacht, dass sie seine Worte auf die Probe stellen würde. Sie war eben Kyrie.
 

Ray trat in die Villa ein. Es herrschte gespenstische Stille. Die Autos waren weg. Also waren Kim und sein Vater fort – wie immer eben.

Er spazierte vom Vorraum durch das Speisezimmer direkt in die großräumige Küche. Er hatte diese Einrichtungen noch nie benutzt – die Mikrowelle war alles, was er brauchte.

Kim bereitete ihm sein Essen vor, stellte es auf die Mikrowelle, deckte es zu, er wärmte es, aß es schnell, räumte das Geschirr in die Spüle und verbarrikadierte sich bis zum Abend in seinem Zimmer. Und um halb sechs, also eine halbe Stunde bevor seine Mitbewohner zurückkehren würden, ging er wieder aus dem Haus.

Heute traf er sich mit Ted Dickston und seinen Freunden. Das machte er immer ein-, zweimal die Woche. Ted war einfach ein guter Freund – und er hatte auch die Entschuldigung von letzter Woche ziemlich gut aufgenommen. Da half es wohl, dass er ein ziemlich einfach gestrickter Mensch war. Genau das war das Schöne an Ted – er sah immer nur das Offensichtliche und nahm es nie genau. Dass dieser Mann die Aufnahmeprüfung fürs Politikstudium geschafft hatte, bezeichnete Ray noch immer als ein Wunder.

Das Essen schmeckte relativ gut. So wie immer eigentlich. Auch wenn er nie mehr von ihr wollte als ihr Essen, bemühte sich Kim trotzdem für ihn. Das war nett von ihr. Und das war alles. Mehr nicht. Er brauchte Kim nicht. Sein Vater brauchte Kim doch auch nicht wirklich.

Er hatte Kim und seinen Vater bereits seit Wochen nicht mehr zusammen gesehen – und das war ihm auch recht so. Das konnte gerne so bleiben. Kim würde seine Mutter niemals ersetzen.

Plötzlich verschwand sein Appetit. Er entleerte sein Teller in den Biomülleimer, stellte den Teller in die Spüle und setzte diese in Gang, da sie voll war.

Danach verzog er sich in das übergroße Zimmer, das er sein Eigen nannte – und in dem er tagsüber etwa drei Stunden verbrachte und nachts meistens schlief. Entsprechend kahl und unpersönlich war es auch.

Riesige Regale zierten die Wände. Einige davon hatte er mit Büchern bestickt. Für jedes Studium eine Regalreihe, die einige Bücher enthielt. Jeden Tag verwendete er eine Stunde auf das Überarbeiten des neu erworbenen Stoffs, sodass er auch immer am aktuellen Stand war – und natürlich erfüllte er alle Aufgaben, die die Dozenten ihnen auftrugen. Auf die Prüfungen lernte er mehr. Trotzdem würde er das Abendessen auch dann vermeiden, wenn er zuhause war. Er wusste noch nicht, wann er anfangen würde, gezielt auf die Prüfungen zu lernen. Aber er musste unbedingt in allen drei Studienfächern durchkommen.

Er setzte sich auf den ausgepolsterten Bürosessel, der in etwa doppelt so viel Platz bot wie der Sessel, den er zuhause im Roten Dorf hatte. Auch der Schreibtisch hatte ein größeres Platzangebot aufzuweisen. Ziemlich erstaunlich, dass man hier in Saus und Braus lebte – und dabei so viele, unnötige Dinge besaß.

Er lehnte sich zurück. Bequem war er dennoch.

Anfangs hatte er sich dagegen gewehrt, sich hier wohl zu fühlen, sodass alle erfreut sein würden, zuzustimmen, dass er zurück durfte. Doch alle hatten sich quer gestellt.

„Na ja“, flüsterte er an sich selbst gerichtet, „Zumindest eine gute Sache hatte es …“ Er lächelte kurz. Weshalb auch immer. Die Gedanken an Kyrie machten ihn glücklich. Doch heute war dieser Gedanke mit einer speziellen Traurigkeit behaftet – wo war sie? Hoffentlich würde sie ihn wieder sehen wollen … Wenn nicht … dann würde er wohl mit Ted seine Zeit verbringen müssen, bevor er zum Essen nach Hause kommen konnte – er wollte keine Zeit mit Kim verbringen. Und auch sein Vater sollte spüren, dass er ihm noch immer nicht verziehen hatte. Er hatte seit zwei Monaten nicht mehr mit dem Mann gesprochen. Wie sollte er auch? Sein Vater verließ das Haus zur Mittagszeit – um sechs Uhr kam er zurück. Und Ray vermied das Haus zu diesen Zeiten. Nachts machte er sich dann gegen elf Uhr auf den Heimweg und ging sofort auf sein Zimmer.

Zweimal hatte sein Vater bereits versucht, um elf Uhr nachts noch mit ihm zu sprechen – Ray hatte geblockt und den Mann stehen lassen.

Irgendwann würde er dieses Verhalten bereuen, dessen war sich Ray sicher. Aber noch war diese Zeit nicht gekommen. Und solange er diese Wut in sich tragen konnte, würde Ray sie auch benutzen, um zu zeigen, was er von den Menschen um sich herum hielt.

Aus seiner Tasche holte er das Politikbuch.

Was hatten sie für Themen besprochen?
 

„Sie kann nicht besucht werden?“, keifte John die Frau am Schalter an, woraufhin jene zurückschreckte, „Sie erzählen mir wirklich, dass ich meine Tochter nicht besuchen darf?“

„Bitte!“, mischte sich Magdalena von hinten ein, „Wir haben sie schon seit über einem Tag nicht mehr gesehen!“ Die Stimme seiner Frau zitterte.

Die Informationsdame wirkte bedrückt und mitleidvoll, doch sie lehnte ab. „Es tut mir leid“, fuhr sie kopfschüttelnd fort, „Kyrie Kingston muss sich ausruhen. Sie ist von ihrer Narkose noch nicht erwacht. Sie müssen warten, bis sie von sich aus aufwacht. Ansonsten könnten sich die Nebenwirkungen verschlimmern …“

„Wie geht es ihr?“, wollte John verzweifelt wissen, „Was hat sie? Was ist geschehen?“

„Ich … ich weiß es nicht …“, gab die Frau leise, unbeholfen zu, „Ich kann ihnen nichts sagen … Ich kann nur einen Arzt …“

„Bitte …“, flehte John, „Bitte … Ich will meine Tochter sehen. Wissen, wie es ihr geht …“

Die Frau nickte und erhob sich. „Warten Sie bitte hier …“, bat sie leise und ging zitternd fort. Sie durfte das wohl wirklich nicht. Dankbarkeit breitete sich in John aus. Gott-sei-Dank gab es noch Menschen wie sie. Menschen, die differenzieren konnten – Menschen, die helfen wollten. Leid verstanden. Sich nicht blind an Regeln hielten.

Magdalena umarmte ihn von hinten, während sie warteten. Sie schwiegen. Er hielt ihre Hände, strich vorsichtig darüber – um sie zu beruhigen, wobei es auch ihm selbst half, die Nervosität, diese reißende Angespanntheit, zu unterdrücken.

Um sie herum waren einige Menschen. Dennoch war es hier in der Eingangshalle des Krankenhauses ziemlich ruhig. Krankenhäuser waren Orte der Ruhe. Hier sollte man nicht stören.

Die Tür hinter dem Informationsschalter öffnete sich und die Dame mit ihrem blonden Haar und den leuchtenden, grünen Augen trat wieder ein. Sie schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln. „Ein Arzthelfer begleitet Sie“, teilte sie ihnen fröhlich mit, „Viel Glück.“

„Dankeschön“, murmelte er erleichtert. Der Arzthelfer erschien sogleich und nickte ihnen zu. Sie folgten ihm schweigend.

Nachdem sie im Aufzug standen, unterbrach der relativ kleine Mann mit dem braunen Rossschwanz die Stille.

„Kingston Kyrie ist Ihre Tochter?“, fragte er noch einmal.

„Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen!“, bot John sofort an. Er kramte bereits in seiner Hosentasche.

Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein – ich glaube Ihnen. Ich … Nun – ihre Tochter befindet sich noch in einem gewöhnlichen Schlaf. Ihr geht es, den Umständen entsprechend, gut. Bitte seien Sie also still, wenn wir bei ihr sind. Sie muss sich selbst auskurieren – nur ihr eigener Körper weiß, wie viel Ruhe und Rast sie wirklich nach dieser Operation braucht.“ Er wirkte recht sachlich, doch auch etwas Mitleid schwang mit. Also konnte er noch nicht lange Arzt sein. John hatte die Erfahrung gemacht, dass Senior-Ärzte kein Mitleid mehr kannten.

Magdalena nickte entschlossen. Er stimmte zu.

Kyrie …

Sein armes Mädchen …

Sie stiegen aus dem Aufzug und folgten dem Arzthelfer schweigend. Sein weißer Mantel wehte stolz hinter ihm her. Er ging etwas steif. Es war ihm wohl unangenehm, hier zu sein.

Sie waren umgeben von Ärzten, die fragend dreinschauten.

Hier waren keine Patientenzimmer – hier lagen Patienten der Notoperation, die noch nicht erwacht waren. Deren Zustand häufig noch nicht bestimmbar war …

Sie würden sie doch nicht anlügen, oder?

Kyrie würde leben …

Vor der Tür mit der Nummer 7 blieb er stehen. Sieben … eine wichtige Zahl in der Heiligen Schrift … Gott bewahre – dies sollte doch ein gutes Zeichen sein, oder?

In der Tür war ein kleines Fenster eingelassen. Es war dünn und klar. Vermutlich frisch geschrubbt.

John stellte sich zuerst davor. Nur eine Person konnte hindurch sehen.

Sein Blick fiel auf ein Bett, welches in der Nähe der Tür stand. Das Bett war weiß überzogen. Viele Maschinen standen darum herum. Kabel waren damit verbunden. Dutzende Kabel …

Und alle liefen auf der kleinen Gestalt zusammen, die dort ruhig auf dem Bett lag.

Eine Sauerstoffmaske verdeckte Teile ihres Gesichts. Ihre Augen waren geschlossen, die Wangen aufgeschwollen.

Langes, schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden worden und hing ein wenig aus dem Bett hervor. Das kleine Mädchen war unter einer Bettdecke, die sich langsam hob und senkte. Sie schlief … das kleine Mädchen … seine Tochter … sie schlief … Sie wirkte so ruhig und … und müde … erschöpft …

Beim Anblick Kyries traten Tränen in seine Augen. Gott sei Dank. Sie lebte. Sie schlief … Sie schlief …

Er konnte nicht anders, als sich sofort umzudrehen und seine Frau zu umarmen. Tränen sammelten sich in den Augen Magdalenas. Er ließ sie los, sodass auch sie zum Fenster gehen konnte.

Er trocknete seine Augen mit seinem Ärmel und sah seiner Frau dabei zu, wie sie für einige Momente, die ewig erschienen, durch das kleine Fenster schaute. Plötzlich lächelte sie. Und Tränen rannen ihre Wange hinab.

Der Arzt stand einfach daneben, ohne eine Regung zu zeigen, auch wenn er erleichtert wirkte.

John schaute noch einmal durch das Fenster.

Und so froh wie in diesem Moment war er schon lange nicht mehr gewesen.

Sie lebte.

Ray saß auf der Mauer und besah sich der Menschen um ihn herum. Es gab viele Schwarzhaarige unter ihnen – und bei jeder sah er genauer hin, um Kyrie ja nicht zu verpassen. Falls sie ihn von nun an wirklich ignorierte, wollte er zumindest noch ein klärendes Wort mit ihr sprechen – nun … vermutlich würde es mehr ein Flehen werden, aber … Er vermisste sie jetzt schon. Sie konnte doch nicht von einem auf den anderen Tag verschwinden – und wenn sie eine Änderung der Vorlesezeiten unternommen hätte, so hätte sie das doch gesagt … Es sei denn, sie hätte es getan, um ihn zu umgehen.

Hatte es ihr wirklich so viel Schreck eingejagt, ihn weinen zu sehen?

Kyrie wirkte aber nicht so. Sie wirkte nicht so, als würde sie nicht verstehen. Viel mehr als hätte sie … total verstanden … Als … als …

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte sie nur wieder sehen. Nur ganz kurz.

Nur um zu fragen, ob alles in Ordnung sei.

Aber sie konnte auch wirklich einfach nur krank sein. Ganz normal. Wie ganz normale Menschen. Ein Fieber und sie würde für drei Tage nicht anwesend sein. So wäre das. Ja … vielleicht war es ein Fieber.

Er wurde beinahe wahnsinnig! Sollte er sich jemandem anvertrauen? Aber wem?

Ted bestimmt nicht. Wenn der an Frauen dachte, dann kamen ihm bloß gewisse Körperstellen in den Sinn. Wie wäre es mit Marc? Er war ein recht verständnisvoller Kerl. Immerhin war er Mediziner. Seine blauen Augen schienen alles in seiner Umgebung in sich aufzunehmen – er würde bestimmt von alleine merken, dass Ray nicht ganz so gut drauf war wie in den letzten Wochen. Da war er sich ziemlich sicher. Auch wenn es feige war. Vielleicht würde er Marc heute Abend ja sehen.

Oder Ken? Was war mit Ken? Der alte Rechtswissenschaftler würde … würde was? Kyrie ausforschen und Ray vor ihrer Haustüre abliefern? Nein – das wäre doch … peinlich.

Peinlicher als seine Heulaktion? Würde sie ihn dann komplett hassen?

Nein … Er … er würde warten. Drei Tage. Dann war ihr Fieber bestimmt vorbei.

Sie musste doch Fieber haben. Konnte doch nur Fieber haben … Kyrie …

Plötzlich vibrierte sein Handy.

Sofort zog er es heraus. Hatte Kyrie ihm etwa geschrieben?

Als er die Nachricht öffnete und Kylie als Absender benannt war, war er beinahe enttäuscht.

„Rate einmal, wer sich seine Lohnerhöhung redlich verdient hat? In zwei, drei Monaten kannst du fix mit mir rechnen! Mach dich auf was gefasst! Du schläfst auf dem Sofa. Nur, dass das klar ist“, schrieb sie.

Ray blinzelte irritiert und las die Nachricht noch einmal. Kylie. Nach all der Zeit hatte ihm Kylie endlich wieder geschrieben! Und … sie wollte kommen? Aber … sie hatte doch kaum genug Geld!

Sofort tippte er los: „Wie bitte? Du möchtest kommen? Hast du einen Milliardär geheiratet, während ich nicht da war?“ Er vollführte zwei Absatzschaltungen. „Und natürlich schlafe ich am Sofa. Wer denn sonst?“ Er sandte die Nachricht ab. ... Falls sie ihn nicht gerade auf den Arm nahm, würde er wohl Bescheid geben müssen, dass das Gästezimmer vorbereitet werden musste ... Er hatte keine Lust, am Sofa zu schlafen. ... Wobei ... wenn das Kyrie hierher bringen würde ... Aber das hatte nichts miteinander zu tun. War unmöglich.

Er starrte sein Handy an. Keine neue Nachricht. Sie würde hoffentlich bald zurück schreiben.

Er umklammerte das Gerät. Dann schaute er wieder in die Menschenmenge. Hoffentlich hatte er sie jetzt nicht verpasst.

Sein Blick schweifte zum Parkplatz. Das Auto ihrer Eltern war nicht dort. Also war sie es vermutlich auch nicht. Sollte er sich wegen Kyrie vielleicht mit Kylie in Verbindung setzen?

Nein – das würde sie doch nur zusätzlich belasten. Sie sorgte sich schon bereits genug um alles Mögliche … Zum Glück hatte Kylie Diane. Und umgekehrt. Ohne sie würde seine Schwester doch verzweifeln …

Das Vibrieren erschreckte ihn erneut. Sofort las er die nächste Nachricht: „Apropos Hochzeit! Hast du schon das Neueste dazu gehört?“, wollte sie von ihm wissen, „Nun – ich hoffe jedenfalls, dass du dir jetzt keine Sorgen mehr um mich, Diane oder deine Mutter machst. Deine Mutter hat mir gesagt, ich müsse dir so dringend wieder schreiben, weil du verzweifelst. Wie ich dich kenne, hat deine Mutter Recht. Ohne meinen geistreichen Einfluss bekommst du doch nichts auf die Reihe – wobei. Sie hat auch verlauten lassen, dass du gleich DREI Sachen studierst? Du bist verrückt, Junge! Wehe, du fällst in nur einer Sache durch! Dann mache ich dich platt!“ Sie schrieb den Text ganz ohne Emoticons. Aber er konnte sich Kylies Tonlagen nur zu gut vorstellen – erst neckend, weil sie doch ganz genau wusste, dass er nicht wusste, von welcher Neuigkeit sie sprach. Und sie würde es ihm auch nicht sagen. Aber wenn sie schon so geheimnisvoll tat, konnte es dabei nur um seine Schwester gehen, die es endlich geschafft hatte, sich mit ihrem langjährigen Partner Mike zu verloben. Kein Wunder, dass Diane plötzlich nicht mehr die Zeit hatte, ihm zu schreiben. ... Ob Diane wohl vor hatte, ihn selbst darüber in Kenntnis zu setzen? Wann würde sie überhaupt heiraten ...? Wäre er erwünscht? Immerhin war Diane eine der engstirnigsten Verfechterinnen des "Ray bleibt in der Nördlichen"-Abkommens. Auch wenn sie dafür wohl eine Ausnahme machen konnte. Nicht, dass es eine Rolle spielen würde - er würde die Kirche sowieso nicht betreten.

Er las noch einmal über die geschriebenen Zeilen. … Warum kannte seine Mutter ihn nur so gut? Gaben Kylie und Diane vor ihr etwa damit an, dass sie ihm nicht schrieben? Zuzutrauen wäre es ihnen.

Und ... woher wusste Kylie, dass er drei Fächer belegte? ... Er zog die Stirn kraus. Das war doch sein Geheimnis ...

Misstrauisch tippte er die Antwort. „Nein. Aber Diane wird es mir schon noch mitteilen“, schrieb er zum einen, dann fuhr er fort: „Wenn ich mich immer auf dich verlassen würde, wäre ich schon seit dreißig Jahren tot“, fügte er hinzu, wobei er einen zwinkernden Emoticon hinzufügte. Dann stoppte er kurz. Wie sollte er das nächste formulieren? „Woher weiß sie das schon wieder? Ich habe euch doch gesagt, dass ich nur Medizin studiere … Oder war es Politik? Hab ich mich irgendwann verraten?“, wollte er wissen. Er hoffte, man bemerkte, dass er ungehalten war. Und wenn nicht war es ihm auch egal. Zu den Prüfungen schrieb er nichts.

Vermutlich war ihre Mittagspause sowieso gleich wieder vorbei – dann würde er bis heute Abend auch keine Antwort mehr erhalten.

Aber er war sehr froh darüber, dass sie ihm wieder schrieb. Es war also alles in Ordnung – alles war sogar besser geworden. Sie verdiente jetzt mehr Geld. Bedeutete das, dass sie ihre Lehre schon abgeschlossen hatte? Oder hatte sie eine zusätzliche Prüfung gehabt? Diese Umstände waren wohl per Telefonat einfacher zu klären. Er würde sie demnächst anrufen. Wenn er es nicht vergaß.

Noch einmal schaute er die einzelnen Gesichter, die an ihm vorbei zogen genauer an. Und dann erhob er sich. Scheinbar kam sie auch heute nicht. … Hoffentlich würde sie morgen wieder herkommen.
 


 

Das Telefon klingelte.

So schnell wie jetzt hatte er dieses Teil vermutlich noch nie abgenommen.

John meldete sich sofort.

„John Kingston, grüß Gott!“, rief er durchs Telefon. Es mussten die Ärzte sein. Sie mussten es sein. Er hatte ihnen gesagt, sie sollten ihn anrufen, wenn Kyrie erwachte. Sie musste erwacht sein.

Sie durfte nicht noch schlafen!

„Krankenhaus Nördliche Hauptstadt, Elisabeth Priceton, guten Tag“, meldete sich eine Stimme. John glaubte, die sanftmütige Stimme der Informationsdame von gestern wieder zu erkennen. „Bin ich hier bei den Eltern von Kyrie Kingston angelangt?“

„Ja. Ich bin John Kingston, ihr Vater“, stellte er sich vor, „Ich bin es.“

„Ihre Tochter ist erwacht. Derzeit wird sie noch von Fachärzten untersucht, doch bis in etwa einer Stunde können Sie Ihre Tochter besuchen, falls die Ärzte keine Einwände erheben – aber im Moment sieht es gut aus. Herzlichen Glückwunsch.“ Die Frau klang ehrlich froh.

„Ja, ja!“, brüllte er aufgeregt, „Ja! Danke! Danke! Vielen, vielen Dank!“

„Auf Wiederhören“, verabschiedete sich die Frau und legte auf.

Er behielt den Hörer noch kurz am Ohr, um erleichtert aufzuatmen. Dann schmiss er ihn aufs Telefon. „Magdalena!“, rief er, „Magdalena!“

Ein leises „Ja?“ erklang aus dem Badezimmer.

„Kyrie ist erwacht! Kyrie ist wach!“ Er lächelte und ein Kampf, der seit gestern in ihm wütete, verschwand. Er fühlte sich erleichtert, losgelöst ... Er musste sie sehen! „Kyrie ist erwacht …“
 

Ein Arzt hatte sich vor John und Magdalena gestellt, als sie – nachdem sie von Elisabeth Priceton die Zimmernummer 20 im dritten Stock erfahren hatten – aus dem Lift gestiegen waren. Der Arzthelfer von gestern war bei ihm.

„Ihrer Tochter geht es entsprechend der Umstände gut“, sagte der Arzt, der durch seine Brille ziemlich vertrauenswürdig wirkte. Er hatte dünne, graue Haare, wobei er schon ziemlich eine Glatze aufwies. Er war bestimmt zehn Jahre älter als John, „Sie hat ein leichtes Trauma. Sie scheint nur Gedächtnislücken vom Tathergang aufzuweisen, ihre sonstige geistige Gesundheit ist erwiesen. Allerdings hat sie ziemliche Schmerzen.“ Er schaute sie streng an.

„Dürfen … dürfen wir sie besuchen?“, fragte Magdalena zögerlich, wobei sie sich an John klammerte.

„Ich denke, ein Besuch ihrer Eltern sollte nicht schaden – solange nicht eine ganze Horde von Leuten auf sie hereinströmt.“ Er machte eine kurze Pause. „Umarmungen sollten Sie allerdings sein lassen. Kingston Kyrie hat uns erlaubt, Ihnen über ihren Zustand mitzuteilen – die meisten Brüche sind gut operiert worden. Es werden wohl einige Therapien auf sie zukommen - vor allem wegen ihrem Arm. Das Studium wird sie für eine Weile beiseite schieben müssen“, prophezeite der Arzt ihnen, „Ihr linker Arm bereitet uns am meisten Sorgen – sie kann ihn nicht mehr spüren. Das liegt daran, dass bestimmte Teile darin durch den heftigen Sturz, an den sie sich laut eigener Aussage nicht erinnern kann, zerborsten sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass Therapien wirken, liegt bei ... drei Prozent."

Magdalenas Augen hatten sich geweitet. Sie wirkte zutiefst erschrocken.

Johns Herz hämmerte gegen seine Brust. Er fühlte sich leer. Unwohl. Ihm war schwindlig. Seine … seine arme, kleine Tochter …

„Muss sie im Krankenhaus bleiben?“

„Vier Tage zur Überwachung. Und dann dem Zustand entsprechend“, beantwortete der Arzt seine Frage, „Ist alles geklärt?“ Er klang geschäftsmäßig.

John überleget kurz – und nickte dann. Er wollte seine Tochter sehen.

Magdalena rührte sich nicht.

„Schönen Tag“, erklang es nacheinander von Arzt und Arzthelfer, ehe sie in den Aufzug einstiegen.

John sah seine Frau an. „Kyrie …“, murmelte er.

Sofort eilten sie zusammen zum Zimmer Nummer 20. Hier gab es kein Fenster. Es war also ein ganz normales Patientenzimmer.

Er atmete tief durch und klopfte daraufhin kurz an – dann öffnete er, ohne eine Antwort abzuwarten, die Tür und trat ein.

Die kleine Gestalt lag noch immer auf dem Bett und war stark verkabelt. Die Beatmungsmaske war verschwunden. Verschiedene Flüssigkeiten und Maschinen verursachten Hintergrundgeräusche, die John sofort ausblendete.

Magdalena und er traten langsam zum Bett. Langsam. Unsicher.

Ihre Augen waren geschlossen.

Ihm schien es, als hätten ihre Prellungen sich schon ein wenig zurückgezogen. Aber sie waren noch zu sehen – sie war so aufgeschwollen … so unförmig …

„Kyrie …“, flüsterte Magdalena – dann lehnte sie sich nach unten, um auf gleicher Höhe mit ihrer Tochter zu sein. Sie berührte ganz vorsichtig das Gesicht des Mädchens.

Diese öffnete plötzlich die Augen.

„Kyrie …!“, wisperte John, in der Hoffnung, eine Reaktion zu erhalten.

„Mama …“, ertönte die leise Stimme seiner Tochter. Sie klang angestrengt. „Papa …“

Sie wandte den Kopf langsam zu ihnen. Dann lächelte sie.

Und im selben Moment sammelten sich Tränen in ihren Augen. „Ich hatte solche … solche Angst …“ Sie hob einen verkabelten Arm – vermutlich ihren rechten – um ihre Mutter zu umarmen. Nach einigen Momenten schaute sie John an. Sie lächelte.

Er ging zu ihr.

Und sein Herz ging ihm auf. Er hätte beinahe vor Freude geweint.

Ihr ging es gut. Ihr ging es wirklich gut.

Seiner Tochter ging es gut!

Sie lebte.

Kyrie war lebendig! Ihr Zustand war zwar nicht wünschenswert, aber ... für den Moment erfüllt ihn trotzdem unendliche Erleichterung.

Gott Lob – danke sehr!

„Wie geht es dir?“, wollte John wissen, „Hast du viele Schmerzen?“

Magdalena hatte sich auf das Bett gesetzt, um ihrer Tochter über den Kopf streicheln zu können.

John holte sich schnell einen Stuhl, der im ansonsten leeren Vierbettzimmer herumstand.

Er setzte sich nah zu ihr.

„Es geht bereits …“ Sie lächelte ein wenig unsicher. „Sie lindern die Schmerzen und …“ Ihr Blick huschte kurz zu ihrem linken Arm. Doch sie sagte nichts.

„Darüber reden wir, wenn es dir besser geht, mein Liebling“, schlug John vor, „Du musst unbedingt zu Kräften kommen. Hast du schon etwas gegessen?“

Kyrie wirkte sehr erleichtert. Erleichtert darüber, nicht über diesen Vorfall, der dazu geführt hatte, reden zu müssen?

„Nein, noch nicht“, antwortete sie, „Aber sie haben gesagt, ich würde bald etwas bekommen …“

„Ich bin so froh, mein Schatz“, sagte Magdalena. Sie klang seit vorgestern Nacht zum ersten Mal wieder stark und sicher. Wie seine Frau es eben war.

„Ich auch … Langsam bekomme ich Hunger …“, nuschelte Kyrie.

„Soll ich dir etwas aus dem Automaten holen, der unten steht?“, bot John an, „Tee?“

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Nein, danke. Die Schwester bringt bestimmt etwas mit. Ich möchte nur, dass ihr noch kurz bei mir bleibt, okay?“ Sie klang wirklich glücklich.

Kyrie …

Er war so froh …

So unsagbar erleichtert …

Seine Tochter war wieder da.

Sie fühlte sich so fertig. Ausgelaugt. Als wären ihre Gliedmaßen einmal einzeln ausgerissen worden und im nächsten Moment wieder zusammengeflickt, nur dass jemand im nächsten Moment noch einmal daran reißen konnte. Aber zumindest schmerzte es nicht. Es zog nur.

Sie fühlte sich unwohl. Es war nicht so, wie es sein sollte. Alles war anders … alles …

Kyrie lag auf ihrem Bett. Kabel waren überall um sie herum. Sie wusste nicht genau, welcher wofür zuständig war, aber genau genommen, war das nicht von Bedeutung. Sie lag einfach da und starrte ins Leere. Auch ihre beiden Zimmergenossinnen, die beide in dieser Nacht eingeliefert worden waren, blieben still. Sie hatten sich noch nicht einmal vorgestellt. Sie glaubte, mitbekommen zu haben, dass die beiden Opfer eines Autounfalls geworden waren und deshalb hier lagen …

Autounfall … Wenn sie auch solch einen banalen Grund hätte angeben können …

Sie schloss die Augen erneut.

Amnesie hatten sie ihr diagnostiziert.

Wie sie sich wünschte, wirklich an einer solchen zu leiden. Einfach zu vergessen …

Die Krankenschwestern schauten stündlich nach ihr. Sie brachten ihr zweimal am Tag Essen. Immer wieder kam ein Arzt vorbei, der etwas über den Verlauf wissen wollte, etwas darüber, was geschehen war …

Aber sie schwieg. Schwieg eisern.

Was sollte sie ihnen auch sagen?

Sie wollte nicht lügen. Sie log nämlich nicht. Nicht einmal in diesem Fall wollte sie lügen – und was sie noch weniger wollte, war, dass diese Menschen von Engeln erfuhren. Noch weniger von gewalttätigen Engeln, die anderen Engeln Schmerz zufügten. Das würde ihren Gesamteindruck von Engeln ins Negative treiben – wenn nicht sogar zerstören. …

Auch ihren Eltern würde sie davon nichts berichten. Jedenfalls nicht die vollständige Version. Sie konnte es nicht zulassen, dass die Gesamtheit der Engel negativ besetzt wurde … nur wegen … wegen Xenon, Jeff, Drake und … Milli.

Diese vier … und andere ihrer Art – sie hoffte inbrünstig, ihnen nie mehr wieder zu begegnen. Sie hoffte, dass sie der Erde für immer fern blieben, wenn sie selbst dort verweilen würde …

Sie hatte nämlich eine Entscheidung getroffen, die so schmerzlich war, dass sie deshalb am liebsten in Tränen ausbrechen wollte … aber sie sah keinen anderen Weg. Keinen Weg, der nicht noch mehr Schmerzen nach sich ziehen würde …

Ihre Kehle schnürte sich zu, wenn sie daran dachte. An die Gesichter dieser Engel. Ein Schaudern durchfuhr sie, das sie beinahe frieren ließ. Wie konnten Engel nur so etwas tun? … Aber entsprechend gab es nur die eine Möglichkeit – eine Möglichkeit, die sie fast zum Weinen brachte, die aber zumindest diese Angst, die sie mit dem Gedanken an die Engel verband, ein wenig zurückdrängte: Sie würde den Himmel einfach nie mehr wieder betreten. Einfach … gar nicht mehr. Bis sie dann in fünfundzwanzig Jahren genau daran starb … Es wären einfach fünfundzwanzig Jahre, in denen sie ihr Leben auf der Erde lebte, in denen sie ihr Studium beendete, sich dann eine Arbeit verschaffte … und hoffte, dass sich niemand zu sehr an sie gewöhnen würde, da sie sowieso sterben würde … Es war aber das Beste so … Sie würde die nächsten Jahre einfach mit der Rehabilitation dieser Verletzungen verbringen, wie es jeder Mensch tat. Im Himmel wären all diese Verletzungen in kürzester Zeit verschwunden, einfach nicht mehr da … aber … lieber ertrug sie all diesen Schmerz für einige Tage, Wochen, Monate oder Jahre, als noch einmal Gefahr zu laufen, diesen Leuten zu begegnen … Dass sie sie wieder einfangen könnten … dass sie sie verletzten konnten … Und dass sie scheinbar einen Grund dafür hatten …

Sie hatte darüber nachgedacht, was Xenons Leute gesagt hatten. Sie hielten sie für einen Dämon … Es lag also nahe, dass sie sie für all das Böse auf der Welt beschuldigten. Dämonen konnten auch auf Halbengel leichter über greifen – und deshalb gab es auch Engel wie Nathan, die in etwa zwanzig Jahre opferten, um sich mit dem Halbengel zu beschäftigen … Ob darin ihr großes Problem lag?

Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es ein gezielter Angriff auf sie war. Dass es ihnen auch nichts ausgemacht hätte, sie wirklich zu töten. Nur der bloße Anstand der Engel, das Gute, das Engel von Natur aus in sich trugen, hatte sie davon wohl abgehalten. Denn überzeugt waren sie. Und wie sie überzeugt waren.

Kyrie hatte bereits ihrem Tod ins Auge gesehen. Durch die Methode, nie mehr in den Himmel zurückzukehren, erhielt sie wertvolle fünfundzwanzig Lebensjahre dazu.

Wenn sie den Himmel noch einmal betrat, würde sie schlichtweg hingerichtet werden.

Und das wollte sie nicht. Sie war noch zu jung zum Sterben. Und sie hatte noch so viel vor …

Eigentlich hatte sie auch im Himmel sehr viel vorgehabt. Dort hatte sie auch ihre Freunde. Diejenigen, denen sie etwas bedeutete. Die ihr etwas bedeuteten. Liana, Deliora, Thierry, Joshua … und vor allem Nathan … Oh, wie schmerzlich die Zeit ohne sie werden würde …

Aber sie würde es verkraften müssen … Immerhin würden die langlebigen Engel auch sehr lange Zeit ohne sie auskommen müssen … Wenn sie so schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war … würde es ihnen allen doch alles einfacher machen … oder etwa nicht?

Allein beim Gedanken daran wurde ihr Herz schwer wie Blei und sie konnte die Tränen nur schwer zurückhalten. Ihr Herz sehnte sich nach dem Himmel. Es sehnte sich danach, die Flügel auszubreiten und sich zu dem zu erheben, was sie wirklich war: ein Engel.

Aber … sie konnte doch nicht riskieren … All die Trainingseinheiten, all das Lernen … Es war ohnehin vorbei … Das Gelächter mit ihren Freunden …

Sie nahm die weiße Decke und zog sie sich über den Kopf.

Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie … sie hatte doch sowieso zu viel Angst, in den Himmel zurückzukehren. Sie wollte nicht sterben. Wollte – bei Gott! – nicht sterben.

Und wenn sie dadurch in Gottes Arme zurückkehren durfte … sie … sie wollte lieber die fünfundzwanzig Jahre lang warten … und dann …

Sie hatte doch noch so viel vor … Und dieses Zittern plagte sie weiterhin.
 


 

Gestern war sie nicht aufgetaucht. Vorgestern war sie nicht aufgetaucht. Vor drei Tagen war sie nicht aufgetaucht … und vor vier Tagen hatte er sie scheinbar verärgert.

Ray stand vor der leeren Mauer, auf der sonst immer diese zierliche Gestalt gesessen und mit ihm geplaudert hatte. Er musste wohl sehr verloren wirken, wie er diesen leeren Platz begutachtete, die Schultern hängen ließ und vermutlich eine ziemliche Grimasse zog.

Aber er hielt es einfach nicht mehr aus.

Sie war wieder nicht da.

Er hatte sich extra Zeit gelassen, um vom der Universität hierher zu kommen. Aber Kyrie war noch immer nicht da.

Wo steckte sie nur …? Weshalb … weshalb wollte sie ihn nicht mehr sehen?

Er starrte den Platz an.

Irgendwie deprimierte es ihn, diesen so leeren Ort anzustarren. Trotz all der Menschen um ihn herum fühlte er sich schlichtweg einsam. Verlassen. Alleine gelassen.

Dabei … dabei hatte er doch immer nur mit ihr gesprochen.

Wie er auch mit Ted sprach. Oder mit Mark – oder mit Ken und wie sie alle heißen mochten! Er schrieb mit Kylie. Sogar Diane hatte sich wieder gemeldet. Vermutlich war er der letzte Mensch, der sich irgendwie einsam zu fühlen brauchte! Und dennoch … wenn er diese Mauer sah …

Ray wandte sich ab. Er hielt es einfach nicht aus.

Was sollte er tun? Wie sollte er herausfinden, was er ihr getan hatte? Sollte er sich in eine Theologievorlesung setzen und die anderen Leute darüber ausfragen, wo Kyrie sei? Würden sie das überhaupt wissen? Vielleicht hatten sie es mitbekommen, ob sie den Kurs gewechselt hatte?

Wo fand Theologie überhaupt statt? Vielleicht sollte er sich gleich beim Sekretariat melden? Die hatten bestimmt Informationen über sie!

… Aber … aber war das nicht etwas übertrieben? Würde sie ihn nicht für verrückt erklären? Und dann erst recht nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen …? Vielleicht basierte all das nur auf einem Missverständnis – und durch solch übertriebene Aktionen würde er alles einfach zerstören …! Immerhin … immerhin waren sie nur Mauer-Freunde … Vorname, Nachname, Studium und ein wenig aus dem Leben … Das war alles, was sie voneinander wussten. Sie verstanden sich wirklich gut, ja, er genoss die Zeit mit ihr, ja – aber … aber mehr war da nicht. War das also wirklich ein Grund, gleich so aufzudrehen?

Ehe er es bemerkt hatte, hatte er sich in Bewegung gesetzt.

Richtung Villastraße. Zu ihm nach Hause.

Während er so sinniert hatte, war nämlich in seinem Hinterkopf ein kleines Bild aufgetaucht. Das Bild eines kleinen, schwarzen Buches, welches unter dem Haustelefon bei seinem Vater lag. Kingston Kyrie. Kingston musste doch im Telefonbuch eingetragen sein!

Und ehe er sich versah, rannte er.
 

Als er bei sich angekommen war, glaubte er, den Streckenrekord gebrochen zu haben – entsprechend schwer atmete er jedenfalls. Aber es war es wert. Er durchquerte den Garten im Laufschritt, öffnete die Tür – und stieß mit Kim zusammen, welche sich wohl gerade aufbruchsbereit gemacht hatte.

„Oh, Ray“, begrüßte sie ihn überrascht, „Bist du heute schon zuhause?“ Sie lächelte. „In letzter Zeit habe ich dich ja gar nie gesehen! Wie geht es …“

Er unterbrach sie: „Spar dir das“, wies er sie sachlich an, drängte sich an ihr vorbei und hoffte, dass seine defensive Haltung ihr verdeutlichte, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte. Er ging durch die Eingangshalle und schnurstracks zum Telefonkasten, auf welchem das neumodische Festnetztelefon in seinem glänzenden Schwarz thronte.

Er hatte es noch nie benutzt, da er immer sein Handy zum Telefonieren verwendet hatte. Aber er war auch nicht hier, um zu telefonieren. Er duckte sich, um nach dem schwarzen Buch zu suchen.

„Ray?“, sagte Kim unsicher, „Suchst du nach etwas?“

Er antwortete nicht, sondern tastete zielstrebig und schweigend weiter. Es war dunkel. Er konnte nichts sehen und fühlte nur Papier! Sollte da nicht ein Telefonbuch liegen?

„Lass dir doch bitte helfen … Und wenn du jetzt gleich in die Küche gehst – das Essen wäre noch warm …“ Sie klang leicht unsicher, irgendwie traurig und dennoch völlig hilfsbereit.

Doch er ging nicht darauf ein. „Ich komme klar“, behauptete er und ging mit dem Kopf tiefer in den Kasten hinein – doch es war dunkel. Einfach dunkel! Dunkles Holz, ein dunkler Raum und alles randvoll mit Büchern, Papier und Blättern! Und davon die Hälfte schwarz. Warum musste die Nördliche Hauptstadt auch schwarze Telefonbücher haben!?

„Ray …“, sagte sie.

Er unterbrach sie barsch: „Ich …“ Eigentlich wollte er sich umdrehen, um ihr einen unbegeisterten Blick zuzuwerfen, der sie ein für alle Male vertrieb – doch er verschätzte sich und krachte mit dem Kopf gegen die obere Schrankkante. „Au!“, entfuhr es ihm; er zog sich sofort ein wenig zurück und rieb sich die Stelle, an der er angestoßen war. Sie brannte. Es war kein Blut zu fühlen, dafür war es natürlich nicht stark genug, doch es schmerzte dennoch … Als hätte ihm einer eines übergebraten …

„Ray!“, rief sie alarmiert und bückte sich sofort zu ihm herunter, um ihn an der Schulter zu halten, „Alles in Ordnung? Hast du dich verletzt?“, fragte sie und schaute ihn stirnrunzelnd und besorgt an. Besorgnis war auch aus ihrer Stimme zu hören. Tiefe Besorgnis.

„Alles in Ordnung“, murrte er. Das musste auch genau jetzt passieren.

„Das ist gut …“, sagte sie daraufhin merklich erleichtert. Dann lächelte sie ihm freundlich zu. „Hast du etwas Bestimmtes gesucht? Vielleicht kann ich dir helfen.“

„Das Telefonbuch“, gab er nach, „Wo ist es?“

Ihre Augen weiteten sich. „Oh, nein! Das habe ich ja noch in der Küche liegen!“ Sie lächelte entschuldigend. Noch ehe Ray hätte reagieren können, sprang Kim auf und verschwand in der Küche.

Er nutzte die Zeit, um sich zu erheben und die Arme zu verschränken. Defensive Haltung.

Und sein Kopf pochte noch immer herum. Langsam konnte der sich auch wieder beruhigen!

Kim kehrte glücklich zurück, das dicke, schwarze Buch, in dem alle Festnetznummern der gesamten Stadt zu finden waren, in ihren Händen.

„Ich habe vorhin die Nummer vom Friseur gesucht“, erklärte sie unnötigerweise, „Suchst du jemand Bestimmten?“, fragte sie neugierig, während sie ihm das Buch aushändigte, „Brauchst du einen Arzt? Einen Friseur? Ich kenne einen guten Zahnarzt …“

Er unterbrach sie, als er das Buch fest in den Händen hielt. „Danke sehr“, sagte er vorweg, „Und nein, ich brauche keinen Arzt.“

Sofort schlug er es bei K auf.

Da bemerkte er, dass das Buch nach den verschiedenen Stadtteilen und dort erst nach Nachnamen geordnet war. Er starrte die Ks dieses Stadtteils an. Norden. Süden. Westen. Osten.

Wo lebte sie nur? Warum wusste er das nicht? Und warum nahm er es sich heraus, so verzweifelt nach jemandem zu suchen, von wem er kaum etwas wusste? Aber es war doch Kyrie … Er musste wissen, was mit ihr los war!

„Wen suchst du dann? Vielleicht kann ich dir weiter helfen?“, schlug Kim freundlich vor. Und geduldig. Wie konnte diese Frau nur so viel Geduld aufweisen? Jede andere hätte ihm derweil den Schädel zertrümmert, weil der Kasten nicht sein Übriges getan hatte!

„Ich glaube nicht, dass du sie kennst“, lehnte er lässig ab, wobei er die Ks überflog. Kaniston, Kazerton, Kebiston …

„Sie?“, wiederholte Kim überrascht, „Hast du jemand Bestimmtes getroffen?“

Verplappert. Frauen wurden bei diesem Thema doch immer so unerträglich neugierig! Als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt!

„Sie studiert an der Uni, aber sie kommt schon seit einigen Ta … Wochen nicht mehr. Ich wurde beauftragt, ihr den versäumten Stoff nachzubringen, aber ich habe ihre Nummer nicht. Sie ist die Außenseiterin.“ Er würde sich bei Kyrie für diese Lüge entschuldigen müssen. Wieso sagte er nicht die Wahrheit? Es war doch nichts dabei, sie als Mauer-Freundin zu bezeichnen! Na gut – vielleicht … Egal. Geschehen war geschehen. … Seine Verwirrung war bestimmt die Schuld dieses Kastens! Verfluchter Kasten!

Kim lächelte wissend. So wissend, dass ihm klar wurde, dass sie die Lüge locker durchschaut hatte. Aber sie sagte nichts.

„Wie heißt sie denn?“, fragte Kim freundlich nach.

„Kingston“, sagte er mürrisch, „Kyrie Kingston. Ich habe keine Ahnung, wie ihre Eltern heißen.“

„Kingston …“, wiederholte sie lang gezogen, „Kingston … Hast du noch einen Anhaltspunkt? Irgendetwas sagt mir der Name, aber …“ Sie stockte und schien stark nachzudenken.

„Kyrie studiert Theologie, ihre Eltern fahren einen schwarzen Wagen, sie sind ziemlich religiös …“

Kim unterbrach ihn plötzlich: „Kingston!“, rief sie kopfschüttelnd aus. „Natürlich! John Kingston! Wie konnte ich das jetzt nur vergessen?“ Dann lächelte sie kurz. „Wie der Pfarrer und Vorleser bei den meisten Messen!“ Ihr Lächeln verschwand. „Am Mittwoch war er gar nicht da … Der Ersatzpfarrer hat gesagt, er wäre aufgrund von interfamiliären Problemen verhindert …“ Ihre Stimme klang mitfühlend.

… Interfamiliäre Probleme …? Was … was konnte das bei einem so gläubigen Mann bedeuten!?

„Er lebt im Westen. Dein Vater weiß viel mehr über ihn, die beiden pflegen engen Kontakt …“, fügte sie hinzu, „Oh, Ray, ich hoffe, dass alles in Ordnung ist …“

„Ich auch“, sagte er tonlos und blätterte vom Nordteil in den Westteil. Kingston. Dreimal. Kingston Adam. Kingston John. Kingston Theo.

John. John Kingston.

Wenn Kims Angaben richtig waren …!

„John mit Magdalena“, las Kim vor, welche plötzlich über seine Schulter schaute, „Ja, das ist er ganz bestimmt.“ Dann schaute sie ihn kurz verwirrt an. „Aber was hast du denn mit der Tochter eines Pfarrers zu tun? Du glaubst doch nicht …“

„Musst du nicht los?“, fragte Ray ungehalten, auch wenn er tief im Herzen Dankbarkeit für ihre Hilfe verspürte. Und Schock. Interfamiliäre Probleme … Was konnte das bedeuten?

„Oh, nein!“, rief Kim schockiert aus, „Bitte sag mir auf alle Fälle Bescheid, was los ist! John ist einfach ein zu guter Mann!“ Dann umarmte sie ihn kurz, was Ray frösteln ließ. „Ich hoffe, es ist alles in Ordnung mit Kyrie …“

Und dann war sie weg.

Ray stand noch eine Weile da. Mit dem geöffneten Telefonbuch.

Er würde anrufen.

Und er würde wissen wollen, was geschehen war …
 

John zog sich seine Jacke über. Auch wenn man diese Zeit noch Sommer nannte, so war es doch kalt. Magdalena saß bereits im Auto. Die Sorge auf ihrem Gesicht war noch immer vorhanden, doch sie wirkte wieder so viel glücklicher. Kyrie musste nur noch bis zum Morgen des übernächsten Tages dort ausharren und dann konnte sie nach Hause, um sich dort auszukurieren. Und dann würden sie über die Weiterbehandlung mit ihr sprechen … und … und darüber, was geschehen war …

Er hoffte, dass die Polizei sich heraushalten würde, bis Kyrie mit der Geschichte fertig geworden war … Engelsfedern waren gefunden worden … Aber – es konnte doch nicht wirklich etwas mit dem Himmel zu tun haben, oder? Zumindest er wusste, dass es Engelsfedern waren. Die Polizei beschrieb Schwanenfedern.

Er holte den Auto- und den Haustürschlüssel und ging zur Tür.

Plötzlich klingelte das Telefon.

Im ersten Moment schockierte es ihn völlig. Ein totaler Schock – Ärzte? Krankenhaus? Polizei? Wer? Wer konnte es sein?

Nachdem er sich vom kurzen Schock erholt hatte, machte er sofort kehrt, um zum Telefon, welches in der Küche platziert war, zu hasten.

Doch – wie sooft – war er zu langsam.

„Ha- Hallo?“, sprach die Freisprechanlage, welche nach dem Anrufbeantworter freigeschalten wurde. Wem gehörte diese Stimme? Er kannte die Person nicht. „Oh … Sie sind also nicht da …“, stellte die Stimme fest, „Nun – ich – ich hoffe, dass alles in Ordnung? Bin ich hier bei Kingston John? John, Magdalena – und Kyrie?“ Einer von Kyries Freunden? John wollte gerade rangehen, als der unsicher klingende, junge Mann weiter sprach. „Ich bin Ray. Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie zurückrufen würden … Ich – nun … Ich hoffe, dass Kyrie bald wieder kommt. … Und … bitte – sagen Sie ihr, dass es mir leid tut, was ich getan habe – ich … ich wollte sie nicht …“ Er zögerte. „ … verletzen … Dankeschön. Bis bald … hoffe ich …“ Dann legte er auf.

Und John starrte den Apparat an.

… Ver … verletzen?! Hatte er sie etwa …?

Ray. Ray war doch dieser Junge von der Mauer! Dieser … dieser Ray hatte sie also …? Wieso sagte sie dann aber nichts? Litt sie wirklich unter Amnesie? Hatte dieser Ray auch etwas mit Engeln zu tun …?

John war verwirrt. Sehr verwirrt.

Hoffentlich würde Kyrie darüber reden wollen.

Nur für den Fall, dass dieser Ray noch einmal versuchen würde, auf diese Weise wieder an seine Tochter heranzukommen, steckte er den Stecker des Telefons aus, um damit jeglichen Kontakt zu vermeiden.

Dann eilte er zum Auto und fuhr los, um seine Tochter zu besuchen.

Von diesem Anruf würde sie aber nichts erfahren … Sie sollte von sich aus sprechen wollen – ohne Einfluss.
 

Ray saß auf seinem Bett. Sein Handy hatte er noch immer in der Hand. Er schaute auf das Display. Die Nummer hatte er sich vorsichtshalber eingespeichert. Kingston hatte er sie genannt. Hoffentlich würden sie zurückrufen …

Was, wenn Kyrie etwas passiert war? Was, wenn er sie lange Zeit nicht mehr sehen würde? Wenn sie schwer krank war? Einen Unfall hatte?

… Und er hatte an ihre Boshaftigkeit geglaubt! Wie konnte er nur …?

Weshalb er sich dennoch entschuldigt hatte … keine Ahnung … Vermutlich genau deswegen. Weil er ihr die Schuld an der Sache gegeben hatte. Hätte er den Satz lieber weglassen sollen? Es ihr persönlich sagen sollen? Aber … was, wenn es kein „persönlich“ mehr gab? Wenn … wenn ihr etwas sehr, sehr Schreckliches zugestoßen wäre? Etwas, woran er um jeden Preis nicht denken wollte?

Nein. Nein – das konnte nicht sein.

Er würde einfach weiter warten.

Auf der Mauer. Mit dem Handy.

Sie würde zu ihm zurückkehren.

Er war sich sicher.

„Heute Nacht ist schon wieder ein Halbengel geboren“, verkündete Avaritia, dann lächelte sie, „Ich will ihn haben!“ Ihre kurzen, braunen Haare hatte sie sich heute besonders schön stecken lassen. Ira konnte darin keinen Sinn sehen – immerhin gab es heute keinen besonderen Anlass.

„Das heißt dann wohl … Überstunden“, beschwerte sich Acedia, welche heute zufälligerweise nur eine halbe Stunde zu spät gekommen war. Sie trug ihre roten Haare zur Abwechslung einmal offen. Dazu passend glänzten ihre Lippen in einem feurigen Rot, welcher ihr Grinsen unterstützte.

„Luxuria nimmt sich aber wirklich schon ziemlich lange frei“, brachte Invidia, welche ihr schön geschnittenes, silbernes Haar wie immer offen und gleichmäßig trug, plötzlich ein, „Langsam sollte sie zurückkehren. Wenn eine Todsünde keine Zeit hat, sind wir sogar nur noch fünf, wenn sie nicht langsam kommt. Und wir alle wissen, dass unsere Kraft bei fünf bereits an der Kippe ist.“ Sie schaute bedeutungsvoll in die Menge.

Superbia schien nicht beeindruckt. Gula trug keinerlei Emotionen zur Schau. Avaritia schaute von einem Ende zum anderen. Acedias Rücken versteifte sich und ihre Nase überragte die aller anderen.

Ira schloss sich Gula damit an, keine Regung zu zeigen.

Acedia hatte es geschafft, Gula für sich zu gewinnen. Ira war schon von Anfang an auf ihrer Seite gestanden. Er kannte Luxuria. Sie würde nicht so lange, so einfach, so plötzlich verschwinden. Es war nicht ihre Art – und egal was geschah, egal was Acedia ihr an den Kopf warf – die Frau besaß Durchhaltevermögen. Das Durchhaltevermögen, das man für diese Art von Arbeit brauchte. Weil sie so ehrgeizig war, hatte sie es überhaupt auf diesen Platz geschafft.

Anders als Acedia, der alles von Anfang an zugeflogen war. Diese Stärke … von ihnen Dreien war Acedia einfach schon immer die Stärkste gewesen.

Und weder er noch Luxuria hätten sich je gedacht, dass sie sich irgendwann als Todsünden gegenüber sitzen würden.

Sie waren schon lange Freunde. Ewig würden einige wohl dazu sagen. Sie waren gemeinsam alle beiden Zyklen durchgegangen. Gemeinsam hatten sie ihre Ausbildung abgelegt und gleichzeitig waren sie zu Todsünden ernannt worden. Nur die Zeit, in der sie ihre Assistenz angetreten hatten, war unterschiedlich.

Langsam sollte Ira sich ebenfalls für einen Assistenten entscheiden.

Superbia besaß bereits seinen zweiten. Aber dieser Engel war auch übernatürlich alt. Und übernatürlich lange eine Todsünde. Invidia und Avaritia besaßen ebenfalls Assistenten, auch wenn Avaritias derzeit nicht hier war. Acedia natürlich auch. Gula und er hatten sich noch keinen angeschafft – und auch Luxuria hatte keinen besessen. Es war noch immer offen, was sie tun würden, falls Luxuria sehr lange nicht zurückkehren würde. Vermutlich müsste einer von ihnen einen zweiten Assistenten anheuern, der dann ausgebildet wurde. Aber noch war Zeit.

Superbia, Invidia und Avaritia weigerten sich, Luxuria für Verschollen zu erklären, was nach sich zog, dass kein Ersatz für sie gesucht wurde. Aber … das war gut so. Das Finden eines Ersatzes musste vor der Großen Engelsversammlung ausgerufen werden. Das Verschwinden einer Todsünde würde Panik in den Reihen der Engel auslösen.

Ira war einerseits erleichtert darüber, dass sie sich weigerten. Es musste in den Reihen der Todsünden immer eine Mehrheit herrschen. Drei zu drei war Gleichstand.

Wenn sie nämlich zugaben, dass etwas mit Luxuria geschehen war … dann müssten sie herausfinden, was. Und das würde dazu führen, dass etwas passiert war. Etwas, woran keiner denken mochte. Etwas, was keiner wahr haben mochte. Etwas, was nicht sein durfte. Luxuria war noch viel zu jung, um einfach so zu sterben. Sie war zu verantwortungsvoll, um einfach so zu verschwinden. Was also war passiert? Warum verschwand ein Engel ihrer Stärke?

„Du übertreibst“, behauptete Avaritia dann – scheinbar bereute sie es, den Punkt auf der Tagesordnung angesprochen zu haben, „Fünf ist noch immer im Plusbereich. Ich würde sagen … ab vier darf man sich Sorgen machen.“

„Und bei Drei ist es zu spät“, setzte Acedia sofort nach, „Versteht ihr denn nicht, dass ich Luxuria kenne wie mein eigenes Haar? Ich kann ihre Art absolut nicht leiden, aber ich kann euch sagen, dass genau das ein Aspekt ist, den sie nicht leiden kann: Sie hasst Zuspätkommen!“, setzte sie nach, „Handelt!“

Ira nickte beiläufig. Genauso hatten alle anderen der letzten Konferenz-Streits begonnen. Nie hatte einer der anderen nachgegeben. Gula hatte sich Acedia wohl in ihrer Freizeit vorgenommen, was dann zu einem – theoretisch – erfreulichen Ergebnis geführt hatte.

Diese Diskussion würde genau so lange andauern, bis Sin sich zu ihnen gesellte, sie mit einem teils kühlem, teils tadelndem Blick auf den Boden der Tatsachen zurückholte und sie anwies, den Halbengel zu besuchen. Ira hoffte, dass die Halbengeleltern ablehnen würden. Sie litten so schon an Assistentenarmut – da mussten sie nicht noch einen draufsetzen. Dass Acedia ihren Assistenten wieder hatte, war bereits sehr hilfreich, um unwichtigere Aufgaben abzugeben. Avaritias Assistent fehlte hier.

Aber glücklicherweise waren jene Eltern, die ihren Kindern die Entscheidung überließen, sehr selten – egal, was das für die Todsünden bedeutete, egal, was sie dann mit den Kindern machen mussten ... Auf ein Kind warteten sie derzeit nur. Und Ira hatte nicht das Bedürfnis, ein weiteres zu finden – Halbengel waren nicht überlebenswichtig, sie waren nur … ein Trost. ein Trost, der aber auch im Weg war. Denn dann müsste er zwangsläufig einen Assistenten auswählen – aber er konnte sich einfach nicht entscheiden. Er wollte jemanden für sich finden, der Führungsqualitäten durch Stärke ergänzte. Aber die derzeitig stärksten Engel waren allesamt sehr viel schwächer als die Assistenten, die es gab. Es war seltsam … Als würde …

Ira konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Sin erschien plötzlich auf seinem Thron und schaute sie an. Sin … Immer wenn er ihn ansah, dämmerte etwas in Ira. Etwas regte sich in seinem Kopf, pochte stark gegen ihn – und verhinderte, dass er sich an etwas erinnerte. Er wusste, dass er sich auch nicht daran erinnern durfte. Es war Wissen, das er geheim zu halten hatte, weshalb es auch vor ihm geheim gehalten wurde. Eine Blockade. Warum hatte er eine Blockade in seinem Kopf? Und was hatte Sin damit zu tun?

Noch dazu schaute dieser in letzter Zeit sehr besorgt drein. Und er sagte sogar noch weniger als sonst. Für den Fall Luxuria hatte er keine Worte übrig. Wenn Ira es nicht besser gewusst hätte, hätte er vermutet, dass er krank war.

Doch kein Engel konnte erkranken. Und schon gar nicht der Stärkste unter ihnen.

Wenn sie ihn nach Gottes Kampf fragten, so beantwortete er ihnen diese Fragen mit einem leichten Kopfschütteln, doch nicht mehr. Und immer wenn sie diese Fragen stellten, so pochte diese Blockade in Ira, als würde er sich sofort in den Kampf stürzen müssen.

Doch er tat es nicht. Konnte es nicht. Engel waren keine Kämpfer. Engel waren Träger des Friedens und der Liebe Gottes.

Und auch dieses Mal kamen sie zu keinem Ergebnis, ehe sie aufbrachen, um die Halbengeleltern in ihr Schicksal einzuweihen – und wie Ira es vorausgesagt hatte, lehnten sie angstvoll ab.

Und so wurde der Schicksalsfaden eines weiteren Kindes abgeschnitten.
 

Nathan brachte das Büro auf Hochtouren – er hatte den ganzen Tag über sämtliche Bücher geordnet, sämtliche Stifte genauestens platziert und er hatte sogar bequemere Sitzgelegenheiten in Auftrag gegeben, da er keine Lust hatte, so viel anstrengende Arbeit – noch dazu nicht einmal für sich selbst! – alleine zu machen. Die Sitzgelegenheiten wären natürlich schon hauptsächlich für ihn, aber wenn Acedia doch einmal Besuch von anderen Todsünden bekommen sollte, so wollte Nathan nicht, dass es unordentlich wirkte – auch wenn es auf ihren Ruf passen würde. Aber nachdem Acedias Ruf sowieso nicht der beste war, wollte er ihn nicht noch unnötig hinabziehen.

Während er sich also zu den siebten Rängen aufgemacht hatte, wo er natürlich total zufällig auf Deliora getroffen war und mit ihr ziemlich viel Zeit vertrödelt hatte, hatte er auch aufgeschnappt, dass sich die Fälle der Verschwindenden häuften. Natürlich sagte den ganzen unteren Rängen das alles gar nichts. Sie bekamen auch den Klatsch der oberen nicht mit. Der siebte Rang würde nie erfahren, dass im sechsten bereits innerhalb von hundert Jahren zehn junge Leute einfach verschwunden waren. Im vierten waren es fünf. Und im dritten eine. Und Sins Verschwinden würde Nathan nicht mitbekommen – aber da würde die Massenpanik komplett sein … auch wenn Nathan bezweifelte, dass Sin je verschwinden würde. Sin war einfach ewig. Gut – er hatte auch angezweifelt, dass eine Todsünde einfach so abhauen würde.

Anfangs hatte sich Nathan nur damit beschäftigt, welche Engel in letzter Zeit, also in den letzten zwanzig bis fünfzig Jahren verschwunden waren. Das waren dann nicht ganz so viele. Eben nur knapp die Hälfte. Also eine „normale“ Zahl. Aber wenn man sich dann mit hundert Jahren beschäftigte, waren es doch auffällig viele – starke Engel hatten für gewöhnlich starkes Pflichtbewusstsein.

Vor allem von den direkten Nachfolgern der Verschwundenen hatte er viel erfahren: diese Engel hatten zumeist keine eigenen Assistenten. Sie waren stark, einflussreich. Und sie waren sehr gewissenhaft.

Er würde das Ganze weiter zurückverfolgen. Dann würde er vermutlich auch darauf stoßen, dass es bereits seit Anbeginn der Zeit so war, dass Engel eine Art Stress erlebten und sich einfach irgendwo absetzten – egal wie zuverlässig sie sonst waren.

Genau darauf würde es hinauslaufen. Hoffte er jedenfalls.

Und wenn er gerade nicht dabei war, Gerüchte aufzuschnappen, das Büro aufzuräumen oder neue Einrichtungsgegenstände zu bestellen, besah er sich klammheimlich der Akten, die Acedia so herumliegen hatte. Einige enthielten Daten, wann die Todsünden immer losgeschickt worden waren, um Halbengel zu suchen – und auch die seltenen Fälle, in denen sie welche gefunden hatten. Halbengel … Er vermisste seinen Halbengel.

Ob Kyrie wohl gut durch die Prüfungen kam?

Sein Gefühl sagte ihm, er solle sie endlich besuchen. Ihr sagen, dass alle sie vermissten, dass sie sich mit den Prüfungen beeilen sollte … Aber sie war so ein nervöses Bündel! Damit würde er ihrer Seele wohl den Rest geben. Er musste sich einfach gedulden.

Nach den Prüfungen würde sie vermutlich die komplette Zeit im Himmel zubringen, weil er so viel Abwechslung bot. Na ja, zumindest ihre 24 Stündchen, die sie hatte … Vierundzwanzig Stunden! Früher hätte er sich in denen keine drei Flügelschläge bewegt! Und heute … heute erkannte er plötzlich den Wert der kürzesten Zeit an. Wenn sich plötzlich in so kleinen Maßstäben bewegen musste, änderte sich das Weltbild einfach.

Er ordnete die letzten Blätter und stellte sich dann an die Tür, um sein Meisterwerk zu begutachten. Perfekt! Endlich sah das Büro wieder geräumig und bewohnbar aus!
 

Ray hatte seine Lerneinheit beendet. Es war schon kurz nach halb sechs. Zeit zu gehen. Er hatte Kim immerhin nichts zu sagen. Die Kingstons hatten nicht zurückgerufen. Der Anrufbeantworter hatte nichts verlauten lassen. Und noch einmal anzurufen, war ihm unangenehm, da es wohl aufdringlich wirken musste. Das sollte doch auch Kim verstehen, oder?

Aber … trotzdem hatte er das Bedürfnis, ihr mitzuteilen, dass es nicht funktioniert hatte. Dass er sie nicht erreicht hatte – dass er ihr für ihre Hilfe danken wollte.

Nein.

Nein – er durfte ihr nicht danken. Sie war immerhin … Sie war die Freundin seines Vaters. Sein Ersatz für seine Mutter, die wegen ihm ans Bett gefesselt war! Sie liebte den Mann, der für das Leid verantwortlich war … Und er liebte sie. Wegen ihr wollte sein Vater nicht zu seiner Mutter zurückkehren.

Die alte Gleichgültigkeit Kim gegenüber loderte in ihm auf.

Und wurde sogleich von der Dankbarkeit für ihre Hilfsbereitschaft unterdrückt.

Sollte er ihr wirklich eine Chance geben? Weil sie ihm weitergeholfen hatte?

Er hatte danach noch einmal ins Telefonbuch geschaut. In der kompletten Nördlichen Hauptstadt lebten an die hundert Kingstons. Ohne Kim hätte er nicht einmal mehr gewusst, dass Kyries Vater John hieß. Er hätte sich vermutlich tot telefoniert.

Hundert … Bei dieser Einwohnerzahl! Wie groß war ihre Familie bitte?

Na gut – es gab auch sehr viele Sonicsons in der Nördlichen Hauptstadt. Viele davon waren längst vergessene Onkels und Tanten, die Ray nicht kannte. Er wollte mit der Familie seines Vaters einfach nichts zu tun haben.

Plötzlich vibrierte sein Handy.

Aus Reflex drückte er auf die grüne Taste, um den Anruf entgegen zu nehmen und presste sich das Handy ans Ohr, „Sonicson Ray hier!“, stellte er sich übereifrig vor, „Geht es dir …“

Erst jetzt realisierte er, dass gar nichts auf der anderen Seite zu hören war.

Er entfernte das Handy ein Stück von seinem Ohr.

Nur eine Textnachricht.

Er öffnete diese. Sie war von Kylie.

„Ich wollte dir nur sagen, dass deine Mutter wieder super fit ist! Sie darf sogar wieder in die Sonne. Zurzeit ist es nämlich gar nicht so kalt. Bei euch wird es vermutlich total heiß sein, was? Oh! Fast vergessen: Mit dir schreibt der erstplatzierte Lehrling des Dorfes! Ich habe die beste Prüfung abgelegt – mach mir das mal nach, Student!“

Er lächelte über die amüsierende Art seiner Freundin. Kylie war einfach jemand, der einem von jedem Problem ablenken konnte, aber …

„Das ist sehr schön. Richte ihr liebe Grüße von mir aus“, antwortete er schlichtweg. Es war aber sein purer Ernst: Seine Mutter sollte wissen, dass er jeden Tag im Gedanken bei ihr war. Auch wenn er sie nicht anrufen durfte. Sie nicht besuchen durfte. Aber diese Regelungen hatte sie selbst festgelegt … Sie kannte ihn einfach zu gut. Sie wusste, dass er sich alsbald wieder ins Rote Dorf absetzen würde, wenn er ihre Stimme hörte … ihre leise, sanfte Stimme …

„Herzlichen Glückwunsch!“, antwortete er danach, „Aber dich überhole ich im Schlaf.“ Er ahnte, dass daraufhin „Aber nur im Traum“ folgen würde, welches dann auch kam.

Er erhob sich daraufhin und schlenderte nach unten. Es war immerhin noch vor achtzehn Uhr. Sein Vater war noch nicht zurück. Er würde ihn also passend vermeiden.

Im Gehen tippte er noch eine letzte Antwort an Kylie und rief danach Marc an, um herauszufinden, ob dieser an diesem Abend Zeit hatte.

Und während er auf seine Mitfahrgelegenheit wartete, hoffte er inbrünstig, dass alles mit Kyrie in Ordnung war. Er würde sein Handy nicht aus der Hand geben. Sie musste doch zurückrufen, oder? … Sie … sie könnte ihm doch erklären, was los war.

Er umfasste das Telefon fester. Was war nur passiert?

„Die Amnesie scheint sich nur auf die letzten Erlebnisse zu beziehen“, erklärte ihm ein Arzt, als er diesem in einem kleinen Sprechzimmer gegenüber saß. Es war jener Arzt, der ihm vor drei Tagen bereits zu Kyrie gebracht hatte. Der grauhaarige Mann schaute auf ein Stück Papier vor sich, welches sich vom kastanienbraunen Pult stark abhob. Auf dem Papier stand viel Text – auch ein kleines Diagramm war zu sehen. Vermutlich eine Abbildung von Kyries Herzschlag …

„Vielleicht möchte sie also nur bestimmte Ereignisse verdrängen und gaukelt deshalb diese Vergesslichkeit vor“, fuhr der Arzt fort, wobei er John bedeutungsvoll anschaute, „Deshalb müssen wir Sie und Ihre Frau bitten, mehr über jenen Vorfall herauszufinden. Sobald Ihre Tochter dazu bereit ist, über die Geschehnisse zu sprechen, obliegt es Ihnen, eine Anzeige zu erstatten …“ Er pausierte kurz, um das Papier noch einmal zu überfliegen. „Fremdeingriffe sind die einzige Erklärung für zahlreiche Verletzungen.“ Seine Augen hafteten erneut an John. „Falls dies eine Option ist. Wir bitten Sie entsprechend, die Verhaltensweise Ihrer Tochter in nächster Zeit sehr genau zu beobachten und sie nicht zu häufig alleine zu lassen. Irgendjemand scheint ihr Schmerzen zufügen zu wollen.“ Er verschränkte die Arme. „Gestohlen wurde nichts, nicht wahr?“
 

Als John den Gang entlang ging, fühlte er sich seltsam leer. Er wusste nicht, wie er über all die Begebenheiten denken sollte. Fremdverschulden. Weil sie sich etwas aufgelastet hatte? Kyrie war seine Tochter. Sie war ein stolzes, kluges Mädchen mit einem fröhlichen Lächeln. Sie wusste, dass Gott immer für sie da war, dass auch ihre Eltern immer an ihrer Seite standen … Nein. Es konnte nicht sein, dass sie sich irgendjemanden zum Feind gemacht hatte, der zu solch einer Gräueltat fähig war! Keinesfalls. Niemals. Immerhin stand sie unter Gottes Schutz! Wie alle Menschen. Sie lebten in einer Welt, in der es kaum Verbrechen gab. Womit verdiente es seine Tochter, eines dieser wenigen Opfer zu werden?

Die Tatsache, dass ihr jemand Schmerzen zufügen wollte, lehrte ihm das Fürchten. Jemand … jemand schien ihr nach dem Leben zu trachten. Es waren schwere Misshandlungen, die stattgefunden hatten. So hatte der Arzt es ausgedrückt. Sein Blick besagte auch, dass er Gewalt im Elternhaus nicht ausschloss – hier rettete sie Jakes Aussage allerdings vor dem Übel. Aber die Polizei musste jeder Einzelheit nachgehen. Ob ... ob der Täter wohl damit gerechnet hätte, Kyrie umzubringen?

Unwillkürlich richtete er seinen Blick gen Himmel. Wie konnte dies nur alles geschehen? Und was hatten die Engel damit zu tun? Und Ray … Dieser Ray … Ob er auch etwas mit dem Himmel zu tun hatte? Wie sollte er Kyrie denn danach fragen? Oder hatte er sich für etwas anderes entschuldigt? Aber davon hätte Kyrie ihnen doch erzählt, oder? Sie hatten sie doch abgeholt, als Ray bei ihr war … Kyrie erzählte ihnen doch alles … Oder etwa nicht?

Er war verwirrt.

Vor der Tür zu Kyries Zimmer blieb er stehen. Er musste sich fassen – die positive Nachricht war immerhin, dass Kyrie morgen entlassen würde. Und das musste er ihr unbedingt mitteilen. Er wollte nicht, dass sie unglücklich war. Nur noch morgen – am Morgen würde es die letzten Nachuntersuchungen geben. Danach würden sie ihr die Therapievorschläge mit den passenden Therapeuten geben. Der Arzt hatte auch vorgeschlagen, dass sie auch über die Möglichkeit einer Armamputation nachdenken sollten – die Nerven im linken Arm waren völlig zerstört. Durch eine Prothese würde sie sich normal fühlen können … doch es würde ihr Schmerzen bereiten. Wie sollte er ihr das nur sagen? Oder ob die Ärzte mit ihr schon zuvor gesprochen hatten? Er wusste es nicht.

Der Arzt hatte ihn bereits am Eingang abgefangen – Magdalena war derweil zu Kyrie gegangen … Oh, Gott – dass er behüte …
 

Ihre Eltern hatten den gesamten Sonntag mit ihr verbracht. Es war eine nette Abwechslung, aber dafür vermisste sie sie jetzt umso mehr. Eine Zimmergenossin war ausgetauscht worden. Aber beide schliefen bereits – oder taten zumindest so.

Kyrie konnte nicht schlafen. Ihr pulsierender Körper schmerzte dafür einfach zu sehr. Es drückte überall … der natürliche Heilprozess schien voll in Gange zu sein … Aber auch wenn sie dadurch erschöpft war, konnte sie nicht schlafen. Ihre Gedanken waren überall … einfach überall …

Und immer wieder kamen sie auf den Himmel zurück … Sie kamen dahin zurück, dass sie Nathan nie mehr wieder sehen würde … Sie wollte so gerne wieder zurück … doch sie konnte es einfach nicht riskieren …

Entsprechend war sie froh, dass sie zumindest Maria besucht hatte … Sie fragte sich, ob Maria bereits wieder entlassen worden war. Die arme Frau … Kyrie beschwerte sich, weil sie einen Arm nicht mehr spüren konnte, Rays Mutter aber konnte keinen Körperteil mehr rühren … Manchmal beging das Schicksal unfaire Züge … Wieso ausgerechnet jemand wie Rays Mutter?

Von Rays Mutter flogen ihre Gedanken immer wieder zu Ray. Auch ihn vermisste sie sehr … Sie war froh, dass sie von ihrem neu erworbenen Leben zumindest ihn behalten durfte … Nun – das hoffte sie zumindest … Sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, was geschah, wenn er es aufgab, auf sie zu warten. Es würde in fünfundzwanzig Jahren dann zwar einfacher werden, wenn sie dann einfach so starb, aber … Nun – sie bezweifelte, dass er fünfundzwanzig mit ihr diese Mauer besuchen wollte.

Sie hatte heute mit einem Arzt gesprochen … Auch wenn sie am nächsten Morgen das Krankenhaus verlassen durfte, so musste sie das Studium für eine weitere Woche aufgeben. Und damit würde sie auch Ray nicht sehen.

Erneut holte sie ihr Handy vom Nachttischschrank. Sie hatte ihn einfach nie nach seiner Nummer gefragt – nie daran gedacht … Aber es war auch ungewöhnlich für sie, krank zu werden. Sie war kaum einmal krank. Solche Vorsichtsmaßnahmen hatte sie einfach noch nie treffen müssen …

In vorherigen Schulen hatte sie höchstens ein paar Tage gefehlt, weil sie panische Angst davor gehabt hatte, in die Schule zurückzukehren. Wegen Leuten wie Melinda, die ihr den Alltag zur Hölle gemacht hatten … Die sie einfach permanent in den Dreck gezogen hatten, um sie vor Nathan armselig erscheinen zu lassen … Um ihr dauernd zu sagen, wie wertlos sie sei … Dass sie endlich von Nathan ablassen solle …!

Und doch … irgendwie hatte sie sich jedes Mal wieder dazu aufgerafft, den Unterricht wieder zu besuchen. Sie wusste nicht, was genau sie dazu angetrieben hatte … Manchmal war es vielleicht einfach ein Nathan, der plötzlich auf der Straße aufgetaucht war und zu ihr hoch geschaut hatte, als wollte er wissen, was mit ihr los war … Und vor ihm wollte sie einfach keine Schwäche zeigen. Keine Angst …

Aber hier? Hier … hier konnte sie doch nicht anders! Niemand hätte sie wegen Nathan umgebracht! Diese … diese Engel aber hatten ihr mit dem Tod gedroht … Nein – sie würde den Himmel hinter sich lassen.

Sie danke Nathan für alles, was er für sie getan hatte … Aber diesmal würde nicht einmal sein Anblick es schaffen, ihr ihre Angst zu nehmen. Diesmal nicht.

Wenn sie die Augen schloss, so sah sie noch immer dieses himmlische Schwert vor sich aufblitzen. Wie es sie bedrohte … Wie es ihr, ohne zu zögern, die Kehle aufgeschlitzt hätte … Sie erstarrte völlig.

Nein … Das war nicht ihre Welt.

Sie studierte den Frieden – sie wollte mit Krieg und Waffengewalt nichts zu tun haben! Auch wenn sie Engel und Gott liebte … so … so waren es doch Dämonen, die die Waffen ursprünglich erschaffen hatten … Gott hatte die Waffen gewissenhaft eingeschränkt – und doch … konnten sie töten … Und das wollte Kyrie nicht. Sie wollte nicht töten.

Und wenn sie dafür selbst sterben musste …

Sie erschauderte, um sich wieder rühren zu können, dann legte sie das Handy zur Seite, als ihr klar wurde, dass sie keine Nachricht von Ray darauf finden würde. Vielleicht hatte er sie sogar schon vergessen … Sie hoffte trotzdem, dass Kylie oder Diane ihn beruhigt hatten … Ihm gesagt hatten, dass es Maria gut ginge – dass er sich nicht mehr zu sorgen brauchte … Dass er nicht mehr weinen musste … Oh, Ray … Wie gerne sie ihn wieder gesehen hätte …

Falls er sie bis jetzt noch nicht aufgegeben hatte … wie würde das in der nächsten Woche werden? Gab es überhaupt Krankheiten, die so lange andauerten?

Kyrie hatte keine Ahnung … Aber die Nacht war noch jung … und die Zeit, weiter zu sinnieren, war noch sehr lang.
 

Ray war, unter dem Vorwand eines sehr wichtigen Termins für diejenigen, die gefragt hatten, eine halbe Stunde früher aus der Vorlesung verschwunden. Und seither saß er dort auf dieser Mauer und wartete. Kyries Eltern hatten sich nicht gemeldet. Kyrie hatte sich nicht gemeldet. Aber vielleicht würde sie heute wieder kommen? Vielleicht würde ihr Vater heute mit ihm sprechen?

Er hatte gestern eigentlich geplant gehabt, einfach von Samstag auf Sonntag bei Ken zu übernachten, sodass er auch den ganzen Sonntag von zuhause fern bleiben hätte können, da er seinem Vater auch an einem freien Tag nicht begegnen wollte – doch die allwöchentliche Sonntagsstrategie hatte er nicht umsetzen können. Er wollte am Samstag einfach nicht mehr nach Hause kommen … doch er hatte Ken kurzfristig abgesagt und war sogar am Morgen früher aufgestanden, um Kim nicht zu verpassen. Scheinbar war das unsinnig.

Niemand war vormittags zuhause und erst mittags kamen beide – Arm in Arm! – zurück. Aber Ray hatte kein Wort für seinen Vater übrig, sondern hatte sich sofort an Kim gewandt – welche ihm mitgeteilt hatte, dass Kyries Vater auch diesmal keine Messe gehalten hatte. Dabei glitzerten die Augen seines Vaters so, als wüsste er genau, wovon sie sprachen – und das bestätigte Rays Theorie, dass Frauen nie etwas für sich behalten konnten. Typisch.

Aber es war ihm egal.

Also saß er hier auf der Mauer. Und wartete. Und er würde hier warten – solange bis dieses verfluchte, schwarze Auto kam, um Klartext mit ihm zu sprechen! Nun …

Wenn ihr Vater nicht innerhalb von zwei Stunden auftauchen würde, würde Ray es noch einmal mit dem Telefon versuchen. Und morgen würde er es genau gleich machen. Bloß, dass er nur alle zwei Tage anrufen würde. Er wollte nicht wie ein wahnsinniger Verfolger wirken.

Also wartete er.

Bei jedem Auto, das auf den Parkplatz fuhr, hob er den Kopf, um es genau zu betrachten. Aber nichts geschah. Kein Anruf. Kein Auto. Niemand kam vorbei, um ihn aufzuklären.

Langsam begann er, sich zu fragen, wie er auf die Idee gekommen war, darauf zu hoffen. Darauf zu hoffen, dass sich jemand bei ihm meldete … Was, wenn es ihn schlichtweg nichts anging? Wenn Kyrie befand, dass er nichts über sie wissen müsse?

Aber er würde die zwei Stunden durchhalten.

Das würde er.
 

Ihre Mutter streichelte sie beruhigend, als der Arzt die letzten Sätze zu Ende sprach und sie damit entlassen war. Sie hatten ihr gerade erst Schmerztabletten verabreicht, um die Reise möglichst angenehm zu gestalten.

Kyrie war zumindest froh, aus dem Krankenhaus herauszukommen. Der Arzt verabschiedete sich freundlich von ihren Eltern und von ihr und wünschte ihr eine gute Besserung. Ihre erste Therapie würde in genau zwei Wochen stattfinden. Und dann würde es eine regelmäßige Tortur werden. Der Gedanke, dass ihre Schmerzen im Himmel in nur wenigen Sekunden ein für alle Mal aus der Welt geschafft wären, zog noch immer an ihr, doch die Angst, dorthin zurückzukehren, überwog jegliches Wehwehchen. Und deshalb hielt sie durch.

Die wenigen Habseligkeiten, die sie in ihrem Zimmer hatte, nahm ihr Vater an sich und marschierte schweigend los. Sie richtete an ihre Zimmergenossinnen einen kurzen Abschiedsgruß. Danach hievte ihre Mutter sie in den Rollstuhl, welchen sie sich für zwei Wochen ausleihen durften, sodass sie befördert werden konnte.

Ihre Mutter schob sie und lächelte sie aufmunternd an, sagte jedoch auch nichts. Und so hüllte auch Kyrie sich in Schweigen. Sie musste im Moment nichts loswerden.

Sie hoffte lediglich, dass ihre Eltern noch warten würden, ehe sie sie mit Fragen löcherten. Es würde ihr sehr schwer fallen, diese Fragen abzuwehren. Ihren Eltern nur unvollständige Wahrheiten zu sagen … Lügen? Nein, das konnte sie nicht, aber … aber sie brachte es nicht über sich, ihrem Vater von dieser grausamen Seite der Engel zu erzählen. Von den bewaffneten Engel … Er durfte nie erfahren, dass sie Kämpfer waren. Denn er war es, der ihr die Idee des Friedens in den Kopf gepflanzt hatte – und sie wollte ihn davor behüten, diesen Glauben aufgeben zu müssen …

Das geräumige, schwarze Auto parkte am überfüllten Parkplatz des Krankenhauses, zu dem es auch nicht weit war. Der Weg war etwas holprig, und in einem Rollstuhl zu sitzen, war sehr ungewohnt für Kyrie, da sie dieses Erlebnis zuvor noch nie hatte. Doch es fühlte sich leicht an, sich zu bewegen. Nur hatte sie selbst nicht die Kraft, den Rollstuhl fortzubewegen, vor allem weil ihr ein Arm dafür fehlte. Sie fragte sich, ob sie eine Prothese oder bloß eine Schiene dafür bekommen würde. Noch ließen die Ärzte ihn aber unbehandelt, da sie es nicht für nötig hielten, etwas daran zu tun, bevor Kyries andere Verletzungen nicht weitestgehend verheilt waren. Sie hatte deshalb auch ein Dokument unterschrieben, in welchem bestätigt wurde, dass Kyrie damit einverstanden war, und auch dass sie sich selbst überlegen musste, ob sie eine Schiene oder eine Prothese bevorzugte.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich da entscheiden sollte.

Sie erreichten das Auto. Ihr Vater öffnete den kleinen Kofferraum, sodass er das Gepäck verstauen konnte – und dann unterstützte er sie unbeholfen dabei, auf den Rücksitz zu gelangen. John packte sie an den Schultern, Magdalena half von unten nach – und irgendwie saß sie dann letztendlich im Auto. Als die Türe geschlossen wurde und sie sich dagegen lehnte, war es seltsam, den Arm, den sie damit belastete, nicht zu spüren.

Aber sie würde sich daran gewöhnen müssen.

Zumindest brauchte sie den Rollstuhl nicht ewig – auch wenn ein Rollstuhl mehr war, als Maria zur Verfügung hatte … Sie brauchte diese Hilfe zumindest nur für die nächsten paar Tage. Die Ärzte waren davon überzeugt, dass sie die Gehübungen alleine hinbekommen würde, sodass sie in drei Tagen wieder richtig stehen können würde, da ihre Beinmuskulatur sehr schnell wieder regeneriert sein würde … Sie hoffte, dass das zutraf.

Der normale Alltag – ohne Überlastung durch das Studium – würde ihr bestimmt gut tun. Das redeten sie ihr ein – und sie glaubte es ihnen einfach. Hoffte auf den Wahrheitsgehalt dieser Aussage.

Der Motor des Wagens gab ein ruhiges Geräusch von sich. Die Dachluke war leicht geöffnet, sodass eine kühle Brise dem Auto angenehme Temperaturen verschaffte.

Kyrie schaute aus dem Fenster. In dieser Gegend war sie nur selten – sie war noch nie zuvor im Krankenhaus gewesen. Zumindest erinnerte sie sich nicht daran. Die Bäume zogen langsam an ihr vorbei. Und unter dieser Allee befand sich eine kleine Mauer. Auf dieser Mauer saßen hin und wieder Menschen. Sie wirkten glücklich. An den zahlreichen, gleichen Schuluniformen erkannte sie, dass hier ein Schulhof in der Nähe sein musste.

… Ray …

Sie rückte ein wenig herum, sodass sie auf die Kilometeranzeige schauen konnte, wo auch die Uhrzeit angezeigt wurde. Es war gerade ihre Zeit. Die Zeit, in der sie und Ray sich treffen würden.

„… Habt ihr eigentlich Ray Bescheid gesagt, weshalb ich nicht komme?“, durchbrach sie die Stille.

Ihr Vater zuckte sichtlich zusammen.

Ihre Mutter drehte sich um und schüttelte zögerlich den Kopf. „Nein“, sagte sie gequält, „Es tut mir leid – daran habe ich gar nicht gedacht …“ Sie seufzte. „Der arme Junge!“

„Können wir vielleicht kurz zur Universität fahren?“, wollte sie wissen, „Ich … möchte nicht, dass er umsonst wartet.“ Sie seufzte innerlich. Vielmehr wollte sie wissen, ob er überhaupt warten würde … Oder ob sie ihre Freundschaft beendet hatte … Warum hatte sie sich nie seine Handynummer besorgt?

„Nein“, sagte ihr Vater plötzlich, „Die Ärzte haben angewiesen, dass du sofort nach Hause sollst.“

„Aber …“, wollte Kyrie widersprechen.

„Nein“, wiederholte er barsch, „Er wird schon nichts verpassen. Und er wird bestimmt mitbekommen, dass etwas nicht stimmt.“

Kyrie senkte ihren Blick.

„Ach, John“, keifte Magdalena plötzlich, „Nur ganz kurz! Das ist doch kein Umweg!“

„Doch“, beharrte der Vater, „Ich will nicht, dass dieser Mann meiner Tochter etwas zuleide tut!“

„Er tut ihr doch nichts!“, herrschte ihre Mutter den Lenker an, woraufhin sie sich geschockt zu Kyrie drehte. „Er hat doch nichts …?“

„Natürlich nicht!“, stieß Kyrie sofort hervor, wobei sie ihre Mutter entsetzt anstarrte, „Wie könnte er?!“

„Was hat es dann damit auf sich?“, verlangte John zu wissen.

Kyrie schwieg.

„Kyrie …“, flüsterte ihre Mutter beruhigend.

„Nun? Was ist geschehen? Woher soll ich wissen, dass dieser Ray nichts damit zu tun hat?“, forderte ihr Vater zu wissen.

„Du wirst mir einfach …“, sie stockte kurz. Wie sollte er ihr glauben, wenn sie ihn zwangsläufig belügen musste? „… vertrauen müssen“, beendete sie ihre Worte dann schnell.

John sagte nichts mehr.

Auch Magdalena schwieg, wobei sie sich unruhig regte und hin und wieder fragend zu ihrem Mann schaute.

Kyrie lehnte sich wieder zum Fenster und versank in ihren Gedanken.

Sie hoffte einerseits, dass Ray warten würde. Doch andererseits betete sie, dass er nicht ihretwegen sinnlos Zeit verschwenden würde. Alles andere wäre unfair ihm gegenüber.

Ray starrte noch immer zum Parkplatz hinüber. Er musste wirklich wie jemand wirken, der bestellt, aber nicht abgeholt worden war. Ein armseliger Anblick vermutlich. Aber das war ihm wiederum egal! Er wollte wissen, was um ihn herum los war.

Erfahren. Gründe! Irgendetwas.

Plötzlich fuhr ein schwarzes Auto auf den Parkplatz – heute hatte er bereits viele schwarze Autos beobachtet, doch dieses eine stach besonders hervor – und parkte.

Aufgeregt machte er sich größer. Und größer.

Und beinahe fiel er von der Mauer – doch er versuchte, so viel Platz einzunehmen, wie nur möglich, um ja nichts zu verpassen – um nicht übersehen zu werden.

Und eine Welle der Enttäuschung schlug über ihn herüber, als zwei alte Herren ausstiegen und dabei fröhlich vor sich hin lachten. Nicht Kyrie. Nicht ihr Vater. Nicht ihre Mutter.

Die beiden Herren hasteten plötzlich von dem Auto vor und deuteten aufgeregt in eine Richtung.

Nichts …

Er sank wieder in sich zusammen und seufzte.

Eine Stunde würde er noch warten.

Wenn sie in einer Stunde auftauchten, dann würde er hier sein und sie empfangen.

„Wow, das muss aber ein echt tragischer Arzttermin gewesen sein, wenn du hier herumlungerst, als hätte man dir von der Apokalypse berichtet!“

Diese Stimme kannte er. Er drehte sich in die Richtung, die vom Parkplatz weg führte und machte Ted aus, welcher lässig grinsend auf ihn zu kam und sich dann vor ihm platzierte.

„Was tust du hier?“, wollte er wissen, „Holt dich deine Freundin mit dem Auto ab oder was?“

Freundin? Woher wusste … oh, nein – er sagte das nur so.

„Nein. Ich warte hier nur auf jemanden“, nuschelte Ray und hoffte, dass man ihm seine Verwirrung nicht angesehen hatte.

„In letzter Zeit wirkst du total niedergeschlagen. Mark hat mir auch gesagt, dass du nicht mehr der alte, lässige Ray bist! Und sogar der schreckliche Ken macht sich Sorgen um dich!“, erklärte Ted, wobei er die Arme verschränkte. „Und wenn es sogar mir auffällt, muss es Liebeskummer sein.“ Sein Studienkollege lehnte sich an die Mauer und starrte Ray an. „Du weißt, dass du mir alles in Sachen Frauen und rechtliche Angelegenheiten mitteilen kannst.“ Er grinste unaufhörlich. „Ich habe das Herz am rechten Fleck!“, fügte er hinzu und schien gerade noch verhindern zu können, über sein eigenes Wortspiel in schallendes Gelächter auszubrechen.

Ray seufzte. Diese Wortwitze mit Rechtswissenschaften waren einfach … Ted.

Vermutlich aber hatte er Recht.

Sogar Ted hatte mitbekommen, dass er die Gespräche mit Kyrie vermisste. Dass es ihn beinahe umbrachte, nicht zu wissen, was mit ihr geschehen war! Warum sie so plötzlich verschwunden war … Aber … Liebeskummer? Bitte? Nein. Er vermisste nur seine Mauerfreundin. Sie war jeden Tag hier gewesen – war es da nicht selbstverständlich, dass er sich sorgte und sie vermisste?

Doch … irgendwann musste er mit der Sprache raus rücken. Er musste mit jemanden darüber reden.

Aber war Ted dafür der Richtige?

Nun – wenn er dachte, dass Ray irgendetwas Tieferes für Kyrie empfand, dann würde er seine Finger von ihr lassen. Damit wäre sein Hauptproblem beiseite geschafft … und Ted konnte mit geistreichen Sprüchen und Ideen helfen. Es war irgendwie ziemlich besitzergreifend, solches Gefahrenpotenzial von ihr – ohne ihr Wissen – fernzuhalten, aber … Er würde es nicht aushalten, wenn sie …

Nein. Das war nicht das Thema. Kyrie war nicht einmal da. Vielleicht würde sie nicht kommen. Vielleicht würde sie nie wieder kommen!

Heute würde sie jedenfalls nicht mehr kommen. Es war bereits spät. Zu spät.

Dann kam ihm plötzlich eine Idee.

„Ich habe hier in der Stadt einen Freund“, log er darauf los, ohne sich tiefere Gedanken darum zu machen, „Er ist ein alter Spielkamerad von mir. Wir haben zufällig manchmal gleichzeitig aus und treffen uns dann hier, um über alte Zeiten zu plaudern.“ Nicht gerade intelligent und keinesfalls durchdacht, aber … gegen Ted würde es nützen. Und es war viel besser, als zuzugeben, dass Kyrie seine Mauerfreundin war.

Ted schaute mitfühlend drein.

„Dieser Freund taucht aber seit etwa einer Woche einfach nicht mehr auf und meldet sich nicht mehr. Und ans Telefon geht er auch nicht – ich mache mir Sorgen, aber ich weiß nicht, wie ich ihn erreichen soll.“

Ted nickte verstehend. Dann runzelte er kurz und nachdenklich die Stirn und schlug daraufhin vor: „Wenn er ein alter Freund von dir ist, kannst du ihn ja besuchen.“

„Darauf wäre ich sogar selbst gekommen, Schlaumeier“, fuhr Ray ihn ungehalten an, da er ihm so etwas wohl zutrauen hätte können. „Aber ich weiß nicht, wo er wohnt. Im Westen der Stadt. Seine Eltern fahren ein schwarzes Auto.“ Er brauchte jetzt keine offensichtlichen Antworten – er brauchte weise Ratschläge. … Er hätte sich irgendeinen Psychologen als Freund suchen sollen. … Oder einen Kerl aus der Stadtverwaltung.

„Im Westen wohnt mein Opa!“, rief Ted erfreut aus. Und plötzlich starrte er Ray schockiert an, wobei er sich panisch umschaute. „Mein Opa!“

Ray schaute verstört drein. „Wie bitte?“

„Wo ist er? Mein Opa? Er sollte sich hier mit seinem Kumpel aufhalten, um auf das Auto von meinem Vater aufzupassen, bis ich da bin!“ Noch einmal ließ er seinen Blick hin und her schweifen. „Wo ist er hin?!“ Plötzlich wirkte er erleichtert. „Das Auto ist noch da! Also kann er noch nicht weit sein!“

Ray folgte dem Blick seines Freundes. Ironischerweise war es das Auto, aus dem die beiden Pensionisten ausgestiegen waren. „Ja, dein Opa ist in etwa in diese Richtung gegangen“, erklärte Ray gestikulierend, woraufhin er die zwei alten Männer gleich lachend bei einem alten Sportwagen fand. „Ich denke, es geht ihnen gut.“

Ted seufzte erleichtert. „Danke, Ray! Das hat mir jetzt einen Schrecken eingejagt! Mein Opa ist nämlich etwas … na ja … abenteuerlustig.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich schulde dir was.“

Das Wort „Idee!“ stand ihm plötzlich ins Gesicht geschrieben. „Ich fahr mit dir den Westen ab! Dann kannst du nach deinem Freund suchen – meine Schulden sind beglichen, ich habe mein Auto und meinen Opa muss ich sowieso dort absetzen. Er hat nur seinen Freund hierher gebracht, da dieser bald von seinem Sohn abgeholt wird.“

Ray staunte nicht schlecht. „Ernsthaft?“, vergewisserte er sich. Er hatte immerhin nichts getan.

„Natürlich! Freunde tun so was füreinander! Und mein Opa liebt dich bestimmt genauso wie ich!“ Ted grinste.

Ray blinzelte überrascht, dann bat er trocken: „Bitte sag so etwas nicht in der Öffentlichkeit.“

Ted stieß Rays Schultern an, um ihn nach vorne zu treiben. „Komm schon! Mein Opa hat nicht ewig Zeit!“

Und damit ließ sich Ray überzeugen. So etwas nannte sich dann wohl „Wink des Schicksals“ oder so ähnlich. Wenn einem eine Gelegenheit wie diese geboten wurde, durfte man sie nicht ausschlagen. Er würde Kyries Auto erkennen, wenn er es sah. Da war er sich sicher. Sie würden es nur finden müssen.

„Danke, Ted“, sagte er leise, als er zusammen mit seinem Freund und dessen Opa ins Auto stieg.
 

Kyrie war überrascht, als sie die Straßen langsam wiedererkannte – und als sie feststellte, dass es nicht diejenigen in der Nähe ihres Zuhauses waren, sondern jene, die in Richtung der Universität lagen. Eine … erfreuliche Überraschung!

Wenn Ray auch hier war.

Schlagartig wurde sie nervös. Was wenn er hier war? Wenn er sie so sah? Würde er sich Sorgen machen? Hätte sie sich doch zuerst auskurieren sollen? … Aber dafür hatte sie keine Zeit. Jeder Tag, den sie nicht dazu nutzte, ihm die Situation zu erklären, konnte dazu führen, dass sie sich auseinander lebten. Wer wusste, was innerhalb von zwei Wochen geschehen konnte? Was wenn er in der Zwischenzeit ins Rote Dorf zurückgekehrt sein würde, ohne dass sie davon erfahren würde? Was sollte sie dann tun?

Im Sekretariat nachfragen? Würden sie ihr überhaupt Auskunft geben können?

Sie wusste es nicht.

Aber wenn sie ihn sah, dann würde sie ihm seine Handynummer abnehmen – das schwor sie sich. Diese Unsicherheit war kaum auszuhalten!

„Alles in Ordnung, Kyrie?“, fragte ihre Mutter besorgt, „Du wirkst so aufgeregt.“ Plötzlich lächelte sie wissend.

Manchmal fragte sie sich, ob ihre Mutter Gedanken lesen konnte. Sie lächelte einfach zurück.

„Ich freue mich einfach, dem Krankenhaus entkommen zu sein“, gab sie zurück.

„Ich bin immer noch dafür, dass dir diese Aktion zu anstrengend sein wird“, beharrte ihr Vater unwirsch, „Du musst dich auskurieren und dann mit der Regeneration anfangen.“

Zumindest sprach er sie nicht mehr auf die Geschehnisse an. Sie war noch nicht ganz mit einer Ausweichgeschichte zufrieden. Xenons kalte Augen und Jeffs und Drakes Angriffe und Schwerter verboten es ihr, zulange über das Gesamte nachzudenken. Es zog sie dabei innerlich zusammen und sie fror … Nein, sie durfte jetzt nicht darüber nachdenken. Ray war wichtiger.

„Ja“, stimmte sie nachgiebig zu, „Ich weiß. Aber ich muss Ray benachrichtigen …“

„Ja, das verstehst du nicht, John“, half ihre Mutter ihr aus, „Du hättest dich bestimmt auch um mich gesorgt, wenn ich plötzlich nicht mehr bei dir aufgetaucht wäre.“

John brummte etwas Unverständliches.

Dieser Vergleich war etwas … überzogen. Aber er traf es genau – ihr Vater musste doch verstehen, dass man sich sorgte. Seine Pfarrgemeinden sorgten sich bestimmt auch, weil er bereits seit Dienstag keine Messe mehr gehalten hatte …

„Wir sind da“, sagte John dann gleichgültig, suchte sich einen freien Parkplatz und stoppte den Motor.

Kyrie schaute neugierig aus dem Fenster.

Nichts hatte sich verändert. Die Menschen strömten noch immer den Weg entlang. Leute im Anzug. Leute in Alltagskleidung. Gestresste Leute. Lockere Leute. Und keiner dieser Leute wusste, dass sie gefehlt hatte. Nur einem würde es aufgefallen sein … Aber soweit sie sah, war er nicht hier.

Als sie einen Blick auf die Uhr warf, welche noch schwach aufleuchtete, erkannte sie, dass es gerade nicht mehr in der Zeit gelegen hatte, die sie normalerweise miteinander verbracht hätten.

Vielleicht war er bloß schon gegangen? Vielleicht war er noch in der Vorlesung? Vielleicht … vielleicht war er auch krank …?

Oder vielleicht war er gar nicht hier.

Vielleicht wollte er gar nicht mehr auf sie warten … Vielleicht hatte er schon viel zu lange gewartet.

Ihre Mutter schaute sie von der Seite her an. „Komm, schauen wir nach“, sagte Magdalena mit Optimismus in der Stimme, „Er kann ja nicht weit sein!“

Kyrie strengte sich an, doch sie fand ihn nirgendwo …

„Ja …“, gab sie nach, „Vermutlich sehe ich ihn bloß nicht.“

John seufzte und stieg aus, wobei er sich draußen noch einmal umsah. Er öffnete den Kofferraum, um den Rollstuhl rauszuholen und ging mit diesem dann zu Kyrie. Magdalena entfernte sich ebenfalls aus ihrem Sitz, um ihrem Mann beizustehen.

Zusammen brachten sie Kyrie auf den Stuhl.

Und dann schoben sie sie langsam über den Asphalt, der viel ebener war, als jener vor dem Krankenhaus. Oder Kyrie war gefasster. Sie spannte die verbliebenen Reste ihrer Muskulatur an, um so groß wie möglich zu wirken und wurde dann erhobenen Hauptes den Weg entlang geschoben.

Die Menschen stellten ihrem Gefährt instinktiv aus, doch keiner beachtete sie weiter.

„Stopp“, befahl sie, als sie die Stelle erkannte, an der Ray und sie sich immer trafen.

Aber er war wirklich nicht hier … Also hatte er nicht gewartet …

Das war vermutlich auch besser so …

„Ich denke, wir brauchen nicht weiter zu suchen“, erklärte sie leise. Und gefasst.

Er war also nicht da … Wirklich nicht …

Der letzte Hoffnungsschimmer in ihr erlosch.

Schade … Sie hätte sich gefreut, ihn zu sehen.
 

Teds Opa lebte am Anfang des westlichen Bezirks. Sie ließen den alten Mann aussteigen, woraufhin dieser fröhlich den Wagen verlassen hatte und in sein Haus gegangen war. Ray empfand den Mann als sympathisch, da er einige Scherze von sich gab und immer einen kecken Spruch auf den Lippen hatte.

Aber sein Blick ließ nicht vom Fenster ab. Es gab viele schwarze Autos. Doch keines war so klein und auffällig wie das von Kyries Eltern. Es existierten große, schwarze Autos. Mittlere, schwarze Autos. Lange, schwarze Autos und auch winzige … Aber dieses eine, nach welchem er suchte, begegnete ihnen nirgendwo.

Allerdings hätte er auch nicht so genau gewusst, wie er Kontakt aufnehmen sollte, falls er einen Glückstreffer landen würde. Er konnte immerhin nicht einfach während der Fahrt die Tür aufreißen oder einfach irgendwo umdrehen, um sie zu verfolgen … Seit wann nur machte er so ungeplante Dinge? Das war doch gar nicht seine Art! … Es war auch nicht seine Art, irgendeinem Mädchen durch die halbe Stadt nachzujagen. Vielleicht war Kyrie ja wirklich etwas sehr Besonderes. Seine Mauerfreundin, die seine Geschichte kannte, die ihn wirklich zu verstehen schien … Er hatte ihr sein tiefstes Geheimnis anvertraut … Natürlich war sie etwas Besonderes. Nur wie besonders?

Nun fuhren sie bereits eine Weile in sehr langsamem Tempo sämtliche Blöcke ab, die zum Westen gehörten. Ray hatte Ted eine möglichst genaue Beschreibung vom Auto und von Kyries Vater gegeben, sodass er auch genau wissen würde, wonach er im Moment suchte.

„Also ist er ein Pfarrer“, murmelte Ted nachdenklich, „Lebt er dann nicht in einer Kirche?“

„Bestimmt nicht“, gab Ray zurück, „Niemand lebt in Kirchen.“

„Dann leben sie bestimmt in einem kleinen Einfamilienhaus ohne Garten. Das Auto wird bestimmt auf diesen Hausparkplätzen geparkt“, fügte Ted hinzu, „Das kennen so reiche Schnösel wie du ja nicht“, neckte er ihn dann. Er war einer der wenigen, die vom Reichtum seines Vaters wussten. Und auch einer jener, die es nicht weitersagen würden. Er kam immerhin auch nicht von schlechten Eltern. Deshalb war es bei Ted bereits das zweite Studium – darum war der Mann auch fünf Jahre älter als er und hatte damit schon seine Fahrberechtigung.

Ray hoffte, diese auch bald zu erlangen. Von anderen abhängig zu sein, war ein unschönes Gefühl. Wenn er ein Auto hatte, würde er irgendwie dafür sorgen, dass endlich Straßen zwischen den Städten gebaut werden würden – egal, was die Umweltforscher davon hielten!

„Such einfach weiter“, meinte er leise und sah sich weiter um. Er durfte nicht genervt sein, nur weil er sie nicht fand. Ted konnte nichts dafür und tat sein Bestes … Nur war sein Bestes nicht gut genug, wie es schien.

Einige Häuser wirkten einfach so, als würde eine kleine, nette Person wie Kyrie darin gut leben können. Breite Fußwege führten durch diese Gassen, welche allesamt zu verlassenen Hochhäusern führten. Den Westen nannte man manchmal Verlassenschaft, da er früher die ruhmreichste Gegend gewesen war, dann aber abgebaut hatte und letztendlich vom Norden, in dem sich die Villen, die Universitäten und die Krankenhäuser befanden, überholt wurde. Jetzt hatte der Westen nicht einmal mehr ein eigenes Einkaufszentrum.

Weshalb sie diese hohen Türme, die Überreste des einstigen Glanzes, stehen ließen, wusste Ray nicht. Aber es interessierte ihn auch herzlich wenig.

„Wie sieht denn eigentlich dein Kamerad aus?“, wollte Ted daraufhin wissen, „Das hast du mir vorenthalten.“ Er hielt kurz inne. „Das könnte für mich theoretisch von Nutzen sein.“ Er klang, als wäre er leicht genervt von Ray. … Gut, er hatte vermutlich Grund dazu. … Und trotzdem half er ihm. Ted war einfach zu nett.

Ray seufzte. Es würde nichts nützen, das geheim zu halten.

„Lange, schwarze Haare, eher klein und er trägt am liebsten weiße Stiefel.“ Rein aus Interesse musterte er Teds Gesichtsausdruck kurz, welcher ziemlich verzerrt und äußerst verwirrt wirkte.

„Weiße Stiefel?“, wiederholte er, „Wir reden schon von einem Mann, oder?“

Ray antwortete nicht mehr, starrte weiterhin aus dem Fenster, auch wenn er den äußerst neugierigen Blick seines Freundes im Rücken spürte. „Solltest du nicht eher auf die Straße achten?“, fragte Ray beiläufig, wobei er die Umgebung im Auge behielt. Viele schwarze Autos parkten. Doch keines davon kam ihm annähernd bekannt vor.

Ob sie überhaupt zuhause waren …?

„Ich fahr dann dort rüber“, unterbrach Ted ihn plötzlich, „Ich habe Hunger.“

„Bekommst du nichts zuhause?“, fragte Ray ungeduldig. Er hatte auch nicht ewig Zeit! Aber für Kyrie musste er sich Zeit nehmen.

„Nein, ich hol mir immer etwas bei solchen Imbissecken“, klärte Ted ihn auf, wobei er in die Auffahrt des Imbissladens fuhr, sodass er nicht aussteigen musste und durchs Fenster bestellen konnte, „Zuhause ist nie jemand, wenn ich komme und ich bin zu faul, mir selbst was zu machen“, fügte er dann noch hinzu, „Willst du auch was?“

„Nein, danke“, lehnte Ray ab, wobei er seine Arme verschränkte. … Er würde immerhin zuhause etwas bekommen … Er konnte es sich kaum vorstellen, dass niemand zuhause war. Im Roten Dorf hatte er immer Diane, ihren Verlobten oder Kylie gehabt, die für ihn mitgekocht hatten … und hier: Kim. … Wobei er diese ja nie darum gebeten hatte! … Aber vielleicht sollte er es doch mehr schätzen, dass er immer etwas Selbstgemachtes bekam … Er schaute aus dem Fenster. Neben sich sah er nur die Imbissecke. Als er kurz in den Seitenspiegel blickte, raste ein schwarzes Auto über die Kreuzung.

Wenn sie das gewesen war, dann wollte … keine Ahnung … Gott nicht, dass sie sich jetzt trafen. Er hatte so lange gewartet. So lange gesucht. Wenn es Fairness in dieser Welt gab, dann würde sie es nicht gewesen sein.

Ted bestellte sich einen Hamburger.

Als dieser fertig war und Ted wieder auf die Straße fuhr, steckte er sich das Essen in den Mund.

Ray hoffte, dass das gut ging.

Er nahm den abgebissenen Burger in eine Hand und lenkte mit der anderen. „Wie lange willst du noch suchen? Langsam, glaube ich, haben wir den Westen ziemlich abgeklappert!“, erklärte Ted. Dann kaute er hörbar.

„Ich rufe noch schnell einmal an. Vielleicht geht sie ja jetzt ran“, hörte er sich sagen. War er wirklich der Hoffnung, der blanken, dummen Hoffnung, dass es sich bei jenem kleinen, schwarzen Flitzer um genau das gesuchte Auto handelte? Warum nur hatte er das Gefühl, dass es genauso war?

„Tu, was du nicht lassen kannst“, antwortete Ted nur schwer verständlich, da er gerade Burger im Mund zerkleinerte.

Ray holte sein Handy hervor und suchte die Nummer der Kingstons heraus.

„Sie?“, kam es plötzlich von Ted und er starrte Ray fragend an.

Ray drückte sich das Mobiltelefon ans Ohr.

Aber nichts tat sich.

Einfach gar nichts.

Kein Fehlzeichen. Keine Fehlmeldung. Kein Anrufbeantworter.

Nichts … Als existierte das Telefon gar nicht.

Hatten sie die Nummer gewechselt, weil er angerufen hatte? Das … das konnte doch nicht …

Er legte auf. „Ich denke, wir können es lassen …“, gab er sich geschlagen. Irgendwie fühlte er sich fertig. Als hätte er sein ganzes Maß an Hoffnung in die heutige Suche gesteckt und wäre jetzt mit der Realität konfrontiert, dass alles umsonst gewesen war. Dass er nicht nur seine, sondern auch Teds Zeit verschwendet hatte. „Wie komme ich nach Hause?“

„Mit Taxi Ted!“, war die fröhliche Antwort voller Elan, „Aber nur, wenn du mir mehr über deinen Spielkameraden erzählst!“ Er grinste. „Mehr Wahrheit!“
 

John schob Kyrie ins Haus, während Magdalena ihre Sachen an sich nahm. Kyrie trug eines jener Kleider, die Magdalena für sie gemacht hatte. Aber es war hinten noch zugeschlossen. Sie würde es zerstören, wenn sie ihre Flügel ausbreitete. Deshalb nähte seine Frau auch derzeit all ihre Kleidung um.

Kyries Haar war zu einem Zopf gebunden, sodass es sie nicht störte. Sie war so schon eingeschränkt genug, da mussten ihre langen Haare sie nicht noch mehr einschränken. Er fand, dass sie sie kürzen sollte. Sie waren ohnehin mittlerweile viel zu lang. Aber seine Tochter war einfach dagegen.

Er stellte sie im Eingangsbereich ab.

„Ich fahre noch schnell zum Einkaufen“, erklärte er seiner Familie, „Bleibst du derweil hier im Erdgeschoss?“ Er schaute seine Tochter an.

Ihre dunklen Augen hafteten auf ihm. Dann nickte sie.

„Wir brauchen viel Brot“; wies Magdalena ihn an. Danach widmete seine Frau sich seiner Tochter.

„Bis nachher“, verabschiedete John sich und schloss die Tür hinter sich zu.

Seit Ray nicht aufgetaucht war, hatte keine der beiden Frauen mehr einen Ton gesagt. John wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Wie er das einschätzen sollte. Scheinbar schien es beide ziemlich zu stören – aber er persönlich war froh darüber.

Das hatte dem Jungen eine Tracht gedanklicher Prügel erspart! Oder zumindest ein Verhör seinerseits. Immerhin war er Pazifist.

Wofür hatte er sich entschuldigt? Was fand sie nur an ihm, dass Kyrie ihn so unbedingt sehen wollte?

Und vor allem: Wie konnte er es wagen, anzurufen, wenn er dann noch nicht einmal das Durchhaltevermögen besaß, auf sie zu warten?

Oder war der Anruf die letzte Chance? Und er hatte die Beziehung seiner Tochter zu diesem Mann zerstört?

Er stieg ins Auto. Nein. Absurd. … Oder sollte er sich doch bei Kyrie entschuldigen? Ihr von dem Anruf erzählen? Es wäre wohl das Vernünftigste.

Er schaute in den Himmel, als er den Motor startete.

Da war nichts.

Einfach nichts.

Er würde es ignorieren.

Nach dem Einkaufen musste er auch noch kurz zur Kirche, um sich wieder anzumelden. Da konnte er Gott für seine Hilfe bei Kyries Genesung bedanken – und er konnte ihn fragen, was er von Ray hielt. Beim Beten würde er die Wahrheit erkennen.

Beten, predigen, zuhören - Kyrie ging es wieder besser. Das bedeutete, dass alles wieder seinen Alltag bekommen konnte.

Er seufzte erleichtert.

Endlich.

„Wie lange warten wir noch?“, wollte Liana wissen, welche gelangweilt ihre Arme verschränkte und auf der Treppe saß.

Deliora hockte in genau derselben Haltung neben ihr und fügte leicht maulend hinzu: „Ohne Kyrie sind Mittwochstreffen nicht dasselbe. Es ist mehr wie … ein Treffen … So wie wir es vor Nathans Abzug immer gehabt haben.“ Sie starrte Nathan so an, als wäre es seine Schuld, dass Kyrie sich auch heute dazu entschieden zu haben schien, nicht kommen zu wollen.

„Seht es doch so“, versuchte Nathan die beiden Frauen zu beschwichtigen, „Thi ist heute ja auch nicht hier! Er trainiert bereits für das Spiel nächste Woche. Aber hat er sich gemeldet?“ Er wartete kurz. „Nein“, beantwortete seine Frage selbst, „Warum hat er sich nicht gemeldet?“ Erneut pausierte er, erwartete jedoch keine Reaktion – welche auch nicht kam. „Weil wir das nicht tun! Wir sind Engel. Wir leben nach den Regeln der Engel. Und Vertrauen ist unser oberstes Gebot – von dem her …“

Liana unterbrach ihn barsch: „Hör auf, so zu klingen, als wärst du eine Todsünde. Dafür hast du später noch genug Zeit.“

Deliora nickte, um ihrer Freundin beizupflichten: „Wir sollten beide unsere Zeit noch nutzen, solange wir sie haben! Wenn wir einmal Pflichten haben, sind so unbeschwerte Treffen nicht mehr möglich. Und … so ein Ersatzfall kann sehr schnell eintreten.“

Für einen kurzen Moment war Nathan schockiert über die Worte von Deliora. Sie konnte doch nichts davon ahnen, dass bereits so viele Engel verschwunden waren? Er hatte es doch noch nicht einmal Acedia gesagt, weil diese dazu in den letzten Tagen einfach zu mürrisch war. Aber er würde es ihr bald mitteilen – wenn er mehr Anhaltspunkte dazu hatte, allerdings … Nein. Das musste allgemein bezogen sein. Das war keine Andeutung.

Bestimmt nicht.

„Seht das nicht so schlimm“, versuchte er, die beiden Frauen zu beruhigen, „Um Thi sorgt ihr euch ja auch nicht! Behandelt Kyrie nicht so, als sei sie anders.“ Er schaute von einer zur anderen. „Sie ist ein Engel, kapiert? Ich habe sie an das Engelsgesetz gebunden – und damit gelten für sie sämtliche Rechte und Pflichten der Engel.“

Beide Frauen warfen ihm einen unbeeindruckten Blick zu, sagten allerdings nichts mehr.

Nathan wandte sich zu Joshua um, welcher dem ganzen schweigend beigewohnt hatte. Aber auch er wirkte plötzlich unbeeindruckt.

Stellten sie hier vielleicht seine Glaubhaftigkeit in Frage?

„Na gut – nachdem heute also niemand mehr vorbei kommen wird …“, begann Liana nach einer kurzen Periode der Schweigsamkeit, „Was machen wir?“

„Wir könnten Thi beim Training besuchen“, schlug Deliora vor, wobei sie Nathan einen mahnenden Blick zu warf, „Oder Kyrie beim Lernen.“

Nathan seufzte. „Nein – und nein.“ Er verschränkte die Arme. Langsam wurde es wirklich anstrengend. „Für beide gilt dasselbe – sie kommen nicht, weil sie keine Zeit haben. Ob Training oder Prüfungen – manchmal muss man seine Freunde für die Selbstentfaltung eben zurückstellen! Wie du genau weißt, Deliora, können wir den Anforderungen der Oberen nicht nur wegen einem Mittwochstreffen ausweichen! Und das hier ist fast dasselbe. Jeder hat seine Pflichten.“

Sie verdrehte die Augen, stimmte dann aber unbegeistert zu. Auch sie hatte bereits so einige Treffen sausen lassen müssen, um noch spontan Bücher anzufertigen oder andere Aufgaben zu erledigen.

„Wenn die beiden das nächste Mal zum Treffen kommen, wird uns Thi bestimmt erzählen, wie toll sein Training verlaufen ist und wie siegessicher er ist – und Kyrie wird dasselbe von den Prüfungen sagen. Tut nicht so, als sei es ungewöhnlich, dass jemand nicht kommt“, herrschte Nathan sie an, „Wenn ihr diese Stimmung hier weiter verbreitet, dann werde ich nämlich gehen.“

Er hatte wirklich keine Lust, sich mit den Launen dieser Frauen herumzuschlagen! Er hatte anderes zu tun – er konnte weiter Indizien sammeln. Aber … je weiter er in diese Geschichte hineinstieß, desto besorgniserregender wurde sie … Engel verschwanden auf ungeklärte Weise – und seit hundert Jahren war keiner jener Engel zurückgekehrt oder anderweitig aufgetaucht … Was ging da bloß vor sich?

Eine neuartige Krankheit?

Er musste unbedingt weiter in der Vergangenheit herumstochern.

Liana starrte ihn erwartungsvoll an. Oh – er hatte sie wohl ausgeblendet.

Sie starrte weiter. Er würde reagieren müssen.

Er warf Joshua einen kurzen, verzweifelten, Hilfe suchenden Blick zu. Joshua erschien regungslos. Doch in seinen Augen blitzte Belustigung auf. Dieser …

„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, verlangte Liana dann ungehalten zu wissen, „Oder glaubst du, du wärst nicht angesprochen?“

„Ich habe nicht zugehört“, gab er leise zu, „Bitte? Was hast du gesagt?“

Plötzlich lachte die Frau, deren Gesicht älter wirkte als das der anderen, laut auf und fuhr sich durch das braune Haar, in dem auch heute eine so charakteristische Blume steckte. Rot. Ob sie die immer nach ihrer Laune auswählte?

„Ach – du“, begann sie dann, lachte aber wieder, „Genau deshalb liebe ich dich so!“ Das war nur dahin gesagt. „Na dann – auf Wiedersehen.“ Und damit erhob sie sich von der Treppe in die Lüfte und brauste davon.

„Was hat sie gesagt?“, wollte Nathan verwirrt wissen, als er ihr nachschaute.

„Sie hat gesagt“, erklärte Deliora, während sie sich von der Treppe erholt, „… dass sie schwer mit dem Eintreffen der Geschehnisse rechne, die du voraussagtest. Entsprechend geht sie jetzt anderen Tätigkeiten nach, da sich ein Sechsertreffen mit vier Anwesenden ihrer Meinung nach nicht bringt – vor allem wenn die Hauptcharaktere fehlen.“ Sie schaute ihn eisig an. Als wäre es seine Schuld.

„Das hat sie gesagt …?“, fragte er leise. Oh …

Plötzlich wirkte Deliora sehr erheitert. „Ach, was. Sie sagte: Wer zuletzt beim Stadium ist, hat verloren!“ Und damit stieß auch sie sich ab und raste davon. Einige Federn blieben zurück.

Nathan blickte Joshua an. „Aber das hat sie wirklich gesagt, oder?“

Dieser nickte. „Hat sie.“

„Was sagst du zu der ganzen Sache?“, wollte Nathan dann wissen. Wie immer hatte er Joshuas Anwesenheit gemieden. Nur zu Mittwochstreffen sah er ihn. Darum war Nathan auch schon länger nicht mehr bei sich zuhause gewesen. Er wollte Joshua einfach nicht sehen …

Er war so weit von der Gefühlsstärke entfernt, die er besitzen sollte … Hoffentlich würde Acedia nicht in nächster Zeit zu denen zählen, die verschwanden … Hoffentlich behütete ein Assistent Todsünden davor, was-auch-immer zum Opfer zu fallen.

„Du wirkst besorgt“, stellte Joshua sachlich fest.

„Nicht wegen Kyrie, falls du das glaubst“, versicherte Nathan ihm, „Ganz bestimmt nicht wegen ihr …“ Manchmal waren Probleme einfach größer als man selbst. Und trotzdem musste man ihnen gegenüber treten … Zum Glück war er nur derjenige, der die Beweise sammelte – und nicht der, der sie kombinieren und den Fall lösen musste.

Joshua schüttelte den Kopf. „Ich glaube dir, wenn du sagst, dass das normal bei … Menschen ist.“ Plötzlich trat er einen Schritt auf Nathan zu.

Nathans Herz begann, schneller zu schlagen. Sehr viel schneller. So viel schneller, dass er hoffte, dass es nicht platzen würde.

Sie waren völlig alleine hier. Nur er und Joshua. Nur sie … Wie früher …

Instinktiv wollte er einen Schritt auf Joshua zu machen, doch er hielt sich selbst davon ab. Er durfte nicht. Er musste stark sein … Er würde eine Todsünde sein. Er war ein Assistent … Er musste Gefühle ablegen können. Die Gefühle mussten warten können. Sein Verstand durfte nicht durch private Angelegenheiten eingenebelt werden … Er musste … durchhalten … Er …

Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter liegen.

Zwei schwarze Augen starrten ihn entschlossen und mitfühlend an. Sein dunkles Haar glänzte im Gold des Himmels – wieso war ihm dieser wunderschöne Effekt nicht vorhin schon aufgefallen?

„Wenn du reden möchtest“, bot er leise an, „Werde ich für dich da sein …“

Und damit stieß er sich nach oben ab, sodass er ein wenig über Nathan schwebte. Doch er flog nicht weiter. Stattdessen streckte er ihm die Hand, die eben noch auf seiner Schulter gelastet hatte, entgegen. Einladend.

Nathan würde sie nur noch ergreifen müssen … und dann … konnte er mit Joshua fliegen … Wieder mit Joshua fliegen …

Als er es realisierte, hatte er seine eigene Hand bereits zur Hälfte gehoben, um das Angebot anzunehmen. Doch er stoppte. Stoppte sich selbst. Nein … er durfte keine Hilfe in Anspruch nehmen. Als Todsünde empfand er es als seine Pflicht, dem Volk zu helfen – und sich nicht von irgendjemand helfen zu lassen. Schon gar nicht von jemand, den er um jeden Preis beschützen wollte.

Und da begann er, sich zu fragen, ob normale, ranglose Engel ebenfalls verschwunden waren.

Er zog die Hand ein und hob sich empor.

„Pass auf dich auf, Joshua“, bat er ihn – und dann rauschte er an ihm vorbei.

Doch er fühlte den Blick seines Freundes auf seinem Rücken – und er glaubte, dass der Schmerz, die Enttäuschung in den Augen seines Freundes, ihn zum Absturz bringen würden.
 

Kyrie ging es schon wieder viel besser. Die aufbauende Medizin, die sie bekommen hatte, kam ihren Muskeln sehr gelegen. Sie konnte bereits wieder gut auf geraden Ebenen gehen. Bei den Treppen war es noch immer schwierig, vor allem da auch ihr Gleichgewichtssinn etwas ins Wanken geraten war, doch sie war sich sicher, dass sie spätestens morgen wieder sehr gut laufen können würde. Und dass es dennoch seltsam war, diesen Arm nicht mehr bei sich zu wissen … doch sobald sie auf ihn schaute, war er da.

Ein sehr komisches Gefühl …

Sie saß in der Küche.

Ihre Mutter räumte das Geschirr weg. Ihr Vater war kurz nach draußen gegangen.

„Seid ihr … nicht rein zufällig an der Mauer vorbei gefahren?“, wollte Kyrie kaum hörbar wissen. Vielleicht überhörte ihre Mutter die Frage ja. Dann würde sie sich auch das Nein ersparen, welches unweigerlich folgen würde. Gestern war es immerhin dasselbe Spiel gewesen.

Magdalena hielt in ihrer Tätigkeit inne. „Nein, tut mir leid“, antwortete die Mutter danach, „Du weißt … dein Vater …“

Ihr Vater dachte, dass Ray etwas mit dem Vorfall zu tun hatte. Er glaubte, dass Ray irgendetwas dafür konnte, dass …

Ein Blick auf ihren Arm genügte, um zu verzweifeln. Wieso glaubte er das bloß? Was brachte ihn dazu, an diese Idee festzuklammern, egal wie oft Kyrie ihm versicherte, dass es auch wirklich nicht so gewesen wäre …

„Du verschweigst ihm etwas“, erklang die Stimme ihrer Mutter leise, „Und das will er nicht … Er denkt, dass dies mit Ray zu tun hat … Dass dies der Grund ist, weshalb Ray an dieser Mauer nicht anzutreffen sein wird …“ Sie wandte sich zu Kyrie um. „Kyrie … Bitte – erzähle uns die Wahrheit … Du weißt, wer dahinter steckt …“ Sie schwieg für einen Moment. „Warum kannst du es uns nicht sagen?“

Kyrie öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn darauf hin aber gleich wieder. Was sollte sie sagen? Was nur konnte sie mehr sagen, als sie gestern bereits verlauten lassen hat?

“Ich bin aus dem Himmel herabgestiegen. Ich ging ganz normal das verlassene Wohnhaus hinunter … und auf der letzten Treppe hat mich plötzlich jemand angerempelt. Ich habe keine Ahnung, wer es war – jedenfalls bin ich im Affekt gestürzt … und …“

Ihre Eltern waren skeptisch gewesen. Weshalb hatte sie diese Geschichte dann keinem Arzt gesagt? Es hatte doch nichts mit dem Himmel zu tun …

Ihre Ausrede, einfach nicht sicher gewesen zu sein, hatte keine Wirkung erzielt.

„John ist wirklich sehr aufgewühlt aufgrund deiner …“ Ihre Mutter unterbrach sich plötzlich mit einem „Oh!“.

Kyrie schaute zu ihr – dann folgte sie ihrem Blick zum Telefon.

„Und ich habe mich schon gefragt, weshalb schon seit Tagen niemand mehr angerufen hat …“ Die Frau legte sämtliches Geschirr nieder und machte sich zu der Fernsprechanlage auf.

Kyrie erhob sich ebenfalls und folgte ihrer Mutter zu dem kleinen Gerät.

„Telefone braucht man in Zeiten von Handys doch nicht mehr“, behauptete Kyrie leise, „Wieso haben wir das überhaupt noch?“

„Weil ich mich gegen Handys weigere“, kam das alte Argument ihrer Mutter, während diese sich hinunterbückte, um ein Kabel anzuschließen.

„Alles in Ordnung? Soll ich dir helfen?“, fragte Kyrie besorgt.

„Nein – alles wieder in Ordnung“, lehnte ihre Mutter freundlich ab und stellte sich wieder auf. Dann rieb sie sich die Hände. „Wozu braucht man denn Männer?“, warf sie rhetorisch in den Raum – und höchst selbstzufrieden.

„Wieso war das ausgesteckt?“, wollte Kyrie wissen, während sie das Gerät musterte. Das Kabel wirkte recht stabil und schien gut zu stecken. Und keiner würde an der letzten Ecke der Küche so stolpern, dass er das Kabel unbemerkt entfernte …

„Gute Frage“, murmelte ihre Mutter, „Aber das ist doch auch egal, oder? Einige Tage ohne ständige Erreichbarkeit sind auch schön!“ Sie lächelte. Dann ging sie wieder zurück, um dem Geschirr den letzten Schliff zu geben. „Ich habe deine letzten Kleider übrigens bald fertig. Dann kommt die Winterkollektion.“

„Danke“, sagte Kyrie erfreut, „Ich gehe dann ins Wohnzimmer … Bringst du mich hoch, sobald du Zeit hast?“, fragte sie ein wenig unbeholfen. Es war seltsam, jemanden darum bitten zu müssen, einem beim Gehen zu helfen … Aber hoffentlich nur noch bis morgen … Hoffentlich …

Wenn alles so verlief, wie die Ärzte das vorausgesagt hatten, dann konnte sie bereits ab Montag oder Dienstag wieder zur Universität … und Ray würde … würde dann hoffentlich da sein … Hoffentlich …

Kyrie schaute auf die Uhr und wusste, dass ihre Eltern bald zurückkehren würden. Sie würden vermutlich wieder nicht bei Ray vorbeischauen. Und sie würden sie heute wohl wieder einer Befragung unterziehen.

Am besten hielt sie sie damit ab, indem sie im Zimmer blieb und sich dann beim Treppensteigen helfen ließ.

Sie hatte während des gesamten Morgens geübt, die Treppen auf und ab zu steigen, wobei sie darauf achten musste, ihre Beine richtig zu belasten und das Gleichgewicht auch ohne ihren linken Arm zu finden. Das gestaltete sich als relativ schwierig. Aber machbar. Und zeitaufwändig. Doch mittlerweile gelang es eigentlich ganz gut.

Deshalb hatte sie sich noch einmal, ein letztes Mal für diesen Vormittag, quälend langsam nach oben begeben, um hier bleiben zu können und zu lernen. Sie hatte bereits einige Zeit in ihre Bücher investiert. So viele verschiedene Dinge, die einst geschehen sein hätten sollen, standen in diesen Unterlagen – doch langsam startete sie, an ihnen zu zweifeln. Viele hingen mit Gott in Verbindung. Jemand, der immer für sie da war – ja, er war da … Nur nicht ganz so nah, wie diese Schriften es vermuten ließen. Er schützte sie vor den feindlichen Dämonen, die auf schwache Menschen übergreifen wollten – oder auf Halbmenschliches …

Nun – nur noch bis Sonntag. Dann konnte sie sich anderen Dingen widmen. Am Sonntag würde Kyrie nämlich ihren Vater bereits wieder zur Messe begleiten können. Weil er dabei war. Würde sie alleine hingehen wollen, hätte er es ihr vermutlich untersagt.

Ihr Vater machte sich einfach nur zu viele Sorgen … Viel zu viele, als es ihm überhaupt selbst gut tat … Aber wie sollte sie ihn auch davon abhalten? Es war doch irgendwie gerechtfertigt, dass er sich so quälte – so ganz ohne Information! Er verstand immerhin nicht, was wirklich los war … konnte es doch nicht verstehen! Noch immer hatte er sich diese absurde Idee, dass Ray irgendwie darin verwickelt sein würde, nicht aus dem Kopf geschlagen … Sie wusste einfach nicht, was sie ihm noch sagen sollte – außer, dass Ray ganz bestimmt nicht der „unbekannte Angreifer“ gewesen war!

Aber – sie konnte ihm doch nicht mehr erzählen! Es war eine Geschichte von Engeln … und für Engel. Nicht für ihren Vater, nicht für einen Menschen und schon gar nicht für einen Gläubigen! Für einen, der an das Gute glaubte, der an die guten Engel und Gottes ständige Gegenwart glaubte ...

Sie versteifte sich beim Gedanken daran. Vor drei Wochen war sie noch genauso gewesen. Und in nur einer Nacht war ihr Horizont so grandios erweitert worden, dass … dass sie es so einfach akzeptiert hatte, dass alles, was sie bisher geglaubt hatte, teils eine absolute Lüge, andererseits aber auch die Wirklichkeit war … So kompliziert …

Ihr Kopf schmerzte. Wie würde es da ihren Vater ergehen, der das Licht des Himmels nicht so kannte, wie sie es tat? … Getan … hatte …

Getan hatte. Vergangenheit. Es gab kein Zurück. Und es waren keine menschlichen Angelegenheiten, die Xenon da klären hatte wollen. Dämonen … Sie erschauderte. Dämonen! Sie? Ein Dämon? Wie sollte sie das ihrem Vater bitte beibringen, wenn sie es noch nicht einmal schaffte, die theoretische Existenz von Dämonen anzusprechen! Wie?!

Plötzlich ertönte ein ungewohntes Geräusch. Ihr Herz machte einen Satz. Schock …

Dann realisierte sie, dass sie bloß das Telefon hörte.

Sie verstand jetzt, weshalb ihre Mutter erleichtert über die telefonfreien Tage war. Kaum hatte man es eingeschaltet, klingelte es auch schon wieder … Aber … vermutlich wäre es doch ratsam, sich zu melden. Sonst machte sich womöglich noch jemand unnötig Sorgen …

Sie erhob sich ächzend und startete langsam los.

Nun – es würde auf die Geduld der Person ankommen. Sie hätte sich gerne beeilt, aber das lag nicht im Bereich des Möglichen. Hoffentlich hatte derjenige sich nur verwählt und würde seinen Fehler gleich von selbst bemerken.

Kyrie schleppte sich zur Tür und stieß diese auf, dann machte sie sich den Gang entlang, wobei sie zweimal beinahe stolperte … und noch ehe sie die Treppen erreicht hatte, war es auch schon wieder vorbei.

Das war dann wohl nichts … Zum Glück.

Sie wartete für einen kurzen Moment – doch das Telefon begann nicht erneut zu klingeln. Dann drehte sie sich um, um wieder in ihr Zimmer zurückzukehren. Dann konnte sie ja weiter lernen. Oder Trübsal blasen. Was auch immer zuerst kam.
 

„Es funktioniert wieder?“, freute sich Ray, „Entschuldigen Sie die erneute Störung … Aber Sie scheinen vergessen zu haben, dass ich angerufen habe? Würden Sie mich dieses Mal bitte zurückrufen? Ich mache mir Sorgen um Kyrie … Scheint meine Nummer bei Ihnen überhaupt auf?“ Er stockte kurz. „Moment – ich sage sie Ihnen gleich an.“ Er diktierte die Nummer langsam und deutlich. „Vielen Dank … Auf Wiederhören.“

Zumindest funktionierte das Gerät wieder. Ob sie einen kurzen Anschlussausfall gehabt hatten?

Er war erleichtert, dass das Telefon endlich wieder seinen Zweck erfüllt hatte. Zum Glück hatte er nicht aufgehört, sich an die Hoffnung namens Nummer zu klammern. Das mit dem Auto konnte er immerhin nur durchziehen, wenn Ted ihm seinen Wagen und seine Zeit lieh. Und das war ihm in den letzten drei Tagen leider nicht gelungen. Und Mark und Ken waren beide so alt wie er und damit ohne Fahrberechtigung. Ein trauriges Detail.

Genauso wie das, dass er schon wieder alleine auf dieser Mauer saß und sich darüber Gedanken machte, weshalb Kyrie nicht kam. Genauso wie gestern. Und vorgestern. Er hatte sie nun schon seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Langsam musste man ihn für einen übergeschnappten Stalker halten!

Was, wenn sie nie mehr wieder kommen würde? Wenn er den Rest seines Lebens alleine auf dieser Mauer verbringen würde, nur weil er auf jemanden wartete, der letzten Endes doch nie mehr zurückkehren würde?

Aber was war, wenn sie zurückkehrte und er nicht da war? Dann wäre all die Zeit, die er hier gesessen und gehofft hatte, umsonst gewesen. Und sie wäre vermutlich enttäuscht. Außer es ging immer noch von ihr aus …

Diese verfluchte Unsicherheit!

Hoffentlich würde John zurückrufen. Der Mann musste doch vernünftig sein! Immerhin hatte er dieses Mal sogar seine Nummer hinterlassen …

Er starrte sein Handy missmutig an. „Komm schon. Einmal musst du doch einen Sinn haben!“, keifte er es an. Dann steckte er es wieder ein und seufzte.

… Er brauchte wirklich ganz dringend eine neue Beschäftigung.
 


 

„Lege dich wieder hin“, sagte Magdalena fürsorglich, als sie Kyrie vom Stuhl aufhalf, „Du hast dich einfach überanstrengt. Bist du den ganzen Vormittag lang die Treppen auf und ab gegangen?“

Das entschuldigende Lächeln seiner Tochter bejahte die Vermutung eindeutig.

John saß noch am noch nicht abgeräumten Esstisch.

Eigentlich wollte er Kyrie heute wieder befragen. Aber sie war beim Essen eingeknickt und schon sehr blass erschienen … Hätten sie sie doch wieder ins Krankenhaus bringen sollen?

Magdalena stützte Kyrie und verließ mit ihr die Küche.

Die beiden Damen schafften das ohne ihn, hatten sie ihm versichert. Das würde er ja dann sehen …

John seufzte.

Seine Schüler waren sehr erleichtert gewesen, ihn wieder zurückzuhaben. Auch die Pfarren, an denen er abends und früh morgens predigte, schienen sehr erfreut über seine Rückkehr zu sein. Seine Kollegen hatten sich aufgrund seiner Abwesenheit bereits gesorgt – und als er ihnen erklärt hatte, dass seine Tochter einen Unfall gut überstanden hatte, schienen sie alle erleichtert. Vermutlich weil das bedeutete, dass sie nicht mehr für ihn einspringen mussten.

Aber auch die Leute, denen er vorsprach, schienen wesentlich gespannter als sonst zugehört zu haben. Ob sie seine Anwesenheit vermisst hatten? Leider hatte er nach den Predigten keine Zeit für private Gespräch – sonst nahm er sich immer Zeit dazu, auf Einzelne einzugehen -, da er wegen Kyrie nach Hause wollte, um sie einerseits zu schützen und andererseits Magdalena zu entlasten. Diese war immerhin auch wieder voll im Berufsleben tätig.

Er erhob sich, um die Teller zu stapeln und zur Spüle zu bringen – und auf dem Weg zu dieser erkannte er, dass etwas am Telefon blinkte. Er zog die Stirn kraus.

Danach legte er die Teller ab und machte sich zum blinkenden Gerät auf. „Nachricht“, las er leise vor. Und dabei wunderte er sich, wer das Telefon wieder eingesteckt hatte.

Nachdem er sich kurz versichert hatte, dass Kyrie und Magdalena nicht auf der Treppe waren, hörte er die Nachricht ab. Und fühlte sich bestätigt: Dieser Junge glaubte schon wieder, sich melden zu müssen! Was war er? Ein Stalker?

Diesmal klang er weitaus selbstsicherer. Er lauschte den Worten von Ray, der sich diesmal gar nicht vorgestellt hatte, dafür aber kurz davor war, seine Nummer zu hinterlassen.

John regte sich nicht, um die Nummer zu notieren. Hätte er zurückrufen wollen, so hätte es nur einer Taste bedurft. Doch er weigerte sich.

Die Nachricht endete.

„Wer war das?“, erklang plötzlich Magdalenas Stimme hinter ihm.

Er schaute zu ihr. Wie lange hatte sie da gestanden? „Niemand Wichtiges“, antwortete John daraufhin.

Seine Frau zog die Augenbrauen nach oben. „Was wollte er denn?“

John zuckte mit den Schultern. „Ich denke, er hat sich verwählt.“ Eine Lüge. Eiskalt hatte er seine Frau belogen … Was wurde nur aus ihm? Und das nur wegen diesem Ray … wegen dieser ungeklärten Sache … Es lastete schwer auf ihm. Alles. Aber er war so unsicher! Was verschwieg ihm Kyrie nur? Was? Was war in den letzten Wochen bloß geschehen, dass er seine ehrliche, offenherzige Tochter auf diese Weise verlieren musste? Sie hatte ihm doch immer alles gesagt, oder etwa nicht? Was veranlasste sie nur dazu, in dieser wirklich wichtigen Sache zu schweigen?!

Aber er wollte nicht, dass seine Frau von diesen Anrufen erfuhr. Sie verstand es einfach nicht! Sie sah nicht hinter Kyries Fassade! Da war etwas mit diesem Jungen, das Kyrie ihnen nicht sagen wollte! Und womit sonst sollte es zu tun haben als mit diesem Übergriff?!

Aber wenn er jetzt noch einmal den Stecker zog, so war es zu auffällig … Das Einzige, was er tun konnte, war, den Hörer nicht ganz aufzulegen … Aber das musste er dann morgens tun … Dann würde der Junge auch nicht an die Freisprechanlage kommen und Kyrie würde ihn nicht hören. Dann würde sie ihn vielleicht vergessen – oder gestehen, dass er etwas mit der Sache zu tun hatte. Oder ihm irgendetwas anvertrauen. … Warum musste ausgerechnet die eine Person, von der er ein Einzelgespräch erwartete, abblocken, wo alle anderen ihm hinterherliefen?

„Ach so …“, murmelte sie dann, „Der arme Mann – dann wird er das ja nie erfahren … Rufst du ihn nicht zurück?“ Sie legte den Kopf schief und blinzelte ihm zu. War das ein auffälliges Blinzeln? Ahnte sie etwas?

„Ich will nicht, dass in diesem Haushalt mit Fremden telefoniert wird“, murrte er griesgrämig und ging dann zur Spüle, „Heute wasche ich ab. Ruh du dich aus.“

Seine Frau sah ihn noch kurz irritiert an, bedankte sich dann aber und ging.

Und er spülte, während er über seine Missetaten nachdachte …

Konnte er es irgendjemanden beichten, um sich zumindest vor Gott rechtfertigen zu können? Außer im Gebet.
 


 

Als Ray bei sich zuhause ankam, entdeckte er Kim, welche unruhig in der Küche hin und her ging.

„Ray!“, rief sie erleichtert, als sie ihn eintreten sah. Sie kam sofort zu ihm. „Es tut mir leid – ich konnte gestern einfach nicht so lange warten und dann warst du plötzlich weg und- …“

Er unterbrach sie forsch: „Komm auf den Punkt.“

„Was ist herausgekommen? Beim Telefonat?“, fragte sie ehrlich besorgt. Ihre Stimme klang mitfühlend. Ihre Augen drückten Sorge aus.

Er zuckte mit den Schultern. „Sie rufen nicht zurück“, antwortete er schlicht. Sie sollte nicht bemerken, wie nahe ihm dieser Umstand ging.

„Ach so …“, gab sie dann – betrübt? - von sich.

Er drückte sich an ihr vorbei in der Erwartung, dass sie sowieso gleich aufbrechen und ihn in Ruhe lassen würde. Aber wie sooft irrte er sich.

„Warte“, bat sie dann schnell, wobei sie sich umdrehte und ihn am Ärmel festhielt.

Er blieb stehen. Langsam drehte er sich dann zu ihr um und schaute ihr ins Gesicht, um herauszufinden, was ihr am Herzen lag.

„Ich … Also … John Kingston predigt wieder …“, erzählte sie ihm leise, „Also habe ich angenommen, dass alles wieder in Ordnung sei …“ Sie stockte kurz. „Ich wollte ihn fragen, was es mit seinem Fernbleiben auf sich hatte … doch er war schnell wieder fort …“

Ray regte sich nicht. John Kingston.

Also war in ihrer Familie wieder der Alltag eingekehrt? War alles wieder normal …?

„Wann war die Predigt?“, wollte er leise wissen. Wenn sie heute Vormittag gewesen war … weshalb war Kyrie dann nicht erschienen?

„Dienstag Abend“, lautete ihre Antwort, welche sie mit gequälter Stimme hervorstieß, als würde es sie selbst betreffen. Warum fühlte sie sich so in ihn hinein? Sie brauchte das doch nicht zu tun! Sie sollte … sie sollte … Was? Ihn die Treppe runterstoßen? Nein. Stopp. Das ging in die falsche Richtung!

„Danke“, meinte er daraufhin tonlos, ohne Emotion in seiner Stimme mitschwingen zu lassen, und setzte sich wieder in Bewegung, um in die Küche zu gelangen – doch sie hielt ihn nach wie vor fest. Er versuchte, sich loszureißen, aber sein Arm war zu schwach. Er hasste das Gefühl. „Lass …“, wollte er gerade seine Freilassung fordern, doch sie unterbrach ihn.

„Am Sonntagmorgen wird er wieder dort sein … Willst du am Sonntag …?“ Ihr Blick war fragend. Ihre Stimme klang verzweifelt – so, als wollte sie ihm unbedingt um jeden Preis helfen. Warum musste sie ihn festhalten? … Weil er abhauen würde. Aber … Sonntag …

„Ich überlege es mir“, antwortete er schlicht, woraufhin sie ihn sofort los ließ. Er marschierte in die Küche.

„Bis … dann“, verabschiedete sie sich noch, ohne ihm in die Küche zu folgen. Er hörte nur ihre Absätze, die bei jedem Schritt ein Klicken von sich gaben, und dann die Tür, die sie zuschlug. Draußen wurde ein Auto gestartet.

Am Sonntag gab es also eine Messe, auf der John Kingston sein würde? Eine … heilige Messe? Dann würde er dem Mann aus dem Auto also endlich in der Realität begegnen? Seine Predigten hören? Ein … Gotteshaus betreten?

Wollte er das wirklich? Wollte er in Kyries Reich eintreten und sich dort einen Platz erschwindeln, obwohl ihm nichts an all dem Gerede lag? Bloß an ihr? Konnte er das tun … oder war das falsch?

Wenn es um Gott ging, so musste er oftmals an seine Mutter denken. An seine Kindheit. Zusammen waren sie sehr oft zur Kirche gegangen. Seine Mutter hatte immer für die Gesundheit und das Glück ihrer Kinder gebetet und auch gehofft, dass irgendwann alles besser würde …

Was ihr ihre Gebete gebracht hatten, sah man ja am Ergebnis. Nichts war besser. Und glücklich war er auch nicht. Konnte nicht glücklich sein. Wollte nicht glücklich sein.

Wenn er glücklich war, dann würde er sich seiner Mutter gegenüber schlecht fühlen. Warum hatte es sie so hart erwischt und er … Er jammerte wegen eines Armes der noch Restbeschwerden aufwies … Einfach ein peinliches Verhalten …

Aber dennoch … diesen Gott gab es nicht. Höchstens, dass er wirklich nur gegen diese Dämonen kämpfte, wie Kyrie es behauptete, auch wenn er diese Version wirklich nur von ihr kannte. Doch war es nicht die Aufgabe eines Gottes, sich um die Beschwerden der Menschen zu kümmern? War er nicht dafür geschaffen, ihnen zu helfen, sodass sie im Gegenzug dafür an ihn glauben konnten?

Wieso sollte jemand an ihn glauben, wenn es sowieso nichts brachte. Wenn man … letzten Endes doch verletzter war als zuvor.

Und wieder einmal fragte er sich, weshalb sich Kyrie so zur Theologie hingezogen fühlte. Natürlich – sie war aufgrund ihres Vaters vorbelastet, aber was genau brachte es ihr, an diese mysteriöse Gestalt zu glauben? Immerhin unterschied sie sich … in direkter Weise kaum von anderen. Natürlich war sie auf diese spezielle Weise einfach seine Mauerfreundin, die er nicht verlieren wollte, aber … dennoch … Er würde es nicht verstehen.

Er ging zur Mikrowelle und setzte diese in Gang, um das Essen zu wärmen, welches Kim noch immer – liebevoll? - für ihn zubereitete. Sie würde das vermutlich niemals lassen … Dabei dachte er an Ted, welcher niemals solch ein Essen bekam … Doch es kam von Kim.

Wie sollte er es da schätzen? Immerhin war es Kim und Kim … wollte ihm helfen.

Sein Blick wanderte wieder zur Mikrowelle.

Was hatte Gott dann überhaupt zu dieser Mikrowelle beigetragen? Was tat er eigentlich? Es war ja nicht einmal bewiesen, dass er sie wirklich alle erschaffen hatte. Und wenn doch – weshalb hatte er ihnen allen dann das Leid mitgegeben? Oder das Böse …?

War das alles auf die Dämonen zu schieben?

Beinahe musste er laut auflachen.

Weshalb machte er sich eigentlich darüber Gedanken? Wollte er sich jetzt Gründe suchen, weshalb er am Sonntag in die Kirche gehen sollte? Um herauszufinden, ob er dazu bereit war, eines dieser Gebäude wieder zu betreten?

Er brannte schon sehr darauf, John zu treffen und ihn zur Rede zu stellen. Ihn zu fragen, wo Kyrie war – oder vielmehr ihn anzuflehen, ihm diese Frage zu beantworten. Ja, sehr wahrscheinlich würde es in einem verfluchten Flehen enden, weil er keine Ahnung hatte, was er sonst noch tun konnte!

Aber … würde er es wirklich tun können?

All die Jahre, die er sie gemieden hatte, diese Häuser … Würde er all die Zeit aufs Spiel setzen, nur um vielleicht auf John zu treffen? Wenn er genauso schnell wieder verschwinden würde wie am Dienstag …? Wenn er sich dann umsonst diese ganze Predigt antun würde? War John es wert? … Das war die relative Frage. Aber … eines wusste er: Kyrie war es wert.

Er seufzte lautstark. Was war eigentlich los mit ihm? Er wurde hier noch verrückt! Das war bestimmt das Klima. Ganz bestimmt.

Er betätigte die Mikrowelle. Und der Hunger.

… Aber er würde etwas über Kyrie herausfinden. Und wenn er sich dafür an Johns Wagen klammern musste. Er würde es tun.

Kyrie erwachte gähnend, als ihr Wecker klingelte. Sie blieb für einen kurzen Moment liegen. Dies war die erste Nacht seit dem Vorfall, in der sie relativ ruhig und gut geschlafen hatte. In der sie nicht noch lange über Xenon nachgedacht hatte … Sie fragte sich, ob Xenon jetzt glücklich war. Er hatte es geschafft, sie aus dem Himmel zu vertreiben … Hatte es ihm wirklich etwas gebracht?

Sie bewegte sich aus dem Bett und blieb dann im Nachthemd in ihrem Zimmer stehen. Ihre Muskulatur hatte sich sehr gut erholt. Sie spürte nichts mehr. Nach ihrem kleinen Schwächeanfall von gestern war einfach nichts mehr vorgefallen. Sie durfte es bloß nicht übertreiben.

Ihr Blick fiel auf den Arm, der einfach lasch herunterhing, als würde er nicht leben. Als gehörte er einer Toten. Sie konzentrierte sich fest darauf, ihn zu bewegen, doch es war nicht möglich. Er schien wie ausgelöscht – sie konnte ihn sehen, aber mehr war da nicht … Gar nichts.

Sie seufzte und drehte sich zu ihrem Bett, um es zu richten. Dabei fiel ihr Blick auf die Feder, die sich in diesem Glas befand. Für einen kurzen Moment schaute sie diese an. Sie wollte sich wieder abwenden, doch … Die weiße Feder zog sie an … Sie wollte sie spüren, ihre Flügel wieder entfalten … fliegen … wollte im Himmel sein … Aber …

Würden die Flügel ihre Sehnsucht nicht nur verstärken? Sollte sie sie nicht einfach in sich behalten? Oder besser: Sie vergessen? Immerhin … waren sie nun in etwa so wertlos wie ihr Arm. Sie wusste, dass sie da waren … aber mehr auch nicht. Sie konnte sie nicht benutzen.

Sie setzte sich auf das Bett und griff zur Feder, über welche sie einmal kurz strich. Sie war weich und zart. Sie hätte auch einem Vogel gehören können … einem freien Vogel, der im Himmel herumfliegen konnte, wie er wollte … Vielleicht waren es in ihrem Fall dann wohl eher Hühnerflügel als Schwanenflügel.

Sie lächelte über diesen lächerlichen Vergleich. Es würden Engelsflügel sein – egal was geschah.

Mit diesem Gedanken stellte sie das Glas mit der Feder zurück auf das Regal, auf welchem mehrere Glücksbringer standen. Die erste Feder brachte Glück, hatte Nathan ihr versichert. Ob er davon auch überzeugt war …? Kyrie konnte jetzt etwas Glück gebrauchen … Aber auf was genau hoffte sie eigentlich? Ein Wunder?

Sie nahm die Bettdecke - mit einem Arm. Weil sie nur einen hatte. ... Wie sollte sie das Bett mit nur einem Arm zusammenlegen? Das war doch ... Sie hielt die Decke nach wie vor unschlüssig in der Hand. ... Konnte man mit nur einer Hand aufbetten? ... Sie sah zur Tür. Würde sie jetzt wirklich wegen ihrer Bettdecke ihre Mutter holen müssen? ... Sie starrte auf ihre Hand.

Warum war das alles nur passiert? Sie machte jedem noch viel mehr Ärger als ohnehin schon ... Mutlos ließ sie die Decke fallen. Es hatte keinen Zweck. Gar nichts hatte einen Zweck ... Sie starrte zum Kleiderschrank. Zumindest Anziehen würde alleine noch klappen, oder?

Sie unternahm den Versuch - und zu ihrer enormen Erleichterung funktionierte es auch. Sie entschied sich für eines der letzten Kleider, die noch nicht auf ihr Engelsdasein zugeschnitten waren. Ein freier Rücken würde ihr sowieso nichts mehr nützen … Wie sollte sie das nur ihrer Mutter verdeutlichen?

Sie seufzte … Ein Wunder – ja, das wäre doch etwas …

Und damit ging Kyrie nach unten, um ein Frühstück einzunehmen. Alleine …
 

Ray verließ die Vorlesung, wobei er sich nicht anmerken lassen wollte, dass er es heute wieder eilig hatte – manchmal glaubte er, er müsse einfach früher dort sein, um Kyrie anzutreffen und andere Male war er davon überzeugt, dass er sich sehr viel Zeit lassen musste. Es war wirklich … ein Dilemma.

„Ray!“, ertönte eine Stimme hinter ihm.

Wenn die Stimme nicht so tief und abgehakt geklungen hätte, dann hätte er sich einreden lassen, dass es sich um Kyries Stimme handelte. Als er aber stehen blieb und dem Sprecher ins Gesicht sah, bestätigte sich sein Verdacht, dass es sich nur um Ken Melron handeln konnte.

Der junge Mann hatte blondes Haar und einen blonden Bartansatz, der für einen aus dem Niedlichen Dorf üblich geschnitten war – in Form eines Herzens. Auch Ken war einer jener seltenen Immigranten, die dazu gezwungen worden waren, in die Stadt zu kommen – vor allem, um zu studieren. Aber Ken schien das wenig zu stören. Dafür blitzten seine zwei smaragdgrünen Augen viel zu freundlich. Allerdings konnte er einfacher in seine Heimat zurückkehren als Ray. Im Gegensatz zum Roten Dorf war das Niedliche Dorf nämlich sehr nah zur Nördlichen errichtet worden.

Wie immer trug er seine schwarze, dick geränderte Brille, welche ihn besonders intelligent wirken ließ. Sein grau schimmernder Anzug unterstrich diesen Eindruck lediglich. Wenn man ihn aber genauer kannte, dann wusste man, dass er mehr ein Besserwisser als ein Alleswisser war. Aber vermutlich machte ihn genau das so liebenswürdig. … Oder so ähnlich.

„Was ist?“, fragte Ray, um das Gespräch auf den Punkt zu bringen. Er musste sich heute wieder beeilen! Vielleicht war mit ihrem Vater ja wieder alles in Ordnung – aber Kyrie selbst? Was, wenn sie eben erst ab heute wiederkehren würde?

„Kling nicht so gereizt“, forderte der Mann, während er sich seine Brille zurechtrückte, „Und sei lieber gespannt!“ Er lächelte provokant.

„Was willst du?“, forderte Ray – noch immer ungehalten – zu wissen. Der Junge wusste einfach, wie man andere zur Weißglut brachte. Das war dann seine andere Seite.

Er grinste. „Du weißt doch bestimmt, dass die Sieben Sünden in der Nördlichen auftreten, oder? Im Osten!“ Er wirkte hellauf begeistert, als er dies verkündete.

Ray dachte kurz darüber nach. Stimmt, er hatte davon gehört, dass die Sieben Sünden, eine sehr beliebte Band, die ihren Beliebtheitsgrad über beide Kontinente erstreckte, in diesem Jahr zum ersten Mal in der Nördlichen auftreten würden. Sie bevorzugten die Dörfer, weil sie eine kleine Gruppe, die total abging, lieber befriedigten als eine große Menge. Deshalb hatten sie sich auch eine kleine Konzerthalle irgendwo in der schäbigsten Gegend gesucht, um die Leute abzuschrecken und „wahre Fans“ hervorzulocken.

Ray mochte die Lieder dieser Band, auch wenn man das bei denen kaum pauschal festlegen konnte – eröffneten sie einmal ein total schnelles, hitziges Lied, bei dem man fieberte, kam als nächstes ein langsames, von dem man beinahe einschlafen konnte. Also sehr turbulent. Aber alles in allem waren sie einfach großartig.

„Ja“, stimmte Ray zu, „Und ich weiß auch, dass das Konzert bereits vor einem Jahr ausverkauft war.“ Und aus diesem Grund hatte er sich auch nicht mehr damit beschäftigt. Es gab so viele Bands auf der Welt, die gute Lieder anboten – da musste er nicht unbedingt die Sieben Sünden real sehen.

„Wir haben eine Karte für dich!“, platzte Ken heraus – übertrieben enthusiastisch.

Ray war dennoch perplex. Sprachlos.

Ob er gerade mit offenem Mund da stand?

„Wir haben eine Karte für dich!“, wiederholte der Mann noch einmal – mit einem kecken Grinsen. Einem boshaften, kecken Grinsen.

Ray starrte.

„Wir haben eine Karte für dich!“, sagte er erneut, als hätte er es noch nie gesagt.

Ray beruhigte sich. „Das hast du bereits gesagt“, wies er seinen Kollegen sachlich an. Dann änderte er seinen Tonfall: „Ihr habt also wirklich eine Karte für mich?“, wollte er gespannt wissen, „So richtig eine Konzertkarte für die Sieben Sünden im Ostblock und das in gut einem Monat?“ Er zog die Stirn kraus. „Wie das?“

Ken räusperte sich. „Also – alles hat vor einem Jahr angefangen, als ich mir diese fünf Karten gekauft habe. Na ja – da waren wir ja noch nicht einmal auf der Uni. Deshalb habe ich sie auch zur Seite gelegt, um sie für meine zukünftigen Freunde aufzubewahren. Aber mir sind sie …“ Er stockte kurz, um verlegen zu grinsen. „Na ja … Ich habe sie eben vergessen. Und als sie mir beim Aufräumen entgegen gefallen sind, habe ich mir Gedanken darum gemacht, mit wem ich sie teilen könnte. Dass meine Freundin …“ Er schaute sich schnell um, um sich zu versichern, dass auch keiner zuhörte.

Stimmt, Ken hatte eine Freundin. Ray selbst hatte sie noch nie gesehen, weshalb er auch langsam bezweifelte, dass sie wirklich existierte … Aber wenn er schon eine Karte für sie hatte?

„Also Maggie kommt auf alle Fälle mit, das stand für mich fest. Ich habe sie gefragt, ob ihr jemand einfallen würde, den sie mitnehmen wollte und da hat sie mir sofort zehn Leute genannt. Aber ich kenne die alle nicht und daher will ich nicht, dass die mitkommen. Darum habe ich Mark und Ted gefragt“, erklärte er ihm, wonach er kurz pausierte.

Ray seufzte innerlich. Ken war eigentlich ziemlich schweigsam. Aber wenn er einmal sprach … dann redete er einfach. Und er war dann nicht mehr zu stoppen. Und wenn Ray die Karte haben wollte, dann musste er jetzt durch.

„Ted war sofort einverstanden, Mark hat an dem Datum leider schon ein anderes Event im Visier! Also musste ich mich auf Teds Urteilsvermögen verlassen und er hat sich sofort für dich entschieden – du wärst mir ja gar nicht eingefallen!“ Er grinste entschuldigend.

War das jetzt ein Scherz … oder nicht?

„Und als fünfte Person kennt Ted da jemanden, der einfach perfekt für dich wäre, hat er gesagt! Und darum kommt Mel mit, die ist nämlich noch dazu eine von Maggies Freundinnen, die sie sowieso aufgelistet gehabt hatte und darum die perfekte Beifahrerin!“ Er wirkte hoch erfreut, dass er Ray die Geschichte jetzt erzählt hatte und schaute einfach so drein, als könnte seine Antwort gar nicht mehr negativ ausfallen.

Mel? Okay. Gut – dann würde er eben mit dieser Mel weggehen! Hauptsache er konnte die Sieben Sünden doch genießen. Wenn er die Karten nicht vor die Nase gehalten bekommen hätte, hätte er auf das Konzert verzichten können – aber wenn er sie schon so angeboten bekommen hatte … Und neben den Sieben Sünden auch noch Ted und Ken zu genießen, welche einfach die abgedrehteste Mischung überhaupt ergaben … Ja. Das würde ein äußerst angenehmer Abend werden. Zumindest, wenn diese Mel erträglich war.

Und Maggie. Falls sie existierte.

„Gut. Ich komme mit“, stimmte Ray zu, „Danke für die Einladung.“ Er lächelte Ken an.

Ken lächelte zurück – und plötzlich hielt er zwei Karten in der Hand. „Gib die eine Mel. Das wird sie sicher total umhauen und ihr werdet in drei Wochen verheiratet sein.“ Er grinste.

Ray grinste nicht.

Manchmal war Ken einfach zu oft mit Ted zusammen. Er würde den kleinen Kerl einmal wieder umkonvertieren müssen, sodass er sich von Scherzen dieser Art fern hielt. Die waren Teds Eigentum – ohne die war Ted nicht Ted. Aber Ken war mit diesen Scherzen einfach nur nervig.

„Danke. Wir sehen uns bei der nächsten Vorlesung“, sagte Ray daraufhin und ging von Dannen.

„Bis dann“, verabschiedete sich Ken, „Und vergiss ja nicht, dich auf das Konzert seelisch vorzubereiten! Wir werden so abgehen!“

Ray antwortete nicht, sondern verließ am schnellsten Weg die Universität. Hoffentlich hatte er Kyrie nicht wegen ein paar dummen Karten verpasst!

Plötzlich bemerkte er, dass er rannte. Daraufhin bremste er sich.

Was machte er da eigentlich? Hetzte sich herum …

Er holte sein Handy aus der Tasche und begutachtete die Uhr. Es war seine und Kyries Zeit. Er war wirklich spät dran. Sollte er jetzt schon anrufen? Aber was, wenn sie auf der Mauer saß?

Dann würde einfach niemand zuhause sein. Wie die letzten paar Male.

Aber eigentlich wollte er gar nicht anrufen. Das würde doch … aufdringlich sein, einfach jeden Tag an diesem verfluchten Telefon zu läuten – aber … War es nicht auch unhöflich, einfach nicht zurückzurufen?
 


 

Kyrie schaute auf die Uhr. Ihre Eltern würden wohl bald zurückkommen. Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch.

Seit sie als Engel entlarvt worden war, hatte sie nie mehr so viel Zeit ins Lernen investiert wie in den letzten paar Tagen. Vielleicht war es ganz gut, dass sie sich jetzt wieder vollkommen auf die Universität und ihr Studium konzentrieren konnte – so würde sie das zumindest gut abschließen und als ihre Lebensunterlage benutzen können. Das war es doch wert, oder?

Nein … eigentlich nicht.

Sie verließ ihr Zimmer und machte sich zur Treppe auf. Sie ging die Stufen nach unten, als hätte sie niemals Probleme damit gehabt. Es war noch immer ungewohnt, den Arm nicht benutzen zu können, doch sie lernte, damit umzugehen. Es zu akzeptieren.

Sie konnte auch ihrer Mutter unter die Arme greifen, indem sie bereits Geschirr vorbereitete und vielleicht sogar ein wenig vorkochte. Dazu war sie gestern noch nicht in der Lage gewesen – aber heute schien einfach ein besserer Tag zu sein. Vielleicht hatte das Frühstück sie einfach gestärkt … oder ihre Feder.

Nein – das bildete sie sich bestimmt nur ein, weil sie auf das Glück in ihrem Talisman hoffte. Auf das Glück, dass sie in den Himmel zurückkehren können würde, ohne dafür getötet zu werden … Plötzlich sank ihre Laune.

Sie betrat die Küche und ging zum Schrank, in dem das Geschirr aufbewahrt wurde. Sie holte drei Teller heraus und ging mit diesen zum kleinen Esstisch. Die Küche war wirklich geräumig. Alle Möbel waren weiß und sauber und nirgendwo waren besonders gefährliche Ecken angebracht. Bloß das schwarze Telefon war eine Ausnahme – es stand in einer Ecke; der Kasten auf dem es angebracht war, hatte spitze Ecken und die Farbe unterschied sich ebenfalls. Man bemerkte einfach, dass es nicht zum Küchenset dazugehört hatte.

Sie holte Besteck – und plötzlich fiel ihr beim Vorbeigehen am Telefon auf, dass etwas nicht stimmte.

Sie benutzte dieses Ding wirklich nicht oft, doch sogar ihr fiel auf, dass jemand den Hörer verkehrt herum aufgelegt hatte. Ob ihr Vater oder ihre Mutter wohl einen so verstörenden Anruf erhalten hatte …? Sie fragte sich, worum es gegangen war, während sie den Hörer wieder richtete und mit dem Besteck weitermachte.
 

Ein Besetztton erklang, als Ray es probiert hatte. Ein Besetztton. Das bedeutete, dass jemand zuhause sein musste, der telefonierte! Und weiters hieß das auch, dass seine Nachrichten tunlichst ignoriert wurden. Ob Kyrie das wohl angeordnet hatte?

Er saß wieder auf der Mauer und wartete vor sich hin.

Gerade als er auflegte, erschien eine neue Textnachricht von Kylie, welche ihm eine sinnlose Nachricht geschickt hatte, was sie öfters tat, wenn ihr langweilig war. Man bemerkte eindeutig, dass diese Frau ihre Prüfungen endlich hinter sich hatte – plötzlich hatte sie wieder sehr viel Zeit für Blödsinn.

Aber er war froh, dass sie sich die Zeit nahm.

„Wann hast du eigentlich vor zu kommen?“, wollte er von ihr wissen, wobei er die Worte schnell in das Gerät eintippte.

Nachdem er ein wenig in der Gegend herumgeschaut hatte, um festzustellen, dass weder Kyrie noch ihre Eltern kamen, erhielt er eine Antwort.

„Weiß ich noch nicht“, las er, „Aber ich werde dich schon nicht überraschen! Die Bahn ist echt wieder sehr teuer geworden. Aber das Geld spar ich mir bestimmt zusammen! Aber rechne nicht zu bald mit mir.“

Er zog eine Grimasse. Zumindest würde sie kommen. Irgendwann. Mal sehen, wer eher da war – Kyrie oder Kylie.

Er schaute sich noch einmal um. Brachte es sich überhaupt, weiterhin hier zu warten?

Was, wenn Kyrie einfach gar nicht mehr kommen würde? Wenn sie ihn … wirklich verlassen hatte?

Aber das konnte er nicht akzeptieren!

Erneut wählte er die Nummer.
 

Kyrie fuhr schockiert herum, als das Telefon plötzlich zu läuten begann. Dabei stieß sie mit ihrem Becken gegen den Rand der Küchenzeile, an der sie gerade eine Flüssigkeit umrührte, die danach zum Essen gehören würde. Einmal im Jahr konnte sie immerhin kochen.

Noch einmal rührte sie schnell um. Hoffentlich brannte das Zeug nicht an, während sie kurz zum Telefon ging … Deshalb mochte sie Handys lieber! Während man ein Handy benutzte, konnte man alles andere machen – man konnte nebenbei kochen, waschen, Zähne putzen … Nun, zumindest war es noch möglich, wenn man zwei Arme zur Verfügung hatte.

Sie rieb sich kurz das Becken und ging dann zum Telefon, wobei sie den Topf im Auge behielt. Sie zuckte zusammen, als er ein seltsames Geräusch von sich gab – doch sie konnte nicht schon wieder das Telefon ignorieren.

Darum beeilte sie sich mit den letzten Schritten und hob ab.

„Kingston?“, begrüßte sie den Menschen auf der anderen Leitung geschäftsmäßig.
 


 

Kingston.

Jemand hatte abgehoben. Jemand hatte tatsächlich nach all dieser langen, verfluchten, unendlichen Zeit abgehoben!

„Hallo!“; sagte er schnell, bevor derjenige wieder auflegen konnte, „Ich bin …“

„Oh, nein!“, erklang es von der anderen Seite.

Plötzlich erkannte er in dieser Stimme Kyrie.

Kyrie … sie lebte …! Sie lebte!

Sein Herz klopfte wie wild gegen seine Brust. Kyrie war am Leben!

„Kyrie! Alles in …“, fragte er, stoppte dann aber, als er ein krachendes Geräusch hörte.

„Verflucht!“, erklang es von der anderen Seite.

„Kyrie?!“, rief er verzweifelt, „Hey, Kyrie, alles in Ordnung?! Hallo!?“

Er erhielt keine Antwort.

Hatte sie gerade tatsächlich aufgelegt?

Hatte sie ihn etwa auch erkannt? Hielt sie ihn für einen Verrückten, weil er sooft angerufen hatte? Weil er Emotionen zeigte? Weil er nach all den Jahren seine Vergangenheit noch immer nicht verarbeitet hatte?

Irgendetwas in ihm fühlte sich leer an.

Verdammt leer.

Er hievte sich von der Mauer weg und ging los. Zu sich nach Hause.

Brachte es sich dann etwas, auf sie zu warten? Sich für sie an diese Mauer zu setzen und zu hoffen, dass sie zurückkehrte?

… Aber … weshalb war sie so? Sie hatte nie auf ihn solch einen Eindruck gemacht … Vielleicht war alles bloß ein großes Missverständnis? Vielleicht …

Die Lust zu telefonieren, war ihm gehörig vergangen.
 

Die Suppe war übergekocht. Vielleicht hatte sie den Herd doch etwas zu heiß eingeschaltet … Oder zu wenig umgerührt … Oder weiß Gott was!

Sie war einfach keine Köchin – sie konnte nur hoffen, dass sie irgendwann einmal einen berühmten Chefkoch heiraten würde, der sie jeden Tag versorgte. Sie konnte nicht einmal Suppe richtig kochen! Es war eine Katastrophe … Warum war sie nur so nutzlos? Sie konnte keinem helfen, sie stand nur im Weg – und augenscheinlich schien sie jeder zu hassen.

Schnell wischte sie die Spuren ihres Missgeschicks weg und war dabei, auch sämtliche Beweise zu vernichten, dass sie versucht hatte, ihrer Mutter zu helfen. Ihre Mutter würde eindeutig besser ohne sie zurechtkommen. Jeder würde besser ohne sie zurechtkommen.

Sie schaute zum Telefonhörer, der einfach so nach unten hing. Sie konnte da jetzt doch nicht noch einmal dran gehen! Was sollte sie sagen? Dass ihr Suppe übergekocht war?! Was, wenn es einer der Vorgesetzten ihres Vaters war? Was würde der nur denken?

Ihr wurde schlecht. Sie war so ein verfluchter Feigling. Sie ließ sich immer sofort von allem abbringen und entmutigen …

Sie starrte auf den Suppentopf. … Würde sie jetzt, weil diese Suppe übergekocht war, nie wieder zu kochen versuchen? Wie sollte sie da je einen Schritt vorwärts kommen? Ja, Übung machte den Meister, ja, man konnte aus Fehlern lernen, aber … Aber wozu sollte sie sich überhaupt anstrengen? Sie würde es sowieso nie schaffen. Nichts.

Sie wandte sich um. Sie musste auflegen. Sie musste ihn wegdrücken. Sie konnte mit dieser Schmach nicht leben, aber … er tat ihr leid. Er hatte musste sich einfach total veralbert vorkommen - wenn sie erst abhob, sich dann nicht weiter rührte und dann einfach auflegte! Es war so peinlich, aber … aber …

Sie nahm das Telefon in die Hand. „Hallo?“

Keine Antwort. Ein Piepen. Er hatte aufgelegt.

Hieß das, dass er beleidigt war? Zutiefst entrüstet über ihr unmögliches Verhalten?

Sie schaute hilfesuchend zur Tür. Ihre Eltern würden doch bald kommen – dann konnte sie das Missgeschick ihrem Vater doch erklären. Er würde das wieder in Ordnung bringen, aber … Nein. Sie musste das jetzt selbst in die Hand nehmen. Sie hatte sich die Suppe eingebrockt, also hatte sie es auch wieder auszulöffeln! Sie konnte nicht immer alles ihrem Vater tun lassen. Irgendwann würde sogar er die Hoffnung in sie aufgeben … Irgendwann würde noch der letzte Mensch erkennen, wie unnütz sie war.

Nachdem sie sich die Hände abgetrocknet hatte und mit Seife auch den Geruch der Suppe ausgemerzt hatte, wagte sie sich erneut ans Telefon – die Wiederwahltaste war zum Glück sehr leicht zu finden, da alles genau beschriftet war. Das war dann wohl wieder ein Vorteil an dieser verkabelten Gerätschaft.

Sie drückte die Taste und hielt sich den Hörer ans Ohr. Es piepte und piepte.

Doch niemand hob ab … Hoffentlich hatte sie ihn nicht wirklich verärgert. Ihr Verhalten war auch zutiefst unmöglich gewesen! Nein, wie konnte sie nur?! Wegen Suppe … Sie war so dämlich. Aber … aber dieses überkochende Geräusch hatte sie so geschockt – und der Herd war dreckig … Warum musste sie immer die falsche Entscheidung treffen?

„Bitte, irgendjemand“, murmelte sie, „gib mir eine zweite Chance …“

Sie legte wieder auf, als ihre Eltern hereinkamen.

„Mit wem hast du da telefoniert?“, wollte John plötzlich wissen und war sehr schnell bei ihr. So schnell hatte sie ihn kaum einmal gesehen. War der Tarif etwa so überteuert, dass sie nicht telefonieren durfte? Das wusste sie gar nicht!

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete sie wahrheitsgetreu, „Ich habe zu spät abgehoben.“ Na ja – es kam wohl als Halbwahrheit durch, oder? „Guten Tag, übrigens“, fügte sie dann noch lächelnd hinzu. Jetzt sagte sie es ihm nicht einmal! Sie log schon wieder. Langsam wurde dieses dämliche Lügen zur Gewohnheit! Zum Alltag … Sie vermisste ihr altes, ehrliches Ich. Das Ich, das ihm gesagt hätte, dass sie Suppe überkochen ließ und dafür den Telefonisten verärgert hatte. Dass er sie einfach vergessen sollte.

John nickte zufrieden. „Na gut“, murrte er, „Tag …“

Magdalena kam in die Küche. „Hier riecht es verbrannt“, stellte sie mit einem prüfenden Blick auf Kyrie fest.

Diese grinste ihre Mutter nur freundlich an und wandte sich dann an ihren Vater. „Erwartest du einen wichtigen Anruf?“

Magdalena schüttelte ungläubig den Kopf.

Er zuckte bloß mit den Schultern. „Zumindest erwarte ich Essen.“
 

Ray war ins Badezimmer gegangen, um sich abzuduschen. Diese Dusche war genau das Richtige für ihn. Hunger hatte er diesmal kaum welchen gehabt. Er hatte das Essen einfach stehen lassen.

Aber diese Dusche … Er massierte sich das Haarshampoo ein.

Konnte es wirklich sein, dass Kyrie ihren Kontakt zu ihm abbrechen wollte? Einfach … so? … Hoffentlich würde am Sonntag alles geklärt werden können.

Wieso war er überhaupt so versessen auf sie? Wenn sie ihn so behandelte, dann … dann …

Vor seinem inneren Auge tauchte ihr Bild auf. Wie sie ihn anlächelte. Und plötzlich umfloss sein Herz eine seltsame Wärme. … Sie war etwas Besonderes, so viel stand fest.

Er war sich nur nach wie vor nicht sicher, wie besonders genau.

Es fühlte sich falsch an. Einfach falsch.

Ray starrte auf den Nacken seines Vaters, der vor ihm saß.

Völlig falsch.

Auf Kims Hinterkopf. Sie fummelte geschäftig am Radio herum.

Falsch.

„Es verwundert mich wirklich“, murmelte sein Vater plötzlich.

Ray gab vor, es nicht wahrzunehmen. Er beobachtete Kim dabei, wie sie ihn aufmunternd anlächelte – aber auch sie sagte nichts dazu. Und genau deshalb verlief die Fahrt auch schweigend. Vielleicht auch, weil es Sonntag war. Und dazu noch sechs Uhr morgens.

Sechs Uhr morgens … Und Kyrie hatte wirklich die Nerven, jeden Sonntag um diese Uhrzeit aufzustehen, um sich in dieses Gebäude zu setzen und sich irgendetwas von wegen Glauben erzählen zu lassen …? Sein Magen zog sich zusammen, als er an die Stunde dachte, die jetzt unweigerlich folgen würde. Aber er hatte seine Entscheidung getroffen und er würde dazu stehen müssen.

Als er am Freitag völlig aufgelöst aus der Dusche gekommen war, hatte ihm ein abwesender Anruf das Gemüt wieder hochgezogen. Jemand aus der Familie Kingston hatte zurückgerufen. Weshalb hatte Kyrie sich dann so abweisend benommen? Vielleicht hatten sie auch nur angerufen, um ihm endgültig klar zu machen, dass er es lassen solle? Nervten seine Anrufe etwa? Eines konnte sie ihm glauben: Es nervte noch viel mehr, dass ihm keiner die Wahrheit sagte.

Nachdem er also noch einmal zurückgerufen hatte, sein Anruf aber ins Leere geführt und er bloß die Worte „Bitte rufen Sie zurück“, hinterlassen hatte, hatte er das Telefonieren am Samstag ausfallen lassen – ohne je einen neuerlichen Rückruf erhalten zu haben. Er hatte den neuen Mut dazu genutzt, sich am Samstag auf diese Mauer zu setzen und zu erfahren, dass Kyrie erneut nicht zu ihm kommen wollte – und dann hatte er sich nach Hause bewegt, um Kim abzufangen, welche sehr erfreut reagiert hatte, als er ihr Angebot, mit ihnen zur Kirche zu gehen, angenommen hatte. Allerdings hatte er klar gestellt, dass dies ein einmaliges Erlebnis sein würde, das sich nicht wiederholen würde.

Nun – nachdem er am Samstag seinem Vater trotzdem nicht begegnen wollte, war er mit Marc weggegangen, welcher ihn bis Mitternacht aufgehalten hatte. Entsprechend müde war er jetzt auch. Und entsprechend erschöpft. Vielleicht hätte er doch früher schlafen gehen sollen. Er war für solche Uhrzeiten einfach nicht geschaffen!

Aber irgendetwas in ihm fuhr in seine Knochen und brachte ihn dazu, völlig vor Nervosität zu zerfließen. Er würde mit John Kingston sprechen. Nach der Predigt. Also würde er hinein gehen müssen. Zwangsläufig. In die Kirche. Es war schrecklich. Einfach schrecklich.

Wenn Kyrie über Gott und ihre Dämonentheorien und ihren Glauben sprach, dann hörte er gerne zu. Es war interessant, wie sie alles beleuchtete und wenn sie so weitermachte, dann würde er ihrem Glauben zwangsläufig beitreten müssen, um sich mit ihr auf einem Niveau unterhalten zu können – dafür hörte sie ihm dabei zu, wenn er ihr erklärte, woraus der menschliche Körper bestand und wie er funktionierte, was Rechtswissenschaft beinhaltete und wie die Politik im Land aussah – seit Jahren herrschte Frieden zwischen den beiden Kontinenten, anders wäre es nicht möglich gewesen, dass Menschen aus der Südlichen in die Nördliche kamen und umgekehrt. Kyries alter Kumpel Nathan war einer jener Fälle, die die direkten Vorteile des Friedens bewiesen. Und dass es kein bis kaum Blutvergießen, Böses oder Anschläge gab, brauchte er wohl nicht erwähnen.

Aber … das war jetzt nicht das Thema.

Als sein Vater den Blinker des großen, dunkelblauen Autos betätigte, verspürte er schlagartig noch mehr Nervosität. Wenn er doch Kylie bei sich hätte … Kylie war einfach wie er – ungläubig und lässig. Wenn jemand ihr etwas von Religion erzählte, hörte sie zu, glaubte aber kein bisschen davon. Sie war der ungläubigste Mensch, den er kannte. Nun – wenn man in einem Dorf aufgewachsen war, dann war es auch schwierig, andere Atheisten zu finden. Die Menschen in der Stadt waren viel weniger steif, was den Glauben anging. Bis auf Kyrie. Dass er auch immer an die Falschen geraten musste … Oder an die völlig richtige.

Plötzlich bemerkte er, dass er mit seinem Fuß die ganze Zeit am Boden herumtippte. Wie benahm er sich eigentlich? Als würde er bei Kyries Vater um ihre Hand anhalten. Das war doch schon seit drei Jahrhunderten nicht mehr üblich! Er wollte nur mit John sprechen – er wollte nur fragen, ob es Kyrie gut ging und ab wann sie die Universität wieder besuchen würde, weil er ihren schrägen Humor einfach vermisste.

Nein. Das konnte er so nicht sagen. Er musste es lässiger herüber bringen … Oder verzweifelter? Es würde verzweifelt klingen, egal was er sich da jetzt vornahm.

„Du brauchst nicht so nervös zu sein“, flüsterte Kim leise.

Er schaute die Frau an, deren dunkles Haar kunstvoll hochgesteckt und mit vielen Perlen verziert war. Ihr junges Gesicht lächelte ihn aufmunternd an und sie bedeutete ihm ein „Daumen-Hoch“, welches allgemein als Talisman galt. Er brauchte keinen Talisman. Er brauchte einfach Mut. Und Stärke. Und Gelassenheit. Sehr viel Gelassenheit.

Er atmete tief durch, als das große, Großteils schwarze Gebäude mit dem Spitzdach vor ihm sichtbar wurde. Die Kirche sah einfach alt aus.

Und sein Vater und Kim machten sich wirklich jeden Dienstag, Freitag und Sonntag die Mühe, hierher zu kommen, nur um John Kingston beim Reden zuzuhören? Er musste wohl ungefähr so beeindruckend wie seine Tochter sein.

Das Gebäude ragte hoch über ihm auf, als er aus dem Auto ausstieg. Aus der Nähe erkannte er die Verzierungen, die das Schwarz durchbrachen, überall schwang Gold mit, welches wirkte, als hätten sie es direkt aus dem Himmel gestohlen, und dazwischen glänzten schwarze Steine die einen argen Kontrast dazu bildeten, das Gesamte aber – wenn man es so sagen wollte - sehr edel aussehen ließen. Hier verzierten sie Kirchen mit Gold, während Leute im Roten Dorf gefangen waren, weil sie kein Geld hatten, um von dort wegzukommen. Das war dann der negative Teil der Politik – einer jener Punkte, die er unbedingt irgendwann ändern wollte. Die ungerechte Verteilung. Auch die Rechtswissenschaft besagte, dass dies unfair war und in der Medizin und Biologie fand sich kein Grund, weshalb dies genau so sein sollte – sein durfte! Alle waren gleich. Warum konnte dann nicht jeder gleich sein?

Warum war ausgerechnet eine Kirche ein Punkt, der solch eine Ambivalenz aufzeigte? War das nicht ironisch?

Gerade als er sich leise murmelnd über diesen Umstand beschweren wollte, entdeckte er es.

Es war klein, unauffällig und schwarz. Tiefschwarz. Noch schwärzer als die Kirche – und dennoch strahlte es für ihn viel heller als das ganze Gold.

Ein Auto.

Und er war sich so sicher, wie sich ein Mensch nur sicher sein konnte: Dies war das Auto der Kingstons. John Kingston war also tatsächlich hier!

Wenn das Auto hier war, würde John also zwangsläufig raus kommen müssen, um zum Auto zu gelangen – wieso war Ray nicht vorhin schon darauf gekommen?

Sie befanden sich noch im nördlichen Teil der Stadt – sie lebten im Westen! Also würde John mit dem Auto fahren. Ganz logisch. Er brauchte diese Baut also nicht betreten! Er musste wirklich nicht in diese verfluchte Predigt sitzen und John dabei zuhören, wie er Märchen von Glück und Vernunft und Glaube und einem helfenden Gott erzählte!

„Ich bleibe hier“, beschloss er, als sein Vater und Kim neben ihm standen.

Kim warf ihm einen irritierten Blick zu. „Wolltest du nicht …?“, begann sie, wurde dann aber von ihm unterbrochen.

Er nickte in Richtung des kleinen, schwarzen Autos. „Das ist Johns Auto. Ich warte hier.“

„Bist du dir sicher, dass es das ist?“, fragte sie nach, „Es gibt viele Autos dieser Art.“

Sein Vater schaute zwischen ihnen hin und her.

„Ich bleibe hier“; beharrte er und ging dann auch schon auf Johns Auto zu. Er würde dieses Gebäude nicht betreten – immerhin bekam er auf diese Weise alles, was er wollte. Er brauchte keine Prinzipien über den Haufen zu werfen, brauchte all die Jahre, die er Kirchen gemieden hatte, nicht als verschwendet zu betrachten, und er konnte trotz alledem mit John sprechen. Vielleicht brachte ein Daumen-Hoch doch Glück?

„Na gut. Bis dann“, gab sich Kim geschlagen, „Komm, Radiant. Gehen wir – dann bekommen wir noch einen Sitzplatz.“

Er hörte, wie die beiden sich entfernten. „Bis später, Ray“, verabschiedete sich sein Vater von ihm.

Er antwortete ihm nicht.

Während dieser relativ kurzen Fahrt war es Ray sehr unangenehm gewesen, sich in solcher Nähe zu seinem Vater zu befinden. Er wollte ihn meiden. Er wollte nichts mit ihm zu tun haben. Er wollte ihn nicht mögen.

Wie sich Ray bereits auf seine Fahrberechtigung freute.

Die Leute strömten an ihm vorbei, um zur Kirche zu gehen. Es waren sehr viele Leute, die sich für diese Predigten interessierten. Weshalb auch immer – er hatte in der Politik gehört, dass Leute, denen es gut ging, kein Interesse an Religion und Gott mehr hatten … Scheinbar war das nicht ganz so wahr – seinem Vater ging es immerhin gut. Und Ray ging es im Moment schlecht, aber er glaubte trotzdem nicht an diese Lichtgestalt, die Wunder verteilte.

So schieden sich wohl die Geister …

Und je näher der Moment der Wahrheit – Ray hatte während der ganzen Zeit da draußen keine Zeitorientierung – rückte, desto unruhiger wurde er. Und nervös.

Verdammt nervös.
 

Kyrie umarmte ihren Vater noch, als dieser sich das traditionelle Predigtsgewand angelegt hatte und damit wirklich wie ein kleiner Professor aussah – zum Lesen benötigte er nämlich eine Brille, was ihm ein wahrlich klischeehaftes Aussehen verpasste.

Magdalena umarmte ihn ebenfalls noch einmal. „Du machst das doch jedes Mal toll – sei nicht immer so nervös!“ Sie lächelte. „Das schädigt das Herz.“

Er schaute von einer zur anderen. „Und wenn schon … Es ist jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung und eine Freude!“ Plötzlich lächelte er voller Vorfreude. „Würde ich mich irgendwann daran gewöhnen, so würde es irgendwann langweilig werden, weil es irgendwann immer dasselbe sein würde.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich freue mich.“

„Wir sitzen in der ersten Reihe“, versprach Kyrie munter und motiviert.

Dann schaute sie ihre Mutter an. Diese nickte.

„Bis gleich“, verabschiedeten sie sich synchron und gingen auch zeitgleich durch die kleine Öffnung nach draußen. Der Prediger war der Letzte, der den Altarraum betrat. Das war Tradition.

Kyrie setzte sich sogleich auf den Platz, den ihr eine ältere Dame auf ihre Bitte hin freigehalten hatte. Sie quetschte sich in die Bänke hinein und ihre Mutter gleich neben sie.

Plötzlich setzte der Chor ein und im Takt kam ihr Vater dem Altar in der Mitte immer näher. Im richtigen Moment standen alle Gläubigen auf, um ihm damit die Ehre zu erweisen.

Und damit begann seine Predigt.

Kyrie kannte beinahe jedes Wort auswendig. Es kam nur sehr selten vor, dass sie die Sonntagspredigt verpasste – immerhin war es Wochenende und sie hatte nichts für das Studium – und früher eben die Schule – zu tun. Und dass sie heute hier war, bewies ihr, dass sie morgen bereits wieder zur Universität zurückkehren konnte. Und wenn ihr Vater sich weigern würde, würde sie sich ihm widersetzen. Sie wollte zurück.

Sie musste sich versichern, dass Ray … dass Ray da war? Nicht da war … Was auch immer besser war – sie würde es sehen! Und sie würde sich seine Handynummer besorgen. Und wie sie das würde.

Ihr Blick schweifte durch den Raum.

Nirgendwo war ein Abbild Gottes – aber überall um sie herum schwebten Engel. Dicke, dünne, große, kleine … Engel in allen Varianten. Aber sie erkannte keinen wieder. Also waren es frei erfundene Engel. Die Engel gab es auch im Statuenformat.

Sie fand es schön, dass die Menschen hier an Engel glaubten, die so waren wie diese Figuren. Nett, freundlich, hilfsbereit, wunderschön – wie Engel es eben waren.

Ob einer von ihnen an Engel wie Xenon hätte glauben können? Wohl eher nicht.

Wenn man all die fröhlichen, aufmunternden Gesichter diese Flügelwesen begutachtete … wurde man glücklich.

Und gleichzeitig stieg Sehnsucht in ihr auf. Sehnsucht nach dem Himmel. Fliegen … Ihre Flügel … Sie waren eingesperrt …

Jetzt kam die Stelle, an der alle Gläubiger ihre Hände zum Gebet falteten und …

Schockiert stellte Kyrie fest, dass sie es nicht konnte. Sie konnte … ihn nicht heben. Ihr Arm …

Die ältere Frau neben ihr stieß sie an – scheinbar hatte sie bemerkt, dass Kyrie dem Ritus nicht ordnungsgemäß Folge leistete.

Aber … aber … Sie wollte ihre Hand heben und …

Schnell ergriff sie mit ihrer rechten die linke Hand und hob sie auf diese Weise hoch.

Entsetzt starrte sie auf das Bild, welches sich ihr bot.

Ihre Hände waren verschränkt. Ihre Hände … Aber … Das zweite – war das wirklich ihre Hand? Sie fühlte nichts. Nicht die Wärme die sie dabei sonst immer umfasste. Nicht sich selbst, wie sie vervollkommnet wurde … Nicht …

Sie schloss ihren Mund unter Zwang. Es wirkte vermutlich sehr idiotisch, wenn sie mit offenem Mund auf ihre Hände starrte. Keiner der Anwesenden wusste davon. Keiner wusste, dass sich eine Einarmige unter ihnen befand … Es war … grauenhaft …

Sie wollte nicht mehr ihre Hände gefaltet lassen! Sie wollte sie loslassen, aber … die Tradition …

Plötzlich bemerkte sie den besorgten Blick ihrer Mutter auf sich lasten.

Sie lächelte sie aufmunternd an.

Sie musste ihre Mutter hierbei nicht einweihen. Ihre Mutter sollte weiterbeten. Sollte glücklich über ihre Hand sein … Sollte glücklich darüber sein, jeden Teil ihrer Welt betreten zu dürfen … Diese Engel sehen zu können, ohne Schmerz und Sehnsucht zu verspüren … Nathan … Was er wohl tat? Früher war Nathan oft in die Kirche mitgekommen, so viel früher, damals … als sie … Nein. … Sie musste ihre Flügel ausbreiten – aber … Was, wenn Xenon sie sah? Ihr Licht? Wenn er sie spürte? Wenn er sie … sie tötete …

Sie wusste, dass Gott ihr nicht helfen konnte. Und doch wollte sie von ihm wissen, wieso er ihr Problem nicht einfach lösen konnte. Sie wollte nicht ängstlich sein.

Aber sie hatte Angst. Angst und Sehnsucht.

Wie sollte Kyrie je wieder zur Kirche gehen können, wenn es sie dabei so zerriss?

Und zum ersten Mal in ihrem gesamten Leben war sie erleichtert, dass die Predigt ihr Ende genommen hatte, sie ihre Hände einfach fallen lassen durfte und aus der Kirche heraustreten konnte – nun. Fast zumindest.

Heute hatte ihr Vater wieder Zeit für persönliche Gespräche.

Sie starrte zum Altar hoch. Einige Leute hatten sich bereits um ihn herum versammelt, um mit ihm zu sprechen. Wie sollte sie jetzt an die Autoschlüssel kommen?

Sie wollte nicht mehr hier bleiben. Sie musste raus. Die Statuen schienen sie anzustarren! Ihr ins Gewissen zu blicken – wie konnte sie nur ihre Engelsfreunde alleine lassen? Wie konnte sie ihre wahre Persönlichkeit nur so unterdrücken und verbergen – und wieso konnte sie ihre Angst nicht einfach besiegen?

Es ging nicht.

Sie war zu schwach.

Sie war …

Ihre Mutter stand neben ihr. „Kyrie, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie nach einer Weile, „Geht es dir gut? Ist dir übel geworden? Du wirkst so blass …“

Übel traf es gut. „Nein“, antwortete sie allerdings, „Die Verletzungen sind alle weg … Die, die weggehen können zumindest …“ Sie lächelte. „Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen … Aber ich würde aber mich doch gerne ins Auto setzen.“ Schnell. Sie musste hier weg!

„Wenn der erste Schwall vorbei ist, kannst du ihn um die Schlüssel fragen“, schlug Magdalena vor, „Ich leiste ihm Beistand.“ Sie lächelte verschmilzt. Beide wussten, dass John diese privaten Gespräche liebte, weil er es liebte, Menschen zu helfen und zu unterstützen. Er brauchte keinen Beistand – aber Magdalena war genauso von seiner Sorte, weshalb sie dabei ebenfalls gerne zuhörte.

Kyrie tat es auch oft, aber heute …

Sie fühlte sich von den Engelszeichnungen und –statuen mehr als nur verfolgt! Wo sollte sie denn noch hingehen, wenn sie überall verstoßen wurde, wo sie gerne war? Warum konnten sie sie nicht einfach in Ruhe ihr Leben leben lassen? War es zu viel verlangt, glücklich sein zu wollen?

Schweigend stand sie neben ihrer Mutter, als einige Leute sich lächelnd von John weg begaben – und dann ihr noch ein Lächeln schenkten. Sie konnte sich kaum dazu zwingen, es angemessen zu erwidern. Aber sie tat es.

Mit den nächsten Leuten, die an der Reihe waren, gesellten sich auch Kyrie und Magdalena zu ihm. Er lächelte ihnen zufrieden zu, wobei er der älteren Dame, die neben Kyrie gesessen hatte, die Hände rieb. Vermutlich hatte sie ihn darum gebeten.

„Kann ich die Autoschlüssel haben?“, flüsterte Kyrie leise, um die anderen Leute nicht zu stören.

Die alte Frau bedankte sich und verschwand in der kleinen Menge.

John sah sie fragend an, schien sich dann aber selbst eine Antwort zu geben – vermutlich glaubte er, dass sie schwächelte – und sagte: „Für meine Tochter alles.“ Er lächelte, fuhr sich unter die Kutte und holte klirrende Schlüssel heraus, die er ihr in die Hand drückte.

„Kyrie Kingston?“, ertönte plötzlich die Stimme eine Frau aus der Gruppe.

Sie war wunderschön, hatte tiefschwarzes Haar, welche sie mit Perlen hochgesteckt hatte, welche farblich perfekt auf ihre Augen und ihre Kleidung und ihren Schmuck abgestimmt waren. Wer war diese Frau? Hatte sie sie schon einmal gesehen?

„Ja?“, beantwortete sie die Frage. Warum musste sie jetzt mit ihr reden? Sie wollte raus!

Die Frau schaute kurz auf einen Mann neben sich, lächelte dann verschmilzt und schüttelte den Kopf. „Ich bin froh, dass es Ihnen wieder besser geht.“

Kyrie zog die Stirn verwundert kraus, lächelte dann aber einmal zurück, murmelte ein leises „Danke“ und wandte sich dann um. „Bis dann“, sagte sie zu ihrer Mutter, da John bereits wieder ein neues Gespräch angefangen hatte. Es wunderte sie, dass er sie alleine gehen ließ.

Aber egal … Hauptsache, die Engel würde aufhören, ihr Vorwürfe zu machen! Sie war keine mehr von ihnen. Sie wollten sie nicht. Warum zogen sie sie dann wieder an?
 

Ray saß am Boden vor dem rückwärts eingeparkten Auto der Kingstons. Nach einer Weile hatte er vor Nervosität schrecklich zu zittern begonnen und hatte sich deshalb an das Auto gelehnt und sich hingesetzt, um nicht wie ein Verrückter zu wirken. Nun – vermutlich war er verrückt.

Wie lange hatte er jetzt um sechs Uhr morgens vor diesem Auto gesessen und gewartet – und das an einem Sonntag? Warum tat er das gleich noch einmal? Zum Glück erzählte er keinem davon – sie würden sich wohl wirklich fragen, was ihn erwischt hatte. … Und er selbst sollte damit wohl auch einmal anfangen.

Seinen Blick wandte er zur Kirchentür, als diese aufging und einige Leute hinauskamen – wehe, Kim und sein Vater würden auf die Idee kommen, wegzufahren, ohne dass er vorher mit John gesprochen hatte. Er würde eiskalt zu Fuß zurückgehen.

Eiskalt.

Nachdem der erste Schwall vorbei war, waren lange nur vereinzelt Leute aus der Kirche gekommen. Wenn er an die Menge dachte, die da vorhin hineingegangen war, dann konnte es noch sehr, sehr lange dauern, ehe John herauskam – wenn die Geschichte mit diesen ominösen Privatgesprächen auch stimmte.

Er würde es sehen. Er hatte ja Zeit. Der Tag war noch jung. Zu jung.

Und sein Herzklopfen, sein Zittern und sein Schaudern waren endgültig erloschen und durch immer weiter aufkommende Ungeduld ersetzt worden. Nebenbei war er auch noch über den Gedanken gestolpert, dass es auch sein hätte können, dass John das Gespräch mit ihm – vielleicht auch auf Kyries Geheiß … - ablehnte und er all diese Zeit umsonst verschwendete.

Dieser Gedanke hatte ihn für einen kurzen Moment dazu verlockt, aufzustehen und abzuhauen. Aber er war geblieben. Weil er glaubte, dass dieses Daumen-Hoch ihm Glück bringen würde – was wohl ziemlich grotesk war, da es Kim gehörte. Aber sie hatten in etwa zwei Autostellplätze neben John geparkt – wenn das kein Wink des Schicksals war?

Er hatte die Knie angezogen und seinen Kopf darauf gelegt. Wenn John nicht langsam kommen würde, würde er einschlafen. Dann würde John ihn vermutlich überfahren, was weniger gut war …

Und plötzlich riss ihn etwas aus dem Dämmerschlaf, dem er verfallen war. Das Klicken eines Schlosses in nächster Nähe.

Sofort sprang er auf, befand sich auf seinen beiden Beinen.

Und war kurz davor, wieder umzufallen.

„Kyrie!“, schrie er, obwohl sie sich kaum drei Schritte vor ihm befand. Sie zuckte daraufhin sichtbar zusammen und schaute dann erschrocken und gehetzt in seine Richtung. Und er konnte beobachten, wie ihre Augen, ihre großen, dunklen Augen, größer und größer wurden. Und ihr Mund weiter auf ging. Und ihr Gesicht plötzlich ein überraschtes Strahlen annahm.

„Ray!“, schrie sie plötzlich zurück, obwohl er sie leicht verstehen konnte. Als hätte es einmal nicht gereicht, wiederholte sie laut rufend: „Ray!“ Und ehe er sich versah, spürte er einen Arm um sich herum. Sie vollführte eine einarmige Umarmung … Das war die beste Umarmung, die er je in seinem Leben verspürt hatte …

Sein Herzschlag flachte ab und wurde wieder normal. Kyrie war da … Sie war da …

Verdammt! Sie WAR da!
 

Als sie dieses Gesicht wieder gesehen hatte, diese Haare, diese grünen Augen … da fühlte sie einfach Glück. Pures Glück. Sämtliches ungute Gefühl aufgrund der Engel in der Kirche war verflogen. Vergessen. Unwichtig! Ray! Er war da! Er war da!

Die Umarmung hätte eigentlich ein festes, beidseitiges Drücken sein sollen … aber ihr Arm …

Sie fragte sich, ob es als Trost gelten konnte, dass Ray seinen rechten Arm nur bis zu ihrer Taille bewegen hatte können, während der andere sie ebenfalls freundschaftlich umarmte. Ungewollt dachte sie daran, dass sie jetzt wohl beide eingeschränkte Mauerfreunde waren.

Sie schämte sich obgleich des Ausdrucks.

Aber sie war einfach zu überwältigt! Was machte er bloß hier?!

„Ich weiß nicht!“; gab er plötzlich von sich, „Ich wollte eigentlich mit deinem Vater reden! Über dich! Und dann warst du da – und …“ Plötzlich ließ er von ihr ab und trat einige Schritte zurück. Er lächelte leicht verlegen.

Sie spürte, wie das Blut ein wenig in ihre Wangen schoss. Aber … sie konnte auch nichts dafür, dass sie sich so über das Wiedersehen mit ihrem Freund freute! Immerhin hatten sie sich jetzt seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Seit über einer Woche war nicht mehr gewiss gewesen, dass sie Freunde sein würden … Und dann … dann erzählte er, dass er ihretwegen zu einer Kirche gegangen war, obwohl er solche Stätten verabscheute? Ihretwegen … Er … er war einfach zu gut! Zu lieb! Warum hatte sie sich nicht schon früher bei ihm melden können? Plötzlich wurde ihr klar, WIE sehr sie ihn vermisst hatte. Ray … Er war da!

„Haben sich Kylie oder Diane gemeldet?“, wollte sie sofort von ihm wissen. Ihr war klar, dass da ein abrupter Themenwechsel stattgefunden hatte, aber … hatte sich ihre Aktion zumindest ein bisschen etwas gebracht? Oder war dieser Tag umsonst?

Etwas perplex bejahte er die Frage. Irgendetwas in seinen Augen veränderte sich, doch sie konnte nicht genau wissen, was. Aber … zumindest war ihre Aktion für ihn gut ausgefallen … Am liebsten hätte sie ihm erzählt, dass es seiner Mutter gut gegangen war … aber das hatten Kylie und Diane wohl erledigt.

„Aber … also …“, begann er dann, „Um auf das Thema zurückzukommen: Wo warst du eigentlich? Was ist geschehen? Was war los? Ich habe mir Sorgen gemacht!“, gab er zu. Plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse.

Kyrie lächelte darüber. War es ihm peinlich, so überstürzt zu reagieren …?

Aber dann wurde ihr klar, dass er eine Antwort von ihr verlangte. Was sollte sie ihm sagen? Die Version ohne plötzlichen Überfall? Aber … das wäre dann doch eine Lüge … Konnte sie ihn tatsächlich anlügen? Das andere grenzte zumindest an eine Halbwahrheit, aber …

„Nun …“, begann sie unsicher. Sie schaute kurz instinktiv in den Himmel hoch. Es war das erste Mal, dass sie unter freiem Himmel darüber sprach … Zum Glück bestand der Wolkenboden aus einem festen Material … Xenon konnte sie gar nicht sehen … Er würde auch nicht nach ihr Ausschau halten. Bestimmt nicht. Immerhin hatte sie keine Flügel.

Sie wollte ihre Arme verschränken, aber es ging nicht. Dann war es eben ein einarmiges Verschränken.

Ray schien irgendetwas seltsam vorzukommen. Plötzlich griff er nach ihrer linken Hand.

Sie spürte es nicht. Ob er wohl gerade daran zog? Ob er ihr weh tat? Nein, bestimmt nicht … Er war sicher ganz sanft … Warum konnte sie diese Sanftheit nicht fühlen? Ihr Arm …

„Was ist mit deiner Hand?“, fragte er schockiert, „Warum … gibt sie so leicht nach und …“ Er sprach nicht weiter. Er schaute sie lediglich fragend an, wobei er ihren Arm wieder vorsichtig nach unten führte und dort dann dort baumeln ließ.

„Das Überbleibsel eines Sturzes von der Treppe …“ Sie lächelte entschuldigend. Das letzte Gespräch, welches sie hatten, handelte vom selben Thema … Sie hoffte, dass daraus jetzt kein Teufelskreis entstehen würde …

„Sturz von einer …“, wiederholte er ungläubig, „Was?!“ Er starrte sie an. „Du hast mir das aber nicht nachgemacht, um … Keine Ahnung!“

„Selbstverständlich nicht!“; gab sie schockiert zurück, „Nein – da waren diese Kerle und- …“ Sie stockte. Das wollte sie doch gar nicht sagen!

Sein Gesicht wurde seltsam fahl. „Was?“

Sie senkte ihren Blick zu Boden. Was sollte sie jetzt sagen? „Ich … bin beim Nachhauseweg … Dafür musste ich eine Treppe nach unten gehen. Da waren diese Leute und haben mich angerempelt worden, sodass ich gestürzt bin“, erklärte sie kleinlaut.

„Wie bitte? Wer war das? Diese … Ich mach sie …“ Er klang richtig zornig.

Als sie in sein Gesicht sah, wirkte es auch wutverzerrt. Und in seinen Augen las sie das Wort „Midas“. Es musste ihn genau an die Situation von damals erinnern.

Reflexartig legte sie ihren funktionierenden Arm um ihn. „Beruhige dich …“, bat sie ihn.

Und plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Aufgabe, die Maria ihr übertragen hatte … Sie sollte auf Ray aufpassen und ihm die Wahrheit vermitteln … Diese Wut … Er musste sie loswerden … Sie hatte es schon viel zu lange vernachlässigt!

Beruhigenderweise spürte sie, wie sein Herzschlag sich verlangsamte.

„Es … tut mir leid“, sagte er nach einer Weile – flüsternd.

„Dir braucht nichts leid zu tun“, belehrte sie ihn, „Nichts von alledem hängt irgendwie mit dir zusammen …“

„Ich wollte nicht, dass irgendwem dasselbe passiert wie mir … schon gar nicht jemanden, den ich kenne …“ Er lachte kurz auf. „Jemanden, den ich mag.“ Dann löste er sich aus der Umarmung. Er lächelte kurz. „Ich bin froh, dass du zurück bist.“

Sie lächelte. Und ihr Herz schlug fest. Viel zu schnell. … Er mochte sie! Natürlich! Immerhin … Immerhin war er hier! Vor der Kirche! „Ich auch.“

Plötzlich fiel ihr etwas sehr Wichtiges ein. „Deine Handynummer!“, forderte sie abrupt. „Bitte“, fügte sie nach einigen Momenten entschuldigend lächelnd hinzu.

Er lachte kurz amüsiert auf. Dann holte er sein Handy heraus. „Sag mir deine an“, verlangte er, „Und geh bitte ran, wenn ich anrufe.“ Er lächelte kurz wissend. Was meinte er damit …?

Sie gab ihre Nummer preis.

„Moment“, bat er schnell und hob sich das Mobilfunkgerät ans Ohr.

Plötzlich läutete etwas in der Tasche ihres Kleides. Er rief sie an. Dann hatte sie seine Nummer automatisch … Darauf war er gar nicht gekommen.

Er schaute sie überrascht an. „Sieben Sünden – Federschwingen?“, fragte er ungläubig.

Erst verstand sie nicht. Dann lächelte sie. „Ja! Kennst du diese Band? Das hätte ich nicht gedacht …“, murmelte sie vor sich hin. Sieben Sünden hörte sie sehr gerne. Deshalb hatte sie diese auch als Klingelton ausgewählt. Immerhin … sangen sie Lieder, die in ihren Lieblingsthemenbereich fielen. … Vielleicht war der Titel des Liedes aber mittlerweile unpassend geworden.

Er nickte. „Ich finde sie recht gut.“ Er lächelte.

Und sie lächelte zurück. Allerdings fragte sie sich, weshalb Ray die Sieben Sünden mochte, obwohl der Großteil ihrer Lieder vom Göttlichen handelte … Oder was das bloß Interpretationssache? ... Aber eigentlich war es völlig egal!

Sie drückte Ray noch einmal. ... Er war extra zu ihr gekommen. Einen Tag früher als erwartet! Er war ...

Und plötzlich stand ihr Vater hinter ihr und keifte mit wütender Miene: „Weg da!“

Als Ray aus dem Universitätsgebäude trat, schlug sein Herz wie wild. Er konnte es noch immer gar nicht fassen, dass er gestern Kyrie wirklich getroffen hatte, dass sie da gewesen war und das – bis auf den Arm - unversehrt! Sie hasste ihn nicht, sie vertrieb ihn nicht … Sie hatte bloß diesen … Unfall gehabt.

Beim Gedanken an jenen kehrten auch die Erinnerungen an seinen eigenen Treppensturz zurück. Sein Arm, der sonst immer Ruhe gab, meldete sich zurück und er glaubte, dass Kyrie es ebenfalls irgendwann gar nicht mehr spüren würde – diesen Schmerz, der einfach immer da war, den man aber doch nicht fühlte; der einfach immer zeigte, dass man eingeschränkt war … Oder wenn man versuchte, ihn zu benutzen, und dabei an seine Grenzen stieß.

Er hoffte, dass er sie in dieser Zeit unterstützen konnte.

Immerhin waren sie jetzt ernannte und bestätigte Mauer-Freunde.

Er lächelte unwillkürlich beim Gedanken an den Gesichtsausdruck von John, als Kyrie ihm erklärt hatte, dass sie sich bloß gefreut hatte, ihren Mauer-Freund wieder zu sehen.

Sie waren sich also beide nicht sicher gewesen, wie sie einander hätten bezeichnen sollen und – noch besser! – ob der jeweils andere warten würde! Und sie hatten gewartet … Ja.

Ray war einfach erleichtert, dass Kyrie sich darüber gefreut hatte, dass er sich extra für sie zur Kirche begeben hatte, um mit ihrem Vater zu sprechen.

Aber es machte ihn noch immer nervös, sich zu dieser Mauer zu begeben – was, wenn sie doch nicht da war? Nein. Sie musste doch dort sein! Das gestern war so etwas wie ein Mauer-Freund-Versprechen, das in etwa so sehr band wie ein Schwur auf das Leben der Mutter!

Also würden sie sich bald treffen. Und über die vergangenen Tage sprechen. Gestern waren sie nicht mehr dazu gekommen, da sowohl sein Vater als auch ihr Vater es plötzlich sehr eilig damit hatten, nach Hause zu kommen. Ray hatte weder mit Kim noch mit seinem Vater während der Autofahrt gesprochen – aber er hatte Kim im Nachhinein noch einmal kurz gedankt – kurz und schmerzlos. Das war Anstand. Sie schien das als Triumph zu sehen, doch er war da nicht so optimistisch. Aber egal. Jetzt wo er Kyrie wieder an der Mauer wusste, brauchte er sich nie mehr wieder Gedanken um Kontakt mit Kim zu machen – immerhin besaß er mittlerweile Kyries Handynummer.

Langsam schritt er den Weg entlang, der ihn zu jenen Ort bringen würde, an dem er Kyrie so sehr erwartete. Und sein Herz setzte für eine Sekunde aus, als er sie tatsächlich dort erblickte!

Unwillkürlich bewegte er sich schneller fort, um auch rascher bei ihr zu sein. Immerhin musste er die Zeit nutzen! Sie musste ihm das mit dem Kerl, der sie überfallen hatte, noch sehr genau schildern – eher würde er nicht Ruhe geben!

„Ray!“, rief sie erfreut, als er schon ziemlich nah war. Sie strahlte ihn an.

Keiner um sie herum bemerkte das freudige Wiedersehen. Niemand schien Kyrie vermisst zu haben oder sich gefragt zu haben, weshalb Ray all die Zeit alleine gewartet hatte. Aber egal. Die anderen kümmerten ihn genauso wenig wie er sie!

„Kyrie!“, erwiderte er, als er neben ihr zu stehen kam.

Sie trug einen roten Rock, dazu ein schwarzes Oberteil und eine lange, weiße Jacke, die zu den auffälligen, weißen Stiefeln passte.

Sie lächelte ihn freundlich an.

„Ich bin wirklich erleichtert, dass du tatsächlich hier bist“, gestand er ihr, als er bemerkte, dass sein Puls sich normalisiert hatte. Zum Glück.

„Das freut mich wirklich sehr“, antwortete sie daraufhin und bot ihm gleich einen Platz neben sich an, den er auch gerne beanspruchte.

„Was hast du die ganze Zeit gemacht?“, wollte sie dann von ihm wissen, wobei sie ihn neugierig beäugte, als wäre er total gealtert oder hätte sich sehr verändert.

Darüber lächelte er. „Also – wie gesagt – Kylie und Diane haben endlich wieder Kontakt zu mir aufgenommen, meiner Mutter geht es wieder gut und … na ja … Eigentlich habe ich nichts Besonderes gemacht.“ Er zuckte mit den Schultern. Er hatte sich dazu entschieden, ihr nichts von seinen peinlichen Suchaktionen zu verraten. „Hin und wieder etwas auf dich gewartet, aber auch nicht sonderlich lange, nur eben lange genug – dann nach Hause und zum Lernen hingehockt.“ Er grinste. „Das Übliche eben.“ Sein Grinsen erlosch. „Und du? Was war denn die ganze Zeit?“ Warum war sie nicht ans Telefon gegangen?

Sie schaute nachdenklich drein. „Na ja … Ich war eine Zeit lang im Krankenhaus, nichts Ernstes natürlich, und … dann war ich zuhause und habe mich total auf gestern gefreut, da dies der erste Tag war, an dem ich wieder draußen war! Und da treffe ich gleich dich!“ Sie lächelte. „Woher wusstest du eigentlich, in welcher Kirche mein Vater predigt?“

„Hast du den Mann und die Frau gesehen, mit denen ich dann weggefahren bin?“, wollte er dann wissen, „Er ist mein Vater.“

„Und dein Vater geht noch jeden Tag zur Kirche?“, wunderte sie sich.

„Ich bin in dieser Familie einfach der einzig Vernünftige.“ Er lächelte. Er wusste, dass sie es ihm nicht übel nehmen würde. Das tat sie nie. Auch wenn sie den Schmollmund zog – worüber er breit grinste. „Hast du eigentlich viel verpasst? Bist du heute noch nachgekommen?“

Sie nickte. „Ja, es geht. Mit etwas … Vorwissen …“ Sie grinste schief. „… übersteht man Fehlstunden.“

„Jetzt kommen bald die Prüfungen“, sinnierte er, „Bist du vorbereitet?“

Sie schauderte. „Ich hoffe es?“

„Und ich erst.“ Er wandte seinen Blick in den goldenen Himmel, dessen Strahlen nur selten Einhalt geboten wurde.

„Drei Studienrichtungen …“ Ray wandte sich wieder zu Kyrie um, welche den Kopf schüttelte. „Du musst verrückt sein.“ Sie schien sich da ziemlich sicher.

„Hat Kylie auch gesagt, als sie es herausgefunden hat“, teilte er ihr frei heraus mit.

Kyries Augen weiteten sich für einen Moment. „Du hast es ihr erzählt?“, fragte sie – seiner Meinung nach leicht panisch – nach.

Ray legte den Kopf schief. „Mehr oder weniger …“ Er zuckte mit den Schultern. „Weißt du, das war ziemlich seltsam. Meine Mutter scheint das irgendwie gerochen zu haben … Ich habe kein Wort gesagt und …“ Er zog die Stirn kraus, weil Kyrie so seltsam schuldbewusst hin und her schaute. „Was ist los?“

„Oh – äh – ich glaube, ich habe irgendwo … eine Münze verloren …“ Sie lächelte. „Ist nicht wichtig.“

Er schüttelte den Kopf. Manchmal war sie einfach leicht abzulenken. Fast so leicht, als würde sie eine schlechte Lüge erzählen. … Er grinste. Kyrie log aber nicht. „Nun – jetzt wissen sie es und halten mich für verrückt. Kylie hat mir auch gleich schon gedroht, falls ich die Prüfungen nicht schaffe … Du wirst Kylie lieben. Sie hat nämlich vor zu kommen.“

„Du willst sie mir vorstellen?“, schloss Kyrie daraus, „Das wird toll! … Diane kommt aber nicht, oder?“

Er verneinte. „So viele finanzielle Mittel haben sie nun auch wieder nicht … Ich studiere fertig, dann werde ich meine Mutter und meine Schwester wieder sehen …“

„Hat sie jetzt schon geheiratet?“, wollte Kyrie wissen.

„Nein, hat sie noch- …“ Moment.

Hatte er ihr erzählt, dass Diane heiraten wollte? Hatte er das überhaupt jemandem erzählt? Niemand hier kannte Diane – sein Vater würde es schon herausfinden, wenn es so weit war. … Gut, vermutlich hatte sie es ihm mitgeteilt, bevor sie sich an Ray genannt hatte. Seine verräterische Schwester!

„… nicht …“, beendete er seinen Satz langsam, „Ich weiß auch noch nichts von einem Datum oder so …“ … Er konnte sich nicht erinnern, das je irgendwem gegenüber erwähnt zu haben. … Oder doch? Woher wusste sie es sonst? Er musste es ihr ja schon fast gesagt haben.

Kyrie nickte. „Ich habe mir immer ein Geschwisterchen gewünscht.“ Danach schüttelte sie den Kopf. „Ich wollte unbedingt Trauzeugin für irgendwen werden.“ Sie lachte kurz. „Wirst du für die Hochzeit ins Rote Dorf zurückkehren?“

„Wenn es sich vom Studium her ausgeht“, antwortete er, „Ich hoffe ja, dass sie erst in zehn Jahren heiratet, sodass ich alle Studienrichtungen abschließen kann. Sonst bringt mich die Idylle des Roten Dorfs nur noch dazu, zu Hause zu bleiben.“

Kyrie blies empört die Wangen auf. „Würdest du deine Mauer-Freundin wirklich im Stich lassen?“ Aber sie wirkte auch leicht panisch.

Er lachte amüsiert über diese gegenteiligen Emotionen. „Selbstverständlich würde ich dich und die Mauer mit mir nehmen!“

Sie stimmte in sein Lachen mit ein.

Und er war so fröhlich, wie bereits seit elf Tagen nicht mehr – auch wenn sie ihm nichts weiter über ihren Unfall erzählen wollte. So viel zu „nicht nachgeben“. … Aber … sie glücklich zu sehen, erfreute ihn mehr als jeder Unfallbericht. Und wenn er auf dieses Thema zurückkam, war sie einfach nicht glücklich.

Wenn sie sich jemals dazu aufraffen konnte, würde sie ihm davon erzählen. Wenn sie ihm genug … vertraute. Wenn sie es selbst überwinden konnte. Aber er wollte ihr eigentlich dabei helfen.

Doch für den Moment war es ihm genug, wenn er ihr zum Lachen verhelfen konnte.
 

John hoffte, dass Radiant und Kim ihm nicht böse waren, dass er so mit ihrem Sohn umgesprungen war – aber es hatte sich einfach so ergeben.

Er beobachtete Kyrie dabei, wie sie diesem Ray winkte und dann zum Auto ging.

Mit einem Arm winkte sie ihnen, der andere hing schlaff herunter.

Sichtbare Schiene oder Prothese?

Seine Tochter würde ihren Arm so und anders verlieren … Nein. Er war schon verloren …

Er schaute kurz seine Frau an. Diese lächelte – Ray zu.

Der lächelte zurück.

Johns Mund bildete eine schroffe Linie.

Er würde diesem Atheisten nicht zulächeln. Mauer-Freunde. Von wegen.

Kyrie öffnete die Wagentür und winkte Ray noch ein letztes Mal zu, ehe sie sich hinein setzte und das Tor ins Schloss fallen ließ.

„Guten Tag“, begrüßte sie sie fröhlich, „Hattet ihr einen schönen Tag? Meiner war nämlich wundervoll.“

„Guten Tag“, antwortete er, ging auf das andere aber nicht mehr ein, sondern legte den Rückwärtsgang ein und machte sich auf den Rückweg.

Magdalena und Kyrie sprachen miteinander über die Ereignisse des Tages und darüber, was sie heute essen wollten.

John hielt sich gekonnt heraus. Essen war ihre Sache – und er hatte heute nichts Besonderes erlebt. Heute war er bloß an der Schule gewesen und hatte Religion unterrichtet. Die Predigt würde er erst heute Abend halten.

Im Rückspiegel erkannte er Ray, der jetzt aufstand und dann betont langsam fortschlenderte.

Kim und Radiant waren besonders treue Angehörige der Kirche. Und Radiant war sogar ein Unterstützer, ohne den die Kirchen der Stadt nur halb so atemberaubend schön wären. Durch die Investitionen seiner Firma waren sie schon oft ins Gespräch gekommen, aber dann und wann suchten sie auch privaten Rat – und langsam verstand er ihren Punkt von damals auch. Es war in etwa vor drei Monaten gewesen, als sie ihn gefragt hatten, wie man einen störrischen Jungen behandeln sollte, der sich weigerte, sich zu integrieren oder gar mit ihnen zu interagieren – vermutlich hatten sie da von Ray gesprochen.

Er hatte einfach nicht auf Radiants und Kims Anwesenheit reagiert, sondern hatte sich bloß um John und Kyrie gekümmert. Als John ihm gesagt hatte, er sollte sich von seiner Tochter fern halten – scheinbar war Kyrie sehr davon überzeugt, dass er keinen Grund hatte, sich bei ihr zu entschuldigen -, und als diese ihn daraufhin zu Recht gewiesen hatte, dass er ihr Mauer-Freund wäre, den er zu dulden hatte, hatte Ray das bewiesen: Nach dem Gespräch war er einfach zum Wagen gegangen, ohne seine Eltern auch nur eines Blickes zu würdigen.

Er fragte sich, was in dieser Familie Schreckliches passiert war, dass dieser Junge so geworden war. Die Eltern erschienen ihm nämlich sehr vernünftig – Kim vielleicht ein paar Jahre zu jung, aber ansonsten …

Aber er wollte nicht nachfragen, wenn sie nicht darüber reden wollten.

Ob Kyrie Bescheid wusste …?

Aber es ging ihn nichts an. Bis auf den Umstand, dass seine Tochter dabei war, sich mitten in diesen Problemherd zu stürzen! Was empfand sie für diesen Ray? Und was verbarg er? John konnte nicht glauben, dass er ihm Unrecht getan hätte, indem er den Telefonkontakt unterbrochen hatte! Ray musste irgendetwas mit der Sache zu tun haben. Er musste. Es würde einfach zu gut ins Profil passen.

Aber er wollte nicht, dass seine Tochter dumm genug war, sich trotzdem mit ihm einzulassen! … Warum konnte sie nicht einfach bei ihren Engeln bleiben? Die taten ihr viel besser – als irgendwelche Ungläubigen!

„Nudeln?“, wiederholte Magdalena laut, „Na gut, damit kann ich leben.“

„Schon wieder Nudeln?“, murrte John daraufhin, um sich ins Gespräch einzumischen.

„Du hast kein Mitspracherecht“, kam es neckend von Kyrie.

Er lachte. … Aber eines musste sie Ray lassen: Vor dem gestrigen Tag war Kyrie nie wieder so glücklich gewesen. Als hätte er all ihre bösen Gedanken und Erinnerungen vertrieben … Sollte er doch nicht so hart mit ihm ins Gericht gehen? Ihm eine Chance geben? Immerhin hatte er den Versuch unternommen, mit Kyrie Kontakt aufzunehmen.

Es hatte sich nur jemand dazwischen gestellt.

„Wie wäre es mit einem Dessert?“, schlug er stattdessen vor.

„Kuchen klingt gut“, stimmte Kyrie zu.

„Ich kann Schokoladekuchen machen“, sinnierte Magdalena, „Ich habe gehört, ich sei ganz gut darin.“

John lachte – und Kyrie lachte ebenfalls. Magdalena backte den besten Schokoladekuchen auf der ganzen Welt!

Und so fuhren sie nach Hause – eine glückliche Familie in der Hälfte eines normalen Arbeitstages. So wie es sein sollte.
 

Kyrie starrte auf die Feder, die in ihrem Zimmer war. Scheinbar hatte sie ihr tatsächlich Glück gebracht. Ob sie dieses Glück auch öfter nutzen können würde? Aber inwiefern?

Bei den Prüfungen?

Sie hatte sich bei Mitstudenten, welche ihr nicht feindlich gesinnt waren, welche also nicht zur Fraktion Wir-vermissen-Nathan gehörten, erkundigt, was sie alles verpasst hatte.

Es war wirklich ziemlich viel.

Vielleicht hatte sie beim Gespräch mit Ray etwas untertrieben – aber wirklich nicht sehr. Die Heiligen Schriften hatte sie immerhin schon öfter durchgearbeitet und bei Fragen über Interpretationsmöglichkeiten konnte sie sich noch immer an ihren Vater wenden. Also blieb nur der trockene Stoff und die Geschichte zu lernen, wobei beide sehr wichtig für das Verständnis waren. Und interessant nebenbei.

Wenn sie jetzt noch etwas lernen konnte, dann würde sie heute nach der ersten Besprechung mit dem Arzt nicht mehr allzu viel zu tun haben. Das wäre doch erstrebenswert, oder?

Sie zog sich die Jacke aus und legte sie auf das Bett.

Und setzte sich daneben, anstatt sich – wie geplant – an den Schreibtisch zu setzen, um zu lernen.

Sie hatte noch immer keinem erzählt, dass sie nie mehr in den Himmel gehen wollte. Ihre Eltern hatten auch noch nicht gefragt. Diese schienen sich mehr darum zu sorgen, sie aus Angst, dass dieser Rempler zurückkehren würde, nie mehr wieder aus dem Haus zu lassen,

Sie seufzte. Sie wollte so gerne zurück … Sie war heute schon wieder kurz davor gewesen, sich Ray mitzuteilen – da hatte sie das Thema Unfall lieber komplett ausgeblendet, als in Versuchung zu geraten, sich zu verplappern – und das würde bei ihm irgendwann bestimmt noch geschehen!

Er war ein richtiger Freund. Jemand, dem sie alles erzählen wollte. Aber … sie konnte nicht. Das war ein Geheimnis, das sie bewahren musste.

Ein Geheimnis, das sie für immer voneinander trennen würde.

Auch wenn sie nie mehr in den Himmel zurückkehren würde – sie würde doch für immer ein Engel bleiben. Und darin lag der Unterschied.

Sie starrte die Feder an. So viel zu Glück.

Nein, sie sollte dankbarer sein …

Sie seufzte.

Ob das irgendjemand nachvollziehen können würde?

„Und was ist jetzt mit diesen … Prüfungen?!“, fauchte Liana ihn an, „Ich dachte, sie würde himmelhoch jauchzend zu uns kommen, um uns mitzuteilen, wie toll sie ist? Wo ist sie jetzt? Bist du dir sicher, dass die Menschen nicht kurzfristig die Wochentage vertauscht haben? Es ist einfach nicht normal, so lange nicht zu kommen!“ Sie redete in einer Wurst durch – keine Möglichkeit, sie zu unterbrechen. Wenn sie in dem Moment keine Pause gemacht hätte, hätte er gar keine Möglichkeit gehabt, sie zurechtzuweisen.

„Sie wird schon ihre Gründe haben“, entgegnete Nathan lässig, „Kein Grund, sich so aufzuregen.“

„Nathan, ich glaube es selbst nicht, aber … ich muss ihr recht geben.“ Thierry erhob sich und stellte sich mit seiner kurzen roten Weste mit dem Mannschaftslogo neben Liana, welche eine dazu passende rote Blume trug. Deliora trug eine rote Brille. Hatten die drei irgendeine Vereinbarung getroffen, die Joshua und er überhört hatten? „Ich wollte Kyrie heute persönlich zum morgigen Spiel einladen! Sie muss mich doch auch endlich in Aktion sehen! Sie wollte das doch – hat sie zumindest gesagt …“

„Vielleicht haben wir sie auch beleidigt“, kam Deliora dazu und stellte sich auch entsprechend neben ihre Verbündeten, „Vielleicht ist ihr auch etwas zugestoßen.“

„Ach Quatsch, sie ist Kyrie“, redete er gegen die Mauer an, die seine Freunde bildeten, „Und ich kenne sie …“ Seine Worte verklangen, als er Joshua dabei zusah, wie er sich auf die Seite der anderen schlug und ihn ziemlich kritisch betrachtete. Sogar Joshua!

„Und was soll ich eurer Meinung nach tun?“, keifte er alle vier an, „Soll ich sie an den Flügeln hierher zerren?!“ Er verschränkte die Arme. „Ich kann sie nicht zwingen! Wenn sie Lust hat, wird sie schon wieder herkommen! Sie hat die Engelsfreiheit – und die will ich ihr nicht nehmen!“

„Und WENN ihr etwas passiert ist?“, maulte Liana ihn sehr laut an, „Wenn sie verletzt irgendwo liegt?!“

„Dann wird sie wohl in den Himmel kommen, um sich zu heilen!“, gab Nathan barsch zurück, „Sie ist zwar nur ein Menschenengel, aber sie ist dennoch klug, ob ihr das glaubt oder nicht!“

„Nathan … bitte! Ich werde morgen versagen, wenn sie nicht zusieht! Mein Gewissen lässt das anders nicht zu!“ Thierry schaute ihn gequält an. „Ich habe es ihr versprochen! Und so ein Versprechen unter Engeln bricht man nicht!“

Nathan verdrehte die Augen. „Soll ich ihr eine Einladungskarte schreiben?“ Er war genervt. Sehr genervt. Warum verlangten sie das von ihm? Er konnte ihnen auch die Adresse geben und sie würden sie finden! … Na gut … Nein. Vermutlich nicht. Als Engel war es einfach seltsam auf der Erde – alles war so ungewohnt und kompliziert und unpraktisch und … Ja. Vermutlich wäre er die beste Wahl, um auf die Erde zurückzukehren.

Für einen minimalen Teil eines Moments heftete sich sein Blick auf Joshua. Er konnte diesen Mann einfach nicht vergessen! Nicht bei der Arbeit. Nicht in der Freizeit – und nicht auf der Erde! Wie wollte er je eine Todsünde werden, wenn er es nicht schaffte, loszulassen? Wenn er … wenn er Angst hatte, auf die Erde zu gehen, weil er glaubte, er würde sich nie mehr wieder überwinden können, zurückzukehren?

Wieso hatte Joshua sich nicht einfach einen anderen gesucht?

Manchmal war ein gebrochenes Herz besser zu verkraften als eine unerfüllte, greifbare Sehnsucht.

„Ich gehe bestimmt nicht“, erklärte er ihnen dann bestimmt. Er konnte nicht auf die Erde, verflucht! Er hatte es sich selbst versprochen!

„Dann sende einen Ruf aus“, schlug Deliora vor, „Wenn du es nicht tust, mache ich es – aber ich kann für nichts garantieren.“

Oh ja, die alte Ausrede – dass starke Engel ihre Magie besser balancieren konnten … Das war kein Grund, ihm die ganze Arbeit aufzubürden! Dass schwache Engel versehentlich Magnete aussenden könnten! Wer sowas wirklich glaubte, was ein Idiot! Und dass gerade Deliora schwach sein sollte. Ausreden!

„Vielleicht hat sich ihre Unterrichtszeit ja geändert“, startete er einen neuerlichen Versuch, „Also werde ich einen Ruf aussenden, der sie darum bittet, noch am heutigen Tage zu erscheinen – wenn sie darauf nicht reagiert, schaue ich nach“, versprach er ihnen. Sie hatten ja Recht. Ein Ruf würde keinen umbringen. Er hoffte nur, dass sie auf den Ruf dann reagieren würde. Wenn nicht … Sie durfte doch nicht zulassen, dass er erneut auf die Erde musste!

Liana nickte zufrieden.

„Wenn du sie dann siehst“, bat Thierry, „lädst du sie dann für morgen ein?“ Er wirkte tief betroffen. Scheinbar ging es ihm wirklich ans Herz, dass er sie nicht hatte einladen können.

„Ja“, keifte Liana, „Morgen beim Spiel wollen wir sie treffen. Wir kommen ja alle sowieso! Also verlegen wir das heutige Mittwochstreffen auf morgen.“ Sie schaute mit bedeutungsvollen Blicken in die Runde. „Keine Einwände?“

Jeder nickte.

„Gut, abmarschieren!“, rief sie und erhob sich in die Lüfte. Dann deutete sie noch auf Nathan. „Und wehe, ich sehe sie morgen nicht!“ Und damit schwirrte sie ab.

Alle schauten ihr nach.

„Wieso sind wir gleich noch einmal befreundet?“, wollte Nathan leise murrend wissen.

„Weil sie immer so abgefahren große Blumen am Kopf trägt“, beantwortet Thierry ihm begeistert die Frage, dann wendete sich seine Stimmung allerdings um 180 Grad. „Ich muss jetzt leider los“, teilte er ihnen bedauernd mit, „Wir sehen uns morgen! Mit Kyrie!“

Und damit machte auch er sich von Dannen.

Plötzlich realisierte Nathan, dass Joshua schon wieder darauf warten wollte, bis sie alleine waren.

Noch ehe Deliora den Mund aufmachen konnte, sagte Nathan: „Gut, ich erledige noch etwas. Arbeit und so – ihr wisst ja, Arbeit! Bis morgen.“ Und er erhob sich in die Lüfte, ohne eine Antwort abzuwarten. „Mit Kyrie“, fügte er noch murmelnd hinzu. Sie würde doch kommen, oder?

Er flog durch den goldenen Himmel, kam an Trainingsgruppen vorbei, die den Schwertkampf übten, an einer Schule, die die Lichtpyramide aufbaute und an einigen alten Engeln, die wohl noch im Zyklus waren, sowie an kleinen, süßen Engeln, die ebenfalls noch nicht voll ausgewachsen waren.

Keiner würde sich freiwillig in die zerbrechliche Gestalt eines Alten oder die lächerliche Gestalt eines Kindes begeben. Nun – kaum einer. Die Todsünde, die vor Avaritia geherrscht hatte, war freiwillig alt gewesen. Aber damit endete die Liste wohl.

Als er vor dem Turm der Ränge angekommen war, ließ er sich zu Boden sinken.

Er nahm ein wenig Magie und sandte sie Kyrie in Form eines leichten Rufes. Sie würde ihn nicht ignorieren können, aber er würde sie auch nicht auffallend erschrecken. Sie würde also Zeit haben. Bis zum Ende des Tages. Dann wollte er sie wieder sehen.

Und bis dahin … würde er sich wieder seinen Nachforschungen widmen.
 


 

Kyrie starrte erschrocken in ihre Bücher, die sie vor sich ausgebreitet hatte, um den heutigen Lernstoff zu wiederholen. Ein Ruf. Jemand, nein, nicht jemand … Nathan hatte sie gerufen. Er … hatte sie wirklich nicht einfach vergessen?

Es war ein Ruf, für den sie sich Zeit lassen durfte. Solch einer, der gegen Mitternacht auslaufen würde … Was er wohl dazu sagen würde, wenn sie einfach nicht kam? Vermutlich würde er sich Sorgen machen. Aber sie wollte nicht, dass er sich Sorgen machte … Wobei … wenn er dann zu ihr kommen würde – dann könnte sie ihm alles erzählen … Von Xenon, Jeff, Milli und Drake … Dann … dann …

Sie bemerkte, dass ihre Hand zitterte.

Ob er mit ihr in den Himmel gehen konnte? Ob er … Nein … nein – was, wenn sie dann ihn auch noch angreifen würden? Konnten sie einen Assistenten überhaupt angreifen? Aber … sie … Wenn sie ihr auflauern würden? Ihren Eltern etwas antun würden?

Wozu waren solche Leute nur fähig?

Am liebsten hätte sie sich unter ihrem Bett verkrochen und wäre nie wieder herausgekommen. Was war in solch einem Moment zu tun?! Warum keimte Hoffnung in ihr auf? Wieder in den Himmel zu kommen … Nein. Nein – das war nicht möglich. Die Angst legte sich wieder auf sie.

Sie bewunderte Ray ein wenig dafür, dass er Midas hassen konnte. Vielleicht lag es ja daran, dass er ihn kannte – vielleicht konnte er deshalb Wut empfinden. Sie schaffte es nicht, Xenon zu hassen. Er hatte immerhin seine Gründe für seine Taten. Seine schrecklichen Gründe … Warum war da keine Wut in ihr?

Kyrie hatte einfach nur Angst. Schreckliche Angst, dass so etwas wieder passieren könnte. Dass sie … dass sie dann wirklich frühzeitig sterben würde und dass sie Ray und Nathan und ihre Eltern dann nie mehr wieder sehen würde und … Thierry und Liana und Deliora und Joshua … Sie waren doch jetzt Freunde! Aber sie würde sie ja sowieso verlieren …

Sie rieb sich ihren gelähmten Arm. Es würde doch nichts nützen … Gar nichts …

Der Himmel war unendlich groß – keiner konnte Xenon und seine Leute davon abhalten, anderen Halbengeln etwas zuleide zu tun.

Sie war im Moment zum Glück der einzige aufgenommene Halbengel … da konnten sie ihr Ziel ja gehörig einschränken … Was … was wenn sie ihr immer auflauerten? Sie stetig beobachteten?

Die Magie des Rufs in ihr machte noch immer auf sich aufmerksam. Er fühlte sich so warm an – richtig wie das lang ersehnte Licht, dem sie jetzt schon so lange nachtrauerte …das sie so vermisste … Diese Wärme, als würde Gott persönlich sie umarmen …

„Nathan …“, murmelte sie, „Es tut mir leid …“

Aber sie würde nicht kommen.

Sie würde nicht in den Himmel gehen.

Alleine beim Gedanken daran, sich diesen Halbengelhassern wieder auszusetzen, versteinerten sich ihre Muskeln und ließen sie in allen Bewegungen inne halten.

Gegen solche Attacken würden auch die Therapievorschläge aller Ärzte nichts nützen. Die Angst war schon immer ein Teil von ihr gewesen … die unterschiedlichsten Ängste eines kleinen, einsamen Mädchens …

Sie unterdrückte aufkeimende Tränen. Warum war sie nicht fähig, diese Hindernisse zu überwinden? Wann würde sie endlich groß genug sein?
 


 

Kyrie hatte sich ihr Nachthemd angezogen und war zu Bett gegangen. Der Ruf war noch immer in ihr. Es war noch nicht Mitternacht, aber er würde dennoch einfach so auslaufen. Nathan würde wohl nicht um Mitternacht hier hinein geschneit kommen. Wenn er kommen wollte, dann wohl eher morgen … Hoffentlich blieb er fort … Es würde ihm so viel ersparen … und ihr selbst. Dann … dann bräuchte sie keine Entscheidung mehr zu treffen. Dann könnte sie einfach weitermachen, als gäbe es den Himmel nicht.

Auch wenn die Feder, die nach wie vor neben ihrem Bett stand, ihre Gedanken Lügen strafte.

Sie gähnte, als sie sich ihren Polster zurecht klopfte, um dann ihren Kopf auf dem weißen, feinen Kissen abzulagern. Sie schloss ihre Augen und fühlte sich einfach so ausgezerrt, dass sie beinahe sofort einschlafen hätte können – wenn da nicht plötzlich dieses Licht aufgeschienen wäre, welches den gesamten Raum erfüllte.

Sämtliche Dunkelheit war vergangen – obwohl Kyrie ihre Augen noch geschlossen hatte!

Als sie sie öffnete, blendete es sie so sehr, dass sie nur weiß erkennen konnte.

Im ersten Moment ihres Dämmerzustandes rechnete sie mit Xenon, der ihren Aufenthaltsort entdeckt hatte und sie aus irgendeinem Grund letztendlich vollkommen unschädlich machen wollte – doch als sie ihr Sehvermögen wieder halbwegs zurückerlangt hatte, erkannte sie die große Gestalt mit dem strubbligen, braunen Haar und den frechen, blauen Augen, die ihr freundlich zu blitzten.

„Schlafmütze“, begrüßte Nathan sie, „Was tust du? Wieso kommt du nicht?“

„Kannst du bitte deine Flügel einziehen?“, bat sie ihn mit hörbar müder Stimme. Dann gähnte sie betont. Eine Geste. Nur eine Geste. … Nathan … Er war tatsächlich hier … Hier, bei ihr … Er war gekommen. Hatte sie nicht vergessen! War ihr gefolgt, obwohl er es gar nicht müsste … Nathan … Erst jetzt wurde ihr klar, wie immens sie ihn überhaupt vermisst hatte. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, um ihm zu umarmen, ihm alles vorzuheulen, was geschehen war, aber … nein … Das … das konnte sie jetzt doch nicht wirklich tun … Sie wollte nicht mehr in den Himmel … aber sie wollte ihm das auch nicht mitteilen. Sie musste die Distanz wahren. Das würde alles einfacher machen. Für beide.

„Oh“, machte er, „Tut mir leid!“ Und schon war die Lichtquelle verschwunden und ihr Zimmer lag in völliger Dunkelheit.

Nur das aus Magie angefertigte, weiße Gewand, welches Nathan trug, hob sich von dem Dunkel der Nacht ab.

Niemand sagte ein Wort, ehe Nathan das Schweigen durchbrach: „Und? Was ist deine Entschuldigung hierfür?“

„Wofür?“, fragte Kyrie. Sie konnte nichts sehen – also wusste sie nicht, worauf er wohl gedeutet hatte.

„Nun … für das Ganze“, erklärte er schwammig, „Die Gesamtsituation – wo warst du denn die letzten drei Wochen?“

Sie antwortete nicht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte – wie sie es sagen sollte … Sie hatte heute den ganzen Tag über darüber nachgedacht, was sie wohl sagen würde, wenn er wirklich kommen würde, aber … aber … Sie hatte nicht geglaubt, dass er ehrlich kommen würde … Es wäre zu schön gewesen – und jetzt … Er war da … wirklich da …

„Liana mault mir schon die Ohren zu! Sie hat dich jetzt schon seit einem Monat nicht mehr gesehen. Ich glaube, sie würde sogar auf die Erde kommen, um dich endlich wieder sehen zu können – und sogar Joshua vermisst dich!“ Er pausierte. „Du machst da oben einfach Eindruck!“ Kurz blitzten seine weißen Zähne auf. „Du hattest Prüfungsstress, nicht wahr?“

Er schien eine Antwort zu erwarten.

„Nein“, sagte sie ehrlich, „Die Prüfungen kommen erst …“ Was sollte sie tun?

Sie setzte sich auf, ließ die Decke aber auf sich liegen.

„… Und weiter?“, forderte er sie zu sprechen auf, als sie nicht von sich aus weiter redete.

„Ich werde nicht mehr in den Himmel zurückkehren“, klärte sie ihn auf. Sie versuchte, ihre Stimme fest und bestimmt zu halten, auch wenn sie am liebsten in Tränen ausbrechen wollte. Aber sie sollte nicht weinen. Nicht deshalb. Sie hatte doch eine Begründung … Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter. Und sie drängte die Bilder zurück, die sie quälend an die Geschehnisse zu erinnern versuchten. Als bräuchte sie mehr Erinnerungen daran!

„Bitte – was?!“, fuhr er sie ungläubig an, „Du - … was?!“ Er klang wirklich schwer schockiert. Sie zuckte unter der Wucht seiner Stimme zusammen. Sie wollte das doch alles gar nicht! Was denn sonst sollte sie tun?! Was außer genau das, worum … worum diese Leute … Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Angst lähmte sie. … Aber …

Sogar Joshua vermisste sie. Sogar … er …

Sie konnte ihre Tränen kaum mehr zurückhalten. Bisher hatte sie nur Angst gespürt. Aber jetzt fiel die Verzweiflung, die Enttäuschung über sie her. Die Enttäuschung über ihre Angst, darüber, sie alle alleine zu lassen! Sie vermisste ihre Freunde dort oben auch. … Aber sie würde Thierrys Spiele niemals mit ansehen, würde Delioras Wissen niemals wieder mitgeteilt bekommen und auch auf Lianas Freundschaftlichkeit würde sie verzichten müssen … und auf Joshuas Anwesenheit. Und auf Nathan. Auf Nathan, den sie nach all den Jahren wieder zum Freund gewonnen hatte – wegen dieser Engel würde sie alles verlieren, was sie sich endlich hatte aufbauen können …

„Ja ... je schneller ich mich von euch abwende, desto weniger werdet ihr mich in Folge vermissen …“ Ihre Stimme versagte ihr. Sie musste alles zurückhalten, musste kalt klingen … Als … als wäre sie sich so sicher, wie sie es gerne hätte … Sie schaute ihn an, auch wenn sie ihn sowieso nicht erkennen konnte – und so bemerkte sie auch nicht, dass er die paar Schritte zu ihrem Bett zurücklegte, ihre beiden Schultern packte und sie schüttelte, ehe es zu spät war.

Sein Gesicht war ganz nah bei ihrem, sie konnte sogar seinen total ungläubigen Gesichtsausdruck erkennen. „Bitte was?!“, fragte er, während er sie im Takt schüttelte, „Was redest du da!? Hallo!? Kyrie?! Spinnst du!? Was soll das?! Bist du verrückt?! Das ist doch … nicht zu fassen! Deine – du – Hallo!?“ Und er schüttelte sie unentwegt.

Und je weiter er solch wirres Zeug herumbrabbelte, je mehr von diesen sinnlosen Wörtern er in den Raum warf und je länger er sie schüttelte … desto weniger konnte sie es aushalten.

Sie wollte in den Himmel. Sie wollte.

Aber sie konnte nicht!

Die Angst … sie lähmte sie … So unaufhörlich.

Mit einem Arm umarmte sie Nathan, sodass dieser aufhörte, sie zu schütteln.

„Bitte … was!?“, beendete er seine Tirade, als sie zu schluchzen begann.
 

Nathan war wirklich perplex, als Kyrie ihn plötzlich umarmte und ihn an sich drückte.

Er ließ von ihren Schultern ab und umarmte sie langsam und vorsichtig auch. Sie war so klein und zerbrechlich … und sie weinte.

Aber ernsthaft … Was war los mit ihr? Weshalb war sie nicht einfach in den Himmel gekommen? Warum musste sie ihn herholen?

In der Stille waren nur hin und wieder auf Aufschluchzen zu hören.

„Was ist passiert?“, fragte er nach einer Weile, in der sie sich einfach umarmt hatten, sanft. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, wenn jemand ihn umarmte und dann zu weinen begann.

„Ich …“ Sie brach ab. Dann versuchte sie es erneut: „Ich …“ Ihre Stimme zitterte, brach wieder ab.

„Beruhige dich …“ Er drückte sie ein wenig fester. „Hey – was ist denn …“

Sie lehnte sich ein wenig zurück, um ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Er konnte ihre Augen nur schwach erkennen, aber er sah Angst in ihnen. Angst und Tränen.

So würde das nichts werden.

Er drückte sie wieder an sich, befreite sie von der Bettdecke und erhob sich – mit ihr. Sie wurde einfach gezwungen, aufzustehen. Da bemerkte er, dass sie bereits ihr Nachtgewand trug. Und ihn fragend anstarrte.

„So etwas regelt man bei Mond- und Kerzenschein“, ließ er frei heraus verlauten und führte Kyrie zum Lichtschalter, welchen er dann auch betätigte.

Und plötzlich war die Welt viel heller.

Dann setze er Kyrie wieder am Bett ab, drückte sie also frei heraus darauf, nahm sich selbst einen Stuhl, hockte sich ihr gegenüber hin und starrte sie dann an. Die Zeit, die er starrte, fühlte sich unendlich lange an.

Kyrie schaute nicht zu ihm auf – ihr Blick blieb am Boden haften. Sie wirkte, als bekämpfte sie sich selbst.

„Du kannst mir alles sagen“, bot Nathan ihr an.

Ihr Mund bewegte sich kurz, schloss sich dann aber wortlos wieder.

„Sogar, dass du Joshua spontan geheiratet hast“, fügte er lockerlässig, des Spaßes wegen, hinzu – und erschrak dabei selbst bei dieser Vorstellung. Sein Magen verkrampfte sich für den Moment. Wehe, sie würde ihm so etwas beichten!

„Niemals!“, brüllte sie beinahe und starrte ihn nun entsetzt an – mit offenem Mund.

„Siehst du, du kannst ja doch vollständige Sätze … oder zumindest … sinnvolle Dinge von dir geben!“ Er grinste locker und vergaß seinen Witz auch gleich wieder, nun - drängte ihn zumindest zurück. Sie würde doch nicht einfach so unvermittelt einen Engel heiraten. Würde sie nicht. … Nein!

Ihre Mundwinkel zogen sich sogleich wieder nach unten. „Es tut mir leid …“, gab sie nach einer weiteren Weile wispernd von sich, „Ich …“ Sie fuhr sich über das Gesicht, um die Reste der Tränen zu verstecken.

„Du?“, wiederholte er ihre Worte, „Weiter?“

„Ich …“, begann sie erneut kaum hörbar.

„Soweit waren wir schon“, kommentierte er – dann grinste er sie an, „Komm schon! Wie schlimm kann es schon sein?“ Nun – so schlimm, dass sie seit drei Wochen nicht mehr im Himmel war. Was konnte nur geschehen sein? Und nicht mehr dorthin wollte. Und sie sich ihm weinend entgegen gestürzt hatte.

Sein Magen verriet ihm, dass es ziemlich schrecklich sein würde.

„Halbengelhasser“, kam aus ihr hervor.

Nathan horchte erschrocken auf. Oh nein – was würde bloß folgen? Sätze, die mit diesem Wort begannen, nahmen selten ein gutes Ende.

Und plötzlich erzählte sie ihm alles, was sich zugetragen hatte – dass sie einmal einem Engel begegnet war, der ihr feindlich gesinnt war, der ihr allerdings nichts angetan hatte, dass sie daraufhin einmal alleine durch den Himmel geflogen war und dass sie am Nachhauseweg dann von zwei Engeln abgefangen worden war, die im Auftrag des Engels von damals gehandelt hatten, dass diese sie arg zurichteten und ihr mit dem Schwert und dem Tod drohten … dass sie einen Arm verloren hatte und dass sie sich dazu entschlossen hatte, um ihr Leben zu retten, den Himmel nie mehr wieder zu betreten, da dieser nur richtige Engel ein Lebensraum war – nicht für Dämonen wie sie!

Was hatten diese Typen ihr da bloß erzählt?! Wie konnten sie es wagen!?

Er umarmte Kyrie, als sie ihm völlig aufgelöst alles berichtet hatte, was geschehen war. Und Fassungslosigkeit überkam ihn. Wie konnten diese Halunken nur? Sie hatten die Vereinbarung gebrochen! Jede Vereinbarung! Sie sollten sie mit Güte behandeln – und nicht bestrafen für etwas, was sie hätte werden können!

Wut stieg in ihm auf. Er würde Kyrie rächen.
 

Nathan löste die Umarmung nach einer Weile. Kyrie fühlte sich schwach – aber auch seltsam erlöst. Endlich … endlich hatte sie jemandem die wahre Geschichte erzählt.

Sie klammerte sich noch immer an den ungewohnt muskulösen Körper Nathans, wobei seine pure Anwesenheit schon eine Art Heilmittel gegen ihren Kummer darstellte. Es war einfach angenehm … und erlösend. Vor allem erlösend.

Nathan saß auf ihrem Bett und behielt nur wenigen Abstand zwischen ihrem und seinen Körper. Sie spürte seinen Blick auf sich, wagte es allerdings nicht, ihn anzusehen – sie begutachtete den Boden, während ihr Arm noch immer um seine Hüfte geschwungen war. Wenn es ihn störte, konnte er es ihr sagen, aber … sie wollte ihn nicht loslassen … Es fühlte sich einfach gut an, bei ihm zu sein. Als … als wäre sie nicht mehr allein … als könnte sie jemand … beschützen …

„Okay …“, murmelte er langsam, „Okay …“, wiederholte er dann noch einmal, „Es … es tut mir leid, Kyrie“, schwor er leise, „Es tut mir so leid! Liana hat schon die ganze Zeit gesagt, ich solle dich suchen – doch …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe faul in Ausreden gelegen, während du so gelitten hast …“

Langsam hob sie ihren Blick und beobachtete ihn dabei, wie mit seinen Kopf mit diesem traurigen Blick schüttelte. „Ich wollte nie, dass so etwas geschieht … Ich … Es tut mir leid.“ Er schaute sie nun direkt an. Seine blauen Augen spiegelten einen seltsamen Ausdruck wider. „Ich hätte dich besser vorbereiten sollen …“ Er schüttelte den Kopf – scheinbar, um die Fassung wieder zu erlangen. „Sie haben dich mit einem Schwert attackiert, oder?“, fragte er mit plötzlich harter und bestimmter Stimme.

Kyrie nickte langsam.

„Dann wird es Zeit, dich in die Schwertkunst einzuweihen.“

Schwertkunst … Kyrie zog sich irgendetwas an, das gerade herum lag und nicht durch ihre Flügel zerstört werden würde.

„Ich werde dich keine Sekunde aus den Augen lassen. Diese Mistkerle werden dir niemals wieder etwas antun – das schwöre ich hiermit auf Gott, Sin und die Todsünden“, wiederholte sie seinen Schwur leise. Daraufhin hatte er sie auf die Stirn geküsst.

Er hatte ihr erklärt, dass dies das mächtigste Versprechen wäre, welches existierte, da man auf die mächtigsten Wesen überhaupt seinen Schwur legte. Und er würde ihn einhalten. Er würde sie in den Himmel bringen, sie begleiten … Zwar hatte Nathan bedauert, dass sie dadurch ihre neu gewonnene Freiheit nicht ausnutzen können würde und dass sie dadurch auch von seinem Zeitplan abhängig wäre – doch Kyrie war es egal. Noch dazu hatte er hinzugefügt, dass er es einfach als normale Trainingsstunde weiterführen würde. Dann würde jeder akzeptieren müssen, dass er dafür viel Zeit aufwenden musste.

Sie würde den Himmel spüren können. Und das war alles, was zählte … Sie musste nicht verzichten, sie durfte wieder nach oben und … Nathan würde bei ihr bleiben …

Vor Glück hätte sie am liebsten geweint – doch sie fühlte noch immer Unbehagen. Was, wenn er sie doch nicht immer beschützen konnte? Wenn Xenon sie attackieren würde, bevor sie mit dem Schwert richtig umzugehen wusste? Was, wenn sie kein Talent dafür entwickelte, mit dem Schwert zu kämpfen? Sie wollte ja eigentlich gar kein Schwert! Aber … wenn es die einzige Möglichkeit war, sich gegen ein Engelsschwert zu verteidigen …?

Sie würde es dann wohl erdulden müssen.

Sie schauderte kurz.

Sie hoffte, dass Xenon und seine Leute sie einfach nie mehr wieder bemerken würden. Sie wollte keine Waffe verwenden. Das ging gegen ihre Prinzipien des Friedens … Sollte sie Nathan das sagen? Ihm erzählen, dass sie lieber auf den Himmel verzichtete und starb, als sich zu verteidigen?

Er würde lachen.

Als sie den letzten Schliff an ihrer Kleidung getan hatte, ging sie nach draußen in den Gang – wo Nathan gemütlich mit ihren Eltern plauderte.

Oh. Es war schon sehr weit nach Mitternacht. Vermutlich waren sie zu laut gewesen.

Sie schritt auf die drei Gestalten zu, welche sich unterhielten.

„… und so alt! Kyrie hat uns das gar nicht erzählt!“, sagte ihre Mutter gerade überrascht, als Kyrie in Hörweite trat, „Kyrie! Nathan ist hier!“

Sie nickte. „Ich weiß“, erwiderte sie ruhig.

„Ja, und Nathan lässt euch auch gleich wieder schlafen! Ich entführe nur kurz Kyrie.“ Er grinste.

Sie stellte sich neben ihn.

„So spät noch?“, wunderte sich John misstrauisch, wobei sein Blick sofort zu ihrem Arm schoss. „Was, wenn …?“

„Keine Sorge – ich passe auf sie auf. Ihr wird so etwas nie mehr wieder zustoßen. Das schwöre ich auf Gottes Heiligen Namen“, antwortete Nathan statt ihr – und das sehr überzeugt.

John blinzelte misstrauisch – seufzte dann aber. „Na gut. Dir würde ich meine Tochter immer anvertrauen, Nathan.“ Dann verzog er seine Augen zu schlitzen.

„Danke für dein Vertrauen, John“, sagte er förmlich – dann lächelte er noch einmal in die Runde. „Aber erholt euch gut und schlaft gut. Ihr habt morgen viel vor! Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Kyrie rechtzeitig in der Uni ankommt.“

John nickte streng. „Das will ich auch hoffen.“

„Nathan, du kannst ruhig noch öfter vorbei kommen!“, warf ihre Mutter noch schnell ein.

Nathan grinste. „Ich denke, das Angebot kann ich gar nicht ausschlagen.“

Kyrie lächelte fröhlich. Gut, dass er es so sah … In letzter Zeit hatte es auf sie mehr so gewirkt, als würde er die Erde meiden – er hatte es auch so gesagt, aber … Meinungen änderten sich wohl … Wenn auch nur wegen ihr. Um sie zu beschützen. Bedauern stieg in ihr auf. Immer musste sie alles so kompliziert machen. Warum musste sie andere mit sich ins Unglück stürzen?!

„Gut, dann – viel Spaß, Kyrie! Und sei vorsichtig!“, warnte ihre Mutter sie.

„Und komm nicht zu spät zum Studium“, fügte ihr Vater tadelnd hinzu.

Kyrie nickte – ihre Eltern gingen daraufhin wieder zu Bett, während sie sich mit Nathan nach unten in die Eingangshalle bewegte. Er schaute sie an.

„Was ist?“, wollte Kyrie leise wissen.

„Wieso hast du ihnen nichts gesagt?“, fragte er leise, „Sie wirken so verständnisvoll und gut.“ Er schaute kurz zurück. „Ich bin immerhin auch ein Engel, genauso wie Xenon und der Rest.“

Sie schwieg für einige Sekunden. „Ich will ihr Bild von Engeln nicht verfälschen.“

„Es tut mir leid“, murmelte Nathan daraufhin.

Sie schaute ihn stirnrunzelnd an. Was tat ihm leid?

„Dass ich es zugelassen habe, dass sie dein Bild verfälschen.“

„Ich kenne dich, Liana, Deliora, Thierry und Joshua. Ich weiß, dass Engel prinzipiell gut sind“, beruhigte sie ihn daraufhin, „Ich weiß jetzt aber auch, dass Engel für ihre Überzeugungen einstehen – und das ist an sich doch auch gut … oder?“

Er zuckte mit den Schultern. „Schön, dass du es so siehst.“ Sein Gesicht wirkte im Schein des Lichtes grimmig.

Auch wenn ihr dieses Denken keineswegs half, ihre Angst zu überwinden. Diese Worte sprach bloß ihre vernünftige, gläubige Seite aus, die für alles eine Erklärung suchte. Die jeden in Schutz nehmen wollte und die sich selbst als den Sündenbock der Welt sah – falls man das vernünftig nennen konnte. Aber … das einzige Gefühl, das wirklich in ihr vorherrschte war blanke Panik.

Kyrie sperrte die Tür auf, zog sich ihre Stiefel an und eine Jacke an und ging dann mit Nathan nach draußen.

„Eigentlich greifen Engel nicht mit ihren Schwertern an“, erklärte er ihr, sobald sie die Tür verschlossen hatte, „Die Schwerter sind heilig und sollen nur gegen Dämonen eingesetzt werden und …“

Sie unterbrach ihn betrübt. „Sie denken, ich sei ein Dämon …“

„Haben sie dich mit dem Schwert getroffen?“, wollte er dann wissen.

Sie schaute ihn irritiert an. Er sah sie nicht an. „Getroffen …“, murmelte sie, „Gestreichelt wohl eher …“ Sie seufzte und berührte kurz ihre Wange, an welcher er sie geschnitten hatte. Es war nichts mehr davon zu spüren. Sie war außerdem froh, dass sie es geschafft hatte, die Erinnerungen, die dieser Strich mit sich gebracht hatte, wieder weitestgehend zu vergraben. Tief in ihrem Herzen.

„Danach ist etwas Seltsames passiert, nicht wahr?“ Er schaute sie dann neugierig an. „Du hast deine Vergangenheit gesehen – so als würdest du jeden Moment wieder erleben.“

Kyrie stoppte abrupt. „Was?“

Nathan ging noch einige Schritte weiter – durch die Dunkelheit erkannte sie wieder nur sein schiefes Lächeln, seine leuchtenden Augen und die Kleidung, die noch immer glänzte, als sei sie ein Teil des Himmels, als er sich umdrehte. „Die Schwerter haben eine ganz besondere Funktion.“

Kyrie öffnete leicht den Mund. „Sie … sie saugen Erinnerungen auf?“

Er lachte kurz. „Nicht ganz. Sie rufen sie hervor und machen sie für den Angreifer sichtbar.“ Er pausierte. „Ich habe dir doch bestimmt einmal erzählt, dass man vor die Todsünden kommt, wenn man jemanden beim Training mit dem Schwert verletzt.“

Sie nickte zaghaft.

„Das ist der Grund dafür“, erklärte er ihr leise, „Es ist im Himmel völlig egal, ob du jemanden einen Arm abhackst oder gleich den Kopf … Man heilt sowieso wieder. Aber die Erinnerungen, die aufgesogen werden, vergisst man deshalb nicht. Derjenige, der dich verletzt, kann in die tiefsten Tiefen deines Herzens und Geistes blicken – er erlebt alles, was du bereits erlebt hast, solange dich die Waffe berührt … und er erinnert sich daran.“

Kyrie sog scharf die Luft ein.

Nein … nein … Das … das durfte nicht sein … Dieser Drake … er konnte doch nicht wirklich …? Melinda … alle anderen … ihr Frust gegen Nathan … Wie sehr sie Ray vermisst hatte … Ihre Liebe zu Gott … Alles? Wusste er jetzt alles über sie?

„Wie lange … hat er deine Erinnerungen denn angesehen?“

„Woher weiß ich das?“, kreischte sie leicht verzweifelt, „Woher?!“

„Du siehst alles, was er sieht“, klärte Nathan sie informativ auf.

„Er hat nur einen kurzen Überblick über … alte Zeiten aufgerufen … Es waren bestimmt nur wenige Sekunden … Er musste weg.“ Sie unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. Er hatte all ihren Schmerz der damaligen Zeit gefühlt … all ihre Einsamkeit gesehen, aber … zumindest nur das … Ihre allertiefsten Gefühle hatte er … nicht gefunden.

„Die Todsünden sind in der Lage, seine Erinnerungen daran zu löschen. Das ist ihre Aufgabe in dieser Sache. Aber … wenn es bei ihm eine absichtliche Handlung ist, steht darauf … eine andere Strafe.“

„Ich will nicht, dass er stirbt“, wandte Kyrie sofort ein, „Ich könnte das doch nie mit meinem Gewissen vereinbaren! Lass ihn vergessen – aber nicht mehr!“ Sie schaute ihn sogleich panisch an – wie konnte er das nur vorschlagen!?

„Sie hassen dich nicht aufgrund deiner selbst, Kyrie“, erklärte Nathan ihr daraufhin sachlich, „Sie hassen dich aufgrund deines Seins. Egal wie gut du zu ihnen sein wirst – sie sehen dich nicht. Sie sehen deine Art.“ Er wartete für einen Moment. „Aber lass uns das woanders besprechen.“

… Sie hassten nicht sie selbst … Ja … das war ihr aufgefallen …

„Nathan … Wirst du sie finden?“, fragte sie, als er los schritt und sie ihm nachfolgte. Sie schluckte stark, als sie die Türschwelle übertrat, aber Nathan, der ihr so nah war, gab ihr seelischen Halt. Er war für sie da. … Er würde sie nicht zurücklassen. Und so ging sie ihm nach. Auch wenn sie sich noch immer zu unsicher fühlte. Zu verletzlich. Nathan war hier.

Er widmete ihr einen kurzen Blick. „Es kommt darauf an, wie du sie beschreibst.“

„Ich … Ihre Gesichter haben sich eingebrannt“, murmelte sie, „Ich kann sie erkennen.“

„Wenn nicht sogar mehr“, meinte er, „Zeig sie mir.“ Ein strenger Blick strafte sie danach. „FALLS du sie verraten willst“, fügte Nathan hinzu, „Auf ihr Tun steht die Verbannung auf die Erde für fünfundzwanzig Jahren mit nur einer Chance, zurückzukehren – einer so geringen Chance, dass sie also wirklich in fünfundzwanzig Jahren verenden werden.“

Sie würden also unfreiwillig auf den Himmel verzichten und ihrem Tod ins Auge blicken … während sie dies freiwillig getan hätte und …

„Gott wird sie aufnehmen“, antwortete sie leise, verschränkte ihre Arme und starrte auf den Boden.

„Wenn sie auf der Erde sterben nicht“, murmelte Nathan.

„Was?!“, fragte Kyrie entsetzt. Sie starrte Nathan mit offenem Mund an. Was … was sagte er da?!

„Gott nimmt die Seelen der Menschen, die auf der Erde sind. Die Seelen der Engel, die im Himmel sind – und keine andere. Stirbt ein Engel auf der Erde, so bleibt seine Seele auf der Erde bis in die Unendlichkeit gefangen – ohne Hoffnung auf Rückkehr oder auf Einkehr ins Paradies. Darum ist diese Strafe auch besonders grausam …“

… Sie … sie hätte ihre Seele geopfert? Wegen dieser Leute?

Und jetzt opferte sie im Gegenzug das Leben jener Leute?

… Nein … Das konnte sie nicht. Das durfte doch nicht … Warum war die Welt nur so unfair?! Warum … konnte nicht einfach einmal etwas einfach sein? Etwas …

Diese seltsame Leere umhüllte sie wieder. Eine seltsame Leere, gegen die sie sich nicht wehren konnte … Die sogar ihre Angst überdeckte … und die ständig „Mörder“ schrie.

„Lassen wir sie ziehen …“, hörte Kyrie sich selbst wispern, „Lassen wir sie … Was will er mit diesen wertlosen Erinnerungen auch anfangen? Sie werden ihm nichts nützen und mir nicht schaden.“

„Bist du dir sicher …?“, fragte Nathan überrascht, „Überlege dir das lieber noch einmal – sie haben dich attackiert, bedroht – wollten dich aus dem Himmel vertreiben!“

„Ich will nicht, dass sie ewig leiden“, erklang ihre bröckelnde Stimme in seltsamer Ferne, „Wenn es eine einfache Variante der Strafe gibt, sollen sie sie erhalten, aber nicht diese … grausame …“ Wie konnten Engel nur so grausam entscheiden? Nicht zu Gott zurückzukehren? Was sollte das? Das war nicht Gott! Nicht so, wie er sein sollte!

… Aber … wenn sie sie damals getötet hätten … auf jener Treppe … Wie sie angedroht hatten … Sie hätte ebenfalls jenes Schicksal erlitten … Auf ewig auf der Welt … unsichtbar, klein … und tot. Ungeliebt von Gott …

Sie spürte, wie sie zitterte. Sie könnte auf ewig tot sein. Wegen ihnen. Und wenn sie herausfanden, dass sie erneut in den Himmel zurückkehrte … Die Angst lähmte sie.

Plötzlich legte Nathan einen Arm um sie und zog sie an sich. „Ich beschütze dich, Kyrie“, schwor er, „Ich werde dich Tag für Tag hier sicher unten abholen, werde dich sicher wieder zurückbringen und das, bis du die Schwertkunst so beherrschst, dass du dich ohne Weiteres verteidigen kannst. Und auch dann werde ich dich nicht mehr aus den Augen lassen, bis du dir sicher bist.“

„Nathan …“, hauchte sie und schmiegte sich an ihn, „Danke …“ Auch wenn seine Worte die Angst kaum überlagern konnten, die in ihr brodelte.
 

Nicht einmal mit Kyries Magie zusammen hätte er dieses Mal den kurzen Weg in den Himmel gehen können – das letzte Mal war sie voll aufgeladen, dieses Mal aber hatte sie keinen Kontakt zu den Todsünden gehabt, weshalb sie ebenfalls bereits Energieverlust erlitten hatte … Und er hatte seine aufgebraucht, um in Kyries Zimmer zu gelangen.

Also trottete er den Fußweg entlang – so hatte er in späterer Folge zumindest den Tatort näher begutachten können.

Kyrie tat ihm wirklich unendlich leid – und es war wirklich seine Schuld, dass sie so gelitten hatte. Wenn er doch nur früher auf Liana gehört hätte … Er hätte Kyrie aus ihrer Angst befreien können, hätte sie früher in den Himmel bringen können, um ihren Arm zu heilen. Was Ärzte nicht bewerkstelligen konnten, konnte die Magie des Himmels alle Mal.

Kyrie stand mit ihren ausgebreiteten Flügeln vor ihm und starrte ihre Hand an, welche sie als Test immer weiter nach oben und nach unten bewegte. Immer wieder. Immer wieder.

„Sie … sie funktioniert wieder“, staunte Kyrie, als sie ihre Schultern drehte, „Ich kann sie spüren … Den ganzen Arm … Alles …“

Nathan grinste. „Ich habe es dir doch versprochen – der Himmel heilt alles.“

„Ich fühle mich wieder … gut …“, hauchte sie, „Wieder … richtig …“ Plötzlich wirkte sie wieder betrübt. „Wieso können nicht einfach alle Menschen die Magie des Himmels spüren?“, fragte sie leise, „Andere trifft es schlimmer als mich …“

„Du opferst dafür etwas“, erklärte er ihr, „Wären andere Eltern und Halbengel so mutig wie du, wären sie alle in der Lage, auch in den Genuss des Lichtes zu kommen. Aber für dein Opfer erhältst du dieses Privileg.“

„Was opfere ich denn Großes?“, wollte sie abwertend wissen, wobei sie bloß in ihre wieder funktionierende Hand starrte, „Was ist es, das mich dazu auserkort, mich heilen zu dürfen, sobald ich es möchte?“

„Kyrie …“, sagte er, ohne genau zu wissen, wie er jetzt fortfahren wollte. Wie sollte er es ihr nur sagen? Er hatte es von Anfang an verschwiegen. Er hatte es ihr niemals sagen wollen – er wusste, wie sehr sie an der Liebe Gottes hing, er wusste, wie sehr sie die Engel liebte … Wie sollte er ihr da ihr wahres Wesen erklären?

Wenn diese … diese verfluchten Engel nur nicht gekommen wären!

Wieso nur hatte sie ihm keine Namen nennen können? Es wäre aber doch ziemlich lausig von ihnen, wenn sie sich vor ihr beim Namen nennen würden. Aber vielleicht hielt sie die Namen auch nur geheim. Um ihre Angreifer zu beschützen. Diejenigen, die sie in Panik versetzt hatten! Die sie so in Panik versetzt hatten, dass sie gezögert hatte, ihre Flügel auszubreiten. Dass sie sich vor Angst an ihn geklammert hatte, als sie den Himmel betraten. Und als sie auf die Knie gegangen und ihn darum gebeten hatte, ihr das nicht anzutun, als er ihr vorgeschlagen hatte, dass sie die Engelsmagie einsetzte, um die Gesichter ihrer Peiniger anzufertigen.

Er konnte diesen Mistkerlen nicht verzeihen. Er wollte es nicht! Das waren alles komplette Vollidioten.

… Aber zumindest Kyrie sollte erfahren, was es mit dem Angriff auf sich hatte … Was geschehen war, war geschehen. Es würde sowieso nicht mehr zu ändern sein, also …

Sie schaute ihn fragend an.

„Setzen wir uns …“, schlug er vor und führte sie dann langsam zu der Treppe, auf der sie sich schon immer getroffen hatten, „Ich muss dir etwas sagen … über … Darüber, was diese schrägen Vögel zu dir gesagt haben …“

„Dämonen?“, mutmaßte Kyrie, „Bin ich ein Dämon?“

Er schwieg.

Sie nahm es als Antwort und setzte sich genauso wortlos.

„Nicht ganz“, antwortete er letztlich, wobei er tief durchatmete.

„Nicht … ganz“, wiederholte sie gebrochen, „Was soll das bedeuten?“

„Du weißt, dass Dämonen auf Menschen mit schweren seelischen Störungen leicht übergreifen können – genauso wie sie Halbengel leicht beeinflussen können. Darum sendet man ihnen Aufpasser.“

Sie nickte.

„Wenn es bloß darum ginge, einen Engel vor einem Dämon zu schützen, so bräuchte man niemals einen Assistenten zu schicken“, betonte Nathan, ohne Kyrie anzusehen, „Man könnte den schwächsten Engel schicken. Ein Dämon auf der Erde ist nicht mächtig.“ Er seufzte. „Na ja … wenn … wenn es nur einer wäre … Halbengel … sind eigentlich keine Halbengel … Sie sind mehr eine Art Verbindung von Engeln und Dämonen, die keine Menschen sind. Um genau zu sein … ist jeder Halbengel bei der Geburt ein Dämon, da er in der Dunkelheit geboren wird. Es gibt keine Halbengel mehr, die tagsüber das Licht der Welt erblicken – ihre Geburten finden ausschließlich bei Nacht statt.“ Er schaute kurz zu Kyrie, welche nicht reagierte. „Und erst wenn ein Engel sie findet, können sie konvertiert werden. Dies muss sehr bald nach der Geburt geschehen – denn die Dämonen sind auf der Suche nach den ihren. Je mehr Dämonen es durch die Barriere schaffen, die Gott ist, desto mehr können Halbengel finden, desto mehr können zu Dämonen gemacht werden und … entsprechend gefährlich wird ihre Streitmacht. Und wenn sie ein Kind zu einem Dämonen machen, so beeinflussen sie auch gleich die Eltern.

Der Engel, der einen Halbengel aufspürt, also die dunkle Energie, die von ihm ausgeht, sendet einen Ruf an eine Todsünde, sodass diese noch in derselben Nacht kommen können, um das Geschöpf mit ihrem Licht zu erleuchten, sodass es eine Chance hat, ein Engel zu werden. Es ist Fairness, die Engel dazu verleitet, nicht sofort jedes dieser Kinder zu sperren. Sie lassen die Chance. Jedes auf Anhieb gesperrte Kind …“ Er sog scharf die Luft ein. „Die Erinnerungen an die Todsünden und an das Kind werden aus dem Gedächtnis der Eltern gelöscht. Das Kind … muss in den Himmel gebracht werden. Es wird dort für einen Tag gelassen und … wenn ein Halbengel länger als einen Tag im Himmel verbringt … Du weißt, was dann geschieht.“

Nathan schaute nicht zu Kyrie. Er konnte sich vorstellen, wie sie gerade drein blickte. Das war einer der Gründe, weshalb er ihr diese Geschichte vorenthalten wollte.

„Viele Engel fühlen sich aufgrund dessen schuldig … und hassen Halbengelgeburten genau aus diesem Grund. Sie wollen es nicht – aber man möchte die Eltern andererseits auch nicht in eine Haut zwingen, die sie nicht tragen wollen.“

„Ihr …“, murmelte sie dazwischen, „Ihr tötet … ihr tötet …!?“

Er widmete ihr einen Seitenblick – sie wirkte wütend. Einfach zum ersten Mal, seit er sie kannte, wirkte sie wütend. Wütend und geschockt.

„Ihr … ihr … lügt …“ Ihre Stimme brach. „Ihr sagt den Eltern nichts … Ihr tötet einfach alles, was sie lieben?! Ihr …“ Sie wirkte fassungslos und zutiefst empört und unglücklich und ungläubig und …

Und sie hatte doch Recht, aber … Was blieb denn sonst?

Nathan überging sie einfach. Was anderes sollte er tun? Mit ihr diskutieren? Über etwas, wogegen er nichts unternehmen konnte? „Dann gibt es die Eltern, die ihrem Kind die Entscheidung überlassen, sobald es zwanzig ist. Zwanzig … sodass es nicht stirbt, ehe es die Entscheidung getroffen hat. Es wird zum Engel, weil die Entscheidung im Raum steht. Die Todsünden senden dadurch Licht in den Körper des Kindes … und seine dunkle Energie wird zu Licht. Sollte das Kind diesen Vorgang nicht überleben … löschen die Todsünden die Erinnerungen an Engel aus dem Gedächtnis der Eltern und der Halbengel war einfach ein Opfer seiner schwachen Gesundheit…“

Kyrie keuchte. „Was?!“

„Und … wenn es lebt, lebt es einfach zwanzig Jahre dahin, wird von Jahr zu Jahr schwächer und damit erneut wieder angreifbar für Dämonen. Der Assistent hat die Aufgabe, die Zielperson bis zum Antreffen der Todsünden zu behüten – sowohl vor dem Tod als auch vor den Dämonen. Sie … zu beobachten … Und falls sie mit einem Dämon in Kontakt gerät und der Assistent dies nicht mehr rechtzeitig verhindern kann, muss er …“ Er schaute schuldbewusst zu Kyrie, in deren Augen Erleuchtung stand.

„Du … hättest mich unter diesen Umständen … getötet?“, fragte sie fassungslos.

„Es wäre mir nichts anderes übrig geblieben“, murmelte er, „Überlebt der Halbengel also die zwanzig Jahre, lehnt aber ab … so werden alle Erinnerungen an die Todsünden gelöscht und der Assistent muss weit weg ziehen oder anderweitig aus dem Leben des Engels verschwinden. Die Todsünden löschen das Gedächtnis und der abgelehnte Halbengel stirbt in fünfundzwanzig Jahren … auf der Erde.“

Plötzlich unterbrach Kyrie ihn. „Nein!“, schrie sie, „Nein!“ Sie erhob sich und ging einige Schritte rückwärts, „Nein …“

„Kyrie …“, sagte er sanft, „Ich wollte dich mit meiner Lüge leben lassen …“ Er flog nach oben und näher auf sie zu – sie schritt zurück.

„Nein … Ihr … tötet …“ Dann brach sie zitternd zusammen. „Die Todsünden … töten … und töten …“, murmelte sie geschwächt, „Und töten … und töten dafür, dass andere verletzen …“

Sie schüttelte irritiert den Kopf. „Nein … Das …“

Er überbrückte schnell den Abstand zwischen ihr und ihm und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Verstehst du jetzt, womit du es verdienst, hier zu sein?“

Zitternd hob sie ihren Kopf. Ihre dunklen Augen waren geweitet und starrten ihn entsetzt an. „Ihr … seht dies als … Entschädigung für tausende Tote? Einen Halbengel und einen noch nicht hervorgebrachter Halbengel, der in den nächsten zwanzig Jahren auch noch sterben könnte?“

Die Wut kehrte in ihre Augen zurück und der Schock war verschwunden. Plötzlich erhob sie sich. „Wieso?“, knurrte sie, „Wie könnt ihr nur!?“ Sie bettete ihr Gesicht in ihre Hände und bewahrte für einige Augenblicke Ruhe.

„Xenon hat Recht …“, murmelte sie plötzlich voll gelassener Erkenntnis, „Ich … bin ein Dämon.“

Ehe er dagegen reden konnte, deutete sie aber auf ihn und Anklage stand in ihrem Blick. „Und ihr seid es auch!“

Kyrie stapfte davon, als die Wut in ihr aufloderte. Wütend … das war sie schon lange nicht mehr gewesen … Schon so lange nicht mehr, dass sie dieses Gefühl beinahe vermisst hatte. Aber sie labte sich an ihrer Wut – genoss sie förmlich. Sie überdeckte die Angst. Ließ sie beinahe stark sein. Sich zumindest für einen kurzen Moment stark fühlen.

„Kyrie!“, rief Nathan hinter ihr, „Bleib stehen!“

Er flog ihr jetzt bestimmt nach, aber sie würde nicht umdrehen.

Wie … wie konnten sie nur? Wie konnten sie nur all diese Menschen töten? Und daraus noch gute Taten machen? Was sie taten, war ein Schwindel! Ein einziger, großer Schwindel! Nein – sie glaubte es nicht … Konnte es nicht glauben … Diese oberen Ränge … diese … Todsünden … Waren sie wirklich Engel?

Oder betraf das sogar alle Engel? Jeder schien doch davon zu wissen, ansonsten hätten Jeff und Drake nicht so auf sie reagiert! Plötzlich verstand sie ihr Verhalten.

Aufgrund von … Geschöpfen … nein … Missgeburten wie ihr mussten die Engel ihre Güte aufgeben und sich der Grausamkeit hingeben! Aufgrund von ihresgleichen … wurden die Anführer der Engel zu Monstern – Dämonen. Genau solchen Dämonen, vor denen sie die Welt schützen wollten, indem sie zu Dämonen wurden!

„Wer Feuer mit Feuer bekämpft, wird selbst zum Teufel“, erklang irgendwo in ihrem Hinterkopf die Stimme ihres Vaters, der sie immer davor gewarnt hatte, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, da daraus ein Teufelskreis entstand. „Lösche das Feuer mit der Ruhe des Wassers“, murmelte sie vor sich hin.

Aber wie sollte sie sich da beruhigen!? All … all die Zeit hatte sie an Engel geglaubt – daran, dass sie heroische, gute Wesen waren, die kein Leid kannten! Und jetzt … jetzt waren es Schlächter!

Weshalb … weshalb waren die Dämonen dann eigentlich die Bösen? Warum … sollten sie nicht jene sein, die keinen töteten? … Waren die Dämonen sogar gutmütiger als die Engel? War sie hier in eine völlig verkehrte Geschichte geraten?

Alles erschien möglich!

Was wenn die Antigöttin jener Gott war, nach dem sie sich all die Zeit gesehnt hatte – und nicht dieser Gott! Aber Nathan war ein Engel … und Liana und Thierry und Deliora und Joshua … Aber auch Xenon, Jeff, Drake und Milli! Scheinbar … scheinbar gab es überall eine gute und schlechte Seite. Auch auf der guten Seite selbst.

Sie stoppte.

„Endlich“, stöhnte Nathan erleichtert.

Sie wandte sich zu ihm um – und setzte einen gleichgültigen Blick auf.

„Ich wusste, dass ich es dir nicht hätte sagen sollen“, murmelte Nathan, „Aber … wer weiß, was in deinem kleinen Gehirn alles so vorgeht.“ Er legte ihr eine Hand auf den Kopf. „Wenn du willst, kann ich dir die Geschichte wieder löschen lassen- …“

Sie unterbrach ihn barsch. „Und mich weiter in einer Lüge leben lassen?“, schrie sie auf, „Wie kannst du das nur an-…“

„Aber weil ich weiß“, sprach er ungestört weiter, „… dass dir das gehörig gegen den Strich geht, denke ich, dass du dir die Geschichte einfach weiter anhören solltest, dass du darüber nachdenkst – die ruhige, sanfte Kyrie soll da bitte ihr Denkvermögen benutzen – und dass du erkennst, dass du Xenons Taten keineswegs akzeptieren musst, aber dass du zumindest seine Ansätze verstehst – und ihn dennoch vor Gericht bringst.“ Nathan klang entschlossen. „Beschreibe mir Xenon. Du weißt, wie er heißt – du weißt, wie er aussieht. Zeige ihn mir doch, bitte!“

„Xenon … war nicht dabei“, antwortete sie lediglich, ohne auf das Vorherige einzugehen. Sie … sie … „Drake und Jeff sind diejenigen, die mir etwas getan haben … und Milli … war anwesend.“

Sie wollte sie nicht verraten. Scheinbar hatte sie das doch getan. Versehentlich … Wie … schade … Sie hatte gehofft, zumindest ihre Leben verschonen zu können, aber das wohl doch nichts geworden …

„Drake, Jeff, Milli und Xenon“, murmelte Nathan abwesend, „Abkürzungen …“ Er zog seine Hand zurück und nahm eine nachdenkliche Pose an, „Xenon …“

„Ich …“, begann sie, brach dann aber ab. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie einfach nicht verstand? Dass einfach alles … so groß und schwer auf ihr lastete … und sie nichts dagegen unternehmen konnte? Wie nur? „Wieso … wieso tötet ihr sie …? Wieso tötet ihr Halbengel und richtige Engel und bezeichnet euch dennoch als die Guten?“ Sie schaffte es nicht, Nathan anzusehen.

„Wir machen die unschädlich, die Schaden anrichten“, antwortete er ruhig, „Friede ist, was wir uns wünschen … aber Gestalten wie sie machen uns diesen Traum unmöglich. Wir versuchen, an diese Vorstellung so nahe wie möglich heranzukommen – und dies erfordert Opfer.“ Er nahm die Hand von ihrem Kopf und legte ihr diesen einen Arm um ihre Schulter.

Kyrie rührte sich nicht.

„Und diejenigen, die Mut und Stärke beweisen, diejenigen, die sich auf unsere Seite schlagen, das sind die Halbengel, die wir mit Stolz entgegen nehmen, da sie so selten sind.“

„Wie viele Halbengel werden denn im Durchschnitt wirklich geboren?“, wollte sie von ihm wissen – den Blick weiterhin auf den Boden gerichtet.

„Immer in etwa hundert. Manche Jahre mehr, andere Jahre weniger“, antwortete er ihr ohne Gefühl in der Stimme, „Es gibt seltsame Schwankungen.“

„Also tötet ihr in etwa … hundert Dämonen im Jahr – und hundert Halbdämonen dazu …“, ergänzte sie, „Und in einem Jahrhundert kommt aus all diesen Halbdämonen bloß ein Halbengel hervor …“

„Es ist die Stärke, die du zeigst, für die du daraufhin belohnt wirst“, munterte er sie merklich auf.

„Und die Halbengelhasser hassen mich, weil diejenigen, die wie ich sind, als Halbdämonen geboren werden … und entsprechend Engel geopfert werden müssen“, schloss sie ihre Aussage mit zitternder Stimme, „Wir sind also wirklich Schuld am Leid der Engel … und sie an unserem Tod.“

„Erinnerst du dich an Samuel und Chimära, diejenigen, die dir als meine Eltern vorgestellt worden sind?“

Kyrie hob den Blick und sah Nathan an, der in die weite Ferne schaute.

Nathans Eltern … sie hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen, obwohl Nathan und sie beinahe Nachbarn gewesen waren. Samuel und Chimära hatten ihr immer zugelächelt, lebten aber dennoch etwas zurückgezogen … Sie hatte sich gar nicht gefragt, was aus ihnen geworden war … Eigentlich hatte sie sogar angenommen, dass sie mit Nathan wieder im Himmel waren …

„Sie sind solche Engel, die die meiste Zeit auf der Erde zubringen, um Halbdämonen aufzuspüren. Die beiden zusammen bewachen die gesamte Nördliche Hauptstadt. Zwei andere bewachen die Südliche. Und in jedem Dorf lebt ein Engel, der dort ebenfalls Wache hält“, erklärte er ihr, „Halbengelhasser entstehen meist dadurch, dass einer jener Beschützerengel im Kampf gegen einen Dämon sein Leben einbüßt und es nicht mehr rechtzeitig in den Himmel schafft. Da Dämonen durch die Geburt eines Halbengels gehäufter auftreten, geben sie ihnen die Schuld – und auch Freunde von Assistenten reagieren oft böse auf Halbengel, da sie ihre Freunde einige Zeit nicht sehen können.“

„Hat Joshua mich deshalb …?“, fragte Kyrie und ihr Herz verkrampfte sich auf eine seltsame Art. Hatte er sie am Anfang also gemieden, weil sie ihm Nathan so lange weggenommen hatte? Thierry, Liana und Deliora hatten nicht so reagiert … Das war also die andere Seite …

„Nein“, beantwortete er die Frage sanft, „Joshua ist einfach Joshua und auf ihn brauchst du nicht zu achten.“

Plötzlich bemerkte Kyrie, dass ihre ganze Wut bereits wieder verschwunden war. Sie durfte nicht wütend sein, hatte ihr Vater ihr immer beigebracht, weil Zorn eine Todsünde war. Und wütend zu sein, half niemanden. Es löste keine Probleme – es verschärfte sie nur.

„Wie endet die Geschichte?“, sprang Kyrie mit kalter, leiser Stimme wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.

„Mit solchen wie dir, die alle Prozeduren überleben und lernen, hier oben zu leben, bis sie letztlich sterben“, erklärte er ihr mit ruhiger Stimme, „Aber auch wenn ihr das Ende seid – Gott steht am Anfang. Halbengel und Halbdämonen existieren noch aus der Zeit, in der Engel und Dämonen gemeinsam gelebt haben – als die Antigöttin getötet worden ist, ist Gott ja als Barriere in den Himmel gekommen. In dem Moment hat er die Macht, Halbengel zu gebären, von den Menschen nehmen müssen, um selbst noch genug Kraft für die Verteidigung der Welt zu haben. Die Antigöttin hat die Kraft bestehen lassen, darum gibt es die Halbdämonen noch heute. Und weil die Antigöttin tot ist, können wir sie umformen.“

Kyrie seufzte resigniert. Ja … sie existierte … und sie war kein Geschöpf Gottes.

Wie jeder Mensch war sie also ein Geschöpf, erschaffen in der Zusammenarbeit von Gott und Antigöttin – nur dass bei ihr der Antigöttinnenteil überwog. Sie war ein Halbdämon, der von Engeln umkonvertiert worden war – und jetzt den Hass über ihre Abstammung auf sich nehmen musste. Aber … es gab Engel wie Nathan und seine Freunde, denen das egal war. Die sie als Person akzeptierten …

„Uns ist klar, dass wir den Menschen dadurch Leid zufügen“, schloss Nathan seine Ausführung, „Aber … indem wir ihnen vergleichsweise kleine Opfer abverlangen, können wir große Katastrophen verhindern. Würden all diese Halbdämonen einfach unkontrolliert wachsen, so wäre die Erde bald eine Niststätte für Dämonen – und ein neuer Krieg würde ausbrechen. Oder eine anderweitige Zerstörung. Vermutlich würde die menschliche Rasse aussterben, da die Dämonen von ihnen Besitz ergreifen würden …“ Nathan schüttelte den Kopf. „Es gibt keine andere Möglichkeit – auch wenn sie uns nicht passt … Einige glauben dies zwar nicht …“ Er pausierte. „Es gibt noch eine kleinere Fraktion – die, die sich gegen die Ränge aussprechen.“ Er schaute sie an. „Kaum ein normaler Engel weiß von ihnen, da sie sich nicht so aufspielen wie die Halbengelhasser ... aber sie existieren dennoch – sie versuchen, eine Alternative zu finden. Die Todsünden zu stürzen …“

Kyrie starrte ihn an. „Aber sie sind doch von Gott eingesetzt …“

„Sie glauben, dass Gott gar nicht mehr Einfluss auf uns ausübt und …“ Er brach ab. „Nein, vergiss das lieber. Sie reden Blödsinn. Acedia hat mir versichert, dass es Gott vergleichsweise gut geht und dass er unseren Glauben braucht, um uns zu retten. Sin sagt scheinbar dasselbe – und ich glaube an Gott.“

„Ich glaube an Gott“, wiederholte Kyrie, „Danke, dass du mir das gesagt hast …“ Sie glaubte gerade selbst nicht, dass sie sich für dieses Wissen bedankte, aber … sie musste es doch kennen lernen … Sie musste die Wahrheit erfahren …

„Und jetzt zu Xenon – soll ich die Todsünden in Kenntnis setzen?“ Er ließ sie los und schaute sie bestimmt an. „Es liegt in deiner Hand, was mit ihnen geschehen soll.“

„Ich … weiß nicht“, antwortete sie ehrlich, „Ich sage es dir, wenn ich darüber nachgedacht habe – einverstanden?“ Sie schürzte die Lippen. Aber was sollte sie wirklich deswegen unternehmen? Sie konnte doch nicht einfach … einfach nur … Drake und Jeff würden sterben! Aber sie hatten sie doch auch am Leben gelassen und … sie hätten es verdient. Hätten. Sie würde ihre Gesichter für sich behalten. Musste lernen, sich selbst zu verteidigen. Irgendwann wäre sie vielleicht breit, sie zu verraten … Aber jetzt nicht.

„Willst du jetzt noch mit dem Schwertkampf beginnen?“, fragte Nathan, nachdem er genickt hatte.

„Wie ruft man sein Schwert?“
 


 

Nathan stapfte ein wenig von Kyrie fort. Er war froh, dass sie sich beruhigt hatte – aber jetzt ging es wirklich um das, was er sich vorgenommen hatte. Er musste ihr den Umgang mit Waffen beibringen – wie sonst sollte sie sich beschützen, wenn er einmal keine Zeit hatte, sich um sie zu kümmern?

Er selbst hasste es, das Schwert herbeizurufen. Das letzte Mal, als er das getan hatte, hatte er jemanden verletzt – und deshalb wäre er beinahe vor die Todsünden gerufen worden. Die Person, die er verletzt hatte, war Joshua. Sie waren bei einem Spiel gewesen, Nathan hatte gegen Thierry verloren und Joshua hatte es gar nicht erst versuchen wollen, sich in dieses Spiel einzumischen.

Thierry hatte Nathan daraufhin so geärgert, dass er richtig wütend geworden war – zu dieser Zeit hatte er nämlich ein ernsthaftes Problem gehabt: Ihm war bewusst geworden, dass er sich in Joshua verliebt hatte, glaubte aber nicht daran, dass dieser dasselbe für ihn gefühlt hatte. Und darum war er in solchem Aufruhr gewesen, dass er auf den kleinsten Spott – vor allem vor den Augen von Joshua! – bereits völlig ausgeflippt war. Und deshalb hatte er damals kurzerhand seine Waffe gezogen, um Thierry damit einzuschüchtern. Entsprechend seiner magischen Kräfte war die Klinge nämlich um einiges länger, schärfer und gefährlicher als die von anderen Engeln – Thierry wollte sich wehren, weshalb auch er seine Klinge gezogen hatte. Sie waren zusammengestoßen. Die Heiligen Waffen waren aneinander geprallt … und plötzlich stand Joshua vor ihm, wollte, dass er damit aufhörte … und als Nathan ihn zur Seite stoßen wollte, hatte er ihn auf eine völlig abgedrehte Weise mit der Klinge getroffen … Und war so perplex, dass er Joshuas Erinnerungen und auch die Gefühle, die er dabei empfand, gelesen hatte … Und plötzlich war ihm klar geworden, was Joshua in ihm sah.

An jenem Tag hatten sie sich zum ersten Mal geküsst.

Joshua war mit ihm nicht zu den Todsünden gegangen, da sie einander liebten, weshalb es doch nur gut war, wenn er ihm seine Eindrücke schenken konnte. Joshua hätte als Entschuldigung Nathan kurz aufschlitzen dürfen – doch er hatte sich geweigert. Weil er Nathan vertraut hatte.

Nathan konzentrierte sich auf seine Hand, in der sogleich das riesige, weiße Schwert mit dem großen, goldenen Griff erschien, in welches verschiedene, goldene Zeichen eingelassen waren, die allerdings keine Bedeutung besaßen. Er hatte ein sehr edles, mächtiges Schwert, um das ihn einige beneideten – aber seit jenem Tag hatte er es nur ein- oder zweimal benutzt, da er nie wieder jemanden damit berühren wollte. Sich in die Erinnerungen eines anderes zu drängen … in seinem Fall hatte es zwar sein Positives, aber es war grausam.

„Konzentriere dich“, sagte er, „Sag deinen Flügeln, deinem Licht, deiner Magie, dass sie sich bündeln sollen und dir deine wahre Macht geben sollen. Sie muss sich formen und du musst sie wirklich verlangen“, erklärte er, „Das Schwert ist mächtig – und entsprechend schwer zu handhaben.“

Kyrie schaute ihn überrascht und bewundernd an – nun, um genau zu sein, sein Schwert.

„Jeffs und Drakes sind viel kleiner“, murmelte sie erstaunt, „Wenn einen dieses Teil trifft …“

Er grinste. „Die Besten verdienen das Beste.“

„Ich werde mich mickrig fühlen“, gab sie im Voraus bekannt und schüttelte den Kopf. Dann legte sie ihre Stirn in Falten, schloss die Augen und konzentrierte sich merklich.

„Du kannst dein Schwert nur dann rufen, wenn deine Flügel ausgebreitet sind, da es von den Flügeln ausgeht. Ziehst du deine Flügel ein, verlierst du deine Magie und entsprechend auch deine Waffe“, teilte er ihr mit, „Wenn wir also wollen, dass wir dich vor diesen Halunken schützen, wenn sie dich auf der Erde überraschen, müssen wir das schnelle Flügelziehen auch noch üben. Das wird ein hartes Stück Arbeit“, sinnierte er weiter, während er ihren Mundwinkeln dabei zuschaute, wie sie vor Anstrengung zuckten. „Außerdem wird sich die Waffe auflösen, sobald du entwaffnet wirst – sie lebt ausschließlich vom Kontakt zu deinem Licht“, ergänzte er seine Aussage noch und begutachtete ihre Anstrengung kritisch.

Sie brachte es einfach nicht hervor.

„Vielleicht solltest du dich doch etwas ausruhen? Sollen wir etwas Entspannendes tun?“, schlug er vor, „Deine Gefühlswelt muss immer noch etwas aufgewühlt sein, vielleicht funktioniert es deshalb nicht.“

Sie öffnete die Augen und wirkte mit einem Mal etwas betrübt. „Verstehe …“

„Schluck erst einmal alles, was du erfahren hast, verdaue es richtig und morgen machen wir dann weiter – wie von vor drei Wochen.“ Er lächelte sie an. „Dein Meister ist also zurück!“

Sie lächelte daraufhin ebenfalls.

Moment mal … Morgen … war da nicht irgendetwas?

Plötzlich tauchte vor seinem inneren Auge ein Bild von Thierry auf.

„Stimmt!“, rief er plötzlich.

Kyrie schaute ihn – für einen Moment zutiefst erschrocken - an.

„Morgen hat Thierry sein wichtigstes Spiel des Jahrhunderts“, teilte er ihr mit, „Und er will, dass du dabei bist – er hat es dir versprochen und er wird versagen, wenn du es nicht siehst.“

„Ach ja?“, stieß sie überrascht hervor.

„Ja!“, bestätigte er, „Also hole ich dich morgen vor dem Spiel ab, okay?“

Sie nickte. „Dann schauen wir uns das Spiel an, danach sage ich dir, was ich über Xenon denke, und dann üben wir noch etwas Schwertbeschwören?“

Er war damit einverstanden. „Okay. Morgen um drei bin ich bei dir im Haus.“

„In Ordnung – ich werde da sein“, sagte sie, „Und … danke, dass du mich abgeholt hast.“ Sie hob ihren Arm in die Höhe. „Ich hoffe, dass die plötzliche Heilung keinem seltsam vorkommt …“

Nathan grinste. „Suche dir einfach eine Ausrede aus.“

Sie lächelte. „Danke …“

Nathan hatte wieder einmal nicht genug Energie übrig, um einfach so von Kyries Zimmer aus in den Himmel zurückzukehren – natürlich nicht, er hatte sie schließlich gerade eben dorthin eskortiert! Direkt vom Himmel aus. Auf einen solch tiefen Punkt der Erde. Es war einfach ein Jammer, dass sogar zukünftige Todsünden einen Weg zu Fuß zurücklegen mussten! Sie luden sich im Himmel zwar schneller wieder auf als normale, schwache Engel – aber dennoch!

Er erklomm das leer stehende Gebäude, breitete seine Flügel aus und machte sich auf in den Himmel. Er suchte sich eine Stelle nahe dem Turm der Ränge aus, sodass er es hier zumindest nicht mehr allzu weit hatte.

Er hatte Kyrie noch einmal zu erklären versucht, dass das Schwert eigentlich komplett gleich zu beschwören war wie die andere Magie – nur dass es eben länger anhielt und … Na gut, es war schon ein klein wenig komplizierter, aber trotzdem!

Er flog den großen, protzigen, goldenen Turm entlang nach oben – das Fenster stand bestimmt noch offen – und sein Ziel lautete Acedia. Er würde von dem Angriff auf Kyrie erzählen – und von den Maßnahmen, die er jetzt traf. Die Todsünden – unter anderem jene vor Acedia … ob Superbia wohl damals schon dabei gewesen war? – hatten damals einstimmig beschlossen, dass der Aufwand, den Halbengeln einzeln die Schwertkunst beizubringen, erstens zu zeitfressend und zweitens zu unnütz war. Dass solch ein schwerer Übergriff auf einen Halbengel vorkam, geschah selten – war natürlich klar, dass es bei ihm passieren musste! Jetzt hatte er eine völlig verängstigte Kyrie … Das Mädchen tat ihm so leid. Auch wenn er in der Nähe war – sie hatte doch immer Angst. Angst. Im Himmel. Wer auch immer dieser Xenon und dieser Jeffrey Millians - und wie sie alle hießen - waren …! Mit Acedias Hilfe würde er sie wohl kriegen. Hoffentlich. Immerhin war sie eine Todsünde. Und solche Fälle fielen doch direkt in den Aufgabenbereich der Todsünden. … Also würde es irgendwann seine Aufgabe sein, diese Verbrecher hinzurichten. Juhu.

Gerade als er durch das Fenster einsteigen wollte, kam jemand daraus hervor. Noch eine kluge Seele! Der Assistent von Invidia. Wie war gleich sein Name? Der blonde Engel mit den blauen Augen nickte ihm kurz zu. „Schon gehört? Gestern Nacht sind gleich zwei geboren worden“, sagte der Assistent, während er sich wieder zurück in den Raum begab und wartete, bis Nathan durch das Fenster gestiegen war. Nathan seufzte. „Acedia wird sich freuen.“

„Invidia ist auch immer so begeistert“, antwortete der Engel mit der klaren Stimme, „Vor allem, weil ich schon der nächste wäre.“

„Na ja, nur noch fünf, dann bin ich schon wieder dran“ Nathan grinste und stellte sich auf den Boden. Der Engel blieb noch immer vor dem Fenster stehen. Scheinbar war der gerade in Plauderlaune.

„Du scheinst ja noch mit deiner letzten zu tun zu haben“, antwortete der Mann, wobei er kurz seine Zähne zeigte.

Sollte das ein Grinsen gewesen sein?

„Und das erinnert mich gerade an etwas“, fügte Nathan schnell hinzu, „Ich muss ja weiter an die Arbeit. Danke für die Information!“ Er grinste. An ihn selbst sandte kaum einer die Nachricht einer Neugeburt. Nathan musste immer hoffen, dass er zufällig einem Assistenten begegnete oder dass diese ihm Nachrichten hinterließen, die er dann an Acedia weiterleiten konnte, welche daraufhin ausrastete – wie immer eben!

„Kein Ding, Nathan“, sagte er und winkte ihm kurz zu, ehe er durchs Fenster verschwand.

Wie war sein Name noch gleich? Egal.

Nathan flog den Gang entlang, bis er Acedias Büro erreichte, in welches er, ohne zu klopfen, eintrat.

„Wann lernst du das mit dem Klopfen endlich?“, ertönte Acedias ungehaltene Stimme. Sie wandte sich nicht zu ihm um. Sie saß auf ihrem Stuhl und starrte auf irgendeine Arbeit auf ihrem Tisch.

„Du bist ja hier“, stellte Nathan überrascht fest – ihre Frage ignorierend, „Heute Nacht gibt es wieder Arbeit für dich. Im Doppelpack.“

Sie seufzte. „Ich versuche, pünktlich zu kommen“, versprach sie ihm. Noch immer ohne aufzusehen. Sie musste ja wirklich wichtige Dokumente vor sich haben.

„Wie sieht es mit Luxuria aus?“, wollte sie nach wenigen Momenten von ihm wissen – sie wandte sich zu ihm und schaute ihn fragend an.

„Ich bin noch auf der Suche nach Indizien“, erklärte er ihr, wobei er durch das Büro schritt und sich dann auf seinem Platz fallen ließ, „Hilfreiches ist noch nicht dabei.“ Er war noch immer nicht sehr weit gekommen. Je weiter er in der Zeit zurückging, desto weniger oft waren Leute verschwunden. Die meisten in den letzten hundert Jahren.

„Verstehe …“ Sie seufzte.

„Aber ich habe dafür etwas anderes für dich!“, sagte er mit fester Stimme, „Es geht um den Halbengel – Kyrie. Sie …“

Acedia unterbrach ihn barsch. „Habe ich dir nicht gesagt, dass es mich nicht interessiert?“ Erneut entrann ihr ein Seufzen. „Ich habe Besseres zu tun, als mich um eine Einzelne zu kümmern. Ich kümmere mich tagtäglich um das Wohl des gesamten Himmels.“

„Aber sie wurde …“, versuchte er fortzusetzen.

„Das ist nicht wichtig“, fuhr sie ihn an, „Eine Todsünde ist verschwunden und taucht einfach nicht mehr auf. Sie hat keinen Nachfolger und uns fehlt eine Stimme, um eine neue Todsünde wählen zu lassen. Das sind wahre Probleme.“ Sie schnaubte. „Du wirst irgendwann zu einer Todsünde. Lerne, mit Problemen umzugehen. Deshalb hast du einen Halbengel – er zählt für dich als Himmel. Dein Praktikum. Mach etwas daraus – einige andere sind nie in den Genuss einer solchen Übung gekommen.“

Aufgrund ihres barschen, genervten und vor allem schnappenden Tons war es Nathan nicht möglich zu reagieren. So etwas war er von ihr einfach nicht gewohnt. Es war schlichtweg … seltsam. Sie wirkte beinahe … überfordert. Verzweifelt. Als brauchte sie nicht noch ein Problem mehr zu all ihren Problemen. Aber worin lagen ihre Probleme?

„Ist etwas geschehen?“, fragte Nathan betroffen. Vielleicht konnte er ja helfen? Auch wenn sie sich weigerte, ihm zu helfen … aber sie hatte Recht. Kyrie stand unter seinem Schutz. Also würde er sie beschützen. Auch wenn so ein Übergriff mit Erinnerungsklau dennoch in den Bereich der amtierenden Todsünden fallen würde! Aber … wie dem auch sei …

Acedia schüttelte den Kopf. „Vergiss es einfach und gehe jetzt.“

„Aber ich sehe doch, dass …“

„Die Konferenz ist beendet.“ Sie erhob sich, ordnete die Zettel, die sie vor sich verteilt hatte, und flog dann aus dem Büro, wobei sie die Tür hinter sich zufallen ließ.

Nathan starrte ihr perplex nach. Okay? Hatte sie schlecht geschlafen?

Er ging zu den Zetteln, die sie gerade noch bearbeitet hatte und überblätterte sie.

Sie schienen gar nicht so wichtig, als dass sie sie so mitnehmen würden. Nur einige Anklagen wegen Erinnerungsraubes der letzten Jahrhunderte, Listen über Verschwundene und noch einige Listen von Halbengelgeburten. Einige viele Listen davon. Sie hatten sie alle festgehalten. All jene ermordeten und nicht ermordeten Halbdämonen …

Nathan verstand den Sinn dahinter wirklich. Ernsthaft. Aber … er verstand auch, weshalb man all seine Gefühle für diese Arbeit ablegen musste. Ob es Acedia wirklich gelungen war, ihre Gefühle abzulegen? Immerhin hatte sie nie einen Halbengel gehabt. Entsprechend hatte sie nie die zwanzig Jahre Pause von allem erlebt, das ihr wichtig war. Zwanzig Jahre der Trennung … in dieser Zeit begann man zu verstehen, was es bedeutete, eine Todsünde zu sein. Opfer zu bringen.

Nathan rollte seine Schultern. Na ja – er sollte arbeiten. Er musste heute immerhin noch Kyrie abholen und dann seinen besten Freund anfeuern!
 

Nachdem sie bereits ihre Mutter zum Weinen gebracht hatte – vor Glück natürlich – und ihr Vater ein so erleichtertes Seufzen ausgestoßen hatte, dass sie darüber beinahe hätte lächeln müssen, ging es sogar im Studium weiter: Derjenige Student, von dem sie sich zuvor die verpassten Unterlagen ausgeliehen hatte, hatte sie auf ihren Arm, der plötzlich wieder ganz normal und problemlos funktionierte, angesprochen!

Bei ihren Eltern fiel ihr die Erklärung denkbar einfach: Nathan hatte ihr bewiesen, dass der Himmel jede Art von Verletzung heilen konnte – sogar unheilbare. Ihre Eltern hatten daraufhin natürlich wieder ein Gotteslob ausgesprochen und versprachen ihr, in der Kirche heute doppelt so kräftig – war das überhaupt noch möglich? – zu beten.

Bei ihrem Mitstudent war es etwas anderes – sie konnte ihm nichts vom Himmel erzählen. Und wenn es einem unwichtigen Nebencharakter ihres Lebens auffiel … wie könnte es Ray dann ignorieren? Sie brauchte dringend eine Ausrede! Also hatte sie dem Mitstudenten Folgendes aufgetischt: Sie hatte die letzten Tage Tabletten eingenommen, welche allerdings erst in Testphase gewesen wären, was also an sich ein Risiko dargestellt hätte, und dadurch hätten sich ihre Nervenbahnen wieder beruhigt. Sogar die Ärzte wären von dem Ergebnis überrascht gewesen!

Jener Kollege hatte keine andere Wahl gehabt, als ihr Glauben zu schenken. Ray würde es hinterfragen. Vielleicht sogar selbst ausprobieren wollen … Was sollte sie ihm sagen?

Kyrie packte gemächlich ihre Unterlagen ein, während sie sich gedanklich dem Problem stellte. Aber sie kam einfach zu keiner adäquaten Lösung!

Sie verließ das Universitätsgebäude und schlenderte den Weg entlang. Den vielen Menschen hier war es gar nie aufgefallen, dass ihr Arm sich nicht mehr geregt hatte – und so fiel es ihnen vermutlich auch nicht auf, dass sie genau jenen Arm gerade abbog und damit ihre Tasche am Rücken behielt, während sie den anderen Arm locker umher schwang. Nein, all diesen Leuten wäre es auch komplett egal, wenn sie gar keinen Arm mehr besitzen würde.

Je näher sie Ray kam, desto nervöser wurde sie – allerdings war es ihr nicht möglich, langsamer zu werden, da sie dadurch wertvolle Zeit verlieren würde. Und sie musste sowieso noch Zeit nachholen! Also … vielleicht … Keine Ahnung!

„Kyrie!“, rief er erfreut, während er dort auf dieser Mauer saß, seine Tasche unten am Boden lagernd und mit seiner unbeschädigten Hand winkend.

Sie eilte zu ihm, legte ihre Tasche ab und platzierte sich neben ihm. Sie lächelte. „Wie geht es dir?“

„Moment“, unterbrach er sie und begutachtete sie von oben bis unten, „Du … wirkst verändert“, bemerkte er kühl, „Wieso funktioniert dein Arm wieder?“ Plötzlich weiteten sich seine Augen. „Wieso funktioniert dein Arm wieder?!“, wiederholte er hocherfreut, „Dein Arm funktioniert wieder!“ Er grinste. „Hey! Die Therapien scheinen es gebracht zu haben? Toll!“

Erleichterung überkam sie. Die Therapien! Wieso war sie nicht auf so etwas Einfaches gekommen? „Es war doch nicht so schlimm, wie sie am Anfang geglaubt haben“, log sie ihn eiskalt an. Nein – nein. Es war eine Beruhigung! Eine plausible Bestätigung – eine … eine Lüge … Wie sollten sie je wahre Freunde werden, wenn sie ihn doch nur die ganze Zeit belügen musste?

Er klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. „Toll! Funktioniert er wieder komplett? Das ist ja schnell … Wow“ Er strahlte sie an. „Ich freue mich so für dich!“

Sie lächelte zurück. „Danke, Ray …“ Wieso konnte sie ihm nicht dieselbe Heilmethode schenken? Sie wollte ihn so gerne mit in den Himmel nehmen … Ehrlich zu ihm sein …

„Du wirkst bedrückt“, stellte er plötzlich fest.

„Ich … mir tut es leid …“, begann sie zu murmeln, stoppte sich aber. War das nicht dumm? Dumm zu glauben, dass sie ihm helfen könne? Müsse? „… Ich wollte so gerne, dass es deinem Arm auch wieder besser ginge.“

Mit dem unverletzten Arm machte er eine abwinkende Bewegung. „Ich bin es gewöhnt. Das ist bereits ein Teil von mir.“ Er schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Es ist einfach schön zu sehen, dass sich das Medizinstudium doch bringen wird. Irgendwann werde ich jedem helfen können.“ Sein Blick richtete sich gen Himmel. „Beispiele wie ich lassen mich zweifeln. Du hingegen.“ Er widmete ihr einen fröhlichen Seitenblick, „Du lässt mich hoffen und träumen. Und vor allem bestätigst du mir, dass Sinn hinter dem steckt, was ich tue.“

Sie starrte ihn verwirrt blinzelnd an. So sah er das also … Auch er zweifelte an seinem Tun. An seinem verrückten Tun! Doch er zeigte es nicht. Und damit überzeugte er sich selbst. Bis zu jenem Moment hatte sie nie an seinem Plan, die Welt zu verändern, gezweifelt. Er wirkte einfach, als könne er Großes vollbringen.

Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er runzelte die Stirn. „War das komisch, was ich gerade gesagt habe?“

Sie lachte laut los. Und er stimmte mit ein.
 

Als Kyrie in ihrem Zimmer saß, überkam sie wieder dieses seltsame, bedrückende Gefühl. Was würde sie tun, wenn sie Xenon oder einen der anderen treffen würde? Oder schlimmer: Wenn diese sie treffen würden? Nathan war bei ihr … aber … sie könnten sie auch verfolgen! Sie könnten sie bei sich zuhause umbringen … Oder all ihre Erinnerungen aufsaugen. Und sie? Sie schaffte es noch nicht einmal, ihr Schwert hervorzurufen! … Sie hoffte einfach, dass diese Leute ihr niemals wieder begegnen würden! Sie würde ihnen sowieso nicht ihre Erinnerungen nehmen wollen. Das wäre doch … grausam. In das Intimste des Menschen einzudringen … das war … pervers, abartig …

Und doch musste sie es lernen, wenn sie leben wollte. Es war die einzige Chance, sich zu verteidigen. Und wenn sie sich verteidigen konnte, dann konnte sie alt werden und irgendwann auf ihr Leben zurückblicken und davon überzeugt sein, dass sie alles richtig gemacht hatte.

Sie durfte das Schwert nicht so als … als Feind betrachten. Natürlich überschritt es sämtliche ihrer Prinzipien und war das Zeichen des Krieges, aber … es war in einigen Fällen auch ihr Freund und Helfer. Und als solchen wollte sie es auch benutzen. Als Freund.

Plötzlich erschien eine Lichtgestalt vor ihr und ihr Herz begann, wild zu schlagen. Nathan. Also würde es bald wieder in den Himmel gehen.

„Gegen deine Nervosität müssen wir dringend etwas unternehmen“, erklärte Nathan als Begrüßung, während er seine Flügel einzog, „Ich denke, sie hemmt dich.“ Er verschränkte die Arme vor ihr und seine blauen Augen durchbohrten sie. „Willst du wirklich und tatsächlich aus tiefsten Herzen wieder in den Himmel?“

Ohne lange zu überlegen, nickte sie. „Ich will in den Himmel. Ich will leben – ich will keine Angst haben“, sagte sie ihm, „Aber … ich habe Angst. Furchtbare Angst.“ Ihr Blick ging zu Boden.

Nathan seufzte. „Wir werden schon eine Lösung finden. Wenn du Xenon oder so findest, dann sagst du es mir – und ich kümmere mich um seine ganze Meute! Ich bin immerhin dein Beschützer.“ Er grinste. „Und jetzt bin ich gerade dein Begleiter zu deinem ersten Spiel!“

„Also wir sind viel zu früh dran“, weihte Nathan Kyrie ein, „Was wirklich sehr untypisch für mich ist – aber langsam wissen sie ja, dass du mich verdirbst.“ Er grinste keck. „Aber das heißt, dass wir genug Zeit haben, um Thi einen Besuch abzustatten, ihn aufzumuntern, ihn anzufeuern und ihn zu einem Sieger zu machen!“

Sie standen auf den Tribünen. Ganz hinten am Geländer. Unter ihnen erstreckten sich bestimmt zwanzig Sitzreihen mit unzählig vielen Sitzen. Sie war sich sicher, dass es jener Ort war, an dem Xenon sie das letzte Mal ausfindig gemacht hatte – aber sie war auch überzeugt davon, dass dieser Platz sich um Welten vergrößert hatte! Damit war wohl bewiesen, dass hier alles aus Licht gewoben und beliebig veränderbar war. Und sie hätte dazu auch fähig sein können – wenn sie nur gewesen stärker wäre. Was sie nicht war.

Die Vorstellung, dass Nathan all dies ebenfalls bewerkstelligen könnte, war schier überwältigend.

„Ja. Wo ist er denn?“, wollte Kyrie wissen, „Ich möchte ihn unbedingt sehen“, sinnierte sie, ohne ihm Zeit zum Nachdenken zu lassen. „Wann kommen denn Liana und die anderen?“, schloss sie ihre Gedanken pausenlos ab.

Nathan zuckte mit den Schultern. „Zu Beginn des Spiels – pünktlich wie immer eben! Wir halten ihnen Plätze frei.“ Dann stieß er sich in die Lüfte ab und flog nach unten.

Kyrie folgte ihm. Sollte sie ihm sagen, dass sie Xenon einst hier gesehen hatte? Wenn auch nur kurz? Und was sollte sie antworten, wenn Thi sie fragte, wo sie gesteckt hatte? Sie wollte ihn nicht beunruhigen.

Kyrie flog ein wenig schneller, um Nathan aufzuholen. Sie hatte sich entschieden, mit der Lügnerei und Geheimniskrämerei aufzuhören. Wenn sie schon jemanden hatte, mit dem sie sprechen konnte, so musste sie das doch ausnutzen! … Oder ..?

„Wegen … Wegen Xenon“, begann sie zögernd, „hier war einer der Orte, an denen ich ihn gesehen hatte …“

Nathan schaute sich kurz aufmerksam um. „Ist er hier?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“ Noch nicht … Zumindest konnte sie ihn nicht sehen. Was, wenn er kommen würde?

„Gut.“ Nathan lächelte. „Ich möchte Thi nicht beunruhigen … Wir teilen es ihm nach dem Spiel mit, okay?“

Kyrie nickte. „Das wäre auch mein Vorschlag gewesen“, stimmte sie zu. Falls sie es ihm überhaupt mitgeteilt hätte. Sie wollte ihn nämlich eigentlich gar nicht beunruhigen. … So viel zu ihrem neuen Vorsatz der Offenheit und Ehrlichkeit.

„Und Liana fragen wir noch wegen den anderen Namen“, fügte Nathan hinzu, „Die Frau kennt einfach jeden.“

Kyrie lächelte. „Danke …“

Sie flogen hinunter zum Spielfeld.

Kyrie konnte mit all den Stangen und Rädern, die in der Luft herumschwebten, gar nichts anfangen.

„Habe ich dir eigentlich schon einmal die Spielregeln erklärt?“, wollte er beiläufig wissen.

„Nein, noch nicht“, gab sie zu, wobei sie den gesamten Platz musterte. Die Anzeigetafeln, die vermutlich heute noch Punkte aufzeigen würden, thronten riesig beidseitig über den Tribünen.

„Es spielt eine bestimmte Anzahl von Gruppen gleichzeitig gegeneinander. Das Spiel kann man mit zwei oder mehr Gruppen zu je sieben oder mehr Spielern spielen“, erklärte er, „Man darf das Spielfeld mit Hilfe von Magie verändern, weshalb starke Engel sehr gerne zum Spielen eingeladen werden, aber mit Geschick und Strategie kann jeder starke Engel übertrumpft werden.“ Er grinste verlegen. „Ziemlich einfach sogar. Wie oft Thi mich schon fertig gemacht hat, obwohl er noch nicht einmal einen Bruchteil meiner Magie besitzt …“ Er schüttelte den Kopf. „Jedenfalls geht es darum, Kugeln aus Licht so schnell anzuhäufen, dass man damit einen Dämon zerstören könnte. Das Spiel ist nämlich eine Art Gedenken an das Opfer, das unsere Engelvorfahren erbracht haben, um Gott beizustehen. Das Licht, das heute aufgewendet wird, spenden wir an Gott, sodass dieser einen Bruchteil Stärke zurückerlangt.“

„Das ist aber nett“, stellte Kyrie fest, „Wie lauten die Regeln?“

„Es klingt nett, aber es ist eigentlich sinnlos“, erklärte Nathan weiter, „Es ist wirklich mehr ein Spiel. Eine Erinnerung, vielleicht sogar eine Tradition. Darum ist es auch nicht verwerflich, dass die Regeln lauten, dass man die anderen Teams abhalten muss, während man selbst vorankommen soll. Das ist außerdem ein Grund, weshalb lichtstarke Spieler begehrt sind.“

„Warum ist Thi dabei?“, wollte Kyrie wissen, wobei sie die Erklärung einfach zur Kenntnis nahm. Sie wollte es einfach nett finden – also würde sie es nett finden. Sie glaubte, die Ambitionen dahinter zu verstehen. Nathan hatte angedeutet, dass starke Engel hier nur selten mitspielten. Also war es ein Ausgleich für die schwachen: Die starken konnten Gott zur Seite stehen, konnten den Engeln zur Seite stehen und ihnen mit ihren Fähigkeiten helfen. Die Schwachen konnten nur zusehen. Aber zumindest bei diesem Spiel konnten sie ihre Vorzüge zur Schau stellen und durch die Spende konnten sie sich selbst einreden, Gott zu helfen. Vermutlich würde Gott das Licht entweder gar nicht bekommen oder aber es sowieso erhalten. Kyrie wusste es nicht.

„Was geschieht mit dem Spielfeld nach dem Spiel?“, wollte Kyrie wissen, „Das letzte Mal war es viel kleiner.“

„Wir essen es“, sagte Nathan grinsend.

Kyrie lachte.

„Das war kein Scherz“, gab er sachlich dazu. Er schaute sie ernst an. „Was denkst du, aus was es besteht? Es ist dasselbe Zeug, das wir sonst immer beim Lichtcafé essen. Bloß etwas größer und fester.“

Sie schaute ihn skeptisch an. „Wieso spenden sie dieses Licht dann nicht an Gott?“, hakte Kyrie nach. Er nahm sie doch auf den Arm!

Nathan zuckte mit der Schulter. „Dass das Publikum auch etwas davon hat?“ Er grinste. „Gott gehört all dieses Licht, Kyrie. Also bräuchten wir gar nichts auf seinen Namen zu proklamieren.“

Kyrie nickte verstehend. Aber noch immer war sie sich nicht sicher, ob es sich zuvor um einen Scherz gehandelt hatte. Doch sie würde es vermutlich schneller erfahren, als ihr lieb war.

Dann standen sie vor einer Tür, die in ein kleines Gebäude führte. Es war wirklich klein. Es gab kein Obergeschoss, aber es zog sich etwas in die Länge. Es war bloß viereckig und wirkte wie ein kleiner Haufen goldener Container, die zusammen geschoben worden waren.

„Hast du alles verstanden?“, wollte er von ihr wissen, wobei er bloß auf die goldene Tür mit einigen Einkerbungen, welche eine nette Zierde ergaben, blickte.

Sie nickte beiläufig.

„Denn jetzt wirst du dem Team vorgestellt“, erklärte er ihr knapp, wobei seine Stimme etwas angespannt war. Ob etwas nicht in Ordnung war?

Nathan öffnete langsam die Tür. Alles war – wie überall – von Licht erfüllt und die Wände schienen weich wie Wolken zu sein, obwohl sie wohl hart wie alles andere waren.

Irgendwo von weiter hinten ertönten Stimmen.

„Heute spielen sieben Teams zu je sieben Spielern gegeneinander. Sie alle tragen eindrucksvolle Kleidung, die zum Motto ihres Teams passt, sodass man sie am Spielfeld nicht verwechselt.“ Nathan grinste. „Ich weiß noch, unser Motto damals …“ Er lachte kurz auf.

„Was hattet ihr denn für ein Motto?“, wollte Kyrie wissen, während sie sich umschaute. Aber überall waren nur Wände und Stimmen.

„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe stets auf morgen“, zitierte Nathan stolz, „Ich glaube fast, dass Acedia deshalb auf mich aufmerksam geworden ist.“ Er grinste.

„Was habt ihr dann getragen?“, bohrte sie interessiert nach.

Er beäugte sie eindringlich. „Willst du das wirklich erfahren?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Vermutlich schon, sonst hätte ich nicht gefragt“, feixte sie.

„Gar nichts“, hauchte er, „Immerhin haben wir die Kleidung erst morgen besorgt!“ Er lachte total amüsiert.

Kyrie konnte sich der Vorstellung eines komplett nackten Teams nicht erwehren und unterdrückte den Drang, sich mit der Hand gegen die Stirn zu klatschen. Manchmal war es schwer einzusehen, dass diese Leute alle weit über zweihundert Jahre alt waren.

„Ich hoffe, dass Thierry diesmal mit einem anderen Motto kommt“, murmelte sie verstimmt.

„Tut er. Aber das kann er dir ja selbst sagen.“ Nathan lächelte, als er vor einer Tür stehen blieb. „Dahinter befindet sich das glorreiche Siegerteam!“

„Klopfen …“, begann Kyrie ihren Vorschlag, doch Nathan erübrigte es, den Satz fertig zu stellen, indem er einfach die Tür aufriss und „Guten Morgen, Leute!“, rief.

„Nathan!“, riefen einige gleichzeitig.

Ein Mann mit rotem Haar und blauen Augen rannte auf ihn zu und schlug in seine Hand ein. Seine Kleidung wirkte gar nicht so ausgefallen. Es war genau genommen ganz normale, weiße Kleidung – hinten und vorne hingen jeweils unförmige Fetzen hinunter und goldene Verzierungen prägten sie. Eine weiße Feder allerdings thronte auf seiner Brust wie eine Brosche. Ob das seine erste Feder gewesen war?

„Hey, altes Haus! Sieht man dich auch mal wieder? Willst du mitmischen?“ Der Mann grinste.

„Nein, Kumpel, tut mir leid! Ich sitze heute leider auf der Zuschauerbank. Aber du wirst mich auf alle Fälle jubeln hören, sobald ihr siegt!“, versprach Nathan und schlug dem Mann auf die Schulter. „Also enttäuscht mich nicht, Leute!“

„Du solltest uns lieber anfeuern, während wir spielen, Idiot“, erklang die Stimme einer Frau. Als sie hervortrat, erkannte Kyrie ihr kurzes, weißes Haar und ihre roten Augen, die auf Kyrie einen ziemlich gefährlichen Eindruck machten. Auch sie war unspektakulär und ähnlich wie ihr Kamerad – vor allem in denselben Farben – gekleidet. Und plötzlich schlug auch sie Nathan auf die Schulter. „Ich finde es immer noch dämlich, dass du das Team verlassen hast, Verräter!“

„Beruhige dich, meine Liebe“, erklang die ruhige Stimme eines alten Mannes, der wohl überhaupt nicht hierher zu passen schien. Er wirkte ruhig, trug eine unauffällige Brille und war von beachtlichem Alter. Bestimmt beinahe hundert! Das ergraute Haar war ihm beinahe ausgefallen und er kniff seine Augen zusammen. „Bin ich denn kein guter Ersatz?“, fragte er schmunzelnd.

„Ersatz ist gut“, erwiderte sie trocken, danach seufzte sie, „Nathan, bitte, komm zumindest solange zurück, bis er aus seinem Zyklus befreit ist!“

Kyrie beobachtete den Mann mit Interesse. Er war also noch im Zyklus. Gut – das hätte sie sich denken können. Keiner würde freiwillig so alt und gebrechlich wirken … und dann auch noch Sportsgeist besitzen. Vermutlich war er gerade am Ende des ersten oder am Anfang des zweiten Zyklus.

Aus einem Nebenzimmer tauchte plötzlich ein Kopf auf. Er gehörte einer Frau goldenem Haar, welches ihr beinahe bis zum Boden reichte. Ob das nicht große Angriffsfläche beim Spiel bot? Auch sie begrüßte Nathan mit einigen Worten. Hinter ihr kamen dann zwei Männer – einer mit langem, hellem Haar, der andere mit kurzem dunklen – und gaben Nathan gleichzeitig einen Stoß in die Seite.

Nathan beugte sich hinunter.

„Geht es dir gut?“, fragte Kyrie besorgt, wobei sie einige Schritte nach vorn ging, um zu Nathan zu gelangen – sich der Dummheit ihrer Frage erst später bewusst werdend. Immerhin befanden sie sich im Himmel. Es herrschte keinerlei Verletzungsgefahr.

„Sollte das eine Begrüßung sein?“, feixte Nathan. Er erhob sich wieder und boxte den beiden riesigen Männern – ebenso riesig wie Thierry, mit ebenso beachtlicher Brustgröße! – auf die Schultern. Und auch sie trugen Federbroschen.

Ihr fiel auf, dass diese Feder von jedem Teammitglied getragen wurde – diese und die Farbe Weiß mit goldenen Verzierungen.

Beide grinsten und schlugen sich gegenseitig mit den Fäusten ein.

„Wen hast du uns denn da mitgebracht?“, wollte der rothaarige Mann wissen, „Ist das jetzt Joshuas Ersatz?“ Er wandte sich kurz zum alten Mann um. „Ich habe doch gewusst, dass es das dunkle Haar war! Joshua hat aber auch echt schöne Haare.“

Nathan schaute ihn ungehalten an. „Nein, das ist Kyrie.“

Sie hob kurz die Hand. „Hallo …“, begrüßte sie sie unsicher, wobei sie sie aber anlächelte, um vielleicht etwas an Sympathie zu gewinnen. Joshuas Ersatz? Bedeutete das etwa, dass Nathan wirklich …? Sie begutachtete ihren hünenhaften Lehrmeister, der aber immer noch winzig und zierlich gegenüber dieser Muskelprotze – die Frauen mit eingeschlossen – wirkte.

„Hallo Kyrie!“, rief der alte Mann erfreut, „Thi hat mir von dir erzählt! Du bist also der Grund, weshalb er mittwochs das Training immer schmeißt!“

Sie erkannte zwar nicht genau, was daran den Mann so glücklich machte, aber sie nickte vorsichtig – und dann realisierte sie, was er gesagt hatte. Sie … sie lenkte Thi also vom Training ab? Oh nein … Und dann war sie die letzten Wochen nicht einmal erschienen … Er hatte also völlig umsonst …

„Kyrie!“, erklang plötzlich eine laute, übermäßig bekannte Stimme aus dem anderen Raum.

Thierry drückte sich an der Frau mit dem goldenen Haar vorbei und stürmte auf sie zu, wobei er sie fest umarmte, ohne ihre Flügel zu bestätigen. „Du bist wieder da! Und, hast du die Prüfungen geschafft? Wenn du die Prüfungen hinbekommst, dann werden wir das Spiel heute gewinnen!“ Er wandte sich zu seinen Teamkameraden um. „Wer wird heute siegreich sein?“

„WIR werden heute siegreich sein!“, riefen alle synchron. Dann drehte er sich dem alten Mann zu und korrigierte ihn streng: „Mittwochs gibt es das beste Essen im Lichtcafé!“

Der Mann grinste schief. Erwartungsvoll schaute Thi zu ihr.

Plötzlich fiel Kyrie auf, dass Thi dasselbe trug wie immer: eine Weste – diesmal in Weiß - und eine helle Hose. Auch er hatte sich eine Brosche an der Weste befestigt. Aber … es wirkte dennoch unspektakulär.

„Na ja …“, begann sie, als Thierry sie wieder herunter ließ – was ein ziemlich großes Stück war, das sie vom Boden trennte … - und schaute Hilfe suchend zu Nathan. Sie konnte doch nicht noch jemanden anlügen! Eine Person pro Tag war genug! Mehr als genug!

Nathan zuckte mit den Schultern. „Ich habe mich geirrt, sie hatte gar keine Prüfungen. Sie … sie war bloß so verpeilt, dass sie die Uhr falsch gestellt hatte! Sie ist dann einfach jeden Dienstag gekommen und hat sich gefragt, warum keiner von uns mehr aufgetaucht ist!“ Nathan klang wirklich, als würde er es völlig ernst meinen – und sie damit verspotten! Sein Grinsen erübrigte den Rest, denn plötzlich wurde die gesamte Kabine von Lachen erfüllt.

Und Nathan warf ihr einen entschuldigenden Blick zu – aber auch wenn sie gerade jeder auslachte … sie war Nathan dankbar dafür, dass er für sie gelogen hatte.

Thierry klopfte ihr auf die Schulter und grinste. „Ich bin froh, dass die Uhr wieder funktioniert! Du bist jetzt da – heute kann also gar nichts schief gehen! Nach dem Spiel reden wir noch, okay? Aber wir müssen uns jetzt noch fertig machen!“ Er lachte. „Danke, dass du vorbei gekommen bist! Das bedeutet mir sehr viel.“

„Uh“, machte der Rothaarige, „Thi hat sich da wohl jemanden angelacht!“ Dann flüsterte er der Weißhaarigen für alle hörbar zu: „Vorsichtig, sonst wird Nathan da noch eifersüchtig!“

Die Weißhaarige verdrehte genervt die Augen.

Die blonde Frau lachte laut auf. „Lass dich nicht ärgern, Kyrie!“, schlug sie ihr vor, „Ignorier all die Leute hier lieber – sie haben wohl schon zu oft Kugeln auf die Flügel bekommen, als dass sie noch klar denken könnten!“

„Bist du hier jetzt die Liebesexpertin?“, wollte der Rothaarige wissen, dann deutete er mit überheblicher Miene auf sich. „Oder bin ich das?“

„Bis später dann, Leute!“, rief Nathan, „Wir werden uns einen Platz suchen, von dem aus wir euch so richtig anfeuern können!“

„Das war jetzt keine ernste Frage, oder?“, beantwortete der alte Mann die Frage des Rothaarigen. Dann winkte er Nathan noch zu. „Danke, wir werden nehmen, was wir können!“

„Bis dann“, verabschiedete sich Kyrie und flog dann mit Nathan nach draußen, wobei sie noch die gemurmelten „Bis später“ der anderen wahrnahm – und auch den darauf folgenden Streit über Liebesexperten.

Sie fragte sich, ob sich das hier immer so abspielte. Es wirkte wie eine ziemlich lustige Bande. Eine ziemlich verrückte, lustige Bande.

Als sie sich etwas von dem Raum entfernt hatten, sagte Nathan leise: „Keine Panik. Nicht jedes Team ist so irrwitzig seltsam.“

„Da bin ich aber froh …“, murmelte Kyrie amüsiert. Was diese Leute für Spekulationen anstellten … Aber dennoch – solche Menschen brauchte es. Es waren Leute, die Freude verbreiteten. „Das waren also die … Goldenen“, fügte sie dann noch hinzu.

Sie verließen das Spielfeld und gingen die Tribünen nach oben.

Plötzlich fühlte sie sich irgendwie von einer Lichtquelle angezogen. Als sie noch oben schaute, sah sie direkt in Licht hinein.

Ein Mann mit dunklem, langem Haar stand oben beim Geländer, lehnte lässig darauf und begutachtete scheinbar gedankenverloren das Spielfeld. Er hatte ein starkes, kantiges Gesicht und einen beachtlichen Körperbau. Beinahe wie die Leute aus Thierrys Team. Und noch dazu … kam er ihr bekannt vor.

Ein Gesicht, das sich ihr ins Gedächtnis gebrannt hatte … Wem gehörte es? Wem nur?

„Oh, na sieh mal einer an!“, rief Nathan plötzlich grinsend aus, „Gula ist auch hier!“

Er nickte der Todsünde zu – und dieser nickte sogar zurück! Kyrie fühlte sich plötzlich total unbehaglich, zwischen zwei solchen Berühmtheiten zu stehen. Berühmtheiten … irgendwie wollte es einfach nicht in ihren Kopf, dass Nathan so gut wie eine Todsünde war! Dass er total wichtig und stark und … und bekannt war!

„Das muss ich unbedingt Thi erzählen! Ich wette, er ist wegen ihm hier! Der Idiot schafft es vor Nervosität bestimmt noch, Gula zu übersehen!“, murmelte Nathan, „Ich bin gleich wieder da!“, versprach er dann laut und deutlich, wobei er sich sofort umwandte.

„Nein, warte – bitte!“, rief Kyrie schnell aus, „Was … was soll ich ohne dich tun? Ich … Xenon …“ Sie hielt sich gerade noch davon ab, nach ihm zu greifen. Wieso ging er weg?!

Plötzlich blieb Nathan wie angewurzelt stehen. Dann drehte er sich schnell wieder zu ihr um. Er wirkte geschockt. „Oh nein – das habe ich jetzt total … Ich meine – es tut mir leid!“ Er nahm ihre Hand. „Es tut mir leid! Ich … Ich war nur so erstaunt wegen Gula, dass ich meine Aufgabe …“

„Kyrie!“, ertönte von hinten plötzlich eine total überglückliche Stimme – und im nächsten Moment wurde sie bereits von einer überglücklichen Liana umarmt.

Kyrie ging mit Liana zum Platz, an dem sie und Deliora saßen. Sie nahmen sie mit sich. Er war froh, dass die völlig verblüffte Enttäuschung von Kyries Gesicht verschwunden war, als Liana bei ihr war. … Es war nicht nur Enttäuschung in ihren Augen zu lesen. Auch Angst.

„Ich … gebe schnell Thi Bescheid“, murmelte er geistesabwesend, wobei er sich nicht ganz sicher war, ob es jemand gehört hatte.

Kyrie schenkte ihm noch einen Blick – sie nickte und lächelte ihm dann leicht zu.

Er war froh, dass sie Liana und Deliora vertraute. Auf deren Fähigkeiten …

Nathan wandte sich um und stieg in die Lüfte, wollte in Richtung der Kabinen fliegen, doch dann hielt er inne. Konnte er Kyrie tatsächlich mit dieser Angst belassen, bloß weil Acedia nichts davon wissen wollte? Es gehörte in den Bereich der Todsünden – auch wenn sie sein persönlicher Schützling war.

Aber was sollte er denn schon groß machen? Diese Leute selbst festnehmen? Durfte er das überhaupt? Sie hatten immerhin ein Verbrechen begangen, aber …

Recht schnell kam er bei den Kabinen des Teams an. Das Stimmengewirr war sogar noch lauter als zuvor – vermutlich wurden sie nervöser, je näher der Spielbeginn heranrückte.

Nathan lächelte.

Lässig schritt er den Gang entlang. Vermutlich vermutete keiner der neunundvierzig Spieler, dass Gula ausgerechnet heute zuschauen würde – und dass auch er jemanden anfeuern würde. Das Team, das Gulas Favorit wurde, würde sowieso gewinnen – sie könnten gar nicht mehr verlieren. Natürlich hatte Nathan ebenfalls erheblichen Einfluss auf den Spielverlauf. aber im Publikum hatte er noch zwei andere Assistenten gesehen. Vielleicht würden die auch für Thi sein! Und wenn Thi sich super anstellte – dann würde er Gulas Zustimmung erhalten und damit zum nächsten Sieger gekrönt werden! Und sein Team zum Siegerteam.

Als Nathan dabei war, hatten sie es nie geschafft, so weit zu kommen. Er hatte erhebliche Stärke besessen – doch keinerlei Gefühl für Taktik gehabt. Thi vereinte beides. Er hatte zwar keine magische Stärke, aber Willensstärke genauso wie körperliche Stärke - nachdem man im Himmel sowieso keine Verletzungen erleiden konnte, war es kein Problem, einen Gegner anzurempeln.

Außerdem vereinte er strategisches Denken, das man ihm niemals zugetraut hätte, mit dieser besonderen Stärke. Der Mann hatte es drauf.

Er kam letztlich bei der Kabine an und öffnete erneut die Tür.

„Nathan!“, rief der alte Mann. Keine Ahnung, wer das war. Der Mann trug noch immer die Kleidung, die er zuvor getragen hatte. … Ziemlich unspektakulär. Entweder diese Leute waren lockerer, als er gedacht hatte, oder sie verzichteten heute auf Festlichkeiten. Ob sie damit Eindruck machen konnten?

„Nathan!“, kreischte Thierry erfreut, wobei er sofort zu ihm sprang, „Was tust du schon wieder hier?“ Er grinste.

Also war er sehr nervös. Das war nicht Thierrys Art. Er wusste, wie man Würde bewahrte.

Damit entlockte er auch Nathan ein Grinsen. „Ich hab grandiose Neuigkeiten für euch, Leute!“, verkündete er, wobei er langsam die Tür hinter sich schloss, um etwaige Lauscher anderer Teams abzuwenden.

„Nämlich?“, wollte der alte Mann wissen.

Die anderen vom Team schienen nicht mehr da zu sein. Vielleicht machten sie sich dann also doch zurecht. Hoffentlich. Es wäre wirklich schade, wenn Gula ihr Stil nicht gefallen würde – immerhin war Gula für seinen imposanten Stil bekannt. Da würde er die Konkurrenz wohl schätzen können.

„Gula ist anwesend!“, rief er erfreut aus.

„Gu … Gula …“, stotterte Thi. Und ehe Nathan sich versah, erbleichte sein Freund, verdrehte die Augen und stand sichtlich davor, direkt vor ihm zusammenzuklappen. Also war die Nachricht angekommen! Nathan stürzte sofort zu ihm, um ihn aufzufangen – und tatsächlich konnte Thierry sich nicht mehr halten und fiel zurück. Auf Nathan. Dieses Tonnengewicht!

Er hielt den Muskelprotz.

„Thi … Thierry?“, stammelte der alte Mann, „Hey? Kapitän? Hallo! W … Was ist mit ihm?“

Nathan zuckte bloß mit den Schultern, währenddessen er seinen Kumpel noch immer im Arm hielt, wobei er bestmöglich darauf Acht gab, seine Flügel nicht zu verbiegen. Vor einem Spiel wäre das echt unpassend.

Nathan sah auf ihn herab. Sein Gesicht war blass, seine Augen geschlossen – und er wirkte plötzlich um Jahre älter als zuvor. Beinahe … menschlich … Bis auf die ausgesprochene Schönheit. Dieses strahlende, blonde Haar, das durch das Gold um ihn herum nur noch mehr glänzte, das kantige, harte Gesicht und der dennoch so sanftmütige Charakter mit dem eisernen Willen … Und diese Tonnen von Gewicht, die da auf ihm ruhten!

„Das hat er öfter, wenn er sich freut“, beruhigte Nathan ihn, „Das ist ihm sogar passiert, als ich ihm gesagt habe, dass ich zum Assistent werde. Und dass ich aus dem Team austrete. Und dass er zum Kapitän des Teams ernannt wird. Und das war dreimal innerhalb einer Stunde. Und dass …“ Nathan wollte gerade fortfahren, als Thi plötzlich die Augen aufschlug und strahlte. So richtig strahlte. Es hatte nichts mit dem Licht zu tun, das ihn umgab, sondern mit seinem Gesicht. Es war vermutlich heller als Nathan, wenn er seine Kräfte nicht zurückhielt. Und nicht mehr blass-weiß sondern hell-weiß. Nicht krank, sondern kerngesund! Mal davon abgesehen, dass Krankheit im Himmel ein Fremdwort darstellte.

„Gula ist hier!“, schrie er, wobei er im selben Moment von Nathan weg sprang und mitten in der Kabine schwebte. „Gula ist hier!“, frohlockte er. Seine Augen sprachen von eisernem Willen und hitziger Vorfreude. Ein wahrer Kämpfer. „Ich werde Sieger sein!“, nahm er sich laut und entschlossen vor. Daraufhin flog er wieder zu Nathan und umarmte ihn kurz. Nun – er drückte ihn an sich und Nathan fühlte sich leicht erdrückt. „Danke! Danke! Danke! Danke! Danke, dass du mir das mitgeteilt hast! Du weißt, wie sehr mich das freut! Und motiviert! Und vor Kyrie muss ich ebenfalls gut dastehen! Und gegen Liana läuft eine Wette und Deliora muss ich ebenfalls überzeugen!“ Seine Zähne blitzten weiß, seine Augen funkelten vor Willenskraft und seine gesamte Nervosität war verflogen – vor Nathan stand ein Kämpfer, wie er im Buche stand.

Nathan klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Du packst das.“ Er grinste. „Ich werde auf der linken Seite der Tribüne sitzen – zusammen mit Kyrie und vermutlich mit Joshua, falls die alten Regelungen noch gelten?“ Er stellte die Feststellung betont als Frage. Es war das erste richtige Spiel, das er seit seiner Rückkehr mit Kyrie miterlebte. Wer wusste schon, was sie in zwanzig Jahren alles umstellten?

„Alte Ordnung“, stimmte Thierry ihm grinsend zu, wobei er ihn nach einem kurzen letzten Drücken wieder los ließ und einfach weiter vor sich hin strahlte. „Und bring Kyrie ja bei, wie man richtig anfeuert! Ich will der Einzige sein, der ihre Anfeuern abbekommt!“ Er grinste vor Vorfreude. „Oh, ich bin so bereit!“

„Ich will aber auch angefeuert werden“, mischte sich der alte Mann plötzlich ein.

„Du ziehst dich jetzt erst einmal richtig an, dann schauen wir weiter“, trug Thierry ihm auf, „Und jetzt – Abmarsch! Das Spiel beginnt bald!“
 

„Oh! Ich bringe sie um!“, schwor Liana. Ihr Gesicht war hochrot. Deliora klopfte ihr beruhigend auf die Schulter.

Kyrie fühlte sich einfach schlecht, weil sie geredet hatte, ohne es zu wollen. Doch Deliora hatte nach jeder vergeblichen Lüge festgestellt, dass es sich um eine eindeutige Lüge gehandelt hatte, und dass die Zehn Gebote sehr unzufrieden mit ihr wären und dass sie einen Freund bei den Assistenten der zehn Gebote hatte und mit ihm über sie reden würde und dass Lügen auch dem Gewissen schadete und dass man als Engel nicht lügen sollte und lügen …

Letztendlich hatte sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als Liana, Deliora und Joshua, welcher bald nach Nathans Abschied angekommen war, die beinahe vollständige Wahrheit zu übermitteln. Nun wussten sie von Xenon und den anderen, dass diese sie attackiert hatten …

„Und du bist Xenon schon vorher begegnet?“, murmelte Deliora daraufhin, „Interessant. Blond, blaue Augen … Seine Stärke hast du nicht zufällig gesehen?“

„Oh, ich bringe sie alle um! Jeff, Milli und Drake. Das sind doch bestimmt ihre Spitznamen. Oh, ich bringe sie um“, murmelte Liana vor sich hin, „Ich werde sie schon überführen, diese drei Hampelmänner! Lange werden sie nicht mehr frei herumlaufen … Ich werde schon herausfinden, wer sie sind!“ Sie lehnte sich völlig gegen die Lehne ihres Sitzes, wodurch ihre Flügel einige Federn einbüßen mussten, welche daraufhin zu Boden fielen. Liana verschränkte beleidigt die Arme.

„Nein, seine Stärke nicht …“, flüsterte Kyrie bedauernd. Und sie versuchte, Lianas Drohungen zu übergehen. Und Joshuas relativ geschockten – also für Joshuas Verhältnisse – Gesichtsausdruck. Aber es war eigentlich eine der ersten Regungen, die sie an ihm sah. Gefühle ließen ihn sehr schön aussehen, weil er da gar nicht mehr so kalt und unnahbar wirkte, sondern … beinahe menschlich. Wobei andere Engel auch Gefühle zeigten … Nur er nicht.

„Das ist wahrlich schade“, antwortete Deliora in gewohnter Lautstärke, „Das wäre ein Anhaltspunkt, durch welchen man so jemanden finden konnte.“ Sie wirkte nachdenklich. „Xenon“, murmelte sie vor sich hin.

„Oh, und wenn ich herausfinde, wer dieser Xenon sein soll! Das presse ich doch glatt aus den anderen heraus! Und dann schleppe ich sie alle vors Gericht!“, maulte Liana vor sich hin, „Und dann werde ich sie alle …!“

Kyrie begutachtete Joshua, der bloß langsam den Kopf schüttelte. Vermutlich über Lianas Ausdrucksweise.

Deliora schwieg nachdenklich vor sich hin. Liana murmelte irgendwelche Beleidigungen, die sie einem Engel niemals zugetraut hätte.

Und da blieb es Kyrie nur noch, sich auf Joshua zu konzentrieren, der sich wiederum ihr widmete.

„Bist du schon in die Regelungen eingeweiht?“, wollte Joshua ruhig wissen.

Kyrie nickte. „Großteils, denke ich. Ich werde dem Verlauf hoffentlich folgen können.“ Sie lächelte zaghaft.

Er nickte. „Ins Anfeuern?“, fragte er sachlich – wie ein Mathematiklehrer, der sich erkundigte, ob man denn eine Dreieckesfläche berechnen könnte. Seine bestimmte besagte, dass er erwartete, dass sie es konnte, aber nicht überrascht wäre, wenn sie das Gegenteil eingestand. … Seltsam … Anfeuern war doch einfach … Immerhin … Jubel – Applaus. Hochrufe …

„Ich denke schon, dass ich jubeln und unterstützende Laute rufen kann?“, mutmaßte sie merklich unsicher. Dachte er vielleicht, dass man auf der Erde keine Unterstützung erhielt? Oder war sie diejenige, die nicht verstanden hatte, worum es hier wirklich ging?

Plötzlich kicherte Liana. „Magisches Anfeuern, du Dusselchen.“ Und im nächsten Moment ging ihre Schimpftirade weiter: „Oh, wie können sie nur so ein armes, unschuldiges Mädchen … Und sogar mit dem Schwert!“

„Nein, magisches Anfeuern ist mir fremd“, verbesserte sie ihre vorherige Aussage an Joshua gewandt, wobei sie entschuldigend lächelte. Also doch … Peinlich.

Magisches Anfeuern … Was das wohl war? Ob sie mit ihrer Stärke daran überhaupt teilnehmen durfte? Hoffentlich …

„Nathan wird es dir beibringen“, murmelte er, dann nickte er in eine andere Richtung. „Er ist schon drüben. Das Spiel beginnt vermutlich bald.“

Kyrie zog die Augenbrauen zusammen. Wovon sprach er? Sie schaute sich um – und tatsächlich entdeckte sie Nathan, der auf der anderen Seite der Tribünen gerade nach oben flog. „Was macht er denn dort drüben?“, wollte sie wissen.

„Anfeuern“, erklärte Deliora plötzlich, „Du gehst am besten mit Joshua zu Nathan. Er ist schon ausgebildeter Lehrmeister. Liana und ich halten hier Stellung.“

Sie runzelte die Stirn. Was sollte das jetzt wieder …?

Deliora lächelte sie freundlich an. „Das Anfeuern geht schlecht, wenn alle von derselben Seite aus feuern. Darum teilen wir uns immer in zwei Gruppen auf. Du solltest am besten zu Nathan gehen – er wird dir alles Weitere erklären. Er ist ja dein Mentor.“ Sie legte einen beruhigenden Ausdruck in ihre Augen.

Kyrie nickte. Dann schaute sie zu Joshua. Fragend. Sehr fragend. Würde er auch den ganzen Weg über bei ihr bleiben? Hoffentlich. War er überhaupt stark genug? Hoffentlich.

Na gut, hier war ein ganzes Stadion voller Engel und Nathan war ja da drüben und Liana und Deliora hier und Joshua bei ihr … Ihr würde doch nichts passieren … Nein, sie würden sie beschützen …

Sie lächelte. „Na gut, dann … bis später“, sagte sie relativ überzeugt – wobei sie ihre Unsicherheit zu kaschieren versuchte. Vermutlich erfolglos. Sie erhob sich.

„Viel Glück beim Anfeuern!“, wünschte Liana ihr, ehe sie sich erhob und Kyrie kurz umarmte. „Du wirst ihm bestimmt den Endschub geben! Und dann wird Gula bestimmt auf ihn aufmerksam. Thi packt das heute!“ Sie grinste.

„Hast du nicht gegen ihn gewettet?“, fragte Deliora dann skeptisch.

Liana grinste bloß breiter und setzte sich danach wieder. „Taktik“, warf sie dann selbsterklärend in den Raum.

„Danke …“, gab Kyrie zurück, wobei sie nicht genau wusste, ob das die richtige Antwort war.

Doch es kam keine Beschwerde – deshalb nahm sie an, dass es sich um die richtige Antwort gehandelt hatte.

„Los“, beschloss Joshua und erhob sich in die Lüfte. Kyrie tat es ihm gleich. Und tatsächlich flog er langsam neben ihr her.

Sie flogen allerdings nicht direkt über das Spielfeld, sondern über die Tribünen, wobei ihnen da so einiges an Gegenverkehr entgegen trat. Die Engel nahmen alle ihre Plätze ein. Vermutlich verfolgten mehrere Leute diesen Plan der Aufspaltung. Er ergab scheinbar ziemlichen Sinn, auch wenn sie noch immer nicht so genau wusste, was dabei jetzt ihre Aufgabe war. Sie wünschte sich, Nathan hätte sie früher davon in Kenntnis gesetzt …

Sie hielt sich davon ab, panisch hin und her zu schauen. Unter all diesen Engeln konnten sich ihre Angreifer so leicht verstecken. Und sie würde es nicht bemerken, ehe sie ein Schwert zwischen den Rippen hatte. Oder sie wieder abgefangen wurde … Wenn Nathan sogar am ersten Tag bereits solche Ausnahmen vollführte … Wie sollte er es dann Monate und Jahre aushalten, sie mit in den Himmel zu nehmen? Vielleicht sollte sie ihren dummen Wunsch, hier zu bleiben, doch aufgeben … Vielleicht sollte sie einfach alle zwanzig Jahre einmal vorbeischauen und …

Ihre Augen weiteten sich, als sie in einiger Entfernung vor sich blondes Haar entdeckte. Blondes Haar und eiskalte, eisblaue Augen, die auf das Spielfeld starrten.

Sie hätte ihn nicht verwechseln können. Er war es.

Es war Xenon.

Das Gesicht, das sie so sehr verfolgte, diese Augen, die ihr so viel Hass entgegen brachten und sie als Dämon markierten. Die sie so sehr verabscheuten …

Aber sein Blick blieb am Spielfeld haften.

Er hatte sie noch nicht gesehen.

Es war ihre Chance, abzuhauen. Auf ewig zu verschwinden.

Er war hier. Er würde sie entdecken.

„Kyrie?“, ertönte Joshuas ruhige Stimme und riss sie aus dieser Art von Trance.

Sie schaute sich panisch um. Waren die anderen auch hier? Hier überall? Gab es noch mehr von ihnen? Waren sie hinter ihr her?

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Oh nein … Oh nein … Sie durften sie nicht sehen. Sie würden sie wieder angreifen. Würden sie vor all diesen Leuten hinrichten … Sie als Dämon erkennen … All diese Engel …

Sie fühlte, wie ein Zittern ihren Körper durchzuckte. Sie würden …

„Hey? Alles in Ordnung?“ In seiner Stimme schwang keinerlei Emotion mit. Nichts von Sorge. Keine Angst. Wie konnte er nur keine Angst haben? Sie beneidete Joshua.

Er legte ihr eine Hand auf Schulter. „Komm schon …“

Doch Kyrie konnte sich nicht bewegen. Sie verharrte in der Luft. Sie wollte nicht gesehen werden … Einfach nicht gesehen werden … Wollte unentdeckt bleiben … Wollte auf der Stelle verschwinden.

Sie durfte nicht … durfte nicht …

„Kyrie?“, fragte er noch einmal – wobei sie schwören konnte, etwas Hilflosigkeit in seiner Stimme zu vernehmen.

Zwei starke Arme schlangen sich plötzlich um ihre Hüfte und sie fühlte, dass sie sich fortbewegte. Doch Kyrie war nicht in der Lage, sich selbst zu bewegen. Sie wollte nichts sehen. Wollte nicht wissen, was geschah. Sie wollte doch nur weg von hier … Nur fort …
 

Es klingelte an der Tür. Dieses Geräusch löste Unbehagen in ihm aus. Es klingelte nie oft an seiner Tür. Hatte noch nie oft geklingelt. Weder der Postbote klingelte, noch tat es sonst jemand. Niemals. Er liebte sein Leben in Ruhe. Und das letzte Mal, als es geklingelt hatte, war es Jake, der ihm die Nachricht von Kyries Unfall überbrachte. Das vorletzte Mal war es seine Schwiegermutter Mirabelle, die an Kyries Geburtstag hier war. Die betagte Dame lebte im Lichten Dorf und kam alle fünf Jahre zu Kyries Geburtstag, alle fünf Jahre zu seinem Geburtstag und alle fünf Jahre zu Magdalenas Geburtstag. Die Frau war überzeugt von der Realität und Gott war ein Fremdwort für sie – also wohl die perfekte Schwiegermutter für ihn – er konnte von Glück reden, dass Magdalena schon immer gläubiger als ihre Mutter gewesen war, sonst hätte er sie damals wohl nie getroffen.

Aber er mochte seine Schwiegermutter. Das nächste Mal würde sie im nächsten Jahr kommen. Da hatte Magdalena einen runden Geburtstag. Wenn die Großmutter für Kyrie und daraufhin für Magdalena kam, wurde es immer teuer. Aber er und Magdalena steuerten immer Geld bei, sodass die alte Dame es schaffte, sich die Zugfahrt zu leisten. Die Preise waren einfach ungehobelt – doch was wollte man tun? Wer es schaffte, in der Stadt zu leben, der tat es. Und der Rest … der konnte sich Stadtbesuche abschminken, bis er reich war.

John erhob sich und ging zur Tür. John hatte abgeschlossen, weil er alleine zuhause war. Kyrie befand sich im Himmel, seine Frau arbeitete und war entsprechend mit dem Auto unterwegs.

„Hallo“, begrüßte er Jake, als er die Tür öffnete und den großen Mann vor sich sah.

„Grüße dich“, antwortete er lächelnd, „Ich wollte nur wissen, wie es Kyrie mittlerweile geht.“

„Hat sie sich noch gar nicht bei dir für die Rettung bedankt?“, wollte John schockiert wissen.

Jake schüttelte den Kopf. „Sie braucht sich doch nicht zu bedanken. Es war weder ihre Absicht, verletzt zu werden, noch meine Absicht, ihr zu helfen. Beides war einfach … Schicksal. Gottes Fügung.“ Der Mann lächelte ihn freundlich an.

John hatte sich bei drei Predigten bei diesem Mann bedankt. Auch ihn fand man oft in der Kirche. Ein guter Mann.

Aber dass Kyrie sich nicht bei ihm bedankt hatte … das sah seiner Tochter gar nicht ähnlich. Sie war ein freundlicher, höflicher und vor allem dankbarer Mensch – gut erzogen. Sie hätte sich doch schon längst bedankt. Man hatte ihr doch mitgeteilt, dass Jake sie gerettet hatte …

Sie musste wohl ziemlich durcheinander gewesen sein.

„Dann möchte zumindest ich mich im Namen meiner Tochter bedanken“, entgegnete John.

„Das hast du doch schon“, wiegelte der Mann ab, „Und es ist schon in Ordnung.“ Er lächelte. „Ich wollte nur wissen, ob sie bereits wieder am Weg der Besserung ist.“

John nickte stolz. „Dank deines schnellen Hilferufs ist sie bereits wieder vollständig genesen!“

Und in seinem Kopf musste er erneut eine Lüge hinzufügen.

Wie verlogen er in letzter Zeit geworden war.

Das war auch der Grund, weshalb er die Polizei noch nicht in Kenntnis gesetzt hatte – er hatte das Gefühl, dass Kyrie noch immer Dinge vor ihm verbarg. Dinge, die sie nicht sagen konnte. Aber er wollte weder eine weitere Lüge auf seines noch auf das Gewissen seiner Tochter laden.

„Möchtest du eine Tasse Kaffee?“, fragte John höflich.

Jake nickte.

Nathan hielt Kyrie in seinem Arm. Ihre Flügel streiften die Sitzlehne, doch dies würde sie im Moment wohl nicht stören. Einige Engel, die in seiner Nähe saßen, verfolgten das Schauspiel mit beiläufigem Interesse.

Kyrie hatte ihr Gesicht mit ihren Händen bedeckt und lehnte so gegen seine Brust. Ihr dunkles Haar fiel in seinen Schoß und überlagerte somit alles, wodurch man sie hätte identifizieren können.

„Kyrie … Was hast du nur?“, fragte Liana besorgt. Sie saß vor Nathan und streichelte Kyrie beruhigend über den Rücken.

Deliora stand in der Luft und schaute sich um. „Es muss etwas mit Xenons Leuten zu tun haben“, mutmaßte sie kaum hörbar, „Aber mir fällt niemand auf …“

„Ist Thi schon am Spielfeld?“, wollte Liana wissen, da sie sich nicht umdrehte, sondern sich ganz Kyrie widmete.

Joshua verfolgte das Spiel. „Er ist am Feld, aber es ist noch die Aufwärmphase.“

Nathan schaute auf Kyrie. … Wenn er sofort wieder zu ihr geeilt wäre … Aber das Spiel hatte doch begonnen. Und der Sitzplatz …

Aber was nützte ihm dieser Platz jetzt, wo Kyrie nicht einmal zusehen konnte? Nicht anfeuern konnte. Thierry würde enttäuscht sein – aber er würde es verstehen.

Hier irgendwo war also der Halbengelhasser Xenon. Und er würde heute seine gerechte Strafe erlangen! Gula war hier – also konnte dieser gleich darüber richten. Kyrie musste nur aussagen.

„Liana, Deliora – geht zurück auf euren Platz“, schlug Nathan vor, „Ich bin ja hier … Und ihr könnt jetzt nichts machen. Helft Thi.“

Deliora schaute ihn berechnend an.

Liana wirkte unfassbar beleidigt. „Ich bin bei ihr! Das ist es, was ich hier tue! Ich unterstütze sie!“, schnauzte sie ihn an.

„Und mit welchem Erfolg?“, wollte Nathan ungehalten wissen. Es war auch für ihn eine ungewohnte Situation, verdammt! Wie sollte er Kyrie helfen, wenn sie nicht ansprechbar war? Sie zitterte bloß – sie hatte fürchterliche Angst! Was konnte er nur tun, um sie zu beruhigen? Lianas Methoden schienen auch nicht gerade sehr hilfreich.

„Ich bin zumindest für sie da!“, keifte die Frau zurück. Heute trug sie eine blaue Blume. Die falsche Farbe für ihr heutiges Temperament. Eindeutig.

„Thierry ist dran!“, unterbrach Deliora plötzlich das hitzige Gespräch.

Sogar Liana wandte sich von Kyrie ab und schaute aufs Spielfeld.

Thi hielt einen goldenen Ball in der Hand und schwebte geschickt an seinen Konkurrenten vorbei. Plötzlich warf er das Gold dem alten Mann zu, der es mit Leichtigkeit auffing, da er unter seinen Rivalen durchflog und der alte Mann schmiss den Ball los, sodass dieser den angehenden Turm erreichen würde – doch ein Gegenspieler schob sich dazwischen und hielt das wertvolle Stück davon ab, sein Ziel zu erreichen, indem er es einfach in sich hinein sog.

„Nein!“, rief Liana erschüttert, „Was für ein …“

Deliora schüttelte den Kopf. „Wir sollten wirklich nach da drüben. Von dort aus hätten wir den Konkurrenten abhalten können! Warum hat da keiner gefeuert?“ Sie knirschte mit den Zähnen.

Dann begab sie sich noch einmal kurz zu Kyrie und strich ihr durchs Haar. „Beruhige dich … Nathan wird dich beschützen“, wisperte sie in ihr Ohr – und rauschte davon.

Liana blickte ihn trotzig an. „Schau zu, dass sie sich beruhigt“, wies sie ihn an, dann stolzierte sie am Fußweg davon – wobei sie einigen Engeln, die gebannt das Spiel beobachteten, auf die Füße trat. Ohne ein Wort der Entschuldigung.

„Liana …“, murmelte Nathan ihr hinterher. Dann widmete auch er sich dem Spiel. Hätte von dort drüben jemand gefeuert, so hätten sie Thierrys Kugel so verstärken können, dass der Konkurrent sie nicht hätte einsaugen können – und damit hätte Thierrys Team einen Schritt zum Sieg gemacht. Schade.

Aber bei diesem Team würden wohl noch mehr Chancen kommen, um zu helfen.

Nathan widmete seinen Blick ganz kurz Gula.

Der große Mann mit diesem dunklen Haar stand noch immer ganz oben – seine Miene war unbewegt, doch er verfolgte das Spiel mit Interesse. Sein Blick klebte förmlich am Spielfeld.

Wenn Nathan jetzt nach da oben ging … dann würde der Mann ihn eiskalt ablehnen. Er war eine Todsünde – íhm diese Stunden der Freiheit zu nehmen, würde nicht gelingen. Da war Nathan sich sicher. Es würde so sein, als wollte er nach einer Konferenz mit Acedia über neue Aufgaben sprechen – einfach unmöglich.

Plötzlich spürte er, wie ein Blick auf ihm haftete – er brauchte gar nicht lange zu suchen, da bemerkte er, dass es Joshua war, der ihn hier so durchlöcherte. Ehe er nach dem Grund dafür fragen konnte, fiel ihm auf, dass er die ganze Zeit sanft über Kyries Rücken gestreichelt hatte. Sie musste sich immerhin beruhigen und … Als er in dieser Tätigkeit inne hielt, wandte sich Joshua sofort wieder dem Spielfeld zu.

„Also …“; begann Nathan, „Das Anfeuern funktioniert so: Du sitzt hier und wartest einfach auf die perfekte Gelegenheit, deinen Schuss abzugeben.“ Er schaute Kyrie an. Sie ihn nicht.

Ob sie überhaupt wahrnahm, dass er mit ihr sprach? Wenn nicht … dann würde er einfach alles wiederholen müssen. „Anfeuern ist die Publikumshilfe, wenn der Gegner des eigenen Teams im Vorteil liegt. Also sind nicht nur die Stärke des Teams ausschlaggebend, sondern auch die Anzahl der Fans – und darum ist auch Gula so wichtig.“ Nathan wandte seinen Blick noch einmal der Todsünde zu. Dann sofort wieder Thierry, welcher sich darauf vorbereitete, einen Gegner, der einen der Lichtkugeln hatte, zu blocken. „Denn wenn Gula einen solchen Schuss verstärkt und der dann auf den Turm prallt – so ist das Spiel so gut wie gewonnen. Der Sieger steht fest. Da sind die beiden Assistenten der Todsünden da drüben und ich natürlich ebenfalls ziemlich ausschlaggebend, aber wir sind keine perfekten Strategen.“ Wieder versicherte er sich, dass Kyrie ihn nicht anschaute – was sie auch nicht tat. Leider. „Gula hat bis von vor … ich glaube, das ist zwei Jahrhunderte her, oder Joshua?“ Er wandte sich seinem dunkelhaarigen Freund zu.

Dieser widmete ihm ein kurzes Nicken. Und in seinen Augen stand Zufriedenheit – war er wirklich gerade eifersüchtig auf Kyrie gewesen? Das würden die Todsünden aber ungern hören, wenn ein Engel so Besitz ergreifend war … Aber … es war eben Joshua. Nathan konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Hört sie zu?“, fragte Joshua dann unvermittelt.

Nathan blinzelte vor Überraschung. Mit dieser Frage hätte er nicht gerechnet. „Woher soll ich das wissen?“

Joshua zuckte nur mit den Schultern – und beobachtete Thi.

„Jedenfalls hat er sämtliche Rekorde in diesem Spiel gehalten. Er war der Meister – er war nämlich stark und klug. Jeder hatte Ehrfurcht und gegen ihn zu spielen, war eine Bereicherung für alle Teilnehmer. Man lernte vom Verlieren.“ Nathan konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Nathan hatte Gulas letztes Spiel mit angesehen – es war einfach ein Traum von einem Spiel gewesen. Man fühlte sich wie … wie … wie im Himmel. Es war einfach alles … richtig.

„Als er dann zum Assistent von Gula auserkoren worden war, musste er das Spielen aufgeben, weil es ihm einfach zu viel Freude bereitet hatte. Aber nachdem er nach all diesen Jahren wieder hier ist … glaube ich nicht, dass er es jemals geschafft hat, das aufzugeben, was er wahrlich …“ Sie machte es schon wieder. Kyrie hörte vermutlich nicht zu, aber sie schaffte es einfach, ihn zum Reden zu bringen, ohne dass er es wollte! Er konnte doch nicht vor Joshua …

Aus seinen Augenwinkeln heraus beobachtete Joshua ihn forschend. Berechnend. Mit Schmerz in den Augen.

Nathan musste ihn ignorieren. Bis er eine Todsünde war, musste er es einfach ertragen, Joshua nicht zu lieben! Nichts zu lieben. Einfach nur … gleichgültig zu sein. Es zumindest so vorzuspielen, wie Gula es getan hatte. Wie vielleicht alle es getan hatten – außer Acedia. Bei ihr war er relativ sicher, dass sie alles aus ihrem früheren Leben abgeworfen hatte. Gut, vielleicht noch bei ein, zwei anderen … Aber Gula war wie er: anhänglich. Einfach … willenlos … Sie liebten einfach zu sehr – waren so gesehen … schwach.

Plötzlich fühlte er, dass er umarmt wurde. Seine Taille umschlungen.

Er schaute nach unten.

Kyrie sah ihn aus verzweifelten Augen heraus an.

Und er konnte den Hilferuf darin förmlich hören.
 

Xenon … Sie erwachte aus ihrer Trance. Sie wusste nicht genau, wie sie an diesen Ort gekommen war, doch sie fühlte, dass sie Nathan umarmte. Die Angst plagte sie derweil – wie sollte sie Xenon entkommen? Wenn sie den Himmel jetzt verließ … sie wusste, dass sie dann nie mehr wieder den Mut aufbringen können würde, ihn je wieder zu betreten. Wenn sie Xenon heute nicht aus der Welt schaffte, so würde Kyrie dazu nie mehr wieder in der Lage sein.

Und diese Erkenntnis versetzte sie schier in Panik.

Sie hatte wahrgenommen, was Nathan ihr erklärt hatte. Was Liana und Deliora und Joshua gesagt hatten. Dass Thierry dort unten spielte. Sie wollte auch unbedingt zusehen – ihn anfeuern, ihm helfen! Doch … sie schaffte es nicht.

Wenn Nathans starker Körper ihr in diesem Moment keinen Halt gegeben hätte – sie wäre zerbrochen. Panik hätte die Überhand genommen. Sie hätte keine Chance mehr gehabt.

Und so starrte sie in sein überraschtes Gesicht. Ihr war klar, wie fahl sie wirken musste, vielleicht sogar krank, obwohl sie sich im Himmel befand. Doch wie sollte sie sich so schnell und unvorbereitet entscheiden? Wie nur? Was sollte sie tun? Xenon verraten? Aber … wie?

Gula … würde ihr Gula überhaupt helfen? Würde sie dadurch Thierry die Chance seines Lebens zerstören, indem sie Gulas Aufmerksamkeit für sich beanspruchte?

„Thierry!“, rief Joshua plötzlich laut aus – und aus seinen Händen strahlte ein kleines Licht, welches allerdings sehr schnell nach unten schoss. Kyrie wusste nicht, wie er damit helfen wollte. Aber sie schaffte es einfach nicht, sich umzudrehen, zum Spielfeld zu sehen.

Nathans Blick folgte der Lichtkugel für einen kurzen Moment, kam dann aber sofort wieder auf sie zurück.

Seine Lippen bewegten sich. Er sagte etwas. „… wieder beruhigt hast! Ich bin so froh … Kyrie?“ Sie starrte ihn an.

Wo war sie? Wenn sie sich jetzt nach vorne drehte – würde sie in Xenons Blickwinkel fallen? War er noch da? Wo war sie überhaupt? Wie konnte sie sich sicher sein, dass sie sich nicht verriet?

Vielleicht saß er auch direkt über ihr. Vielleicht sah er sie in diesem Moment. Plante bereits einen Anschlag.

Plötzlich wurde ihr übel. So übel. Sie wollte einfach weg hier. Weg!

Nathan platzierte seine Hände auf ihren Schultern. Er sah sie eindringlich an. Sein Blick war fest – eisenhart. Schien sie zu durchbohren – doch er hielt sie auch gefangen. Seine azurblauen Augen durchdrangen sie, hielten sie fest. In der Gegenwart. In seinem so schönen Gesicht. Und diesem wunderbaren Leuchten darum herum … Leuchten … Xenon hatte geleuchtet. Seine Flügel waren ausgebreitet – und ihre auch. Sie waren im Himmel. Vielleicht hatte der Himmel so stark geleuchtet, doch …

„Xenon …“, brachte sie keuchend hervor.

Sofort schnellte sein Gesicht herum. Seine Miene blieb steinhart, die Augen wirkten wie die eines Falken – er hatte alles im Auge, nahm jede Bewegung wahr. Doch er konnte nicht wissen, wonach er suchte. Nicht, bis sie es ihm sagte. Bis sie sich umwandte und auf Xenon deutete.

Nach dem Spiel konnte es zu spät sein. Vielleicht würde Gula dann bereits fort sein. Oder Xenon.

Aber Thierry … Thierry konnte heute siegen. Konnte heute zur Legende werden. Er war ihr Freund. Sollte sie nicht für ihren Freund zurückstecken? Beide hatten nur eine wahrscheinliche Chance auf einen heutigen Sieg – und doch … wollte sie, dass Thierry gewann. Wenn sie heute verlor, so wäre ihr Leiden in achtzig Jahren vorbei. Thierry hingegen … Er würde noch sehr lange traurig über den heutigen Tag sein.

„Xenon?“, murmelte Joshua, wobei dieser sich auch verstohlen umblickte. Sogar Joshua wollte ihr helfen …

„Wo?“, zischte Nathan leise.

Sie schüttelte den Kopf. „Nach dem Spiel.“ Sie ließ Nathan los – und je weiter sie sich von ihm entfernte, desto mehr verkrampfte sich ihr Magen und alles andere in ihr drinnen. Sie war einem Schüttelfrost ausgesetzt – so stark waren ihre menschlichen Instinkte also … sodass sie sogar der himmlischen Heilung widerstanden. Traurig.

„Nein!“, wehrten sich Joshua und Nathan gleichzeitig. Hinter ihnen räusperte sich jemand.

„Nein“, wiederholte Nathan wesentlich ruhiger und leiser, wobei er sich ein wenig zu ihr hinunter bog, „Jeder Engel darf nur einmal anfeuern. Und Joshua hat seinen bereits verbraucht – also wirst du ihm jetzt sagen, wo Xenon ist und er wird es Gula berichten“, wies Nathan sie an.

Sie schüttelte den Kopf, wobei sie versuchte, ihr langes Haar in ihr Gesicht hängen zu lassen, sodass Xenon sie nicht erkennen konnte. Falls sie durch ihre außerordentliche Schwäche nicht sowieso schon hervor stach.

„Wieso nicht?“, fragte Joshua ungläubig. Ungläubig. Joshua … Kyrie fühlte sich beinahe schlecht, so viele Gefühle aus ihm hervor zu locken. Immerhin wollte er nur ihr helfen. Nur wegen ihr bröckelte seine Fassade so.

„Gula muss Thierry anfeuern“, brachte sie leise hervor, „Heute ist seine Chance. Vielleicht bekommt er sie nie wieder.“

„Gula wird noch lange genug Todsünde sein, um ihn auch bei den nächsten zweihundert Spielen anzufeuern!“, murrte Nathan, „Thi wird es verstehen, wenn er heute keinen Zuschuss bekommt.“ Er schüttelte den Kopf. „Kyrie! Es geht hier um Gerechtigkeit! Nicht um Sieg oder Niederlage – was sie dir antun … Sieh dich doch an!“

Sie wandte ihren Blick von Nathans Augen ab. Starrte in ihren Schoß. Ja. Sie war ein kümmerliches Häufchen Elend … Hatte Angst. Panik. Furcht. Wollte nie mehr wieder in den Himmel – brauchte Babysitter! … Und doch … konnte sie es nicht verantworten, Thierry heute diese Chance wegzunehmen. Nicht hier und heute konnte sie seine Zukunft für ihr Wohl aufs Spiel setzen!

„Die Todsünden bestehen länger – sie werden schon irgendwann etwas herausfinden …“, murmelte Kyrie vor sich hin, „Es muss nicht heute sein.“

„Muss es sehr wohl!“, begehrte Nathan laut auf, wobei er sie schüttelte, „Wach auf, Kyrie! Xenon ist hier! Er ist der Fadenzieher – vielleicht hilfst du durch diesen Schritt hunderten Halbengeln nach dir!“

… Hundert Halbengel für den Ruhm eines Freundes?

„Nathan!“, rief Joshua plötzlich, „Thi braucht Hilfe von unserer Seite.“

Kyrie reagierte, obwohl ihr Name nicht gefallen war. Sie wandte ihren Blick auf das Spielfeld und entdeckte Thierry vor einem relativ riesigen goldenen Turm. Um genau zu sein, standen bereits sieben relativ große Türme auf diesem Spielfeld, die zuvor noch nicht da waren. Das waren sie also – die Ziele. Und wer zuerst die richtige Größe erreichte, hatte gewonnen.

Thierrys Turm führte, knapp vor den anderen. Drei Mannschaften lagen weit zurück und die anderen vier knapp beieinander.

Thi hielt die goldene Kugel, stand kurz vor seinem Turm, wurde aber eingekreist. Man sah ihm an, dass er diese Kugel jetzt schießen würde. Wenn jemand ihm also genug Schwung gab, so würde die Kugel durch den Gegner hindurch auf den Turm treffen.

An Kyrie schoss die Kugel vorbei, welche von Nathan ausging und sie flog direkt auf Thierry zu. Als er den Energieschub erhielt, grinste Thierry siegessicher – und schoss.

Und in dem Moment flog eine ebenso starke Kugel, wie die von Nathan, von der anderen Seite auf die Person, durch welche Thi augenscheinlich durchschießen wollte.

Der andere Engel sog die Kugel auf – und die ganze Runde war umsonst. Thierrys Mannschaft musste zurück an den Spielfeldrand, um dort erneut auf eine goldene Kugel zu warten – währenddessen holten die anderen auf, da eine ganze Mannschaft für eine kurze Zeit ausfiel.

„Verflucht“, murrte Nathan, „Invidias Junge ist wirklich …“

„Xenon“, realisierte Kyrie, als sie den Weg, den die gegnerische Kugel genommen hatte, zurückverfolgte, um den Schützen ausfindig zu machen.

Er saß ihr beinahe genau gegenüber. Wenn er also Nathans Kugel zurückverfolgte …

Ihre Augen weiteten sich.

Sofort duckte sie sich auf Nathans Schoß, vergrub ihr Gesicht in Nathans Kleidung. Nein … Wenn er sie gesehen hatte … Er würde wissen, dass sie sich nicht an das Verbot gehalten hatte. Würde wissen, dass sie wieder hier war. Gesund war … Er konnte erneut …

Das Zittern, welches für den kurzen Moment, in dem sie auf Thierrys Spiel konzentriert war, verschwunden war, kehrte in all seiner Stärke zurück. Nein … Er durfte sie nicht erkannt haben … Gula … warum hatte Gula nicht einfach schießen können? Dann hätte Thi gewonnen, dann hätte sie … hätte sie jetzt Xenon verraten können … Sie hatte ihn lokalisiert. Wusste, wo er war … Es war nur noch eine Frage der Zeit.

Wie lange würde Xenon bleiben?
 

Xenon? Nathan starrte den Mann an, der dort drüben saß. Es war derjenige Assistent, mit dem er zuletzt gesprochen hatte. Der Blonde mit den eiskalten, eisblauen Augen. Ein starker Assistent … Invidias Assistent. Ob er wirklich …?

Die Beschreibung passte.

Und Kyrie hatte zu ihm geschaut. Vom Assistenten aus war dieser Schuss gekommen. Hatte Kyrie den Schuss verfolgt? Sollte es wirklich so sein, dass ein Assistent …?

Wut schürte sich in Nathans Herzen. Wie passte das zusammen? Die Liebe mussten sie aufgeben – doch den Hass durften sie weiter tragen? Oder liebte er seinen Hass so sehr, dass er diesen aufgeben musste und es – wie Nathan – nicht schaffte, dies zu tun?

Xenon. Das war also sein Name.

Sooft hatte sich Nathan Gedanken darüber gemacht, wer dies sein könnte. Sooft … und dann saß der Gesuchte auf derselben Treppe im Rang wie er. Er hätte sich nach Links wenden müssen und hätte ihn gesehen.

Hatte nach dem Vorfall sogar mit ihm gesprochen. Und hatte es nicht bemerkt. Weil er sich nie um die anderen Assistenten gekümmert hatte. Es waren Durchlaufposten für ihn. Sobald ihre Todsünde starb, würde er den Namen der Assistenten sowieso vergessen. Es hatte für ihn niemals Sinn ergeben, die Namen der anderen Assistenten zu lernen. Superbias erster Assistent war immerhin bereits verstorben – und den Namen seines zweiten hatte sich Nathan nie eingeprägt, weil er einfach der Annahme war, dass Superbia bald abtreten würde und der Assistent dann einfach Superbia war.

Wenn er gewusst hätte, was für einen Namen dieser Assistent hatte … vielleicht hätte er eher darauf schließen können. Ihn sofort darauf ansprechen können …

So scheinheilig hatte er über Halbengel gesprochen, dieser Mistkerl! Und dann war er der Auftraggeber, der sich an seiner Kyrie vergriffen hatte? Dieser … Nathan knirschte mit den Zähnen.

Er bemerkte, dass eine sanfte Hand auf seiner Schulter lag. Joshua blickte ihn steinhart an. Entschlossen. „Beruhige dich“, befahl er ihm ruhig.

Nathan schloss seinen Mund.

„Ist Xenon derjenige, der gerade Thierrys Gegner unterstützt hat?“, wollte Nathan wissen – er wusste, dass man die unterschwellige Wut genau aus seiner Stimme heraus hörte.

Er schaute auf Kyrie, welche sich zitternd auf seinem Schoss versteckte.

Sie nickte.

„Das ist der Assistent von Invidia“, klärte Nathan sie auf, „Es tut mir leid, dass ich das nicht eher kapiert habe.“

Sie schüttelte den Kopf. Dann wandte sie den Kopf ein wenig um und schaute zu ihm auf. „Sag nichts …“, bat sie ihn leise.

„Ich kann diese Ungerechtigkeit nicht dulden“, knurrte Nathan. Dann umklammerte er ihren zierlichen Körper und hob sie ein wenig nach oben, sodass sie wieder richtig auf ihrem Stuhl saß. Die Engel hinter ihm murrten ein wenig obgleich der Störungen.

Doch sofort bedeckte Kyrie ihr Gesicht wieder.

„Ich weiß jetzt, wie ich ihn finden kann“, sagte Nathan selbstsicher. „Also konzentrieren wir uns auf das Spiel – und danach ist er dran.“

Als Nathan sich wieder auf das Spiel konzentrierte, bemerkte er, dass sie bereits ziemlich viel weiter waren als zuvor. Es stand nun ein Kopf-an-Kopf-Rennen – Thierrys Mannschaft unterlag ein klein wenig gegen eine andere Mannschaft. Viel fehlte beiden nicht mehr.

Die anderen Mannschaften mischten mehr untereinander, während die beiden potenziellen Sieger ein Duell daraus machten.

Nathan schaute kurz zurück, um zu Gula zu schauen. Er schaute noch immer versteinert nach unten.

Mittlerweile flogen viele Lichtkugeln umher. Das bedeutete also, dass das Spiel ziemlich dem Ende zuging – nun, es standen mittlerweile fast zwei Sieger fest.

Viele Kugeln trafen die Sieger. Um die anderen kümmerten sich mittlerweile eher wenige.

Gula würde also eine Show liefern – er würde der letzte sein, der schoss.

Während des gesamten Spiels musste also so ziemlich jeder bereits seine Chance genutzt haben. Das sah man auch an den Bauten, die sich dort in der Mitte auftürmten. Alle waren gut – doch Thierrys Mannschaft war einfach sehr gut. So einen schönen, festen, großen Turm hatte er kaum einmal gesehen! Und das, obwohl zwei Assistenten ihre Stärke bereits unnötig verbraucht hatten. Auf Superbias Assistent hatte Nathan gar nicht geachtet.

Und die Assistenten der anderen Ränge waren sowieso schwächer. Es verteilte sich immer schön, wenn mehrere der starken Engel anwesend waren – jeder war für eine andere Mannschaft. Meistens.

Er blickte noch einmal kurz zu Kyrie. Ihr Schuss fehlte noch.

„Du kannst dir vorstellen, wie man anfeuert, oder?“, wollte er von ihr wissen, als ihm auffiel, dass er diese Erklärung ausgelassen hatte.

Zu seiner Überraschung nickte sie entschlossen. „Ich will helfen, dass Thierry gewinnt … Und wenn Xenon dadurch davon kommt …“ Ihre Entschlossenheit wurde durch die Haare, die ihr Gesicht bedeckten, gedämpft.

Sie hatte noch immer Angst. Doch jetzt überspielte sie es. Vielleicht hatte auch sie bemerkt, dass es nun dem Ende zuging.

Und so war es auch: Nur noch vereinzelt flog hier und da eine Kugel herum.

„Soll ich auch schießen?“, wollte Kyrie unsicher von ihm wissen. Sie überschaute das ganze Spielfeld. „Ich habe keine Ahnung davon …“

„Thierry hat den Ball!“, rief Joshua plötzlich laut und deutlich, beinahe aufgeregt, aus.

Und tatsächlich: Thi hatte die goldene Kugel aufgefangen und war salopp über alle hinweg geschwebt – direkt auf den Turm zu. Und sein Konkurrent von vorhin – Nathans Meinung nach der Favorit des anderen Sieger-Teams – stellte sich ihm in den Weg.

Die anderen Spieler waren geblockt.

Es war ein Kräftemessen. Wenn Thierry jetzt einen kleinen Schub erhielt, dann war er gleich stark, wie der andere Engel, der ihm lichtmäßig überlegen war.

Und ehe Nathan ihr den Befehl dazu erteilen konnte, erhob sich Kyrie selbstbewusst und ohne Angst, stellte sich dorthin und ließ einen Lichtblitz los, der selbst Nathan überraschte.

Und in dem Moment, in dem dieser Blitz beinahe Thierry erreicht hatte, sprang der Konkurrent dazwischen. Kyries Blitz traf den Mann und ließ ihn erstarken.

Und während Kyries Blitz so dahin schoss, während sich der Konkurrent auf Kyries Magiebeihilfe, die im Moment die Einzige war, die aus dieser Richtung kam, konzentrierte, schob sich eine gewaltige Lichtkugel zu Thierry.

Und als Thierry in dieses Licht gebadet wurde, wuchs die goldene Kugel in seiner Hand ins Unermessliche an – und der Turm von Thierrys Team war beendet.

Thierry hatte gewonnen.

Durch Kyrie!

Noch während das Publikum in begeistertes Toben ausbrach, während die Teams sich auf den Boden begaben und einander beglückwünschten und noch während die Türme aus Licht sich langsam auflösten, indem sie wie verkehrter Regen in die oberen Wolken eingingen, ohne diese zu verändern, packte Nathan Kyries Hand und zwang sie in die Lüfte. Joshua folgte ihnen.

„Sollen wir Thierry mitnehmen? Vielleicht will Gula auch einige Worte mit ihm besprechen …“, murmelte Nathan vor sich hin, schüttelte dann aber den Kopf.

Kyrie schluckte schwer. Würden sie jetzt zu Gula fliegen? War der Moment der Wahrheit gekommen?

Sie überquerten die Köpfe der Engel, die zusammen lachten und jubelten, und steuerten auf den hünenhaften Mann mit seinem pechschwarzen Haar zu, der weiterhin unbewegt dort oben stand, wo er die ganze Zeit über gestanden hatte. Wie ein Fels …

Als sie an der Brüstung angekommen waren und nur wenige Schritte entfernt von Gula anhielten, blieb dieser weiterhin regungslos auf der Stelle stehen. Für ihn waren sie wohl ein Durchlaufposten, scheinbar nicht wert, realisiert zu werden.

„Gula …“, versuchte Nathan, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Kyrie hoffte, dass es ihm gelingen würde.

Sie warteten.

„Gula!“, wiederholte er barsch, woraufhin er einige Schritte weiter nach vorne ging. Er war kurz davor, seine Hand auf der Schulter der Todsünde abzulegen, als dieser sich plötzlich mit grimmiger Miene umwandte.

„Acedias Assistent“, murmelte der Mann. Seine Stimme klang genauso tief und grollend, wie sein Aussehen es vermuten ließ. Beinahe jagte er ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Der Blick aus diesen roten Augen schüchterte sie ein … Würde er ihr überhaupt helfen können?

„Gula! Ich habe eine Bitte an Euch“, erklärte Nathan laut und deutlich, wobei er sich kurz umschaute – vermutlich wollte er wissen, wer denn so in der Nähe stand.

Der Mann antwortete ihm nicht, sondern schaute ihn bloß auffordernd an.

Nathan trat einige Schritte zurück, ohne den Blick von Gula abzuwenden.

Plötzlich stellte er sich hinter Kyrie und schob sie an den Schultern nach vorne.

Sie schrie kurz vor Überraschung auf, als sie nach vorne stolperte und dann vor Gula zum Stillstand kam. Er wirkte aus der Nähe gleich noch viel riesiger, viel furchterregender … Als würde er sie gleich zertrampeln …

Sie schaute ihm zögernd in die Augen.

„Das ist Kyrie, der derzeit einzige Halbengel im Himmel“, stellte Nathan sie kurz vor, „Sie steht unter meinem Schutz.“

Gula nickte. „Ich erinnere mich.“ Seine Augen fügten lautlos das Wort „dunkel“ hinzu.

„Nachdem ich sie aber unter das Engelsgesetz gestellt und sie aus ihrer Schülerschaft befreit habe, ist sie aber attackiert worden. Von Halbengelhassern.“

Ein Zucken ging über Gulas Gesicht. Seine Miene verdüsterte sich. „Halbengelhasser …“, wiederholte er leise.

„Sie haben sie nicht nur schwer verletzt – sie haben sie auch angegriffen. Mit dem Heiligen Schwert.“

Seine Augen weiteten sich für einen Moment, im nächsten aber behielt er wieder völlige Ruhe – der Fels war zurückgekehrt. „Wer hat dich attackiert?“ Nun sprach er direkt zu ihr.

Nathan sagte nichts.

Also wurde von ihr erwartet, dass sie sprach.

Sie starrte in diese roten Augen. Würde er sie auffressen?

„Milli, Jeff und … und Drake ... Auf Xenons Befehl …“, antwortete sie unsicher, leise … Sie musste wie eine Maus wirken … Sie hoffte bloß, dass er nicht die Katze war.

„Wo halten sich diese Engel auf?“, wollte Gula daraufhin wissen. Keine Emotion drang durch seine Stimme.

Kyrie riss sich zusammen. Sammelte ihren Mut. Sie musste durchhalten. Jetzt war ihre Chance gekommen – vermutlich ihre einzige Chance. Sie wandte sich um und deutete auf die andere Tribüne. Sie konnte ihn sehen. Xenon war umringt von einer Gruppe von Engeln. Doch er stach hervor. Als sie ihn so direkt anschaute, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie hatte Angst. „Dort.“

Gula wandte seinen Blick nach dort drüben. Seine Augen sprachen Bände – er hatte wohl keine Ahnung, wonach er suchen sollte.

„Invidias Assistent“, klärte Nathan ihn freundlicherweise auf. „Der Blonde in der Mitte. Das ist Xenon.“

Gula schaute sie eindringlich an. „Und er hat das Heilige Schwert gegen dich erhoben? Dich verletzt?“

Sie blinzelte eingeschüchtert. „Nein“, antwortete sie zögerlich, „Er hat den Befehl dazu gegeben, das zu tun. Angegriffen haben mich Jeff und Drake. Milli hat Wache gestanden. Jeff und Drake haben ihre Schwerter gerufen und mich bedroht – die Schnittverletzung hat Jeff mir zugefügt“, erklärte sie kleinlaut. Es war so viel. Und doch verlangten seine Augen diese Information von ihr. Wollten alles aus ihr heraussaugen.

Doch plötzlich verhärtete sich seine Miene noch mehr.

Kyrie wusste nicht, dass das möglich gewesen wäre, wenn sie es gerade nicht gesehen hätte – mit eigenen Augen!

„Also …“, begann er, „Hat Xenon dich nie verletzt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Er hat mich … beleidigt …“

Gula wandte seinen Blick Nathan zu. „Und wo befindet sich dieser Jeff? Wer ist er?“

Nathan zuckte mit den Schultern. „Das müssten die Todsünden herausfinden, wenn es keine Umstände macht – wir haben bloß Xenon ausfindig …“ Nathan brach ab, als Gula begann, den Kopf zu schütteln.

Gula fing Kyrie mit seinen Augen erneut. „Es tut mir leid, Kyrie“, sagte er plötzlich.

Kyrie fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Was? Was sagte er da? Wieso entschuldigte er sich? Gab es einen Grund? Warum …?

„Die Todsünden können dir dabei nicht helfen.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Zwar bist du ein junger Halbengel, doch ein Halbengel bist du ohne gleichen. Auch die Kugel, durch die du meine Zielperson abgelenkt hast, hast du hervorragend gesetzt. Aber … Egal, was du leistest, egal, was du hier erreicht – dir bleiben doch nur höchstens achtzig Jahre.“ Mitleid legte sich in seine Augen. „Du wirst sehr jung sterben müssen – und die Todsünden sind sehr beschäftigt. Wir halten den Frieden des Himmels aufrecht. Deine Angelegenheit steht natürlich vorne auf unsere Liste – doch … Wenn du nicht weißt, wo wir deine Angreifer, die dir wirklich etwas angetan haben, genau finden können, dann haben wir wohl kaum Chancen, sie innerhalb der achtzig Jahre zu finden.“ Er pausierte. „Zwar mögen achtzig Jahre für dich unglaublich viel klingen – doch für Engel ist es ein Flügelschlag.“

Er legte ihr die Hand auf die Schulter, dann schaute er zu Nathan. „Der Halbengel, den ich einst beschützt hatte, ist ebenfalls durch Halbengelhasser verletzt worden. Sie sind nie ausgemacht worden, obwohl wir auch heute noch danach suchen. Kein Opfer ist je vergessen – doch nicht jeder Täter kann gefunden werden.“

Er schaute ihr erneut in die Augen. Kyrie konnte nicht mehr klar denken. Was sagte er da? … Was? … Aber …

„Lebe dein Leben jetzt, Kyrie – schau in die Zukunft und vergiss die Vergangenheit. Sie werden dich kaum noch einmal angreifen, nachdem wir jetzt davon in Kenntnis gesetzt worden sind. Ich werde deinen Fall behandeln lassen“, versprach er ihr. Sein Ton verdeutlichte ihr, dass das alles war, was sie von ihm erwarten konnte. Dass er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Alles.

Gerade wollte die Todsünde sich umdrehen, als Nathan plötzlich aggressiv ausrief: „Halt, Gula!“

Der Mann wandte sich zu Nathan um.

„Was ist jetzt mit Xenon? Er hat den Befehl gegeben! Er verängstigt sie total! Wie soll- …“, fragte er bissig, wurde dann aber von Gula unterbrochen, der seelenruhig antwortete: „Worte sind keine Taten. Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen.“ Dann zuckte er mit den Schultern. „Bitte ihn einfach um eine Entschuldigung.“

Kyrie schaute zu Nathan. Er wirkte rasend, wütend. Als wollte er Gula gleich umbringen.

Kyrie ging zu Nathan und umarmte ihn. „Vielen Dank für deine Bemühungen, aber wenn er nichts tun kann … Es ist nicht seine Schuld, Nathan“, wisperte sie. Doch sie fühlte sich nicht besser. Sie war traurig. Traurig darüber, dass all ihre Hoffnung umsonst gewesen war. Dass alles, was sie tun konnte, war, das Schwert zu beherrschen – und zu hoffen, dass Jeff sie erneut attackierte, sodass sie wissen konnte, wo er zu finden war … Eine Entschuldigung aus Xenon hervorzulocken … Wie sollte ihr das denn je gelingen? Es war unmöglich!

Gula erhob sich in die Lüfte, wirkte, als wolle er einfach nur weg – doch dann hielt er noch einmal inne. Er drehte sich nicht um, sagte jedoch: „Es tut mir leid. Doch … Xenon ist ein Assistent. Das Problem mit Luxuria behandelst du bereits – jetzt stell dir vor, wir würden noch jemanden verlieren.“ Dann rauschte er davon.

Kyrie blickte ihm fassungslos nach … Weil er stark war … durfte er sich alles erlauben …?

Nathan schloss sie ebenfalls in seine Arme. Drückte sie an sich. „Ich werde dich beschützen.“

Hinter ihnen erklang Flügelschlagen – Joshua verließ den Platz.
 


 

„Oh, Kyrie!“; rief Liana überrascht aus, „Ich hab deine Kugel gesehen! Und ich war so aufgeregt! Und dann bekommt der andere sie – und dadurch bekommt Thierry die Kugel von Gula ab und wir siegen!“ Ein Kreischen entfuhr der Frau und sie umarmte Kyrie gleich noch einmal. „Und du bist wieder in Ordnung!“

Kyrie fühlte sich leicht erdrückt, doch sie verstand die Aufregung der Frau. „Es tut mir leid, dass ich euch so in Sorge versetzt habe“, entschuldigte sie sich sofort, wobei sie die Umarmung erwiderte.

Deliora schüttelte den Kopf – lächelnd.

Sie standen am Spielfeld, Thierry wurde gerade von seinem Team gelobt und bejubelt, während die anderen Teams ihnen Glückwünsche zuteil werden ließen.

„Lasst die Mahlzeit beginnen!“, rief der alte Mann aus Thierrys Team plötzlich.

Und ehe Kyrie sich versah, verschwanden alle Leute, die gerade noch das Siegerteam umjubelt hatten, also so gut wie das ganze Publikum, zu den Tribünen und … begannen sie zu … essen …

Also war das kein Scherz gewesen?

„Sie müssen sich erholen. Viele geben große Energiemengen her, wenn sie anfeuern“, klärte Nathan sie auf.

Sein Blick war auf Joshua gerichtet. Er stand abseits.

Er war einfach so davongeflogen. Hierher, zu Liana und Deliora.

Kyrie hatte ein schlechtes Gewissen – immerhin war es ihre Schuld. Weil sie ihn aus der Umarmung ausgeschlossen hatte. Doch ihr einziges Ziel war es gewesen, Nathan abzuhalten, Gula zu verletzen. Immerhin war er wütend. Aber … er war ein Engel. Er sollte nicht wütend sein. Wut war es immerhin, die auch Xenons Leute zu ihrem Handeln zwang.

Und Wut war eine Todsünde.

„Gula wollte wirklich nicht Thi treffen“, fügte Nathan dann noch hinzu, „Sollen wir ihm das sagen? Dann hat er nämlich einen echten Grund, Kyrie zu danken!“ Er grinste. Tat fröhlich. War er wirklich sofort wieder so glücklich gewesen?

Thierrys Team löste sich langsam auf – und Thi kam auf sie zu.

Er grinste über das ganze Gesicht. „Habt ihr es gesehen? Ich habe Gulas Schuss abbekommen!“ Er strahlte so richtig fest.

Liana lachte. „Ja! Und weißt du auch warum?“ Sie starrte ihn feixend an.

Er hing an ihren Lippen. „Nein? Wieso? Weil ich so toll war?“

Liana begann zu lachen, während Deliora schmunzelte.

Nathan ging zu Thierry und klopfte ihm mitleidvoll auf die Schultern. „Tut mir leid, Kumpel, aber du musst dich bei jemand anders als deiner Stärke bedanken!“ Plötzlich deutete er auf Kyrie.

Und Kyrie fand sich in einer Reihe von Umarmungen und Lachen wieder.

So viel Freude, dass sie ihr Leid beinahe vergessen hatte.

Und als sie zusammen mit ihren Freunden – Joshua sagte wirklich kein Wort mehr, folgte ihnen aber weiterhin – die letzten Reste des Stadions aß, als kaum mehr jemand da war, da erzählte sie Thierry ihre Geschichte. Und während sie sie so leise erzählte, der Verzweiflung so nahe, erkannte sie, dass Xenon bereits gegangen war.

Sie wusste nicht, ob er sie letztendlich gesehen hatte oder nicht.

Aber es kümmerte sie auch nicht.

Sie würde sowieso nichts ändern können. Er würde leugnen, Jeff zu kennen. Und damit … wäre alles verloren.

Die Angst holte sie ein.
 

Joshua war der Letzte der Gruppe, der sich verabschiedete. Seine Worte fielen karg aus, aber er ging. Er hatte scheinbar nicht vor, auf die Erde zu gehen.

Nathan blieb bei ihr. Sie standen im Himmel. Kurz vor dem Abstieg.

„Ich könnte uns gleich nach Hause warpen“, schlug Nathan vor, „Ich habe genug Energie dafür.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein – sonst müsstest du nur wieder alleine zurückgehen. Und das will ich nicht.“

Er grinste. „Immer den Kopf voller Sorgen um andere.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Gehen wir?“

Sie nickte. „Ja …“

Keiner von ihnen bewegte sich.

„Wieso hast du ihnen nicht gesagt, dass Gula nichts unternehmen wird? Dass sie die Sache einfach ignorieren werden?“, durchbrach Nathan plötzlich die Stille, die sich ausgebreitet hatte.

Sie verschränkte die Arme. „Weil …“, begann sie leise, „Weil ich nicht möchte, dass sie ihren Glauben an die Todsünden verlieren … Für euch sind sie doch … die Retter, die Verbindung zu Gott … Was wäre da … wenn sie euch enttäuschen würden?“ Es würde sich vermutlich so anfühlen, wie bei ihr, als die Engel sie plötzlich attackiert hatten. Schrecklich. Schrecklich und zerreißend.

„Es tut mir leid“, antwortete Nathan dann schnell.

Sie schaute ihn fragend an. Was tat ihm leid?

„Dass … sie dir nicht helfen. Es war wirklich meine … Hoffnung. Sie würden es schaffen … Aber … dass Xenon einfach so davon kommt, bloß weil er derzeit für die Stabilität wichtig ist – bloß weil er ein Assistent ist, der bereits lange genug seine Ausbildung absolviert hatte, um als Todsündenersatz eingesetzt werden zu können!“ Ein Knurren entfuhr ihm. „Wo ist das fair? Nur weil er einen höheren Rang hat … darf er sich all das erlauben!“

Kyrie schüttelte den Kopf. „Es ist nicht deine Schuld“, hielt sie leise dagegen, „Du hast dein Bestmöglichstes versucht, alles gegeben, um mir zu helfen …“ Sie lächelte ihn freundlich an. „Ich … Ich danke dir von Herzen.“

Er schlug die Augen nieder. „Du bist zu gut …“ Dann atmete er tief durch. „Gehen wir jetzt?“

Sie nickte erneut – und diesmal warpten sie sich nach unten.

Sie kamen gemeinsam auf der großen Dachterrasse an. Kyrie hatte heute gar keine Jacke dabei – sie war auch nicht über die Terrasse gekommen.

„Und es macht dir nichts aus, mich zu begleiten?“, fragte sie.

Und ehe Nathan zu einer Antwort kam, störte ihn ein Läuten, das aus Kyries Rocktasche kam.

Sofort fasste sie hinein und holte ihr Handy heraus. Eine Nachricht. … Von Ray?

„Sind das die … Sieben Sünden?“, wollte Nathan plötzlich wissen. Er schlug einen Takt an und bewegte sich sanft im Rhythmus – er schien sehr amüsiert.

Kyrie blinzelte. „Du erinnerst dich an sie?“

„Klar!“, rief er, „Wie könnte ich die je vergessen? Vor allem Faulheit … Ich liebe das Lied.“ Er schüttelte den Kopf und begann zu grinsen. „Aber im Ernst … Du nimmst dein Handy mit in den Himmel?“, fragte er belustigt, „Du hast doch keinen Empfang dort.“

Sie nickte. „Aber danach wieder. Und davor.“ Sie schaute ihn fragend an. „Wo hast du eigentlich deines? Du hattest doch welche.“

Er grinste kurz. „Hab ich bei Samuel und Chimära gelassen. Die beiden warten doch nur auf den nächsten Assistenten, dessen Eltern sie sein können. Der bekommt dann mein Handy.“

Kyrie nickte verstehend. Dann öffnete sie die Nachricht, während sie und Nathan losgingen.

„Mir ist aufgefallen, dass ich dir noch nie geschrieben habe“, las sie lautlos, „Darum mache ich einmal den Anfang! … Wie geht es dir? Ja. Das war unkreativ.“ Sie lächelte und fuhr mit dem Lesen fort: „Jedenfalls freue ich mich schon auf morgen! Ich hoffe, er überzieht die Vorlesungsstunde nicht zu sehr. Er ist zu begeistert. Liebe Grüße Ray.“

„Von wem ist sie?“, fragte Nathan, während er zu spicken versuchte.

Sie zeigte ihm das Handy. „Einem Freund. Sein Name ist Ray.“

„Den kenne ich gar nicht“, stellte er skeptisch fest, „Wo hast du den her?“ Er grinste.

„Ich kenne ihn seit genau siebenunddreißig Tagen.“

Nathan zog die Stirn kraus. „Was bedeutet das?“

„Dass ich schon siebenunddreißig Tage lang ein Engel bin.“ Sie lächelte.

Als ihr Vater ihr den Hinweis gegeben hatte, dass sie noch jemandem eine Entschuldigung schuldete, war sie sofort zu Jake geeilt, um mit Blumen und Schokolade ihren tiefsten Dank auszudrücken und sich für die Unannehmlichkeiten und ihre Unhöflichkeiten zu entschuldigen. Er hatte alles lässig hingenommen. Er hatte gemeint, dass er einfach froh sei, dass mit ihr wieder alles in Ordnung sei – und dass sie vor Dieben Acht geben müsse.

Diebe … Auf eine gewisse Art und Weise waren Jeff und die anderen wirklich Diebe. Sie hatten ihr all ihre Sicherheit genommen – und Jeff ihr ihre Erinnerungen entrissen.

Auf eine wirklich grausame Art und Weise.

Und vor allem hatte er sie gezwungen, ihre Moral abzulegen. Sie wollte niemals eine Waffe verwenden. Niemals – gegen niemanden. Und doch war es letztendlich so weit gekommen, dass sie ihr eigenes Schwert präsentiert bekam. Ein in Licht leuchtendes Schwert von mittelmäßiger Größe mit einem goldenen Griff und einer leuchtenden Klinge.

Sie durfte das Schwert nur zur Selbstverteidigung nutzen.

Nathan übte mit ihr jede Nacht nach dem Lernen, um ihr Selbstbewusstsein wieder in die Höhe zu treiben – um sie mit der Waffe vertraut zu machen. Um ihr Sicherheit zu gewähren.

Er begleitete sie Tag für Tag vom Himmel auf die Erde und wieder zurück. Ließ sie üben. Ließ sie nie aus den Augen. Und blieb immer bei ihr.

Er schien relativ zufrieden mit ihr zu sein – manchmal lud er sie im Nachhinein auf ein Lichtessen ein. Manchmal klatschte er. Und immer grinste er. Wenn sie bei ihm war, verflog ihre Angst. Doch sobald sie wieder alleine war …

Vor ihrem Haus drehte sie sich jedes Mal wieder um. Wäre niemals überrascht gewesen, wenn Xenons Leute plötzlich hinter ihr aufgetaucht wären. Sie rechnete damit. Rechnete damit, ihre Flügel ausbreiten und zustechen zu müssen.

Doch das wollte sie nicht. Es war alles andere als fair, dass sie sie in diese Lage versetzt hatten! Dass sie sie gezwungen hatten, zu einem solchen Monster zu werden, doch … Wie sonst sollte sie sich wehren?

Wenn sie an den Himmel dachte, wollte sie an das glänzende Licht denken.

Doch das geschah nicht.

Mit jedem Mal, das sie den Himmel betrat, mit jedem Mal, an dem sie ihr Schwert rufen musste … wurde der Himmel dunkler und dunkler. Für sie verlor er sein Licht. Und doch ließ sie sich Mal um Mal wieder darauf ein. Ließ sich in diese Wolken fallen und wollte Schutz fühlen … Doch alles, was dort war, war das Gefühl unterdrückter Angst.

Sie hatte bestimmt seit einem guten Monat nicht mehr auf der Erde geschlafen. Bis auf letzte Nacht. Und von „Schlaf“ konnte da wohl kaum mehr die Rede sein … Ihre Gedanken kreisten um das Training, ihr Körper zitterte vor Angst und Aufregung … Sie fragte sich, wie sie es schaffte, durchzuhalten. Sie wollte weinen. Doch sie weinte nicht – hübsche Mädchen weinten immerhin nicht …

„Hast du mir zugehört?“, fragte Ray plötzlich.

Er riss sie zurück in die Wirklichkeit. Sie keuchte. „Oh nein!“, rief sie plötzlich, „Tut mir leid – ich war … Ich habe gestern Nacht kaum geschlafen. Ich habe kein Auge zu bekommen.“ Sie lächelte entschuldigend. „Also … Was hast du gesagt?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe nur erwähnt, dass du in letzter Zeit ziemlich abgelenkt wirkst.“ Er schien auf einmal besorgt. „Ist etwas passiert? Kann ich dir irgendwie helfen?“

Sie war perplex. Oh nein … Er hatte es bemerkt. Aber sie wollte doch nicht, dass er sich Sorgen machte. Immerhin … Wie sollte sie ihm erklären, dass sie Angst vor dem Himmel hatte? Er würde sie doch für verrückt halten. „Ich habe Angst, dass mich noch einmal jemand anrempelt …“ Als würde das besser klingen.

Er nickte. „Das … verstehe ich … Diese tief sitzende Angst …“ Er brach ab.

Und seit langem entstand zum ersten Mal wieder eine Schweigepause zwischen ihnen. Leider. Kyrie hätte gerne noch mehr mit ihm gesprochen – bevor sie sich ablenken hatte lassen, waren sie in ein Gespräch über Rechtswissenschaften vertieft! -, aber … Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte auch keine Ahnung, wie sie das mit seiner Wut anpacken sollte … Auch wenn sie vermutete, dass jetzt ein guter Zeitpunkt für ein aufklärendes Gespräch gewesen wäre.

„Verschließt du dich deshalb so vor … Kim?“, fragte sie leise.

Er schaute sie geschockt an. „Was?“

„In der Kirche reden die Leute miteinander“; erinnerte sie ihn.

Er wirkte ziemlich unbeeindruckt. Dann seufzte er lediglich, ohne zu antworten.

Vielleicht kannte er die Antwort selbst nicht. Oder er wollte sie einfach nicht sagen. Wollte sie damit nicht belasten.

„Ich weiß auch nicht, ob ich je wieder jemanden vertrauen würde, der einem Elternteil zu nahe kommt“, gestand Kyrie. sie lehnte sich zurück und ließ sich ins Gras fallen, welches hinter der Mauer wuchs. Es war bequem. Beinahe … einschläfernd … Und großteils noch grün. Aber vermutlich nicht mehr lange. Der Winter rückte unumstößlich näher … Ob es dieses Jahr endlich wieder schneien würde? Wobei sie im Roten Dorf genug Schnee gesehen hatte …

Ray schaute auf sie herab. Dann lächelte er freudlos. „Da ist einfach eine Blockade. Wenn ich daran denke, dass sie ihn verletzen könnte, überkommt mich eine lähmende Angst … Wenn ich daran denke, dass ich Schuld sein könnte … wünsche ich mich einfach an einen anderen Ort …“

Kyrie schloss die Augen. … An einen anderen Ort … Ja, das wünschte sie sich auch manchmal, wenn sie in den Himmel schaute. Wenn sie wusste, dass dort oben diese Engel lauerten, die sie nicht dort haben wollten. Wenn sie wusste, dass sie bloß im Weg stand. Und dass sie Nathan dort mit hinein zog. Was wenn diese Engel ihn verletzten, bloß weil er ihr zur Seite stand?

Wenn sie in diesem Schauspiel Ray wäre, wäre Nathan Maria und die Engel Midas? Wie würde das Ganze dann ausgehen? Ein Szenario lief vor ihren Augen ab. Ein Szenario, dass Jeff und Xenon Nathan attackierten, um so letztendlich an sie zu kommen. Und dass die Todsünden, die wohl Radiant sein konnten, bloß tatenlos zusahen … Dass diese ihr am Ende bloß ihr Mitleid bekunden würden … Dass sie aber nichts gegen die Engel unternahmen. Würde sie den Todsünden verzeihen?

Verzeihen war eine Tugend. Aber es war schwer … Einfach schwer, jemandem zu verzeihen, der einen enttäuscht hatte.
 

„Ähm … Kyrie?“, fragte Ray unsicher.

Sie lag einfach dort im Gras und schlief.

Vermutlich hatte sie ziemlich viel gelernt in letzter Zeit. Das kannte er auch. Bloß, dass er deshalb nicht am Boden einschlief.

Er lächelte über den Gedanken. In dem Moment erinnerte sie ihn irgendwie an Kylie. Sie konnte auch einfach überall schlafen. Aber das zu jeder Tageszeit und ohne Gründe. Kyrie hatte zumindest nachts nicht viel Schlaf abbekommen.

Er schüttelte den Kopf. Gut … Jetzt saß er hier. Neben einem schlafenden Mädchen. Was sollte er tun? Lernen?

Seine letzte Prüfung hatte er in zwei Tagen. Dann war er für dieses Semester gerettet und konnte fleißig weiter studieren. Kyrie hatte ihm erzählt, dass sie es auch durch alle Prüfungen geschafft hatte, dass sie drei Wochen lang einfach Tag für Tag durchgelernt hatte. Sie war unter den besten Fünf in ihrer Klasse. Das durchsetzte ihn mit Stolz.

Unwillkürlich lächelte er. Am Tag vor ihrer ersten Prüfung vor zwei Wochen war sie ganz nervös herumgelaufen. Und bevor ihre Eltern dann gekommen waren, um sie abzuholen, hatte Ray sie kurz umarmt, um sie zu beruhigen. Aber wirklich … wenn sie die Religionsprüfungen nicht schaffte – wer bitte dann? Dabei hatte sie irgendetwas von Schwertern gemurmelt, aber den Bezug hatte er nicht ganz verstanden. Vermutlich hatte das irgendetwas mit Gott und Dämonen zu tun, von dem er einfach nichts verstand.

Als Dank, dass er sie damals so beruhigt hatte, hatte sie ihn vor seiner ersten Medizin-Prüfung und vor der Rechts-Prüfung ebenfalls umarmt und aufgemuntert. Er wollte seine Nervosität nicht so offen zur Schau stellen, doch scheinbar hatte sie ihn durchschaut. Jetzt fehlte bei ihm nur noch die Politik-Prüfung …

Kyrie und er schrieben sich nun auch regelmäßig Nachrichten mit dem Handy. Aber eigentlich immer nur … ohne wirklichen Grund. Einfach Blödsinn. Dass sie schrieben. Er wusste selbst nicht, weshalb er das machte – aber er tat es einfach. Irgendetwas in ihm hatte einfach den Drang, mit ihr in Kontakt zu bleiben.

Und es war ganz praktisch, weil sie und Kylie immer zur selben Zeit antworteten, da brauchte er sein Handy nicht immer und überall hin mitzunehmen – die Zeiten kannte er langsam auswendig.

„Wenn du einmal wieder nicht schlafen kannst …“, murmelte er, „Kannst du mir schreiben. Um die Zeit bin ich dann vielleicht noch wach.“ Er lächelte. Sie würde es sowieso nicht hören.

Er schaute zum Parkplatz. Vom schwarzen Auto ihrer Eltern fehlte jede Spur.

… Ob er Kim wegen Midas hasste, hatte sie gefragt … Ja … Das war die Antwort. Es einfach so unverblümt zuzugeben, ließ seine Gedankengänge einfach kindisch erscheinen … Doch es war, wie er fühlte. Kim hatte Macht über seinen Vater, wie Midas seine Mutter an sich gebunden hatte. Und das machte sie zu gefährlichen Gegnern. Zu gefährlich, um es wirklich zu akzeptieren … Er wollte nicht, dass Kim seinen Vater in Gefahr brachte … Das würde er sich nicht verzeihen.

Er wollte nie mehr wieder, dass ein Mensch, den er liebte, leiden musste. Auch wenn er seinem Vater nicht verzeihen konnte, dass er seine Mutter einfach im Stich gelassen hatte, dass alles wegen seiner Geldgier geschehen war, so konnte er doch nicht zulassen, dass ihm etwas passierte. Aber er wusste einfach nicht, was er gegen den Lauf des Schicksals unternehmen konnte … Er würde einfach wie gehabt weiter machen. Und dann … dann …

Keine Ahnung, was dann.

„Oh, mein Gott!“, erklang plötzlich ein schriller Schrei. Kyrie setzte sich sofort gerade auf. Ihr Gesicht war hoch rot angelaufen. Sie starrte ihn an. Ihre dunklen Augen waren geweitet. Ihr schwarzes Haar leicht zerzaust. „Ich bin nicht gerade allen Ernstes eingeschlafen, oder?“

Sie schaute ihn flehend an. „Oh nein … Bitte entschuldige das! Das Gras war so weich und ich war so müde und dann habe ich nachgedacht und- …“ Sie stoppte, als er zu lachen begann.

Und er lachte wirklich aus tiefsten Herzen. Wie sie wirkte – so verschlafen, so niedlich und dann entschuldigte sie sich noch mit aller Inbrunst. Er schüttelte den Kopf, als er sich teils beruhigt hatte – das Grinsen bekam er nicht mehr los. „Ach was, Kyrie.“ Kylie hätte sich nie entschuldigt. Und da lag dann wohl der gravierende Unterschied zwischen den beiden: Kyrie war höflich, während Kylie einfach plump war. „Das kann schon einmal passieren.“ Er spielte mit dem Gedanken, sein Angebot von vorhin bezüglich der nächtlichen Nachrichten zu wiederholen, doch er verzichtete darauf. „Hast du zumindest gut geschlafen?“, wollte er amüsiert wissen.

Sie errötete noch einmal. „Ja“, antwortete sie dann aber – und begann selbst zu lachen.
 

Ray saß in seinem Zimmer und lernte gerade aus einem Buch, das sein Geld eindeutig nicht wert war, als er plötzlich den leisen Ton einer Nachricht vernahm. Sein Mobiltelefon war auf seinem Bett deponiert – er ging zu ihm und hob das kleine, schwarze Gerät hoch.

Überraschenderweise war es keine Nachricht von Kylie und auch keine von Kyrie – und auch Diane hatte keine geschickt. Sondern Ken.

„Hey, Ray! Schlechte Nachrichten. Mel hat abgesagt! Ich weiß, es ist total knapp! Die Karte habe ich mir so umsonst gekauft! Und ihr werdet jetzt nie heiraten! Tut mir leid. Aber zu viert haben wir bestimmt auch viel Spaß.“

Ray zog die Stirn kraus. In drei Tagen. Samstag. Was war da? … Das Konzert! Das Konzert der Sieben Sünden!

Er schlug sich auf die Stirn. Wie konnte er das nur vergessen? Jeder andere würde drei Tage vorher Luftsprünge machen, sodass er am Konzerttag die Decke erreichen konnte! Und er?

Er schnaufte entnervt. Wo hatte er die Karten überhaupt hingetan?

Nach einiger Überlegung fiel ihm ein, dass sie vermutlich noch immer in seiner Tasche gelagert waren. Sieben Sünden … Drei Tage vorher. Es war zwar eine echt beliebte Band, aber diese Woche war Konzertsamstag. Es gab einfach in der ganzen Stadt Konzerte – und er kannte wirklich niemanden, der für die Sieben Sünden ein anderes Konzert fallen lassen würde. Keiner war ein fanatischer Sieben-Sünden-Maniac, der ernsthaft aus einer Konzerthalle rausgehen würde, um in diese Ostblock-Bude zu gehen! Und jeder Mensch mit Prinzipien hatte drei Tage vorher bereits etwas zu tun! Wobei …

Gut, Kylie würde sich dafür überreden lassen, da war er sich sicher. Das Mädchen war die Spontaneität in Person. Aber … in drei Tagen genug Geld zusammenzubekommen, war dann wohl die andere Sache. Vor einigen Tagen hatten sie wieder miteinander über ihr Vorhaben des Besuchs geschrieben – sie hatte ihm gesagt, dass sie nur noch ein bisschen sparen musste, um zu ihm kommen zu können für ein paar Tage. Er bezweifelte, dass dieses „bisschen“ bis in drei Tagen erledigt wäre.

Er seufzte. Gut … Dann ließ er die Karte eben verfallen.

„Es ist mir so peinlich“, zeigte sein Handy plötzlich an. Dann realisierte er, dass er in dem Moment noch eine Nachricht erhalten hatte. Von Kyrie. „Es ist mir so peinlich, dass ich eingeschlafen bin! Ich werde morgen versprochen wieder fit sein! … Okay?“

Er lächelte. „Einverstanden“, schrieb er zurück.

Und dann überlegte er, was er Ken antworten sollte. Aber darauf hatte er im Moment eigentlich gar keine Lust.
 


 

„Und du bist schon so gut in der Schwerttechnik?“, wollte Deliora überrascht wissen. Sie lächelte. „Diese Schurken werden nie mehr an dich rankommen!“

Liana nickte, während sie ein rundes Stück Licht zu ihrem Mund führte. „Die machst du mehr als nur platt!“

Kyrie fühlte sich beinahe geehrt von all dem Zuspruch. Und vor allem fühlte sie sich wieder besser. Ihre Müdigkeit war durch den Himmel völlig verschwunden. Sie war seit Längerem zum ersten Mal einfach froh gewesen, als Nathan wieder in ihrem Zimmer aufgetaucht war und sie gemeinsam den Himmel betreten hatten. Sogar Nathan war aufgefallen, dass sie heute schrecklich ausgesehen hatte. Aber sie konnte sich einfach nicht dazu bringen, ihm von ihrer Angst zu erzählen. Immerhin opferte er all die Zeit dafür auf, um ihr diese Angst zu nehmen. Dass ihre Fortschritte nur oberflächlich waren, war traurig …

„Kannst du dein Schwert dann einmal vorzeigen?“, wollte Thi wissen, „Machen wir dann einen Übungskampf?“, schlug er vor.

Kyrie schaute Hilfe suchend zu Nathan. Dieser nickte dann plötzlich.

„Grandiose Idee, Thierry, alter Freund.“ Nathan erhob sich sofort. „Das verbindet Mittwochstreffen mit Übungseinheiten! Und du kannst sehen, was für Fortschritte du bisher gemacht hast, Kyrie!“

Sie fühlte sich irgendwie umgangen. Aber sie erhob sich. „Okay … Aber Thierry … Bitte lass Gnade walten!“

„Solange ich dabei zusehe, wird er nicht einmal daran denken, an die Idee zu denken, dich zu verletzen!“, schnauzte Liana sofort, „Thierry! Denkst du wirklich, dass das der richtige Weg ist?“

Nathan antwortete seiner statt. „Wenn sie das Schwert je benutzen muss, Liana, dann wird sie es nicht gegen mich schwingen. Je mehr Kampfstile sie erlernt, desto sicherer wird sie – und desto vorbereiteter ist sie, falls es je zum Letzten kommt.“

Schweigen breitete sich aus.

Falls er sie also je alleine lassen würde.

Falls Jeff und die andern dann kommen würden, um sie ganz auszulöschen …

Seit Thierrys Spiel hatte sie nie wieder jemanden von den Halbengelhassern gesehen. Nathan hatte ihr erzählt, dass Xenon genauso wie er über Luxurias Verschwinden – von dem Kyrie zuvor nie gehört hatte, aber sie nahm an, dass es sie nichts anging – forschte, weshalb sie sich manchmal zufällig in Archiven trafen. Doch Kyrie hatte ihn gebeten, Xenon nicht darauf anzusprechen. Wenn sie es je über sich brachte, dann wollte sie selbst von ihm hören, weshalb er sie hasste … Aber wie sie sich selbst kannte, würde das sowieso nie eintreffen.

Sie war einfach ein Feigling.

Nathan beobachtete Kyries Hiebe und die Art, wie sie sich zu verteidigen versuchte.

Es war nicht einfach für sie – sie befanden sich vor Nathans Wohnhaus, welches noch immer die Gestalt einer Kirche hatte. Erst hatte Nathan in Erwägung gezogen, dass Thierry und Kyrie ihre Kräfte am Trainingsplatz maßen, doch als ihm klar geworden war, dass dies eine Gelegenheit für Xenons Leute bot, Kyrie zu sehen, hatte er seine Meinung schleunigst geändert. Dieser Ort war ihm am sichersten erschienen.

Liana stand ganz in der Nähe der beiden Kämpfer und feuerte Kyrie lautstark an. Deliora stand neben ihm und beobachtete ebenfalls, wobei sie hin und wieder zufrieden nickte.

Joshua stand ebenfalls neben ihm. Und er hatte kein Wort mit ihm gesprochen. Seit Thierrys Spiel.

Eigentlich sollte Nathan das sehr positiv finden – immerhin war es einfacher, jemanden einfach zu vergessen, der nicht mehr mit einem sprach, doch … In Joshuas Fall war es mehr das Gegenteil: Nathan fragte sich, was los mit ihm war, wollte ihn ansprechen, machte sich Sorgen – es zerriss ihn beinahe! Aber er erhielt einfach keine Antwort. Egal, was er sagte!

Es wirkte viel mehr, als würde Joshua auf etwas warten.

Doch Nathan hatte keine Ahnung, worauf genau – er hatte bloß mittwochs Zeit, den jungen Mann zu sehen. Die Mittwochstreffen waren nicht nur für Kyrie ein Moment, um Zeit mit ihren Freunden zu verbringen. Auch für Nathan. Er hatte während der anderen Tage immer etwas für Acedia zu tun, trainierte Kyrie und forschte an Luxurias Verschwinden herum – immer hatte irgendjemand eine Aufgabe für ihn. Auch mittwochs stapelten sich die Aufträge – doch … es war es ihm wert. Dadurch verlor er den Kontakt zu diesen Engeln nicht. Dank Kyrie. Sie gab ihm den Grund, immer fast pünktlich bei seinen Freunden zu erscheinen, um Spaß mit ihnen zu haben. Um sie nicht zu vergessen.

Seit Thierrys Spiel waren zwanzig Tage vergangen. Heute war der dritte Mittwoch. Und das dritte Mal, dass Joshua nicht mit ihm redete. Also musste beim Spiel irgendetwas vorgefallen sein! Aber was?

Es machte ihn fertig.

Liana, Deliora und Thi waren ebenfalls ratlos. Joshua sprach mit ihnen nicht mehr und nicht weniger als sonst – nur Nathan ignorierte er! … Ihn! Eigentlich sollte es doch genau anders herum sein. Nathan sollte ihn ignorieren. Vergessen. Loslassen.

Aber das konnte er nicht.

Verflucht. Er liebte diesen Mann!

„Uah!“, ertönte plötzlich ein Laut und Kyrie lag am Wolkenboden. Ihr Schwert flog wenige Schritte fort und löste sich dann auf. Sobald das Schwert den Kontakt zum Besitzer verlor, verschwand es. Das war eine weitere Eigenschaft der Schwerter. Also musste er mit Kyrie das Blocken üben – sie durfte dabei nicht die Kraft verlieren, das Schwert in den Händen zu behalten.

Nathan klatschte. „Toll gemacht!“

Kyrie schaute ihn ungläubig an. Thi grinste vor sich hin.

Der blonde Engel ging auf Kyrie zu und bot ihr die Hand an, um ihr wieder aufzuhelfen. Sie nahm dankend an. Dann blickte sie Nathan erwartungsvoll an. Sie wollte wohl ein Resümee hören.

Nathan atmete tief durch. „Also …“, begann er. Vielleicht hätte er besser aufpassen sollen. Aber er war abgeschweift. Wegen Joshua! Was fiel ihm auch ein, ihn einfach zu ignorieren.

„Du hältst dich sehr gut an das, was ich dir beigebracht habe. Aber mit deinem Wissen kannst du gegen den Fechtmeister hier nicht gewinnen, das ist sonnenklar.“ Er grinste.

Thi zwinkerte.

Kyrie wirkte fertig mit den Nerven.

„Du blockst bereits sehr gut! Und deine Angriffe sind schon gezielter.“ Er lächelte sie an. Stolz schwang in seiner Stimme mit. „Ich bin sehr zufrieden mit deiner Leistung!“

Kyrie freute sich sichtlich. Sie lächelte ebenfalls – und wurde sogleich wieder von Liana umarmt.
 

Kyrie schaute Liana hinterher. Heute war sie die Letzte gewesen, die sie verließ. Und Joshua der erste. Seltsam …

Nathan stand noch neben ihr. Er wirkte nachdenklich.

„Woran denkst du?“, wollte sie von ihm wissen, wobei sie einen Blick in sein Gesicht warf. Heute wirkte er wirklich sehr … unzufrieden.

„Sollen wir noch trainieren oder bist du vom Übungskampf noch immer fertig?“, wollte Nathan von ihr wissen.

Sie waren nach dem Kampf allesamt wieder zum Lichtessen gegangen. Deshalb fühlte sie sich auch wieder völlig stark – und bereit für einen Kampf. Noch dazu verbrachte sie die Nächte viel lieber im Himmel. Hier war sie zumindest nicht völlig übermüdet, sobald sie in die Universität kam, auch wenn sie kein Auge zu machte. Und bei ihr zuhause … Sie bildete sich einfach ein, dass Xenon um jede Ecke lauern konnte! Und dass niemand etwas gegen ihn unternehmen würde.

„Meinetwegen können wir gerne trainieren“, beantwortete sie seine Frage lächelnd, „Wenn du Zeit dazu hättest!“

Er nickte. „Ja. Es wäre wohl das Beste, deine Fehler gleich alle aufzuzeigen.“ Er lächelte sie an.

Kyrie konzentrierte sich kurz darauf, ihr Schwert rufen zu wollen – und schon lagerte es in ihrer Hand. Es tauchte mittlerweile wirklich auf, sobald sie das wollte! Am Anfang hatte sie dabei Startschwierigkeiten gehabt – doch jetzt waren ihr Schwert und sie synchronisiert.

Sie begutachtete den schönen, goldenen Griff, der einige Muster beinhaltete. Dazu noch die strahlend weiße Klinge, die für Reinheit stand – und dadurch so ziemlich das Gegenteil von einer blutigen Waffe war.

Nathan rief seine Klinge ebenfalls. Das hatte er angefangen, um gegen sie kämpfen zu können. Aber es war leicht erkennbar, dass es ihm noch immer nicht passte, die Waffe rufen zu müssen. Da hatten sie dann wohl eine Gemeinsamkeit.

Kyrie war einfach froh, Thierry heute nicht verletzt zu haben – und dass er auch sie verschont hatte. Das war der härteste Kampf ihres Lebens gewesen. Nathan war beinahe schwach im Gegensatz zu Thi! Seine Hiebe waren so schnell, zu blockieren brauchte er fast nie, weil er einfach zu schnell gewesen war, als dass Kyrie die Chance zum Angriff hätte nutzen können. Er war einfach ein … ein durchtrainierter Schwertmeister! Wirklich … fantastisch, was er so alles konnte … Nicht nur, dass er zum besten Sportler gekrönt worden war – auch eine Medaille fürs Klingenkreuzen hätten sie ihm zweifellos aushändigen können. Gula hätte das sicher gerne gemacht – immerhin hatte er Thi auch einige Tage nach dem Spiel angesprochen und ihm zu seinem Sieg gratuliert. Aber an Kyrie hatte er sich nicht mehr gewandt. Und auch an Nathan nicht … Sie fragte sich, ob sich die Todsünden überhaupt bemühen würden, diese Engel zu finden. Immerhin … zählten sie sie sowieso schon zu den Toten.

„Nimm das Schwert nicht so schief, wie du das heute getan hast, sondern führe es mehr gerade. Dadurch erhöht sich deine Stoßkraft“, erklärte Nathan ihr, „Versuche es.“

Sie tat es ihm so nach, wie er es ihr vorgemacht hatte.

Dabei fragte sie sich, ob sie ihr Schwert wirklich jemals benutzen würde. Ob all die Zeit nicht umsonst war, doch … In Anbetracht dessen, dass Nathan sie nicht mehr für schutzbedürftig halten würde, sollte sie das Training aufgeben, ertrug sie es. Sie würde sowieso froh sein, wenn niemals Blut auf diese Klinge gelangen würde – und wenn Xenon sie einfach auf ewig ignorieren würde. Wenn sie irgendwann in fünfzig Jahren ihre Angst loswerden würde und einfach wieder vollends glücklich sein könnte … Das wäre … schön.

Unglaublich einfältig, aber dennoch zu wunderbar. Zu wunderbar, um wahr zu sein.

Sie stieß zu.
 

Ray saß auf der Mauer. Heute hatte er die erste Politikprüfung gehabt. Heute Abend würde er die zweite haben. Und nächste Woche dann die letzten Prüfungen. Dann würde er Ferien haben. Er fragte sich, wann Kyrie Ferien hatte, was sie in den Ferien vor hatte … Sie hatten nie über Ferien gesprochen. Sonntags ging Kyrie zur Kirche und danach lernte sie – nach eigenen Angaben. Ob sie es an anderen freien Tagen genauso zu tun pflegte?

Er verschränkte die Arme. Er selbst hatte ebenfalls eingesehen, dass er ohne Lernen einfach nicht zum Ziel kam. Und er wollte seine Ziele verwirklichen – der beste Mediziner, der in der Lage war, jede Krankheit zu heilen, der beste Rechtssprecher, der jeden Verbrecher in seine Schranken wies und schlussendlich noch der beste Politiker, der es schaffte, den Weltfrieden aufrecht zu erhalten, diejenigen, die ärmer waren, die Chance zu geben, ebenfalls an Reichtum zu gelangen, ohne die Reichen zu beeinträchtigen, und vor allem die Infrastruktur über die Kontinente und durch die Dörfer zu verbessern, sodass uneingeschränkter Personenverkehr ermöglicht war – zu werden. Dazu musste er die Zugstrecken und Autostraßen aufbessern. Oder Fluggeräte erfinden. Er hätte vermutlich auch einen Technikkurs wählen sollen … Jedenfalls waren es hohe Ziele für einen einzelnen Mann, doch irgendwie wirkte es auf ihn, als sei er der Einzige, der solche Ziele verfolgte. Zumindest war ihm niemand bekannt, der ebenfalls die Welt auf solche Art und Weise verbessern wollte … Kyrie hatte das ja vor, indem sie jeden an Gott glauben lassen wollte. Sie wollte ebenfalls Predigerin werden, genauso wie ihr Vater. Ob sie auch Religionslehrerin werden würde? Aber sie hatte auch die perfekte Art dafür, Menschen zu überzeugen … Immerhin hatte sie auch ihm Gott näher gebracht. Ihm, der er nicht an Gott glauben wollte! Ihm, der von Gott in Stich gelassen worden war …

„Hallo, Ray!“, erklang ihre Stimme direkt neben ihm.

Er zuckte zusammen, da sie ihn überrascht hatte, dann lächelte er sie fröhlich an. „Hey, Kyrie! Was gibt es Neues?“, fragte er sie reflexartig.

„Wir haben nur noch nächste Woche einige Vorlesungen, dann beginnen die Ferien“, teilte sie ihm glücklich mit, „Ein ganzer Monat voll mit Freizeit“, fügte sie erleichtert hinzu. Dann lächelte sie, „Nach diesen Prüfungen braucht man die auch.“

Er nickte. „Dann haben wir es uns ja gleich eingeteilt!“, stellte er erfreut fest, „Ich habe nächste Woche noch eine Prüfung und dann noch hie und da ein paar Vorlesungen – und ab nächsten Samstag bin ich ein freier Mann!“

Sie lachte kurz darüber. Es fühlte sich einfach gut an, sie zum Lachen zu bringen. Nicht, dass sie selten lachte oder etwas in dieser Richtung – nein, im Gegenteil! Sie lachte sooft … Eigentlich wirkte sie gar nicht so. Ihr langes Haar, das ihr ins Gesicht hing, ihre etwas unsicher zusammen gezogenen Augenbrauen und ihre Augen, die Zaghaftigkeit ausgestrahlt hatten … Kyrie wirkte wie ein schüchterner, zögerlicher, besorgter Mensch. Einer der Art, die man für langweilig hielt … Aber er hatte sie mit diesem fröhlichen Glitzern in den Augen kennen gelernt, mit ihren trockenen, oftmals sogar ironischen Sprüchen und dieser Fürsorge, mit der sie sich um ihre Mitmenschen kümmerte. Sie war ein toller Mensch. Beinahe schon … ein Engel.

„Was machst du in den Ferien?“, wollte er von ihr wissen, „Hast du schon Pläne?“

Sie dachte kurz nach. „Ich habe vor, meine Großmutter im Lichten Dorf zu besuchen. Falls ich es schaffe, dorthin zu kommen.“ Sie schaute ihn an. „Besuchst du deine Familie?“

Er schaute zu Boden. Besuchte er seine Familie? Daran hatte er gar nicht gedacht. Er würde das Geld von seinem Vater ausleihen müssen. Und er war damit wohl ziemlich spät dran. So knapp würde es sogar noch teurer werden. Aber … vermutlich würde ihn niemand lassen. Seine Mutter würde sofort „Nein!“ rufen, seine Schwester ihn verjagen und Kylie ihr dabei doppelt so gewalttätig helfen. Wenn sein Vater ihm überhaupt das Geld zur Verfügung stellen würde. Alle würden sie davon überzeugt sein, dass er nicht vorhatte, je zurückzukommen.

Und trotz seiner Ziele … war er selbst ebenfalls nicht ganz sicher, ob er sich nicht doch an das Rote Dorf klammern würde. Einfach arbeiten würde – vielleicht ebenfalls als Pfleger arbeiten würde wie Kylie …

Sein Blick schweifte zu Kyrie. Aber dann würde er Kyrie auch nie wieder sehen …

Und irgendwie versetzte ihm allein dieser Gedanke bereits einen Stich. Er hatte sie einmal zwei Wochen lang nicht gesehen – und dabei hatte er sich schon in Panik versetzt! Was würde er ein Leben lang ohne Kyrie tun? Oder einfach nur in den Ferien …!

„Nein“, sagte er entschlossen, „Erst, wenn ich das Studium beendet habe, will ich zurück. In der Zwischenzeit kommt Kylie ja vorbei und Diane überlebt ohne mich.“

Sie nickte verstehend, sah ihn aber irgendwie schuldbewusst an.

Er fügte noch schnell hinzu: „Wieso lebt deine Großmutter im Lichten Dorf?“

Der schuldige Blick verschwand, als sie ihm eine Antwort erbrachte: „Meine Mutter stammt von dort“, erklärte sie, „Mein Vater hat sie bei einem Kirchenausflug dorthin kennen gelernt, war eine zeitlang bei ihr geblieben und letztendlich waren sie zusammen zurückgekehrt.“ Sie hielt kurz inne. „Mit zwei Leuten, die richtig gut verdienen, geht das wohl einfach …“

Diese Geschichte erinnerte ihn an die seiner Eltern. Wenn sie damals in die Nördliche gezogen wären und nicht im Roten Dorf geblieben wären … Würde dann heute alles anders sein? Aber … es brachte nichts, über Vergangenes nachzudenken. Rein gar nichts.

„Ich verstehe“, murmelte er nickend, „Das ist schön. Aber du wirst deine Großmutter wohl nicht sehr oft sehen, oder?“

Kyrie schüttelte den Kopf. „Nein, nur … Es ist kompliziert.“ Sie lächelte entschuldigend.

Er schmunzelte. „Na gut, ich werde es schon noch herausfinden.“

Sie verneinte erneut. „Und was tust du in den Ferien?“, wechselte sie dann schlagartig, aber äußerst interessiert, das Thema.

„Noch einmal den mir wichtig erscheinenden Stoff wiederholen – vielleicht suche ich mir auch irgendwo eine Praktikumsstelle“, murmelte er geistesabwesend. Das wäre doch eine Idee. Ein Praktikum. Warum war er darauf nicht früher gekommen? So etwas nannte man dann wohl Geistesblitz.

„Ein Praktikum?“, griff sie das Thema auf, „Wo denn?“

Er warf ihr einen planlosen Blick zu. Dann zuckte er mit den Schultern. „Keine Ahnung“, beantwortete er die Frage wahrheitsgetreu, „Ich bin ziemlich spät dran, oder?“

„Ich bin enttäuscht“, antwortete sie trocken, dann lachte sie kurz. Und er stieg in ihr Lachen mit ein.

Sie war wirklich … unglaublich. Er fragte sich, ob sie ebenfalls ein Praktikum machen würde. Oder einfach öfter zur Kirche ging. Ohne Studium und Lernen würde sie dafür ohnehin mehr Zeit haben. Leider konnte er sie zur Kirche nicht begleiten. Oder besser: wollte. Nein, wollte war nicht das richtige Wort … Am liebsten hätte er noch viel mehr Zeit mit ihr verbracht, aber … wie nur? Er wusste ja kaum etwas von ihr, außer dass sie Gott mochte, verrückte Theorien aufstellte, ein toller Mensch war, viel lachte und … die Sieben Sünden mochte.

Moment. Die Sieben Sünden.

Er schaute sie schockiert an. Stimmt. Sie … mochte die Sieben Sünden …

„Hast du gehört, dass am Samstag ein Konzert der Sieben Sünden steigt?“, wollte er unsicher von ihr wissen. Woher kam jetzt diese Unsicherheit?

„Ja. Man erzählt sich, dass die Karten bereits vor einem Jahr ausverkauft waren“, sinnierte sie,

„Wieso fragst du?“ Sie wirkte, als fühle sie sich ein wenig unbehaglich. Vermutlich aufgrund seiner geschockten Reaktion.

„Kyrie …“, schnitt er an.

„Ja?“, antwortete sie unentschlossen.

„Hast du vielleicht Lust, auf das Sieben-Sünden-Konzert übermorgen zu gehen?“

Sie zog die Stirn kraus. Für einen Moment sagte sie nichts – dann begann sie damit zu lachen.

Er blieb ernst. Schaute ihr fest in die Augen – bis sie aufhörte zu lachen.

Gebannt starrte sie zurück. Unsicher.

„Ich meine es ernst.“

Sie blinzelte irritiert. „… J … Ja?“

„Echt?!“, rief er überrascht und erfreut aus. Sofort sprang er von der Mauer, wobei er beinahe einen eilig vorbei laufenden Geschäftsmann anrempelte, den er aber sofort wieder ausblendete. „Wirklich?“ Er strahlte sie an.

Sie wirkte noch immer unsicher. „Meinst du das ernst?“, wollte sie wissen, „Es ist ausverkauft. Seit einem Jahr …“

Er nickte. „Ein Kumpel hat mir zwei Karten gegeben! Meine Begleitung hat gestern kurzfristig abgesagt – ich wollte die Karte schon wegschmeißen! Ich habe total vergessen, dass du die Sieben Sünden genauso magst wie ich!“ Er grinste. „Also – am Samstag. Wir holen dich mit dem Auto ab. Wie lautet deine Adresse?“

Sie wirkte überfordert. „Ähm.“

John fuhr mit dem Auto in den Parkplatz ein. Er stellte den Wagen so ab, dass er sofort wieder wegfahren konnte. Als er einen Blick zur Mauer wagte, erkannte er, dass Kyrie schon wieder mit diesem Ray unterwegs war.

Sein Misstrauen gegenüber Ray war abgeklungen – vielleicht war er doch ein recht ordentlicher Mann. Er schien zumindest ziemlich klug zu sein, auch wenn er die Kirche regelrecht mied. Aber man konnte Menschen nicht zum Glauben zwingen. Wenn dieser junge Mann schon glaubte, seine Erlösung in Politik, Medizin und Recht zu finden, so sollte man ihn lassen. Irgendwann würde er seinen Kalkulationsfehler sowieso einsehen.

Kyrie erhob sich und winkte dem Jungen zu. Dann schritt sie gemächlich zum Auto.

Sie wirkte leicht zerstreut, aber irgendwie auch glücklich. Und viel munterer als gestern. Gestern hatte sich John schon fast Sorgen um seine Tochter gemacht – nun, das war wohl, weil sie gestern Nacht nicht im Himmel gewesen war. Seit einigen Tagen blieb sie über Nacht im Himmel, kam vom Himmel aus zur Universität und musste nur danach wieder abgeholt werden. Aber diese Vernachlässigung von Schlaf kam ihm suspekt vor – genauso ging es auch Magdalena, auch wenn diese immer irgendetwas von Geheimnissen faselte, welche Frauen nun einmal besitzen müssten.

Die Türe öffnete sich. Kyrie setzte sich und begrüßte sie sogleich: „Guten Tag, Papa, guten Tag, Mama!“ Sie lächelte.

John antwortete, während er den Gang einlegte und los fuhr. „Hallo. Wie war dein Tag?“ Auch Magdalena ließ ihr eine Begrüßung zukommen.

„Schön“, antwortete sie knapp.

Gerade, als John etwas einwerfen wollte, fügte sie aber aufgeregt hinzu: „Ihr wisst ja, dass die Sieben Sünden in der Stadt sind, oder?“

„In der größten Bruchbude, die es in dieser Stadt gibt. Und in dieser Stadt gibt es wenige Bruchbuden. Es wundert mich, dass sie überhaupt eine gefunden haben“, murrte John missbilligend, „Diese Sänger verdienen Besseres.“ Die Sieben Sünden hatten zwar eine etwas eigene Interpretation der Heiligen Schriften und dergleichen, aber es war durchaus eine zulässige und vor allem eine gute. Am besten gefiel ihm die Melodie bei den verschiedenen Stücken. Es war rockig – auch wenn einige Balladen darunter waren. Sehr abwechslungsreich und sehr gut zu empfehlen!

„Ich gehe da hin!“, rief sie erfreut aus. Zwar gut zu empfehlen, aber nicht für Live-Auftritte! Und schon gar nicht für seine Tochter!

John und Magdalena hielten beide gleichzeitig schockiert den Atem an. John unterdrückte den Drang, sofort empört auf die Bremse zu drücken.

„Das ist ja toll! Mit wem denn? Wann denn? Das wird bestimmt ein extravagantes Erlebnis“, rief seine Frau aufgeregt, während John im selben Moment skeptisch wissen wollte: „Was? Wieso? Wie kommt das? Das musst du mir erklären!“

Kyrie kicherte kurz. „Alles mit der Ruhe“, wies sie ihre Eltern an.

John lächelte Magdalena kurz zu, welche ihm dieselbe Geste erwies. „Hinkst du dadurch auch mit dem Lernen nicht hinterher? Das ist nachts. Was wird Nathan dazu sagen?“, gab ihr Vater weiterhin zu bedenken, „Auch wenn die Band toll ist – du darfst deine Pflichten nicht vernachlässigen! Und wenn du dich nicht ausruhst, wirst du am Sonntag auch nicht zur Kirche gehen können!“

„John“, fuhr Magdalena ihn an, „Beherrsche dich! Kyrie ist wohl alt genug, um das selbst entscheiden zu können!“

„Sie hat noch nicht einmal einen Führerschein! Ich bringe sie bestimmt nicht in den Ostblock! Da kann ich sie gleich zum Henker bringen“, maulte er zurück. Er hielt den Blick auf die Straße gerichtet. Mussten sie so etwas eigentlich immer besprechen, während er fuhr?

Von hinten ertönte ein entnervtes Seufzen. „Macht euch keine Sorgen“, startete Kyrie einen Versuch, sie zu beruhigen, „Ray und seine Freunde holen mich zuhause ab und- …“

„Du hast ihnen unsere Adresse verraten?“, schloss er genervt daraus, „Woher weißt du, dass es keine Diebe sind?“

„Schon einmal etwas von Vertrauen gehört, Herr Pfarrer?“, wollte Kyrie ruhig von ihm wissen – äußerlich ruhig, wohl gemerkt. Diese Stimmung hatte sie von ihrer Mutter. Wenn sie innerlich explodieren wollte, sich aber zurück hielt und ruhig und stur Gegenfragen stellte. Störrisch.

„Es ist mir zu Ohren gekommen“, murmelte er trocken, „Wenn du unbedingt gehen musst, dann gehe eben“, gab er sichtlich unzufrieden sich geschlagen. Er wusste sowieso, dass er keine Chance haben würde. Wenn er nicht sofort aufgegeben hätte, hätte sich Magdalena eingemischt. Wenn sich seine Frau einmischte, musste er unterliegen – das schien ein Naturgesetz zu sein. Aber … dennoch. Es konnte viel passieren. Und was für Leute sich im Ostblock herumtrieben! Vor allem dort. Einige Male hatte er bereits zur Kirche dort gehen müssen – dieser Ort war einer der besseren, gepflegten Plätze. Kein schöner Anblick.

„Aber die Kosten übernimmst du selbst“, versuchte John doch noch einen Kompromiss zu erzielen.

Kyries Blick fühlte sich an, als wollte sie ihn damit erstechen. Aber sie sagte nichts mehr darauf.

Stattdessen hörte er eiliges Tippen auf ihrem Handy.

Die Jugend von heute!

Und von der Seite kam Magdalenas stummer, tötender Blick hinzu. Wenn Blicke töten könnten … Gott bewahre.
 

Ja! Samstag, 16 Uhr bei Kyries Haus. Sie würden sie abholen! Er hatte es geschafft! Er hatte sie endlich einladen können! Sie würden in ihrer Freizeit zusammen etwas unternehmen!

Hoffentlich war das Konzert kein totaler Reinfall.

Hoffentlich würden sich Ken und Mark beherrschen. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Und was war mit Kens imaginärer Freundin? … Es gab durchaus sehr viel Potenzial, dass alles schief gehen konnte, dass Kyrie sich dachte, er sei verrückt und dass sie nie mehr wieder etwas mit ihm unternehmen wollte! Aber … sie … Nein. Sie würde so nicht denken. Sie war ihm bereits einmal abhanden gekommen – und sie war zurückgekehrt. Und das würde sich so nur wiederholen!

Er war bereits am Nachhauseweg. Er würde lernen, sodass er die Prüfung heute Abend mit Bravour bestehen würde – immerhin hatte er jetzt Motivation! Er musste nicht mit einer großen Unbekannten beim Konzert auftauchen, sondern mit Kyrie!

Er zog sein Handy heraus und schrieb: „Ken! Ich habe die fünfte Karte jemandem gegeben. Holt Mark uns alle ab?“

Es dauerte nicht lange, ehe er eine Antwort erhielt. „Ah, das ist gut! Das Geld für die Karten gebt ihr mir dann! … Was für ein Mensch hat am Samstag drei Tage vorher noch nichts vor? Egal! Hauptsache noch jemand, mit dem man etwas anfangen kann! Klar – jeder wird abgeholt. Erst holt Mark mich und meine Freundin ab, dann kommen wir zu dir – außer dein Kumpel wohnt näher dran.“

Schön, dass sich Ken so darüber freuen konnte. Dann würde er zumindest sein Geld sehen.

Ray schüttelte kaum merklich den Kopf und beantwortete die Nachricht sogleich: „Gut, danke, Ken! Nein, die Route passt – erst zu mir, dann zur geheimnisvollen Person Nummer fünf!“ Wenn er schon nicht fragte, um wen es sich bei Kyrie handelte, dann brauchte Ray es ihm nicht auf die Nase zu binden. Damit würde er sich einfach am Samstag auseinander setzen. Gerüchte würden sowieso unweigerlich sein – Mark war immerhin anwesend – und … Vielleicht würde sich Kyrie auch mit diesen beiden Chaoten anfreunden. Dann konnten sie öfter zusammen irgendwohin gehen. Vielleicht hatte Ken ja eine Jahresration Konzertkarten zuhause lagern.

Als Antwort folgte nur noch ein schnelles „Okay“. Und die Konversation war beendet.

Gerade als Ray das Mobiltelefon wieder einstecken wollte, ging sein Nachrichtensignal ab.

Er holte es hervor und las: „Wie viel kostet eine Karte?“ Von Kyrie. Was sollte er ihr antworten?

Aber … Stimmt, das hatte er Ken noch fragen wollen. Er kopierte den Text, den Kyrie ihm geschickt hatte, und leitete ihn an Ken weiter.

„Du hast Fragen. 79 Aran. Und ich will alles in Bar zurück!“ 79 Aran … Das war schon ziemlich teuer. Günstig im Vergleich zu einem Zugticket, aber dennoch teuer!

„Danke“, schrieb er schnell zurück, ehe er wieder auf Kyries Nachricht ging.

„Nichts. Sie war ein Geschenk“, beantwortete er die Frage. … Teuer oder nicht … Er wollte nicht dafür haften, wenn das Konzert ein Reinfall war.

„Bist du dir sicher? Danke!“, erhielt er eine weitere Nachricht von ihr.

„Keine Ursache“, tippte er, dann steckte er das Handy, welches aber nochmals Laute von sich gab. Als er auf den Bildschirm sah, lächelte ihm ein Emoticon entgegen.

Sie war einfach toll.
 

„Ich glaubte, wir sollten wieder auf Tageseinheiten umstellen“, stellte Nathan fest, „Immerhin hast du deine Prüfungen endlich vorbei, oder?“

Kyrie wippte in der Luft hin und her. „Ich weiß nicht … Nachts ist es angenehm“, sagte sie zögernd, „Aber wenn du tagsüber mehr Zeit hast …“ Sie schaute ihn erwartungsvoll an.

Er wusste auch nicht so recht, was intelligenter war. Kyrie wirkte immer sehr nervös – egal, wo er sie absetzte. Vor der Uni, vor der Haustüre … Ob nachts oder morgens. Es machte keinen Unterschied. Diese Angst schien sie zu quälen – aber sie versteckte ihre Gefühle einfach. Sie kaschierte es mit einem Lächeln. Aber wenn sie den Schutz des Himmels verließen, brach ihre Barrikade und ihr Verhalten änderte sich merklich. Sie wirkte, als sei sie in die Enge getrieben worden.

Er hoffte aufrichtig, dass ein verbesserter Umgang mit dem Schwert ihr ihre Angst nehmen konnte. Wirklich. Sie verdiente es nicht, so leiden zu müssen.

„Nein … Mir ist es eigentlich egal“, gestand er, „Ich dachte nur, dass es besser für dich wäre, da du dann schlafen könntest.“

„Der Himmel ist besser als jeder Schlaf“, warf sie sofort ein, „Und dabei lerne ich auch mehr, als wenn ich schlafe.“ Sie wirkte überzeugt.

„Na gut“, gab er sich geschlagen.

„Aber am Samstag … Ich glaube, da geht sich gar keine Einheit aus“, sagte sie beiläufig.

„Ach ja? Weshalb nicht?“, wollte er von ihr wissen.

„Ich habe bis zwei Uhr Vorlesungen und ab vier Uhr bin ich weg. Aber ich weiß leider nicht, wie lange.“ Sie lächelte entschuldigend.

„Was machst du denn?“, fragte er interessiert.

„Ich gehe auf ein Konzert – von den Sieben Sünden. Die kennst du ja noch“, beantwortete sie die Frage lächelnd.

Er nickte verstehend. „Dann viel Spaß! Wenn das nächste Mal ein Konzert von ihnen ansteht, kannst du mich auch gerne einladen!“ Er lachte. Es würde kein nächstes Konzert der Sieben Sünden geben – sonst hätte es in den letzten fünf Jahren auch welche gegeben! Die Bands sparten sich solche Dinge immer jahrelang auf – das hatte er durchschaut. Aber er würde wohl sowieso keine Zeit haben. Acedias Pflichten, die Versuchung, sich einfach wieder unter die Jugend zu mischen und seine Aufgaben zu vergessen, Joshua zu vergessen … Oh ja – was alles einfacher sein könnte.

Sie schloss sich seinem Lachen an. „Werde ich“, versprach sie dann sofort.

„Macht es dich nicht nervös, unter so vielen Leuten zu sein und das ohne meinen Schutz?“, wollte er dann ernst wissen. Er wusste gar nicht, dass er so schnell auf Ernst umschalten konnte. Erstaunlich – aber ehrlich … Wenn sie schon auf dem Weg von den Hochhäusern zu ihren Zielen so verängstigt war … Und er begleitete sie nicht einmal komplett zur Uni – immerhin war sein Gesicht dort immer noch ziemlich präsent und einige verrückte Schwärmerinnen würden ihn wohl immer noch erkennen.

Aber wie würde es Kyrie alleine auf einem riesigen Konzert ergehen? Nathan war oft auf Konzerten gewesen. Es war laut, es war viel los und überall gab es Gedränge!

„Es ist nur ein kleines Konzert mit wenigen Menschen …“, murmelte Kyrie, „Und … ähm … Üben wir lieber weiter. Vielleicht habe ich dann weniger Angst.“ Sie lächelte ihn aufmunternd an.

Er nickte. „Dein Wunsch sei mir Befehl!“

Sofort hatte sie ihr Schwert gezückt.

Er konzentrierte sich darauf und sofort erschien seines – natürlich die kürzere Version. Als Fast-Todsünde hatte er ja ein riesiges Schwert, da er so viel Macht besaß. Aber wer gut mit seinen Kräften umgehen konnte, konnte sogar seine Waffe formen, wie er wollte – und diese Kunst hatte Nathan gemeistert!

Und was er auch gemeistert hatte, war, dass er Kyrie so ziemlich alles beigebracht hatte, was er wusste. Er konnte ihr kaum noch eine Technik zeigen, die sie nicht bereits durchgegangen waren, und er war auch nicht in der Lage, das Erscheinen ihres Schwertes zu beschleunigen.

Sie würden noch auf einen abgelegenen Fleck auf der Erde gehen können, um dort das schnelle Transformieren zu üben, aber mehr … Aber was sollte er dann machen?

Diese Trainingseinheiten erforderten wirklich viel Zeit von ihm. Und diese Zeit wurde Mal um Mal knapper … Heute war auch ein weiterer Hinweis zu Luxuria aufgetaucht. Dem sollte er auch noch umgehend nachgehen … Es war vermutlich also ganz gut, dass er den ganzen Samstag für sich hatte.

Kyrie stieß zu – sie war bereits relativ gut geworden, aber gegen Meister der Klinge wie Thi oder ihn hatte sie einfach keine Chance. Würde sie nie haben. Es fehlten ihr einfach Jahrhunderte an Übung und an Talent. Er konnte bloß hoffen, dass dieser Jeff und seine Komplizen Anfänger waren. Falls sie jemals an Kyrie herankommen sollten – was er unter allen Umständen verhindern wollte!

Realistisch betrachtet, fehlte ihm dafür aber die Zeit! Verflucht sei Xenon für seinen Auftrag, dafür, dass er Assistent war und dafür, dass der Himmel ihn wirklich brauchte! Nathan wollte ihm immer noch ins Gesicht schlagen, sobald er ihn sah, aber … Kyrie war immer noch dagegen. Würde wohl immer dagegen sein.

Sie war so gutmütig. Während ihres nächsten Schlages, den er genauso blockierte wie den ersten, stellte sie plötzlich eine Frage: „Nathan? Würdest … würdest du mit mir einmal in das Lichte Dorf kommen? In zwei Wochen. In den Ferien …“

… In das Lichte Dorf? Was wollte sie im Lichten Dorf? … Lichtes Dorf – stimmt. Da lebte ihre Großmutter Mirabelle. Sie hatte ihm früher, als er noch ein Kind gewesen war und mit Kyrie gespielt hatte, immer Süßigkeiten gegeben.

„Deine Großmutter besuchen?“, fragte er.

Sie nickte. Dann stellte sie das Angreifen ein und sah ihn flehend an. „Was sagst du dazu?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wenn die Dame keinen Herzinfarkt bekommt, wenn sie mich sieht.“ Er grinste, als Kyrie betrübt dreinschaute. „Aber klar doch – wofür sind Freunde denn da?“

Und er strich einen weiteren Tag seines viel zu kurzen Lebens.

„Danke!“, rief sie fröhlich aus – und trotz dessen, dass beide ihre Schwerter hielten, umarmte sie ihn, ohne ihm eine Verletzung zuzufügen. Das wäre eine Taktik. Einfach jemanden zu umarmen und dabei aufzuspießen – er sollte sich wohl besser in Acht nehmen.

Außerdem wurde ihm eins klar: Für dieses Danke, diese Umarmung und dieses hocherfreute Lächeln war es ihm wert, noch achtzig mal dreihundertsechzig Tage aufzuwenden! Egal, wie sehr er dabei in Verzug kam.

„Wir sollten weiter üben“, stellte er fest, als er sie ebenfalls fest drückte.

Sie nickte. „Ja.“ Aber sie ließ ihn nicht los.

„Also heute keine weitere Übungseinheit?“, wiederholte Nathan abermals – nur um ganz sicher zu gehen, dass sie es auch ganz ehrlich so meinte. Hoffentlich hatte sie nicht alle Hoffnung aufgegeben oder so was! Aber … nein. Das wäre ja nicht Kyrie. Kyrie war willensstark und mutig. Er schaute sie an.

Sie standen auf einer großen Dachterrasse, welche zu einem leer stehenden Hochhaus gehörte. Kyrie erwiderte seinen Blick, wobei sie im selben Moment ihre Schwingen verschwinden ließ.

Er erwartete eine Antwort, aber sie gab ihm keine.

Plötzlich tauchten ihre Flügel wieder auf und- …!

… Kyrie wirkte verwirrt. Nein, mehr deprimiert.

„Hast du eben versucht, dein Schwert im Schnellreflex zu rufen?“, wollte er von ihr wissen. Er tätschelte ihren Kopf. „Ich zeige es dir, dann kannst du es üben“, schlug er vor, „Einverstanden?“

„Ja“, murmelte sie, „Wobei ich es mir einfacher vorgestellt hätte.“

Er nickte verständnisvoll. „Es macht einen riesigen Unterschied für dein Schwert, ob du dich im Himmel befindest, wo du einfach von Licht umgeben bist, oder aber auf der Erde, wo du vom Himmel abgetrennt bist.“ Wobei es hier wohl noch am ehesten hätte funktionieren sollen, so hoch oben in der Nähe des Himmels, wo es beinahe so wirkte, als würde der Himmel die Erde berühren –nur beinahe. Aber wohl nicht gleich beim ersten Mal. So etwas erforderte einfach Übung – und auch wenn die ersten Schritte die schwersten waren … Kyrie würde das meistern, wie sie jede andere Übung ebenfalls in einem gewissen Zeitrahmen gemeistert hatte. Von dem her machte es überhaupt keinen Unterschied, ob man es mit Halbengeln oder richtigen Engeln zu tun hatte. Bis auf ihre Herkunft waren sie einfach gleich. Schade, dass es nicht jeder so sah.

„Weshalb?“, wollte sie wissen. Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. Vermutlich beschwerte sie sich innerlich darüber, dass er ihr immer die gefühlte Hälfte der Informationen vorenthielt. Aber das war eben er. … Und als würde das mit Absicht geschehen! Manchmal vergaß er eben etwas Wichtiges oder weniger Wichtiges.

„Ganz einfach – deine Flügel sind ja nie ganz aufgeladen, wenn du von oben auf die Erde kommst. Auch wenn es nur die geringe Entfernung auf ein Dach ist – es ist zumindest weniger anstrengend. Aber das bedeutet auch immer noch, dass du und dein Schwert wirklich nur von der bereits minimierten Kraft in deinen Flügeln abhängig seid. Und das zeigt sich eben in der Zeit, die das Schwert zum Erscheinen benötigt. Oder eben daran, dass es sich gar nicht rufen lässt.“

Sie legte den Kopf schief. „Nützt es dann überhaupt etwas, wenn ich …“

Er unterbrach sie. „Lass deinen Meister zu Ende sprechen.“ Er grinste. „Jedenfalls: Es gibt Tipps und Tricks, wie man das Schwert beschleunigt rufen und es auf der Erde besser einsetzen kann. Aber dafür ist es nötig, das Schwert erst einmal zu verstehen – und dir fehlt da noch etwas an Übung.“

„Wie viel?“, wollte sie wissen – jetzt wirkte sie verzweifelt. Vermutlich hatte sie viel mehr Angst vor einem Angriff der Menschenengelhasser, als sie zugab. Aber er würde sie beschützen. Und wenn es das Letzte war, was er tat!

„Wie wäre es, wenn wir uns ein Ziel setzen würden?“, schlug er spontan vor, „Sagen wir … An dem Tag, an dem du Thierry oder mich besiegst, sind wir so weit.“

Sie starrte ihn mit riesigen Augen an. „Was?“, brach es aus ihr heraus, „Was?“ Sie zeigte sich wahrlich schockiert.

Gerade als er zu einer kecken Beruhigung ansetzen wollte, überwand Kyrie ihren Schock und fügte mit fester Stimme hinzu: „Das werde ich nie schaffen, nicht im Leben! Jeff kann mich gleich umbringen. Alles ist umsonst. Ich werde nie zwei seit Jahrhunderten ausgebildete, sportliche Engel besiegen!“ Plötzlich ließ sie ihre Schultern hängen. „Niemals …“

„Hey“, gab Nathan beruhigend von sich, wobei er seine Hände auf ihren Schultern lagerte und sie ein wenig zurechtrückte, sodass sie keine andere Wahl hatte, als ihm ins Gesicht zu sehen. Hoffnungslosigkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Du bist Kyrie, weißt du? Du bist jemand, der an Gott glaubt – ohne Menschen wie dich, wäre er schon lange in sich zusammengefallen! Auch wenn er uns Engel als seine Krieger hat – überzeugte Menschen sind es, die ihm in Wahrheit die meiste Lebensenergie schenken. Er steht in deiner Schuld.“ Er lächelte aufmunternd. „Und jemand, in dessen Schuld Gott steht, wird es wohl schaffen, so ein mickriges Schwertchen zu rufen und damit schwächliche Engelchen aufzuspicken.“

Sie lächelte ihn an.

Plötzlich schaute sie panisch Richtung Universität.

„Oh nein! Ich komme zu spät!“, rief sie erschrocken und rannte los, woraufhin ihre Schwingen erneut verschwanden.
 

Kyrie hatte sich gefreut, als Nathan ihr hinterhergelaufen war. Immer wieder bis zum selben Ort, jeden Tag. Wenige Kreuzungen vor der Universität verabschiedete er sich Mal um Mal wieder von ihr, nur um sie später am Tag wieder bei ihr zuhause abzuholen. Eigentlich sollte ihr diese ständige Bewachung wirklich ein Gefühl von Sicherheit verschaffen, doch … Dieser Angriff war einfach tief sitzend. So tief, dass nicht einmal Nathans Fürsorge dieser Angst entgegensetzen konnte. Doch vielleicht … wenn sie sich wirklich ein Ziel setzte? Würde sie es schaffen, Thi oder Nathan jemals im Schwertkampf zu schlagen? … Nein, das war doch völlig unmöglich … Aber heute. Heute war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken – dieser Tag würde sich um die Sieben Sünden drehen.

Gestern hatten Kyrie und Ray bereits einen kurzen Ablaufplan besprochen, mit dem sie beide einverstanden waren. Ray hatte ihr auch versichert, dass sie keine Angst vor den anderen zu haben brauchte. Sie hoffte, dass er Recht behalten würde …

„Kyrie!“, ertönte eine nur zu bekannte Stimme. Sie hob den Kopf und lächelte Ray entgegen. Er wank ihr aus der Menge zu, ebenfalls lächelnd.

Sobald er bei der Mauer angekommen war, legte er seine prall gefüllte Tasche neben der ihren ab und machte es sich am Steinbau gemütlich.

Sie saßen nebeneinander. Kyrie hob den Blick, um Ray genau mustern zu können. Heute wirkte er ein wenig erschöpft. Vermutlich hatte er schlecht geschlafen … Seine Haare waren auch zerzauster als üblich – auch wenn das seine Niedlichkeit noch mehr unterstrich.

Sein Kopf drehte sich in ihre Richtung und diese grünen Augen blickten in ihre dunklen – fragend. „Hab ich etwas im Gesicht?“, wollte er von ihr wissen.

Sie lächelte entschuldigend, schüttelte den Kopf und verneinte: „Ach, nein, keinesfalls!“

Er verzog belustigt das Gesicht. „Ach ja? Was gibt es dann so Interessantes zu bestaunen?“

Sie überlegte, einfach abzuwedeln, doch stattdessen gab sie zu: „Deine Haare sind heute zerwuschelt. Und du wirkst müde.“

Sofort schaute er ertappt hin und her und fuhr sich unauffällig übers Haar. Dann räusperte er sich, woraufhin Kyrie kurz zu kichern begann.

Er sah sie todernst an. „Besser so?“ Dann grinste er.

Sie schüttelte lediglich ihren Kopf, ersparte sich aber eine Antwort. Sein zufriedenes Lächeln war ihr Antwort genug.

„Wie waren die Vorlesungen?“, wollte er von ihr wissen, „Seid ihr schon in Ferienstimmung?“

„Der halbe Saal war leer“, entgegnete Kyrie, wobei sie eine strenge Miene aufsetzte, „Dabei war es sehr interessant … Aber … Mir stellt sich eine Frage …“

Ray wirkte interessiert. „Und die wäre?“

„Wenn … wenn jemand davon überzeugt ist, dass er schwach ist, aber gegen Stärkere ankämpfen muss … Sollte er die Herausforderung annehmen? Auch ohne eine Überlebenschance“ Die Frage wirkte leicht unsicher – immerhin war sie auch unüberlegt und hatte rein gar nichts mit den heute vorgenommenen Themen zu tun gehabt. Aber … mit dem Thema, mit dem sie sich zu beschäftigen hatte … Aber wenn sie ohnehin zu schwach war … würde es dann einen Unterschied machen, wo und wann sie ihr Ende fand?

Ja. Würde es. Letzten Endes würde es immer darauf hinaus laufen, dass sie Nathan dafür als Schülerin für Kurz oder Lange zur Last fallen müsste.

„Hm. Ich würde sagen, dass es sich auf jeden Fall bringt, den Kampf anzunehmen“, richtete er nach kurzer Zeit, „Immerhin … stirbt man ohnehin. Doch wenn man kämpft, kann man beweisen, dass man es schaffen kann. Dass man sich selbst und andere ändern kann.“ Er schaute sie durchdringend an.

… Ja, sie würde ohnehin sterben, doch wenn sie das Ziel etwas herunter setzen konnte, dann würde es doch … Nein, es würde nicht machbar sein. Immerhin brauchte sie eine gewisse Stärke, um das Schwert auf der Erde überhaupt rufen zu können … Und wenn sie nicht einmal im Himmel diese Stärke aufbringen konnte … Wie sollte sie es dann auf der Erde je schaffen?

„… Was sagen denn die Dozenten zu dem Thema?“, fügte Ray nach kurzer Zeit hinzu.

Sie blinzelte ihn verwirrt an.

Stimmt, sie hätte wohl besser antworten sollen. Aber stattdessen schüttelte sie den Kopf. „Die Antwort gibt es erst beim nächsten Mal, haben sie gesagt“, umschrieb Kyrie Nathans Andeutungen. Sie musste sich ein Ziel setzen. Aber … bis wann? Sie hatte für sich selbst entschlossen, dass sie es bereits bei der nächsten Einheit preisgeben würde.

Er nickte. „Ich verstehe“, fügte er noch hinzu, dann begann er damit über sein Studium zu sprechen. Er hatte seine Stunden so eingeteilt, dass er jeden Tag ein anderes Fach hatte – und alle nur für sechs Stunden pro Tag. Es war eine durchaus intelligente Einteilung, wenn man bedachte, dass sich dadurch die Jahre, die man insgesamt an der Universität verbrachte, verlängerten – doch wenn man drei Richtungen studierte, machte das wohl nicht mehr den erheblichen Unterschied aus.

Als das schwarze Auto auf den Parkplatz rollte und Kyrie sich bereits erhob, erinnerte Ray sie an ihre Verabredung: „Heute, um 16 Uhr vor deinem Haus – nicht vergessen!“

Sie lächelte ihm zu. „Ich freue mich schon!“
 

Ihre Mutter grinste liebevoll. „Mein Mädchen ist so wunderhübsch!“ Sie wuschelte Kyrie durch das schwarze Haar, welches sie in der letzten Stunde gelockt, zu Zöpfen verarbeitet und teilweise hochgesteckt hatte – und letzten Endes hingen sie doch wieder schlaff nach unten. Na gut, einige Wellen waren übrig geblieben.

Kyrie betrachtete sich selbst im Spiegel. Es wirkte dennoch … übertrieben. Es fehlte nur noch die Krone und sie hätte sich selbst an eine Märchenprinzessin erinnert. Oder an eine der Damen, die früher die Welt regiert hatten. Jetzt standen immerhin irgendwelche Politiker an der Macht, die einfach damit beschäftigt waren, den Frieden zu bewahren – und das, ohne dass sie von irgendwelchen Dämonen, Engeln oder Göttern wussten. Was für eine Welt.

„Und das Kleid habe ich dir auch noch umgenäht!“, rief ihre Mutter enthusiastisch aus.

Mit düsterer Vorahnung wandte Kyrie sich um und erkannte, dass sie Recht behalten hatte: Ihre Mutter schien sie hier mehr auf eine königliche Hochzeit in einem Glasschloss vorzubereiten als auf ein stinknormales Konzert in der Gosse.

Das Kleid, das Magdalena in den Händen hielt, war lang, weiß und hatte unzählige Perlen, Rüschen und unterschiedliche Arten von Stoffen eingearbeitet.

Sie lächelte nüchtern. „Danke für die Mühe, Mama“, begann sie, „… aber das trage ich lieber zu einer Heirat …“

Magdalena kicherte. „Na gut. Aber du musst mir versprechen, dass du denjenigen heiratest, den du wahrlich liebst.“ Sie zwinkerte ihr zu.

… Wovon sprach sie …? Egal. Es war beinahe sechzehn Uhr und sie war noch immer nicht angezogen!

Kyrie erhob sich. „Weißt du …“, setzte sie an, während sie zum Kleid schritt, welches ihre Mutter in den Händen hielt, und kurz darüber fuhr. Der Stoff fühlte sich angenehm an. Das Kleid war ganz nach der derzeitigen Mode geschnitten. Und es verbrauchte nur wenig Platz.

Wo hatte sie das überhaupt her?

Plötzlich erkannte sie es.

Ihr klappte der Mund auf. „Ist das … Ist das mein Sommerkleid?“, wollte Kyrie schockiert wissen.

Ihre Mutter nickte stolz. „Jede einzelne Perle und Rüsche habe ich in den letzten Tagen eigenhändig angenäht, alle Stoffbahnen sind von mir selbst ausgesucht und auf diese Weise bearbeitet! Und ich hoffe, dass du uns Ray darin endlich richtig vorstellen wirst!“ Sie wirkte unvorstellbar glücklich.

… Aber warum das Sommerkleid? Natürlich hatte Kyrie das mit Melinda ausgesucht, aber dennoch … Es war das einzige Kleid dieser Art, das sie besaß. Und ihre Mutter hatte daran doch zuvor schon Änderungen unternommen und … Sie unterdrückte ein Seufzen.

Egal. Doch … was meinte sie eigentlich mit … Ray und … vorstellen?

Sie schaute ihre Mutter fragend an. Setzte ihren unverständlichsten Blick auf.

„Ray … und du“, wiederholte ihre Mutter wie selbstverständlich, „Ihr seid doch ein Paar!“ Sie grinste.

Kyries Augen wurden merklich weiter und größer. Ihr Mund klappte weiter und weiter auf – und sie spürte, wie das Blut ihr ins Gesicht schoss. Ehe sie einige Worte heraus brachte, machte sie einige ungeschickte Klappergeräusche, da ihr Sprachorgan außer Betrieb zu sein schien. Mit zitternder Stimme fragte sie nach, wobei sie sich wie der größte Trottel auf Erden fühlte: „Ach … ja? Sind wir? Aber … Sind wir …! Wie kommst du darauf?“ Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Wie konnte ihre Mutter nur eine Annahme solcher Art treffen? Sie hatte doch nie irgendetwas angedeutet! Und dass er sie heute auf das Konzert einlud, war doch ebenfalls bloßer Zufall! Genauso wie ihr Mauertreffen … Wenn einer von ihnen das Studium beendete, würden sie sich wohl nie mehr wieder sehen … Und …

Ein nüchterner Gedanke kam ihr: Auch wenn sie sich in ihn verlieben würde, könnte sie es nie auf sich nehmen, ihn weiter zu belügen. Und da sie ihm nicht die Wahrheit sagen konnte, erübrigte sich das ganze Thema. Sie war froh, dass sie nicht mehr freundschaftliche Zuneigung für ihn empfand.

Wie also kam ihre Mutter auf solch absurde Ideen?!

„Ihr trefft euch jeden Tag“, begann ihre Mutter, wobei sie die Aufzählung mit ihren Fingern veranschaulichte, „Ihr habt so viel Spaß miteinander – und so glücklich habe ich dich seit deiner Freundschaft mit Nathan nicht mehr gesehen!“ Sie verschränkte die Arme. „Dein Vater akzeptiert es zwar nicht, aber du kannst Nathan wohl nicht zum Mann nehmen, wenn er im Himmel so beschäftigt ist. Auch wenn er ihn bevorzugen würde.“ Sie lächelte freundlich. „Wobei sich das wohl ändern würde, wenn wir endlich in den Genuss kämen, Ray kennen zu lernen!“

Kyrie krallte sich im Sommerkleid fest und schob es mit aller Gewalt in die Arme ihrer Mutter zurück. „Behalte dir das“, antwortete sie kühl, drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer.

Im Badezimmer blieb sie stehen, schloss die Tür und setzte sich davor. Instinktiv fasste sie an ihr Herz, welches viel zu schnell schlug. Sie war nervös. … Was faselte ihre Mutter da? Sie … Sie hatte doch keine Ahnung …

Niemand hatte eine Ahnung von ihren Gefühlen – immerhin hatte sie sie gekonnt verborgen … Hatte zumindest all die Jahre geglaubt … All die Jahre, in denen sie auch sich selbst belogen hatte …

„Na toll“, bedauerte sie, „Ich habe immer noch kein Gewand.“

„Keine miesen, nervtötenden Kommentare“, wies Ray seine Mitfahrer an, „Keine dummen Aussagen, kein Geplapper und keine …“

Gerade wollte er zu einem letzten Verbot ausholen, als Ted ihn grinsend unterbrach: „Du hast uns vor fünf Minuten erzählt, dass du dir eine Frau abgeschleppt hast! Ein weibliches Wesen – wir sind Freunde, Mann.“ Der Fahrer hob eine Hand vom Lenkrad und zeigte ihm ein Daumen-Hoch. „Aus euch beiden wird schon was, keine Sorge! Fass nicht die Kleine deiner Kumpels an, heißt es.“ Dabei wandte Ted sich dem Mädchen mit dem kurzen, lockigen, hellen Haar, welches den Platz neben ihm eingenommen hatte, zu und zwinkerte. „Nicht wahr, Kens Freundin?“

Ray fühlte, wie die Beifahrerin mit den Augen rollte. Ein Blick zu Ken verriet ihm, dass er vor Wut und Eifersucht kochte und sich vermutlich wünschte, die Konzertkarte einem anderen gegeben zu haben.

Die Blondine, die den ausgesprochen passenden Namen Maggie trug, wandte sich kopfschüttelnd um und lächelte ihren Freund an. Plötzlich wurde Ken wieder ruhig und nett. Wie vernarrt er doch war …

„Wenn man dich so reden hört, Kumpel, dann könnte man ja fast schon glauben, du seiest noch nie mit einem Mädel weg gewesen!“ Er lachte laut. Ken schlich ein Schmunzeln aufs Gesicht. Maggie reagierte gar nicht – und an ihr nahm Ray sich ein Beispiel. Ted wusste genau, dass er damit am Ziel vorbei schoss. Und Ray hatte ihn in den letzten fünf Minuten oft genug darauf hingewiesen, dass es ihm um Kyries Wohlbefinden ging, weil er sie nicht verschrecken wollte. Und noch länger mit ihr in Kontakt stehen wollte.

Wie konnte er sich nur einbilden, dass das möglich war – mit solchen Freunden?

Er unterdrückte ein Seufzen.

„Vorne rechts“, wies er Ted an, als er die Straße erkannte, die Kyrie ihm beschrieben hatte, „Dort drüben kannst du parken.“

Ted vollführte die Anweisung und brachte den Wagen zum Stehen. Es war ein großes, geräumiges Auto – ausnahmsweise dasselbe wie beim letzten Mal.

„Sie müsste bald kommen“, versicherte Ray mit einem Blick auf seine digitale Handy-Uhr, welche genau sechzehn Uhr anzeigte.

„Was das dann wohl für eine heiße Braut ist?“, fragte Ted grinsend, „Bestimmt hat sie …“

Maggie stieß ihm mit der Faust in den Oberarm. „Ich denke, dass das zu jenen Kommentaren zählt, die du laut Ray vermeiden solltest.“ Sie rümpfte die Nase. „Flegel.“

Ray seufzte. Wieso war Ted bloß so … Ted. Er schüttelte bloß den Kopf.

„Ich dachte, ich müsste mir die erst verkneifen, sobald diese Lady …“ Er stockte kurz. Dann grinste er – und sprach weiter, als wäre nichts gewesen: „… anwesend ist.“

„Spar dir das einfach“, schalt sie ihn bestimmt, dann drehte sie sich zu Ken um, der sie mit seinen riesigen, grünen Augen durch seine Brille anhimmelte. „Und du, such dir neue Freunde.“

Er nickte.

Ray begutachtete Ken für einen Moment, überlegte sich, ob er ihm raten solle, sich nicht so leicht beeinflussen zu lassen, winkte dann aber gedanklich ab und ignorierte das Geschehen um ihn herum.

Kyrie würde bald kommen. Vielleicht war sie auch schon da und fand bloß das Auto nicht auf Anhieb?

„Ich steige kurz aus“, verabschiedete er sich, entfernte den Gurt und verließ den Wagen. Er trat auf den Gehsteig und schaute sich um.

Sein Blick fiel auf ein relativ gemütlich aussehendes, kleines Haus. Es hatte höchstens zwei kleine Stockwerke, aber es wirkte, als wären fleißige Personen daran beteiligt gewesen – es war schön geschmückt und auch der Garten und der Zaun, der diesen abgrenzte, wirkten gepflegt und wohl behütet. Also musste dort eine kleine Familie mit mindestens zwei arbeitstätigen Personen leben.

Und als wollte man ihm das bestätigen, wurde die Tür rasch geöffnet und ein Mädchen mit langem, schwarzem Haar stürmte durch den Garten.

Ray lächelte. Er hatte ja gesagt, dass sie bald kommen würde.

Als Kyrie näher kam, fiel ihm ihre Kleidung auf: Das Kleid war relativ kurz und violett, hatte aber doch bereits vorwinterlich lange Ärmel, die die Schultern jedoch nicht bedeckten.

Und diesmal trug sie schwarze Stiefel.

Aber er fühlte sich schlecht dabei, sie so anzustarren, vor allem, als sie dann begann, ihm zu winken. Er begrüßte sie ebenfalls. Dabei bemerkte er, dass sein Herz sich beruhigte – ihm war gar nicht aufgefallen, dass es so fest geschlagen hatte … Hatte er sich etwa unterbewusst Sorgen gemacht, dass sie doch nicht kommen würde? … Wie vertrauensselig er war.

„Kyrie!“, rief er fröhlich aus, „Hübsch siehst du aus.“

„Danke“, erwiderte sie, dann zwinkerte sie, „Du aber auch.“ Sie wirkte, als wollte sie etwas hinzufügen, doch ein kaum merkliches Kopfschütteln schien sie sich davon abzubringen.

„Ich habe mir auch die Haare gekämmt“, teilte er ihr mit.

Sie lachte.

Dann gingen sie gemeinsam die wenigen Schritte zum Auto, Ray öffnete ihr die Tür und ließ ihr den Vortritt.

Als sie einstieg, sagte sie unsicher, aber dennoch mit fester Stimme: „Hallo.“

Sie musste sich wohl ziemlich unbehaglich fühlen. Einfach so zwischen lauter Fremden …

Sie rückte bis auf den mittleren Sitz und gurtete sich an, Ray kam ihr nach und schloss die Tür.

„Hallo“, antwortete Maggie lächelnd, „Ich bin Maggie, Kens Freundin.“ Sie deutete auf die betreffende Person.

„Ich bin Kyrie“, stellte sie sich vor.

Maggie wirkte für einen Moment nachdenklich, lächelte dann aber freundlich weiter und drehte sich wieder um.

„Ich bin Ted!“, rief der Fahrer aus, als er wieder auf die Straße fuhr, „Und ich hoffe, ihr habt alles dabei.“ Er lachte.

Ray saß ganz nah an Kyrie, er konnte den Parfumgeruch in seine Nase ziehen. Es roch wirklich gut. Dabei fiel ihm auch noch auf, dass Kyrie ihre ansonsten eher glatten bis welligen Haare heute definitiv mehr gelockt hatte.

„Ken und Ted studieren mit mir“, klärte Ray sie auf.

Sie wandte sich ihm zu und schaute nickend zu ihm auf. „Aber nur in einem Fach, nehme ich an.“ Sie schmunzelte.

Ihm entkam ein kurzes Lachen.

„Rechtswissenschaft!“, rief Ted fröhlich aus, „Ich bin der Meisterjurist!“ Er grinste, was man durch den Rückspiegel perfekt erkennen konnte.

„Er lügt“, murmelte Ray und gestikulierte dabei so, als würde er ein riesiges Geheimnis ausplaudern, „Er ist lausig.“ Dadurch, dass die durch Licht betriebenen Wagen keine Geräusche abgaben und dass sonst keine Unterhaltung geführt wurde, konnte Ted die Worte wohl hören. Er wirkte für einen Moment beleidigt.

„Kann ja nicht jeder den ganzen Tag bloß lernen“, entschied er, „Stimmt doch, oder, Kyrie?“

Maggie drehte sich dabei noch einmal um.

Sie sank ein wenig in sich zusammen. „Ich würde sagen, dass jeder seinen Tag selbst bestimmt?“ Es war mehr eine Frage als eine Antwort – und leise gesprochen hatte sie auch. Sie war wohl ziemlich nervös … Aber wie sollte er ihr dieses Unwohlsein nehmen?

„Das war aber eine ziemlich durchschnittliche Antwort“, bestimmte Ted, „Was studierst du denn?“

„Theologie“, beantwortete sie die Frage mit fester Stimme – doch sie machte sich noch immer klein.

Ken musterte Kyrie von der Seite. Maggie beobachtete sie von vorne.

„Theologie?“, wiederholte Ted überrascht. Sichtlich und wirklich überrascht. So überrascht, wie Ray ihn noch nie erlebt hatte. „Ernsthaft?“ Dann lachte er wieder auf seine typische, übertrieben laute Weise. „Mel hätte ja vorher mit uns mitkommen sollen! Die studiert auch Theologie an unserer Uni! Wir haben wohl ein Faible für Theologen, was, Mag?“

Seltsamerweise weiteten sich Kyries Augen für einen Moment.
 

Mel.

Kyrie kannte bei weitem nicht all ihre Mitstudenten, nicht einmal einen Bruchteil, doch warum musste er sie gerade Mel nennen? Mel konnte doch für viele Namen stehen: Melissa, Melanie, Melodie … Melinda.

Und bloß … bloß weil Mel für Melinda stehen konnte, musste doch nicht gleich Melinda Chanton aus dem Theologiestudium gemeint sein? Ihre ehemalige Freundin. Nathans ehemalige Freundin. Die Frau, die ihr mit ihrer Gemeinheit Tränen in die Augen getrieben hatte …

„Kennst du Mel?“, wollte Ray von ihr wissen. Er lächelte.

„Wofür steht Mel denn?“, fragte sie so ruhig wie möglich nach – auch wenn ihr klar war, dass das nicht sonderlich ruhig sein konnte.

„Melinda“, antwortete Maggie statt seiner, „Melinda Chanton. Sie hätte zuvor mit Ray herkommen sollen.“

Kyrie wandte ihren Blick noch einmal zu Maggie. Sie war ihr bereits von Anfang an ziemlich bekannt vorgekommen, doch sie wusste nicht woher. Langsam aber lichtete sich der Nebel – sie bildete sich ein, sie manchmal mit Melinda gesehen zu haben.

… Mel … So nannten wahre Freunde sie also.

„Ja, die mit dem langen, schwarzen Haar“, führte Ted weiter aus, „Und dieser bleichen Haut und den großen …“

„Ted!“, rief Maggie erzürnt, „Was haben wir zu dem Thema gesagt?“ Sie seufzte. „Ken, bitte warne mich das nächste Mal vor, wenn dieser Kerl je wieder mitkommt!“

„Ray scheint ja was an Theologinnen gefressen zu haben. Schwarzhaarigen, langhaarigen, kleinen, hübschen Theologinnen“ Ted lachte.

Ray verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

Kyrie starrte nach vorne.

… Ray wollte also zuvor mit Melinda hierher gehen? Mit … genau dieser Melinda?

Kyrie war davon überzeugt, dass Nathan sich heute geirrt hatte: Gott war nicht von ihr abhängig, er wollte ihr einfach einen Streich nach dem anderen spielen.

Warum musste ausgerechnet Ray ausgerechnet mit Melinda zu ausgerechnet diesem Konzert gehen wollen?

„Kennst du sie also?“, fragte Maggie gerade heraus, „Bist du Kingston Kyrie?“

Kyrie blinzelte überrascht. „Ja, die bin ich“, gab sie zu. Auf die erste Frage erübrigte sich die Antwort.

Maggie nickte. „Ich habe es mir fast gedacht.“ Dann lachte sie kurz. „Du bist eigentlich ganz in Ordnung.“

Kyrie bemerkte, wie die drei anwesenden Männer fragend drein schauten. Vermutlich machte dieses abgehackte Gespräch keinerlei Sinn für sie.

„Wie geht es ihr?“, wollte Kyrie dann wissen.

„Ganz gut. Bloß heute ist ihr etwas dazwischen gekommen.“ Maggie wandte sich erneut um und zwinkerte ihr zu. „Mal sehen, wie ihre Ex-Freundin so drauf ist!“

Kyrie fühlte, wie Rays Blicke sie durchbohrten und dass auch Ken interessiert aufhorchte.

„Ex-Freundin?“, fragte Ray verwirrt.

„Wovon redet ihr beide eigentlich?“, wollte Ted dann wissen, „Irgendein Mädchengetratsch?“

„Ich denke, dass Kyrie einmal Mels beste Freundin gewesen ist, die beiden dann aber einen Streit hatten und sich seither hassen“, erörterte Ken plötzlich.

Kyrie fühlte sich nicht bloß durchschaut – es fühlte sich mehr so an, als hätte jemand sie von einem Moment auf den andern auf eine heiße Herdplatte geworfen und dann im nächsten in den Schnee gesteckt.

Es war schmerzhaft. Real. Viel zu schnell. Und betäubend.

„Manchmal bist du wirklich so gar nicht einfühlsam“, stellte Maggie trocken fest, „So kenne ich dich gar nicht, Schatz.“

Er lächelte entschuldigend. „Ich kann auch nichts für meine analytischen Fertigkeiten“, wich er aus.

„Du hast doch bloß meine Nachrichten gelesen“, murrte Maggie und wandte sich beleidigt nach vorne, wobei sie die Arme verschränkte.

Kyrie hatte ebenfalls große Lust, ihre Arme zu verschränken und sich einfach auszublenden – bis zu den Sieben Sünden nichts mehr mitzubekommen. Warum … ausgerechnet Melinda? Melinda beinhaltete – neben Xenon – ihre letzte schlechte Erinnerung, die sie am liebsten niemals erlebt haben und für immer vergessen wollte. Warum setzten sie sie diesen einfach wieder aus? Warum klangen sie so … herzlos? … Natürlich … Sie verstanden die Tragweite nicht …

Immerhin wussten sie nicht, dass Kyrie sich immer geweigert hatte, einen Ersatz zu spielen – jemanden zu imitieren und sich selbst dabei zu verfälschen. Zwar war sie nicht immer stolz auf ihre eigenen Taten gewesen oder viel mehr auf das, was sie nicht getan hatte, doch zumindest … war sie jemand.

Melinda hatte sie kopiert. Eine Show auf Kosten von Kyrie abgezogen … Und ihr damit tiefe Stiche zugefügt.

Kyrie hatte seit Jahren kein Vertrauen mehr in Menschen legen können … Seit … seit Nathan ... Melinda hatte das Eis gebrochen … und ihr dann gezeigt, dass Feuer heiß war und brannte. Sich tief in die Seele brennen konnte …

„Ist mit dir alles in Ordnung?“, wollte Ray wissen. Sorge sprach aus seiner Stimme.

Kyrie schaute ihn an. Er beugte sich zu ihr herunter, seine grünen Augen starrten sie an – in ihnen lag eine Entschuldigung … Auch wenn er nicht verstand, was in ihr vorging … verstand er doch, dass es ihr schlecht ging.

Vermutlich erschien sie gerade wie ein kleines Häufchen Elend … Wie eh und je.

Wie damals, als Ray und sie sich kennen gelernt hatten … Wie damals, als die anderen versucht hatten, ihr klarzumachen, dass Nathan nicht bloß ihr gehörte … Wie damals, als die Engel auf sie herabstürzten, um ihr ihren Platz zu zeigen …

Immer wollten Menschen anderen ihre Meinung aufzwingen … Immer …

„Sollen wir anhalten?“, fragte Ray noch viel besorgter, „Du siehst wirklich … nicht gut aus …“

Er wandte sich kurz von ihr ab und warf Ken einen bösen Blick zu.

„Für dich hat das auch gegolten, Mann“, fuhr er seinen Freund dann an, „Lerne, deine Zunge zu hüten!“ Es lag wirklich … Ärger in seiner Stimme. Jetzt stellte er sich gegen seine Freunde – für sie … Weil sie schon wieder zu schwach, zu unnütz war … Aber … er setzte sich ein. Er ließ sie nicht allein. … Warum vertraute sie ihm schon wieder? Und warum … warum hatte sie schon wieder das Gefühl, es diesmal nicht bereuen zu werden? War sie einfach unbelehrbar? Unverbesserlich an das Gute glaubend? … Oder dumm? Klammerte sie sich nur an die Äste, die sich ihr boten?

Sofort widmete er sich wieder ihr. „Tut mir Leid, aber dieses Pack Idioten …“ Er schüttelte den Kopf. „Ihnen kann man nichts anvertrauen, das mehr wert ist, als eine Dose Bier.“ Er lächelte ihr zu. „Wir können uns dann gerne absetzen.“

… Er … vertraute ihnen nicht? Er teilte ihnen nicht alles mit? … Er … Waren das überhaupt seine Freunde? ... Wenn das seine Freunde waren, warum hatte er dann eigentlich nie etwas von ihnen erzählt? Wussten diese Leute eigentlich irgendetwas über ihn? Hatte er Mel näher gekannt?

„Du wirkst … erstaunt“, stellte Ray überrascht fest, „Sind meine Haare wieder unordentlich?“ Behutsam fuhr er sich selbst über den Kopf.

„Nein“, antwortete sie unbehaglich, „Alles in Ordnung.“ Sofort setzte sie sich wieder etwas aufrechter hin und starrte nach draußen. Ihre Gedanken … Aber … wenn sie an Melinda dachte, dann strömten all diese negativen Dinge auf sie ein … Sie fühlte sich … leer, allein, verlassen …Und doch … wenn sie neben Ray saß …

Sie bemerkte, dass Ray sie weiterhin musterte.

Bis Ted erneut etwas verlauten ließ: „Wo wir gerade bei Erstaunlichem sind!“, rief er fröhlich aus, „Oh, also, Kyrie!“

Sie schreckte beim Klang ihres Namens auf. „Du hast wirklich Glück, einen Kumpel wie Ray zu haben.“ Er pausierte kurz. „Und er hat Glück, mich zu haben – aber das ist jetzt nicht der springende Punkt.“ Ted grinste überlegen. „Aber … Mann, ich kenne diese Umgebung! Das ist doch der Weg, den wir gefühlte tausend Male abgefahren sind!“ Er schüttelte den Kopf. „Jetzt fällt es mir wieder ein – und du willst mir erzählen, dass das dein alter Spielkamerad sein soll.“ Er stieß einen Pfiff aus. „Solche alte Kumpels will ich auch!“

Kyrie legte die Stirn kraus und sah Ray verwirrt an.

Ein leichter, roter Schimmer hatte sich auf seine Wangen gelegt und er schaute verdächtig zielstrebig aus dem Fenster.

Maggie wandte sich in ihrem Sitz wieder um – und auch Ken verfolgte das Szenario neugierig.

Sie schaute ihren Mauerfreund mit großen Augen an. „Ist das … wahr?“

„Man kann ihm wirklich nichts erzählen“, stieß Ray zwischen den Zähnen aus, „Das hätte ich ahnen sollen.“

Sie legte ihm eine Hand auf seine Schulter. Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Danke.“ Sie lächelte von ganzem Herzen. „Vielen, lieben Dank.“ … Sie hatte sich nicht geirrt. Er war … er war unglaublich! War er tatsächlich hergekommen, um sie zu suchen?

Dafür wurde ihr schlechtes Gewissen größer – sie hatte kaum Anstalten gemacht, ihn wirklich zu erreichen.

Er schaute sie von der Seite an, genehmigte sich ein leichtes Lächeln und zuckte mit den Schultern. Und noch viel erröteter wandte er sich ab.

Ray …

In diesem Moment wurde ihr klar, dass er ihr wirklich ihr bester Freund war.

Ihr bester Freund, der ihr die Wahrheit niemals vorenthielt. Ihr bester Freund, den sie belog.

Nathan konnte es wirklich kaum fassen, dass er heute einen Tag ohne Kyrie hinlegen würde! Natürlich liebte er die Zeit, die er mit seinem Lieblingsschützling verbrachte … Außerdem hatte er sie heute auch schon gesehen und sie waren die ganze Nacht lang am Trainieren gewesen … Aber dennoch! Heute Abend würde er sie nicht abholen.

Dass erinnerte ihn an die Zeit von vor ein paar Wochen. Vor diesem bescheuerten Übergriff, den dieser verdammte Xenon in Auftrag gegeben hatte! Damals war er mit all seiner Recherche und all seinem Wissen und sämtlichen Aufgaben sehr gut zurecht gekommen. Zwanzig Jahre erschienen vielleicht wie eine kurze Zeit, aber sie hatten es gehörig in sich! Er war kaum nachgekommen – und dann auch noch diese Sonderaufgabe mit Luxuria, die Acedia wohl von allem am meisten interessierte. … Und nebenbei noch Kyrie aufzuziehen und zu beschützen … Xenon gehörte einfach bestraft.

Aber Kyrie wehrte sich dagegen, dass er diesem Mann einfach die Meinung sagte – immer wenn er ihm im Gang begegnete, begann Wut in Nathan zu kochen. Eigentlich sollte er als angehende Todsünde keine solche fühlen, doch dieser Mann war einen Schritt zu weit gegangen. Er – und auch seine aggressiven, völlig verrückten Kumpane, die wirklich glaubten, dass ihr Weg der richtige sei! Lächerlich.

Er saß in Acedias Büro und ging die Protokolle der letzten Konferenz durch. Sie hatten Kyrie wirklich mit keinem Wort erwähnt. Xenon war zu wichtig, um verraten zu werden! … Dabei hatte Nathan einst Respekt gegenüber Gula empfunden … Doch jetzt …

Jetzt erkannte er, was für eine Marionette er im System war. Nun – vielleicht war das etwas hart ausgedrückt, daran gemessen, dass Luxuria schon einige Zeit ihre Pflichten vernachlässigt hatte, aber … Kyrie war für ihn genauso wichtig, wie Luxuria für den Himmel. Da zählte wohl das Gemeinwohl. Aber was waren schon ein paar Monate? Der Übergriff auf Kyrie hatte tatsächlich stattgefunden – bei Luxuria schwankten die Gemüter! Sie war erst kurz fort – was waren schon ein paar Monate!?

Vor seiner Zeit auf der Erde hatte Nathan nicht gewusst, was es bedeutete, einen Monat zu leben. Er konnte sein Leben höchstens in Jahrzehnten, wenn nicht sogar nur in Jahrhunderten messen. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, was ein Tag war oder eine Nacht – und jetzt teilte er seine Wochen in Tage und seine Tage in Stunden ein. Vielleicht hatte der Aufenthalt auf der Erde ihm wirklich etwas mitgegeben.

Man bemerkte auch, dass andere Todsünden vermutlich ähnlich fühlten wie er: Mittlerweile hielten sie beinahe jeden Tag eine Konferenz ab – wahrscheinlich hatten sie das schon immer so gemacht, bloß hatte ihn das nicht gekümmert, weil er sich unter einem „Tag“ nichts vorstellen konnte. Daran, dass seine Freunde allerdings immer wussten, wann es Zeit für das Mittwochstreffen war, erkannte er, dass wohl bloß er nicht umsichtig genug gewesen war. Doch sie hatten alle ihre Gründe, auf so kurze Zeitspannen zu achten: Thierry musste an unterschiedlichen Trainingseinheiten teilnehmen, die täglich wöchentlich stattfanden. Deliora musste sich an genaue Termine für das Herstellen unterschiedlicher Bücher und Schriften halten, weshalb sie das Datum und den Tag – die praktischerweise der Erde angeglichen waren! – ebenfalls im Auge behalten musste. Liana traf sich sooft mit verschiedenen Leuten, dass sie vermutlich an den Zeitplänen der anderen die Stunden zählen konnte … Und Joshua … Er war vermutlich genauso unbekümmert wie Nathan. Früher war es wohl so, dass Nathans Zeitplan seiner war – sie hatten alles zusammen gemacht. Und jetzt … Jetzt sahen sie sich mittwochs.

Er sortierte Blätter und las schnell über die unterschiedlichen Berichte.

Luxuria war erneut ein großes Thema gewesen. Acedia schrieb, dass sie zwei Verbündete hatte, die sie dabei unterstützten, einen Ersatz für Luxuria zu finden, sodass sie wieder Sieben Todsünden waren. Sie stützte sich dabei auf ihre eigene Erfahrung mit der Todsünde – nämlich auf jene, dass eine Luxuria keine Pflichten vernachlässigte. Dass ihr deshalb etwas zugestoßen sein musste. Und genau dort lag der Punkt: Ihre Gegner wollten nicht einsehen, dass irgendetwas geschehen sein musste. Dass es da draußen etwas gab, das eine vertrauenswürdige Todsünde von der Arbeit abhielt. Kamen Superbia oder Acedia zu spät, so würde das wohl keinen der Sieben wundern … Doch Luxuria. Nathan glaubte, dass jemand, der genauso pflichtbewusst wie Luxuria war, Ira darstellte. Zumindest wirkte der Mann sehr berechnend auf ihn und er schien immer beschäftigt zu sein, seinem Terminkalender gerecht zu werden. Vielleicht war das auch bloß so, weil er keines Assistenten mächtig war. Aber wie man bemerkte, mühten sich vor allem die faulen Todsünden damit ab, zu allererst einen Assistenten zu finden, der für sie die nervige Nebenarbeit erledigte, sodass sie sich auf ihr Amt konzentrieren konnten. Natürlich hatten auch gewissenhafte Todsünden Assistenten … Hätte Luxuria einen Assistenten gehabt, so hätte dieser bestimmt eine Ahnung von ihrem Aufenthaltsort … Oder aber sie wüssten mit Sicherheit, ob sie noch am Leben war.

Wenn sich der Assistent nämlich zur Todsünde ausrufen lassen konnte, so wehrte sich der Name entweder dagegen, an ihn weitergegeben zu werden, falls die ehemalige Todsünde noch lebte, oder nicht.

Das Problem dabei war, dass dies im öffentlichen Rahmen unter Anwesenheit möglichst aller Engel geschehen musste. Und das würde wohl Aufmerksamkeit erregen. Einen anderen starken Engel zu suchen, der die Aufgabe der Todsünde im Falle einfach übernehmen könnte, war ebenfalls mit Nachteilen durchspickt, da er keinerlei Vorbereitung auf das Todsündenleben erhalten hatte. Nathan zum Beispiel kannte mittlerweile die Rechte und vor allem die Pflichten und Tagesabläufe einer Todsünde – und durch die Berichte wusste er auch mehr über die Geschehnisse im Himmel als normale Engel. Er war vorbereitet. Theoretisch konnte Acedia bald abtreten. Aber Nathan wollte das nicht. Zwar erklärten sie ihm, dass man als Todsünde dann sein Leben wieder genießen durfte, doch er war sich nicht so sicher. Vor allem, wenn er über Acedias Termine nachdachte.

Plötzlich schoss ihm etwas: Was, wenn jemand Luxuria etwas angetan hatte, um an ihr Amt zu kommen? Es musste ein starker Engel sein. Jemand, der zumindest die letzte Wahl überlebt hatte, oder einer, der zu ihrem Assistenten werden wollte, aber abgelehnt wurde oder ein anderes persönliches Motiv hatte. Acedia kannte Luxuria schon lange – vielleicht konnte er mit ihr darüber reden.

Schnell machte er sich zu ihrem Terminkalender auf, um zu sehen, wo sich seine Chefin im Moment aufzuhalten hatte.

Im Saal des Höchsten Gerichts also.
 


 

Es war wirklich gemütlich. Ganz anders als alle Konzerte, die er bisher besucht hatte. Aber ihm gefiel dieser Stil. Die Halle – die seltsamerweise von außen hin als „Café“ bezeichnet wurde – umfasste relativ wenig Platz. Im Untergeschoss befanden sich bestimmt nicht mehr als fünfhunderte Personen, die sich vor allem vor der Bühne tummelten, um die Bandmitglieder mit eigenen Augen beobachten zu können – und vergeblich zu versuchen, sie mit ihren Händen zu berühren, auch wenn der Vokalist sich manchmal die Mühe machte, in bereitgestellte Hände zu klatschen.

Weiter hinten waren runde Tische aufgestellt, um die herum kleine, leichte Stühle standen, mit denen man wohl niemanden umbringen konnte – wofür Veranstalter von Jugendkonzerten sorgen mussten. Wow – er lernte tatsächlich etwas in Rechtskunde!

Ray saß auf genau so einem bequemen Stuhl und begutachtete die Menge. Vor ihm stand sein Getränk, in der Mitte des Tisches hatten sich in der Zwischenzeit einige Snacks angesammelt, die sie mit Vorliebe zu sich nahmen. … Na ja, diejenigen von ihnen, die anwesend waren. Er sah zur einzigen Person in seiner Nähe.

Kyrie saß neben ihm, ihr Blick war starr auf die Bühne gerichtet und man konnte ihrem Gesichtsausdruck ansehen, wie gerne sie ebenfalls vorne in der tosenden Menge stehen wollte, um den vergeblichen Versuch zu unternehmen, ein Mitglied zu berühren.

Im Moment sangen sie eines ihrer unbekannten Lieder. Ray vermutete, dass es etwas in Richtung „Himmel“ heißen musste – sooft, wie er das Wort sang. Doch auch der Rhythmus des Liedes war sehr zu seinem Gefallen. Gedankenverloren wippte er mit, während er zu einem Keks griff.

Ken und Maggie hatten sich bereits vor einer Weile verabschiedet – sie wollten ihre Zweisamkeit im Obergeschoss genießen. Im Obergeschoss konnte man das Konzert noch immer mitverfolgen, da dort riesige Schächte waren, durch die man den Schall hören konnte – doch man sah die Band nicht. Darum würde man da oben wohl eher mehr Paare als Fans antreffen.

Wo Ted abgeblieben war, wusste Ray nicht.

Das Lied neigte sich dem Ende zu und nach dem letzten tosenden Applaus – Kyrie stand auf und klatschte und kreischte laut mit, während Ray bloß klatschte und anerkennend nickte – kündigte der Sänger, der auch beim Reden seine engelsgleiche Stimme nicht verlor, an, dass sie sich für eine kurze Pause zurückzogen.

Aufgeregtes Geplapper startete, nachdem die Fans jetzt eine ganze Stunde lang unterhalten worden sind. Kyrie wandte sich zu ihm um. Ihre Augen glitzerten vor Begeisterung.

„Danke, Ray!“, rief sie laut aus, „Danke, dass du mich mitgenommen hast!“ Sie übertönte tatsächlich die Menge!

Sie erhob sich schnell und ehe er sich versah, umarmte sie ihn. „Danke!“

Er drückte sie kurz, rückte dann aber mit dem Stuhl ein wenig zurück und schaute ihr ins Gesicht. Erst jetzt bemerkte er, dass sie sich für den heutigen Tag extra mit Make-up herausgeputzt hatte. Ihr Lidschatten war bloß leicht aufgetragen und violett, aber er betonte ihre Augen besonders.

„Keine Ursache“, wedelte er ab, „Ich bin doch froh, dass du dabei bist.“ Dann grinste er. „Und dass es dir gefällt.“

Sie lächelte. „Wenn wir uns jetzt schon an die Bühne stellen würden, dann hätten wir nachher genug Platz!“, schlug sie plötzlich vor, wobei sie zur Bühne deutete, wo zwar noch ein Haufen Menschen standen, aber bei Weitem nicht mehr so viele.

Er runzelte die Stirn. „Das wird eng.“

Sie blickte ihn energisch an. „Es ist es wert!“

Ray seufzte theatralisch, dann erhob er sich. „Was immer die Dame wünscht.“ Das Grinsen verließ seine Lippen nicht. Gerade als er Kyrie anbot, sich bei ihm einzuhaken – was auch immer sein Ruf besagte, er war höflich und kannte die Etikette! -, erschien Ted urplötzlich vor ihm. An beiden Armen hatte er ein junges Mädchen eingehakt.

„Das sind Barbie und Stacy!“, stellte er überlaut vor – wobei er unablässig grinste, „Und sie wollten dich unbedingt kennenlernen!“

Unbegeistert schaute er die beiden Mädchen an. Sie waren in einem ziemlich anderen Stil gekleidet als Kyrie – doch sie waren genauso hübsch. Bloß dass eine feuerrotes Haar hatte, während die andere sich hellrotem bediente. Ted schien wohl Rothaarige zu bevorzugen – zum Glück.

„Hallo“, antwortete er.

Eine der beiden trat vor und umarmte ihn stürmisch. „Willst du mit mir tanzen?“, wollte sie wissen, „Auf der Oberfläche läuft Musik!“ Ihre Worte unterstrich sie, indem sie sich an ihn anschmiegte.

Er warf Ted einen bösen Blick zu, nahm die Hände des Mädchens in seine Hand und schob sie vorsichtig zurück. „Kein Interesse“, lehnte er ab.

Sie wirkte beinahe beleidigt – ihre Freundin kicherte lautlos.

„Spar dir dein schadenfrohes Grinsen“, wies er sie an, drehte sich um und war gerade dabei, Kyrie sein Angebot erneut zu unterbreiten, als er bemerkte, dass sie verschwunden war.

Hilfe suchend, schaute er zu Ted – dieser war allerdings gerade mit dem Trost seiner beiden Freundinnen beschäftigt.

Ray schaute sich um.

Wo war Kyrie?
 

Kyrie schmiegte sich durch die Menge an Leuten. Scheinbar hatten einige dieselbe Idee wie sie gehabt und waren bereits in der Pause unterwegs in die erste Reihe. Als sie zwischen einigen Leuten hindurch geeilt war, erkannte sie schon ein paar Lücken ganz vorne.

Eilig rannte sie auf diese zu, um sie zu besetzen.

Jetzt musste sie sich nur noch groß genug machen, sodass später Ray auch noch Platz hatte. Falls er überhaupt kam. Aber vielleicht beschäftigte er sich auch lieber mit Stacy. Das Mädchen hatte immerhin sehr schöne, rote Haare und hellblaue Augen, die wie Kristalle wirkten. Sie hätte es ihm wohl nicht verübeln können, wenn er entgegen seiner Worte mit ihr tanzen wollte.

Sie hätte ja auch auf ihn warten können, falls er dem Mädchen eine Abfuhr erteilte, aber ihr Herz hatte so fest zu schlagen begonnen, dass sie keinen anderen Ausweg mehr wusste, als sich umzudrehen – und während sie sich wegdrehte, bemerkte sie eine Menschenmenge, die gefährlich schnell der Bühne näher kam. Also musste sie einfach schneller sein.

Breitbeinig und mit beiden Ellbogen von sich gestreckt, lagerte sie ihren Kopf auf der Bühne, sodass niemand ihr ihren Platz streitig machen konnte.

Einige machten es ihr nach. Scheinbar gab es hier mehr Leute, die Plätze frei hielten.

Ihr Herz schlug noch immer wie wild – sie hoffte, dass dies von der Aufregung wegen des nächsten Auftritts war und nicht weil … weil … Weil sie es unangenehm fand, daran zu denken, was Ray mit diesem Mädchen alles machen konnte.

Sie bemerkte, dass ihr Blut in die Wangen schoss. Sooft wie in den letzten Stunden war sie wohl noch nie errötet. Aber … Ray löste in ihr einfach ein seltsames Gefühl aus. Ein Gefühl, das Kyrie auf diese Weise noch nie so richtig verspürt hatte. Nämlich Eifersucht. Immerhin war er ihr Mauerfreund.

Sie versuchte, es abzuschwächen, doch es gelang ihr kaum: All die hübschen, jungen Mädchen, die sich hier herumtrieben, waren potenzielle Konkurrentinnen – und was Kyrie von ihnen unterschied, war einfach, dass sie mit Ray hier war. Er hatte ihr die Karte gegeben, hatte sie mit dem Auto abgeholt und war dann bei ihr geblieben …

Natürlich hatte sie all die kalkulierenden Blicke bemerkte, die während der Auftritte auf Ray gefallen waren. Die anderen hatten dabei wohl einfach durch sie hindurch gesehen … Aber vor allem … Vor allem hatten sie doch gutes Recht, Ray anzusehen und ihn vielleicht für sich auszuwählen. Genau dasselbe Recht hatte er. Kyrie hatte kein Besitzrecht auf ihn – er durfte sich mit denjenigen abgeben, mit denen er Zeit verbringen wollte. Und Kyrie hatte wirklich Verständnis dafür entwickelt, dass es eben nicht sie war, mit der jemand beisammen sein wollte. Dass die anderen ihr einfach vorzuziehen waren …

Sie hatte bereits darüber nachgedacht, wie sie diesen Umstand ändern konnte. Wie sie sich ändern konnte … Doch mit jedem törichten Versuch, sich selbst umzuformen, erkannte sie, dass sie genau so bleiben wollte, wie sie war. Sie war nämlich stolz auf sich selbst.

Aber das bedeutete doch nicht, dass sie deshalb bereit war, alleine durch ihr Leben zu ziehen. Mit der Veränderung vom Menschen zum Halbengel hatte sie immerhin vier neue Freunde gefunden und einen verloren geglaubten wieder gewonnen. Dadurch, dass sie mit aller Kraft ihre Tränen unterdrückte, hatten Ray und sie sich zu Freunden entwickelt …

Es lag also an ihr. An ihr und ihrer fürchterlichen Angst, sich zu ändern.

Sie blickte kurz zurück.

Keine Spur von Ray. Also hatte er sich entweder dazu entschieden, mit Stacy den weiteren Abend zu verbringen … Oder er war auf der Suche nach ihr.

Urplötzlich fühlte sie ein Vibrieren in ihrer Tasche – daraufhin ertönte ihr Klingelton.

Sofort packte sie ihr Mobilfunkgerät aus und legte es schleunigst an ihr Ohr.

„Kyrie!“, ertönte aus der anderen Leitung, „Wo steckst du denn? Ich kann dich einfach nicht finden.“

„Ich … stehe in der ersten Reihe“, gab sie von sich, wohl bemüht, noch immer so breit wie möglich zu wirken, obwohl ihre Beine zitterten. Er suchte sie. Er hatte Stacy fortgeschickt!

„Oh.“ Ein Lachen ertönte. „Ich auch!“

Ray stand neben Kyrie. Stacy war wirklich nicht dabei. Sie war selbst davon überrascht, wie groß der Stein war, der ihr vom Herzen fiel.

„Lief dein Lieblingslied bereits?“, rief Ray ihr über den Lärm hinweg zu – und das, obwohl er direkt neben ihr stand.

„Nein“, gab sie laut und mit bekräftigendem Kopfschütteln zurück, „Ich warte noch!“ Sie lächelte.

In Kürze würde die Pause vorbei sein.

Sie waren auf Kyries Platz geblieben, da sie sich eher in der Mitte befunden hatte – und der Sänger hielt sich ebenso oft in der Mitte auf. Sie hatte sich vorgenommen, die Hand so lange auszustrecken, bis er sie zumindest einmal berührt hatte! Dann konnte sie mindestens ein sehr positives Erlebnis mit nach Hause nehmen. Und vielleicht etwas angeben. Nathan konnte mit der Band immerhin etwas anfangen! … Es war vielleicht etwas kindisch, aber … Was sein musste, das musste eben sein!

„Er kommt!“, erklang Rays aufgeregte Stimme neben ihr.

Sofort wandte sie sich der Bühne zu – und tatsächlich: Die Mitglieder der Band kehrten zurück. Zuerst der Bassist und der Schlagzeuger, dann der Gittarist und der Mann am Akkordeon! Und … zu guter Letzt.

Die Lichter sprangen an und ehe sie sich versah, zückten die Anwesenden ihre Instrumente und begannen zu spielen. Es war so laut, ohrenbetäubend – und vor allem mitreißend. Der Lärm brach über sie hinein und wurde in ihren Ohren zu Musik. Sämtliche Stimmen um sie herum verschwanden, nur die ihr zu gut bekannte Melodie sprang an ihr Ohr: Federschwingen.

„Hallo, Leute!“, brüllte der Sänger laut und ausgedehnt, der ins Licht der Bühne lief und darin badete, „Danke, dass ihr wieder da seid!“ Er stieß einen lauten Schrei aus. „Ihr seid die Besten!“

Jubel machte sich überall breit – und ehe der Sänger noch ein Wort herausbringen hätte können, kam sein Teil dran. Und er sang. Seine Stimme war engelsgleich, unvergleichlich sanft und dennoch hämmernd stark. Aus jedem Wort klang innige Leidenschaft und vor allem Liebe.

Parallel zum Gesang bewegte er sich im Rhythmus, machte lange und kurze Bewegungen, dem Takt entsprechend – und vor allem ansteckend.

Kyrie kam nicht umhin mitzuwippen – und das gesamte Publikum schien ihre Gefühle zu teilen. Sie streckte die Hände in den Himmel und hielt sie nach vorne.

Und nach dem Refrain legte der Sänger eine kurze Verschnaufpause ein, in der er das Publikum lächelnd betrachtete.

Vom Klang der Musik in Hochstimmung versetzt, starrte Kyrie in sein so nahes, so schönes Gesicht. Seine Augen wurden durch eine halbdurchsichtige Sonnenbrille verdeckt, sie wirkten beinahe golden auf sie, und sein Haar war feuerrot mit blonden Strähnen und genauso flammenartig hochgestellt. Ein unnachgiebiges Lächeln zierte seine schmalen Lippen, die sich dann bereits wieder zur nächsten Strophe bereit machen – und seine wunderschöne Stimme erfüllte die Halle erneut.

Und dann kam er.

Er schritt nach vorne, singend, duckte sich nach unten, lief am Publikum vorbei.

Sie fühlte Gedränge von hinten, emsige Fans, die ebenfalls in den Genuss seiner Hände kommen wollten. Überall schossen sie an ihr vorbei – gierige Hände, Hände unter denen ihre eigenen untergehen würden.

Er kam immer näher, immer näher. Sein lächelnder Mund ließ Laute verklingen, seine Stimme kam näher – es war ihr, als würde sie seine reale Stimme hören, nicht nur die Mikrophonstimme. So nah … und doch so fern.

Sie streckte sich noch einmal ganz weit nach vorne – er war schon da, beinahe da!

Und vorüber.

Ihre Hände zählten nicht zu den glücklichen, die berührt worden waren.

Hinter ihr brach aufgeregtes Getuschel aus, das Lied war vorbei, der Sänger ging zurück und gönnte sich einen Schluck Wasser.

„Und?“, fragte Ray gespannt. Auch er wirkte sehr motiviert, glücklich.

Sie schüttelte den Kopf und winkte ab. „Nicht so tragisch“, wedelte sie ab. Auch wenn sie sich innerlich leer fühlte. Jetzt stand sie schon in der ersten Reihe. Hatte das Privileg, ihm so nah zu sein … Und dennoch … Dennoch brachte sie es einfach nicht zustande, sich gegen andere zu wehren! Da übte sie schon mit dem Schwert, um eine Chance gegen die zu haben, die sie unterdrücken wollten – und dann konnte sie sich nicht einmal gegen jubelnde Fans einer Band wehren.

„Die Chance wird noch einmal kommen!“, rief Ray überzeugt.

Die Farbe des Lichts änderte sich, der Saal wurde in tiefes Blau getaucht, es war dunkel, man konnte kaum etwas sehen.

Doch mit stolzen Bewegungen und sofort einsetzender Stimme erschien der Sänger sogleich in goldenem Licht. Die Fans brachen in stummen Jubel aus, wieder bewegten sich alle rhythmisch zu seinen Worten, zu seiner Stimme. Die Leidenschaft, die in seinen Liedern erklang, ging auf das Publikum über. Bewegung im Takt. Der Klang der Instrumente in den Ohren. Und im Vordergrund diese atemberaubende Stimme.
 

Seit dem Vorfall mit Kyrie, schien Xenon um jede Ecke auf ihn zu lauern! Als sei er einfach immer da, um ihm unter die Nase zu reiben, dass er nichts ausrichten konnte.

Nathan biss die Zähne zusammen und ging auf den Saal des Höchsten Gerichts zu. Xenon und Superbias Assistent standen dort. Also alle drei Assistenten der Todsünden, die sich derzeit nicht auf irdischer Mission befanden.

„Oh, ganz wie die Meisterin, wie es aussieht“, spöttelte Xenon als Nathan näher kam, „Pünktlich ohne Gleichen!“

„Halt die Klappe“, fuhr Nathan ihn an.

Xenon verzog beleidigt das Gesicht, während der andere lachte.

„Dürfen wir heute nicht rein?“, wollte Nathan von ihnen wissen. Wäre natürlich logisch: Gerade, wenn er eine ausschlaggebende Idee hatte, wurde ihnen der Zutritt verweigert!

Superbias Assistent schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid, sie halten danach gleich eine Absprache, die niemand hören darf.“

„Und warum wartet ihr dann hier?“, informierte er sich.

„Ich muss Superbia etwas Wichtiges mitteilen“, gab er zu, wobei er sich durch sein langes, silbernes Haar fuhr.

Nathan nickte. „Wie lange sind sie schon drinnen?“

„Nicht lange genug“, murrte er, „Aber es hat oberste Priorität, also gehe ich lieber sicher und schiebe Wache.“ Er grinste kurz. „Man hat ja sonst nichts zu tun.“

Lachend stimmte Nathan zu. „Da hast du Recht. Dann werde ich wohl lieber später noch einmal vorbei schauen.“

„Lass dir Zeit“, riet Superbias Assistent ihm.

Xenon schaute ihm nach. „Viel Spaß bei der Arbeit.“

„Ebenfalls“, antwortete er trocken.

Gut zu wissen, dass die anderen auch immer etwas zu tun hatten – und jede Art von Freizeit ausnutzen wollten. Wenn es also so war, dass Acedia keine Zeit hatte, dann musste seine Idee wohl warten – aber wo konnte er währenddessen ansetzen? Er hatte doch bereits an alles gedacht, was ihm jetzt auch noch einfallen würde. Aber er kam einfach auf keinen grünen Zweig.

Mit verschränkten Händen sprang er aus dem Fenster und flog nachdenklich nach draußen. Immer tiefer und tiefer. Er musste irgendetwas übersehen haben. Es konnte nicht sein, dass Luxuria einfach so spurlos verschwunden war. Sie musste doch irgendetwas hinterlassen haben – ihre Gemächer wurden bereits durchsucht. Und auch ihr Freizeithaus.

Aber nichts.

Wenn sie in die Unendlichkeit gegangen war, dann würde man sie auch nicht finden – aber was für einen Grund könnte sie dafür gehabt haben? Wenn, dann musste es in ihrer Vergangenheit zu finden sein – und an diesem Punkt kam er im Moment einfach nicht weiter.

Die andere Seite war natürlich, dass ihr auch etwas zugestoßen sein konnte – im Himmel oder auf der Erde. Etwas, das sie davon abhielt, einen Ruf auszustoßen oder sich zu teleportieren.

In Anbetracht der Tatsache, dass sie eine Todsünde und damit, so zu sagen, allmächtig war, blieben nicht viel mehr Möglichkeiten als eine: Sie musste gestorben sein.

Doch wie? Sie war viel zu jung für einen natürlichen Tod – und die Anzeichen hätte sie gespürt und entsprechende Vorbereitungen getroffen, so wie das jeder vernünftige Engel tat.

Also blieben insgesamt bloß die beiden Möglichkeiten, über die die Todsünden spekulierten: Tod oder Weglaufen. Das mit dem „Urlaub“ … Das war nur eine Farce.

Das bedeutete für Nathan, dass er in Luxurias Privatsphäre schnüffeln durfte, um damit auf einen Auslöser – ob Mörder oder Erinnerung – zu stoßen. Und ihn zur Rede zu stellen, sodass schnellstmöglich ein Ersatz gewählt würde.

Sodass die Todsünden keine Angst vor der Wahrheit zu haben brauchten – denn was immer es war, das eine Todsünde verschwinden ließ, würde dann ebenfalls weg sein.

Wenn Acedia doch nur Zeit für ihn hätte!
 

Und erneut drohte er es an. Kyrie streckte ihre Hände noch weiter aus, lehnte sich gegen die Bühne, um noch weiter vorzukommen, um ihren Platz zu verteidigen, um sich das zu nehmen, was ihr zu stand … Doch die Händen wollten ihr erneut einen Strich durch die Rechnung machen. Er würde sie bei ihren kurzen Armen wieder übersehen. Wieder nicht berühren. Ihre einzigen Erinnerungen an dieses Konzert würden wohl von Niederlagen durchsetzt sein.

Plötzlich umschloss etwas ihre Taille und hob sie nach oben – sie fühlte sich, als würde sie fliegen. An all diesen Händen vorbei, direkt zu seinen zarten Fingern.

Sie streckte die Hand aus, halb über die Bühne gebeugt, sie überragte alle. Und er kam auf sie zu, seine Hand klatschte in die Handreihen vor sie ein – und dann in ihre eigenen. Sie schaute auf, schaute in diese goldenen Augen und erntete ein anerkennendes Grinsen. Und noch etwas bemerkte sie: Sie hatte Licht gefühlt. In diesem kurzen Moment …

Als der berauschende Moment vorbei war, flog sie nach unten. Sofort drehte sie sich um, während sie noch immer dem wohltuenden Gesang lauschte.

Ein grinsender Ray blickte sie an. Seine Hand hatte er bereits wieder hoch in die Lüfte gehalten, er wirkte glücklich und zufrieden. Richtig glücklich, ohne den bitteren Beigeschmack einer tragischen Vergangenheit. Bloß der zweite Arm, der nie die Höhe des anderen erreichen würde, kroch auf halber Höhe irgendwo herum.

Kyrie hob ihre Hände genauso, formte mit ihren Lippen das Wort „Danke“ und machte Ray neben sich wieder Platz.

Und nach diesem Lied zogen sie sich aus der ersten Reihe zurück, um anderen den Vortritt zu lassen, die noch nicht in den Genuss der Hände des Sängers gekommen waren. Den Händen eines Engels.
 

„Nathan!“, erklang eine ihm nur zu gut bekannte Stimme. Er schaute nach unten. Wie weit war er in seiner Trance denn geflogen?

Liana flog auf ihn zu. Im Hintergrund sah er zwei Engel verschwinden.

Als sie vor ihm stand, lächelte sie ihn an: „Was für eine Überraschung, dich hier anzutreffen!“ Sie umarmte ihn schnell – er drückte sie zurück. „Eigentlich bist du außer mittwochs doch immer unauffindbar!“ Sie lachte los. „Na ja, egal. Suchst du etwas Bestimmtes?“ Sie schaute sich um. „Ich war hier nämlich gerade mit zwei Freundinnen unterwegs. Na ja, ursprünglich waren wir sieben, aber wir drei sind das letzte Überbleibsel.“ Sie kicherte. „Wir haben uns über einige Neuigkeiten ausgetauscht. Als ich dich dann gesehen habe, bin ich sofort zu dir geflogen! Wir waren sozusagen eh fertig miteinander.“ Sie stockte für einen Moment. Nathan wollte diese kurze Pause dafür nutzen, sie zu begrüßen, doch noch ehe der erste Laut aus seinem Hals drang, sprudelte Liana weiter: „Die beiden sind gerade unterwegs zu einem anderen Treffen. Müssen wohl ein paar Gerüchte bestätigen – du weißt doch, wir sind Tratschtanten! – Also wir Frauen, meine ich, nicht du.“ Erneut kicherte sie. „Gut, und Deliora auch nicht. Und Kyrie nicht! Apropos!“ Sie schaute sich interessiert um. „Ist Kyrie nicht bei dir? Hat sie ihr Schwerttraining jetzt beendet? Du solltest sie nicht alleine lassen. Wer weiß wann-…“ Noch ehe sie ein weiteres Wort sagen hätte können, schob Nathan seine Hand auf ihren Mund und rief ihr laut und deutlich zu: „Guten Tag, Liana!“

Mit geweiteten Augen schaute sie ihn an, stieß seine Hände von sich und stemmte diese sogleich in die Hüften. „Wie unhöflich! Du hast mich nicht einmal begrüßt?“

„Und du hast es nicht bemerkt“, murmelte er trocken vor sich hin. Doch noch bevor sie reagieren konnte – was sie eindeutig wollte, sie begann bereits mit dem wütenden Schnauben – beantwortete er ihre zuvor gestellte Frage: „Nein, Kyrie ist heute nicht da. Sie ist auf einem Konzert. Und ich bin hier unterwegs, weil ich für Acedia etwas nachprüfen soll.“ Dass er genau hier an diesem Ort eigentlich nichts zu suchen hatte, sondern nur seine Gedanken auf dem Flug hierher ordnen wollte, brauchte sie nicht zu interessieren.

„Ein Konzert also?“, fragte Liana erfreut, „Wie schön! Irgendjemand hat mir mal erzählt, dass die Menschen tolle Konzerte geben würden! … Moment …“ Sie lachte laut los. „Das warst ja du!“

Nathan grinste. Typisch Liana. „Sie wird dir am Mittwoch bestimmt alle Einzelheiten darüber verraten.“

Liana nickte entschlossen. „Ja! Und ich werde sie fragen, ob sie mit mir auch einmal auf ein Konzert geht. Übrigens – du hast uns doch auch einmal versprochen, dass du mit uns auf die Erde gehen würdest?“ Sie schaute ihn fordernd an. „Zu Kyrie. In ihre Welt!“

Er hob abwehrend die Hände. „Rede mit Kyrie! Menschen können nicht transportieren – der neunzehnjährige Nathan Princeton lebt nicht mehr in der Nördlichen!“

Liana schüttelte den Kopf. „Da verstehe einer die Menschen.“ Dann schaute sie sich noch einmal um. „Musst du schnell weiter oder hast du Lust, etwas mit mir zu essen?“

„Essen klingt immer gut“, meinte Nathan locker, „Acedia würde mich doch genauso warten lassen.“

Liana lachte. „Oh ja, als sie uns vor ihrer Ernennung warten hat lassen!“ Sie blinzelte plötzlich verwirrt. „Da warst du ja gar nicht dabei …“ Sie fasste sich ans Gesicht. „Ich bin so alt!“

„Vom Aussehen her sind wir ja gleich alt“, beruhigte er sie spaßend. Er erhob sich erneut in die Lüfte, Liana folgte ihm.

„Man redet so nicht vom Alter einer Dame!“, murrte sie leise, „Ich hoffe, du lernst das zu schätzen!“

Er lachte. „Ich versuche es!“

„Weißt du, Nathan!“, sagte sie dann plötzlich, „Ich soll da etwas nachprüfen! Es ist ja kein Geheimnis, dass wir beide befreundet sind. Ob da mehr oder weniger zwischen uns ist, ist zwar Gesprächsthema, aber ich verneine immer und immer wieder! Oh, als könnte ich etwas mit einem Assistenten anfangen – ich meine … du weisst schon. Nein, mein Typ geht mehr Richtung Sportler. Aber nicht Richtung Thi, das weißt du ja, ich habe es nicht so mit Vollidioten, ich meine, … Du weisst ja! Es gäbe ja andere Beispiele! Wie etwa ...“

Je mehr über dieses Thema sie sprach, desto weiter blendete er sie aus. Manchmal hatte sie wohl einfach ihre Phasen, in denen sie nur erzählen und nicht zuhören konnte – nicht, dass er etwas zu reden gehabt hätte. Sie war diejenige, sie heute plauderte und sprudelte und nicht mehr aufzuhören schien – und er war eben der, der manchmal lachte.

„Hallo?“, fragte sie eingeschnappt, „Sag, ignorierst du mich?“, wollte sie von ihm wissen. Ihr wütender Blick durchbohrte ihn.

„Nun …“, startete er seinen Versuch, abzuschwächen – was ihm aber peinlichst misslang. Also ging er zur ehrlichen Methode über: „Ja.“

Sie seufzte entnervt. „Also – was ich von dir wissen will, ist: Stimmt das, dass Luxuria verschwunden ist? Unauffind-… Nathan?“

Er blieb stehen.

Einfach in der Luft hängen. Liana war noch ein wenig vor ihm her geflogen, jetzt hielt auch sie inne und schaute irritiert zu ihm zurück.

„Was?“, stieß er hervor, „Was?!“

Sie verschränkte nachdenklich die Arme. „Wie es scheint, ist es wahr.“ Sie runzelte die Stirn. „Und ich glaube, das öffentliche Café ist der falsche Ort, um das zu besprechen.“ Sie kam zu ihm zurück und hängte sich bei ihm ein, „Ich bin natürlich gerne dazu bereit, dir meine Quellen preiszugeben.“ Ein gefährliches Funkeln trat in ihre Augen. „Gegen ein paar Antworten.“

Er ließ sich von ihr mitziehen.

Wie konnte das bloß an die Öffentlichkeit gelangen? Wer hatte geplaudert?

Dass sie nicht auffindbar war, konnten doch nur die drei anwesenden Assistenten, die sechs verbliebenen Todsünden und vermutlich auch Sin und Gott wissen! Sonst … niemand.

Er starrte sie an. „Wer hat es dir gesagt?“ Er unterhielt sich im Flüsterton.

„Die kennst du nicht“, winkte sie in normaler Lautstärke ab.

„Wer weiß noch davon?“, wollte er von ihr wissen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Vermutlich jeder, der sich mit anderen unterhält?“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich könnte etwas nachforschen, wenn du willst!“ Dann lächelte sie. „Und am Mittwoch überprüfen wir, wer vom Rest noch davon weiß! Und woher die es gegebenenfalls haben.“ Sie wirkte begeistert.

Nathan hingegen fühlte, wie er erbleichte.

Wie wohl die Todsünden auf diese Nachricht reagieren würden? Er musste ihnen sagen, dass es durchgerutscht war. Sie mussten handeln! Wenn die Öffentlichkeit Wind davon bekam und sich keine plausible Erklärung finden ließ, würde eine Panik ausbrechen – Engel waren nicht dumm. Es würde nicht lange dauern, bis der erste Verschwörungstheoretiker vom Engelsexekutor zu schwafeln beginnen würde!

„Du siehst nicht gut aus“, stellte sie fest. Dann runzelte sie die Stirn. „Ist sie schon lange fort? Warum muss es geheim bleiben? Ist etwas … passiert?“

Er fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Was sollte er jetzt antworten? Wie viel wussten sie alle wirklich? Musste er lügen? Abwedeln? Oder durfte er heraus.

Er konnte das nicht alleine entscheiden. Er war keine Todsünde.

Er sah sie bedrückt an. „Es tut mir leid, Liana, aber das Gespräch müssen wir verschieben. Ich denke, ich muss dringender zu Acedia, als ich gedacht habe.“

Sie sah ihn mitfühlend an. „Sag mir, wie es ausgegangen ist. Das Ganze, meine ich.“

Er nickte, dann entfernte er sich von ihr. „Versprochen.“

„Die längste Sitzung im Saal des Höchsten Gerichts hat gefühlte achtzehn Jahre gedauert“, erklärte Superbias Assistent kühl. Nathan kannte seinen Namen immer noch nicht. Aber bei ihm würde es wohl am wenigsten bringen, sich den Namen überhaupt zu merken. Superbia musste doch irgendwann einmal seinen Geist aufgeben!

„Achtzehn Jahre?“, staunte Xenon, wobei er die Hände verschränkte und anerkennend nickte, „An sich nicht viel, aber … für eine einzige Sitzung?“ Er schüttelte den Kopf. „Übertrieben.“

Nathan erwehrte sich seiner Gefühle, doch er musste dem blonden Engel zustimmen. Das war viel zu lange! Zwanzig Jahre ohne Assistenten war für Todsünden mühsam, nachdem sie sich an ihn gewohnt hatten – doch was sollte ein Assistent sagen, wenn seine Todsünde achtzehn Jahre lang einen Raum nicht verließ?! Das war doch … eine Frechheit!

Der silberhaarige Assistent nickte stumm, danach wandte er seinen Blick erneut zur Tür und seufzte leise. „Wenn man wartet, erscheinen einem Stunden wie Jahre.“

„Verschwendete Jahre“; fügte Xenon hinzu. Dann streckte er sich. „Wenn sie so weitermacht, dann werde ich mich wohl oder übel dazu entscheiden, ihr die Nachricht einfach später zu überbringen.“

„Oder wir gehen einfach rein“, schlug Nathan vor, „Was wollen sie schon tun? Uns umbringen?“ Er grinste. „Wir sind viel zu wichtig, um entsorgt zu werden.“

Xenon schaute ihn skeptisch an, auch der andere wirkte nicht wirklich begeistert.

„Wie kommst du denn bitte darauf?“, fragte Xenon nach einem kurzen Moment der Stille, „Du hast ziemlich abgehobenes Selbstvertrauen, wenn du das so einfach behauptest, Kumpel.“

Nathan versuchte bei dieser Anrede nicht mit der Wimper zu zucken. Wie konnte gerade er es wagen, ihn so anzusprechen? Er hielt sich zurück, um diesen Idioten nicht gleich den Hals umzudrehen. „Intuition“, antwortete er lässig, „Seid ihr dabei?“ Er wandte seinen Blick betont zu Superbias Assistenten.

Auf seinem Gesicht spielten sich seine Gedanken ab: Er zögerte – ja oder nein, ja oder nein? Nein oder ja?

Nathan unterdrückte ein Grinsen. „Komm schon“, ermutigte er ihn, „Superbia kann nicht noch einen Assistenten verlieren.“

Kühle glitt in den Blick des anderes, doch er nickte schlussendlich. „Invidias Assistent, was sagst du dazu?“, wollte er wissen.

Dieser zuckte einfach mit den Schultern. „Der Faulpelz wird schon Recht haben.“ Und schon hatte er seine Hand am Griff und öffnete die Tür.

Zu Dritt betraten sie den Raum.

Vor ihnen erhoben sich die Sieben Throne der Todsünden. Der Platz zwischen Ira und Superbia war allerdings leer – Luxuria fehlte. Das erste Mal, dass Nathan es mit eigenen Augen sah: Sie war nicht da.

Strenge Blicke lasteten auf ihnen. Nathan hob vorsichtig sein Sichtfeld an – und traf in Acedias wütend blitzende Augen, die ihn unermesslich anstarrten.

Die beiden Assistentenlosen und Avaritia schauten ihre Mit-Todsünden anklagend an, während die anderen drei weiterhin Wut verströmten.

Seltsam, dass alle wütend waren – außer Ira selbst. Beinahe ein Grund, um zu schmunzeln. Doch das verhielt er sich lieber tunlichst.

Superbia ergriff das Wort – als ältesten und stärksten der Todsünden gebot ihm das sein Rang: „Wir baten darum, nicht gestört zu werden“, erinnerte er sie in strengem Tonfall, „Warum missachtet ihr ihn, Assistenten?“ Sein Blick haftete auf seinem eigenen Assistenten.

Dieser zuckte leicht nervös zurück, atmete dann aber tief durch und sagte mit fester Stimme: „Wir haben alle drei wichtige Meldungen vorzubringen, die Aussprache bedürfen.“

Xenon und Nathan nickten bekräftigend. „Dringend“, fügte Nathan noch mit einem warnenden Blick an Acedia zu.

Diese riss die Augen schockiert auf und antwortete: „Ich denke, wir können es ihnen verzeihen.“ Sie erhob sich. „Die Konferenz setzen wir einfach später fort“; schlug sie vor, „Im Konferenzzimmer, wo uns nicht einmal die drei Jungspunde hier stören können.“ Sie flog nach vorne zu Nathan.

Nathan beobachtete die Reaktion der übrigen fünf. Superbia und Invidia erhoben sich langsam und mit viel Grazie – man bemerkte einfach, dass sie schon lange im Geschäft waren.

Die anderen drei stoßen ein stummes Seufzen aus. „In zwölf Stunden“, legte Avaritia fest, „Für Acedia in zehn Stunden.“ Also gingen sie davon aus, dass es länger dauern würde. Sie glaubten ihnen aufs Wort, dass es Dringlichkeiten waren, die sie mit den Todsünden zu besprechen hatten. Auch wenn zwölf Stunden für einen tausendjährigen Engel nicht viel waren. Aber vermutlich schon für einen alten Engel, der Aufgaben zu bewältigen hatte.

Die Rothaarige wandte sich um und zog eine Grimasse. „Der war nötig“, murmelte sie abschätzig. Als sie bei Nathan angekommen war, klopfte sie ihm auf die Schulter. „Los, Junge, wir beeilen uns.“

Und ehe er sich versah, stand er in ihrem Büro.

Acedia setzte sich sofort auf ihren bequemen Chefsessel vor dem – mittlerweile – ordentlichen Tisch, der wirkte, als sei er aus Holz. Woher Acedia Holz wohl kannte?

„Zwei Dinge“, kam Nathan sofort zur Sache, ohne sich auch nur hinzusetzen.

Ohne Eile deutete sie ihm an, doch Platz zu nehmen. Danach richtete sie sich ihre Kleidung, an der sie beinahe pausenlos herumzupfte, „Wenn man so in ein Gespräch vertieft ist, hat man keine Zeit, sich richtig um sich selbst zu kümmern“, jammerte sie, „Danke, dass du mich befreit hast.“

Er verzog das Gesicht. „Es ist dringend! Wegen Luxuria …“

Sofort wurden ihre Ohren spitz und dieses seltsame Leuchten trat wieder in ihre Augen. „Ja?“, fragte sie gespannt, „Konntest du etwas herausfinden?“

„Erst die Frage oder die schlechte Nachricht?“, ließ er sie wählen.

„… Die schlechte Nachricht“, entschied sie spontan, wobei sie die Stirn runzelte. Sie machte sich ernsthafte Sorgen.

„Es ist nach außen gedrungen“, informierte er sie, „Ihr Verschwinden – so gut wie jeder weiß davon. Noch sind es zwar nur Gerüchte, doch wenn sie keiner mehr sieht, dann …“

Acedia verschränkte die Hände. „Darum haben die Bittsteller solch ein Funkeln in den Augen gehabt, als sie den leeren Stuhl betrachtet haben“, murmelte sie, „Sie hatten eine Ahnung.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte nachdenklich die Beine. „Doch wie?“

„Das habe ich noch nicht herausfinden können – ich habe es nur als wichtig empfunden, dass die Todsünden davon erfahren“, teilte er ihr mit, „Sodass ihr richtig handeln könnt. Dass ihr nicht in Untreue fallt.“

Sie nickte. „Toll gemacht“, sagte sie kühl, „Wenn du einen Lohn dafür bekommen würdest, so wäre hier deine Lohnerhöhung. Und Befördern ist leider auch nicht möglich.“ Sie lächelte entschuldigend. „Ich werde deine Entdeckung auf der Konferenz kundtun.“

„Komm bitte nicht zu spät“, bat er sie höflich, „Diesmal ist es wirklich bedeutend.“

Sie nickte lächelnd. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Dann dachte sie kurz nach. „Und du siehst zu, dass du den Ursprung des Gerüchts herausfindest. Superbia und Invidia werden ihren beiden Assistenten vermutlich dieselbe Aufgabe geben, nach der Konferenz.“ Sie grinste. „Schau zu, dass du den Vorsprung behältst.“

Er nickte verstehend. Sollte er Kyrie jetzt auch noch ansprechen? Acedia hatte zwar betont, dass diese nicht in ihrem Interesse stand, doch … Es war ein tätlicher Angriff. Und … vielleicht würde sie doch etwas gegen Xenon unternehmen? Sodass er „seinen Vorsprung behalten“ konnte?

„Du wirkst, als würde dich etwas beschäftigen“, stellte sie emotionslos fest.

Er wiegte sich nachdenklich hin und her – und schlussendlich entschied er sich dafür, dass er es ansprechen musste. Gula hin oder her – der Mann hatte seinen Respekt verloren!

„Der Halbengel, Kyrie“, begann er.

Acedia legte den Kopf schief und blinzelte irritiert.

„Ihr ist etwas widerfahren – nämlich …“

Die Todsünde hob die Hand. „Stopp. Wird das jetzt eine Frage?“

Er überlegte sich, sie direkt anzulügen, doch sein Ehrgefühl verbot ihm das. Deshalb schüttelte er den Kopf. „Mehr eine Bitte.“

Sie hob die Augenbrauen. „Erst die Frage, die du stellen wolltest – Luxuria liegt in meinem Interesse, kein Halbengel. Wenn du den Todsünden etwas ihretwegen vorzutragen hast, so komme nicht zu mir.“ Sie deutete auf ihre Brust. „Ich verstehe keine Menschen“, gab sie zu, „Das weißt du. Also konfrontiere mich nicht damit, sondern gehe zu jemanden, der versteht. Avaritia vielleicht oder Gula.“

Nathan verzog seinen Mund. So in etwa hatte er sich das gedacht. Sie war wirklich keinerlei an Kyries Wohl interessiert! Keiner dieser Todsünden war es. Würde er es ihnen öffentlich vortragen, so würde vermutlich Gula sich hintergangen fühlen – oder sie würden genauso reagieren wie er. Sehr wahrscheinlich sogar. So besorgt, wie sie um den leeren Platz waren, konnten sie sich keinen fehlenden Assistenten mehr leisten.

„Danke“, murmelte er.

Sie zuckte munter mit den Schultern. „Du bist einfach an die Falsche geraten.“ Dann verschränkte sie die Hände. „Sorge dich einfach nicht zu viel um sie – lass sie ein freier Engel sein, solange sie noch kann und freunde dich nicht zu gut mit ihr an.“ Ihre Augen trafen die seinen. „Du weißt, wie es Avaritia ergangen ist.“ Sie blinzelte. „Das habe ich dir doch erzählt, oder?“

Er nickte. Aber er wollte nicht weiter darüber nachdenken – geschweige denn darüber reden. Das war nämlich überhaupt nicht sein Punkt! Er machte sich einfach Sorgen, um ihr Wohlergehen! Das Mädchen hatte Angst! … Und er … er konnte sie nicht beschützen …

„Und die Frage“, wechselte sie das Thema, woraufhin er sie sich wieder in Erinnerung rief.

„Du und Luxuria kennt euch doch schon länger, oder?“, fragte er vorsichtshalber nach. Kyrie war jetzt nicht der Hauptgesprächspunkt. Er musste sie eben alleine großziehen – und er würde es schaffen! Und irgendwann würde sie sich an Xenon rächen können. Oder ihm mutig gegenüber stehen. Ja, irgendwann würde sie das schaffen.

Er glaubte an sie.

Dann wartete er, bis Acedia nickte, und fuhr fort: „Weißt du, ob sie jemals einen Assistenten abgelehnt hat oder Freunde verlassen hat? Vielleicht um eine Todsünde zu werden? Gibt es jemanden, der sich an ihr rächen wollte? Vielleicht war es wirklich auf sie abgezielt und andere Engel sind nicht in Gefahr.“ Er pausierte einen Moment und führte weiter aus: „Oder jemand hegt Hass gegen alle Todsünden, vielleicht auch am meisten auf Luxuria. Es muss also ein starker Engel sein, der an eine Todsünde herankommen kann. Aber dadurch, dass er vermutlich auch für anderes Verschwinden zuständig ist, kommt die Frage auf, ob sie ihn alle abgelehnt haben.“

„Deine konkrete Vermutung?“, forderte sie zu wissen.

„Gibt es einen Engel, der stark genug wäre, ein Todsündenassistent zu sein, aber von allen anderen Rängen genauso zurückgewiesen wurde?“, formulierte er seine Gedanken aus, „Und hat er sich vielleicht bei Luxuria beworben?“

Sie nickte anerkennend. „Eine fabelhafte Vermutung.“ Sie stockte kurz. „Also die Vermutung ist fabelhaft, nicht das, was dahinter steht.“ Sie verzog den Mund. „Das wäre nämlich schlimm.“ Aber sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß leider nichts davon, ob sie je einen Assistenten abgelehnt hat. Sie hätte sich wirklich auch so ein schlaues Kerlchen zulegen sollen wie ich.“

„Und Freunde aus der Vergangenheit? Jemanden, den sie abgelehnt hatte? Vielleicht auf anderer Ebene?“, bohrte er weiter.

„Wenn es um ihre Freunde geht“, erklärte Acedia kühl, „dann verdächtigst du gerade Ira und Acedia.“ Das Funkeln trat wieder in ihre Augen.

Und plötzlich wurde ihm klar, weshalb sie so versessen darauf war, Luxurias Schicksal zu kennen: Sie war ihre Freundin – und sie wollte sie weiterhin sein!

Aber sie konnte nicht, weil ihre Pflichten sie vermutlich davon abhielten. Das … erinnerte ihn doch an jemanden. … Insofern waren sie sich doch ähnlicher, als sie dachte. Engel und Menschen und Halbengel waren keineswegs so verschieden, wie sie dachte. Aber … wie sollte er ihr das beweisen? Für sie, die nie auf der Erde gewesen war, waren Menschen einfach fremde Gestalten, die nicht so dachten oder fühlten wie sie selbst. … Doch es war nicht sein Fehler, wenn sie so dachte.

Sein Fehler war einfach, dass er nichts gegen diesen verfluchten Xenon unternahm.

Er seufzte. „Danke, ich werde schauen, was ich tun kann.“ Er sah sie ernst an. „Und du, sei pünktlich!“

Sie grinste. „Bin ich das jemals nicht?“
 

Ray lachte laut auf. Er hob den eingepackten Keks hoch und warf ihn wieder Kyrie zu. „Hattest du einmal ein Haustier?“, fragte er sie. Langsam gingen ihm die Fragen aus.

Das Konzert an sich war vorbei, jetzt spielte nur noch Musik aus den Lautsprechern. Die Band hatte die Bühne fluchtartig verlassen – vermutlich, um dem Ansturm an Fans zu entkommen.

Der Fanstand hatte dafür geöffnet und lange Schlangen bildeten sich davor. Aber Kyrie und ihn kümmerte das herzlich wenig: Sie hatten von Ted – ohne Stacy und Barbie - die Aufgabe erhalten, auf dessen Sachen aufzupassen, bis er wieder da war.

Bis auf die Schlangen von Fans, die sich an der Tür reihten, war kaum noch jemand hier. Einige tanzten im Klang der ruhigen Musik vor sich hin. In der Zwischenzeit waren aber Kellner aufgetaucht, die einerseits den Schmutz entsorgten und andererseits Getränke und weitere Snacks austeilten.

Nachdem Kyrie und er sämtliche Gesprächsthemen, die irgendwie relevant waren, abgedeckt hatten, hatten sie damit begonnen, diesen Keks herumzuwerfen – einfach aus Jux und Laune heraus.

„Nein“, gab sie zu, „Aber ich wollte immer eine Honigbienenzucht.“ Sie lächelte beschämt.

Er lachte aber weiter. „Eine Honigbienenzucht?“, wiederholte er amüsiert, „Warum das?“

„Ich mag Honig!“, sagte sie gerade heraus und warf ihm dann den Keks zu, „Vor allem Süßigkeiten mit Honig.“ Dann machte sie ein nachdenkliches Geräusch. „Was ist dein größtes Hobby?“, fragte sie.

Er dachte kurz darüber nach. „Immernoch Lernen“, antwortete er schnell, „Wobei mittlerweile wohl Kyrie dazu zählt.“ Er zwinkerte. Sie starrte ihn verdutzt an, sodass sie beinahe den Keks verlor, den er ihr schnell zuwarf. „Magst du demnächst wieder mit mir ausgehen?“

„J- Ja!“, rief sie – weiterhin sichtlich überrascht – aus, „Ja, natürlich, gerne! Danke!“ Plötzlich errötete sie und schmiss den Keks zurück.

Der kleine Gegenstand schlug eine seltsame Flugbahn an – Ray streckte seinen Arm aus … und realisierte, dass es sein linker Arm war. Der Keks flog glatt an ihm vorbei.

Hätte er seinen Arm komplett ausstrecken können, so hätte er den Keks bestimmt gefangen.

Er erhob sich vom Stuhl, um zum am Boden liegenden Keks zu gehen.

Plötzlich stand Kyrie neben ihm, duckte sich und reichte ihm den Keks hoch. Eine Entschuldigung steckte in ihrem Blick. „Tut mir leid, das nächste Mal werfe ich schöner“, murmelte sie vor sich hin. Er verstand sie dennoch, weshalb er auch abwinkte und beherzt den Kopf schüttelte. „Nein, keine Panik.“ Er grinste. „Den fange ich das nächste Mal. Er kam bloß …“ Er überlegte, um das perfekte Wort zu findend. „überaus überraschend.“

Die Melodie stoppte und er erkannte das nächste Lied bereits am Anfang. Es war „Erlösung“ – das vermutlich langsamste Lied, das die Sieben Sünden je herausgebracht haben.

Er nahm den Keks entgegen, umschloss dabei aber Kyries Hand. Er zog sie auf und zu sich hin. Er spürte, dass sie loslassen wollte, doch er hielt sie fest. Der Keks befand sich zwischen ihren Händen – eingesperrt.

Dann lächelte er sie freundlich an. „Ein Tanz gefällig?“

Sie starrte ihn mittlerweile irritiert an. Doch sie nickte langsam.

Und so drehten sie sich zu diesem langsamen Lied. Schritt für Schritt für Schritt.

Ein Klopfen ließ sie aus ihrem Traum hochschrecken. In Panik riss sie die Augen auf und fuhr konfus hoch. Stocksteif und gefasst hockte sie mit überhöhtem Puls auf ihrem Bett. Die Bettdecke fiel langsam zurück, als würde sie ihrer Hektik spotten.

Plötzliche Müdigkeit überkam sie und überdeckte den Schock. Langsam sank sie wieder zurück – doch ehe sie erneut in den tiefen Schlaf eintauchen konnte, ertönte ein weiteres Hämmern an der Tür.

Sie richtete ihren Blick auf die Uhr. Sechs Uhr morgens.

„Kyrie!“, erklang die Stimme ihres Vaters, „Mädchen? Bist du wach?“

Sie deckte sich wortlos zu. Halb im Dämmerschlaf versunken, bemerkte sie, wie jemand ihr Zimmer betrat. Ein lautes Seufzen ertönte. Es wurde kehrt gemacht und die Tür geschlossen – und all diese Bewegungsabläufe wurden von erbostem Murmeln begleitet.

„John!“, erklang ein Maulen – ihre Mutter klang ebenso müde, „Ich habe dir doch gesagt, du sollst sie schlafen lassen! Sie ist erst spät zurückgekehrt!“

„Ich weiß“, fuhr er sie an, „Aber die Sonntagsmesse ist für meine Tochter nicht zu verpassen!“

„Sie verbringt mehr Zeit im Himmel als du in der Kirche!“, schnauzte Magdalena laut zurück, „Komm, wir gehen!“

„Aber wir können sie doch jetzt nicht alleine hier lassen!“, antwortete John deutlich.

„Sie ist jetzt zwanzig Jahre alt!“, rief ihre Mutter aus, „Sie ist volljährig und kann auf sich selbst aufpassen!“

„Das hat man ja gesehen!“, verklang die Antwort im Schall einer zugeschlagenen Tür.

Und Stille kehrte ein.

Das Streitgespräch hatte irgendwie ihre Aufmerksamkeit erregt. Aufgeweckt hatte es sie, aber nur beinahe. Dennoch erhob sie sich aus dem Bett und schaute auf das Regel neben sich, in welchem das Glas mit ihrer Feder stand. Sie fühlte sich, als würde sie sogleich wieder einschlafen, doch sie griff zur Feder und fuhr darüber.

Sie war erwachsen, ja … Aber trotzdem spürte sie es nicht in sich. Sie lebte bei ihren Eltern, verrichtete keine Arbeit, verbrachte ihre Zeit in einer Parallelwelt, an der sie keinen anderen hier teilhaben lassen konnte … War das ein Leben?

War es das Leben, das ihre Eltern sich für sie vorgestellt hatten?

Ein leises Seufzen entrann ihrer Kehle. Sie hatten sie selbst entscheiden lassen. Sie waren stolz darauf, dass sie ein Engel sein durfte – und solange sie ihre Pflichten, zur Universität und zur Kirche zu gehen, nicht vernachlässigte, war alles in Ordnung. Sie durfte sich alles erlauben, konnte sich alles leisten, solange sie nur diese spezielle Art der Bezahlung darbrachte.

Aber das bezog auch mit ein, dass sie früh schlafen ging, um am Morgen für die Kirche ausgeschlafen zu sein. Es inkludierte, dass sie keine Angst vor Engeln, Flügeln und Federn hatte. Dass sie sich dort wohl fühlte, wo sie war … Tat sie das?

Wo erging es ihr besser? In der Kirche … oder auf diesem Konzert?

Die Stimme des Sängers kroch leise in ihr Ohr. Seine wunderschöne Stimme in der Realität, direkt vor sich, zu hören … Ein wunderbares Gefühl. Das Gefühl, als würde sie wahrhaftig leben … Aber dass er ein Engel war … Dass er ebenfalls nicht von dort kam … Wie passte das zusammen? Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie geglaubt, der anderen Welt entflohen zu sein – und doch verfolgten sie sie.

Sie ließ sich in ihren Polster fallen. Es war nicht die richtige Zeit, jetzt darüber nachzudenken. An ihren Abend, den sie mit Ray verbracht hatte … An diesen einen, langen Tanz, den sie zusammen durchgeführt hatten … Zu dieser so ruhigen und leisen Musik. Wie sie sich gedreht hatten, wie sich ihre Hände gehalten hatten … Wie er sie an sich gezogen hatte …

Es hatte sich angefühlt wie ein Traum. Ein Traum, aus dem sie viel zu früh erwacht war …

Sie hatten sehr lange getanzt. Vielleicht waren es doch mehrere Tänze gewesen. Während der Tänze hatten sie aber kaum gesprochen, sie hatten sich bloß auf die Musik konzentriert, sich in ihrem Rhythmus bewegt … Es war, als wären Ray und sie Teil eines Ganzen gewesen, als hätten sie sich ergänzt … Als hätten sie … zusammen gehört …

Gegen vier Uhr morgens waren die anderen aufgetaucht, nachdem die Kellnerinnen beinahe durchgedreht waren. Im Auto hatten Ray und sie bereits ein wenig geschlafen, dann … war sie irgendwann plötzlich zu Hause, hatte den Leuten im Auto gewunken und … war in ihr Zimmer gegangen …

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihre Kleidung noch gar nicht ausgezogen hatte – bloß die Stiefel, die einfach achtlos am Boden herum lagen, aber … Das war jetzt nicht wichtig … Es war sechs Uhr morgens … und sie wollte jetzt bloß … schlafen …
 

John sah auf seine Glaubensgemeinschaft herab. So viele Leute saßen in dieser Kirche, schauten zu ihm auf, lauschten seinen Worten. Er erzählte, was er vor so langer Zeit zu glauben gelernt hatte, und verbreitete, was er für richtig und gerecht hielt. Was er für Gott hielt – denn seine Meinung stimmte mit der der anderen Kirchenmitglieder überein. Dass Gott die Welt erschaffen hatte, weil er die Menschen liebte. Dass er Schutzengel kreiert hatte, die den Menschen in den schwersten Stunden zur Seite standen. Dass er selbst immer in ihrer Mitte war und mit ihnen teilte, was zu geben er hatte. Ein Gott der Barmherzigkeit, der Liebe und des Mitgefühls. Ein Gott, den man lieben und ehren konnte, weil er immer für einen da war. Das war der Gott, an den er glaubte, derjenige, der die Macht innehatte, sie alle in den ewigen Frieden zu führen.

Es war die Glaubensgemeinde, die es damals geschafft hatte, die Kriege zu beenden und die Ära des Friedens einzuleiten. Da sie eingegriffen hatten, sich an die Grenzen gestellt hatten und den Menschen einen neuen Lichtblick gegeben hatten – etwas, auf das sie sich konzentrieren konnten. Frieden. Aufbau. Zusammenleben.

Vor mehr als hundert Jahren hatte der Krieg zwischen Norden und Süden des Kontinents getobt. Vor mehr als fünfhundert Jahren waren sogar noch die Dörfer verfeindet gewesen – und jetzt gab es auf dieser Welt Frieden und Einheit. Wer Gott huldigte, tat es, wer an ihn glaubte, durfte dies tun, wer sich einen anderen vorstellte, betete eben den anderen an und wer von all diesen Herzenswünschen nichts wissen wollte, ignorierte es einfach. Jeder Mensch durfte seine Freiheit leben – jeder durfte das sein, was ihn glücklich machte. Durch den Frieden, den die Kirche gebracht hatte. Seine Kirche.

Und weil diese es war, die die Hauptarbeit geleistet hatte, fand er es ungerecht, dass einige Gott leugneten – doch solange es für Gott kein Problem darstellte, dass die Quote der Gläubigen stetig sank, war es auch keines für ihn selbst.

„Im Namen des Allmächtigen Gottes, der uns geschaffen hat, um in Frieden und Eintracht zu leben, der die Städte und Dörfer gebaut hatte, um uns zusammen zu führen, und der uns die Macht gegeben hat, Eisenbahnnetze und Mobiltelefone zu benutzen …“, begann er seine Worte, wodurch er einigen Zuschauern ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte – und anderen eine grimmige Grimasse. Aber für die Freude der einen nahm er gerne die Gereiztheit der anderen in Kauf.

Sein Blick fiel auf zwei Glaubensgeschwister, die er mittlerweile genauer kennen gelernt hatte – Radiant Sonicson, gebürtiger Radiant Melton, der Mann mit dem dunklen Haar, der eine gewaltige Firma aufgebaut hatte, welche jährlich hunderttausende Aran spendete, um ärmeren Menschen ein Zuhause zu geben, und den Rest verwendete, um die Eisenbahnnetze auszubauen. Neben ihm saß seine Lebensgefährtin Kim Sonicson, zuvor Peraton und gebürtige Miraton, die bereits seit fünf Jahren in einer Beziehung mit ihm lebte, zuvor allerdings mit einem Herrn Peraton verheiratet gewesen war und aus dieser Beziehung eine Tochter hatte, die jedoch in der Südlichen Hauptstadt studierte. Radiant selbst hatte ebenfalls eine Tochter, die aber im Roten Dorf bei seiner Frau lebte. Keiner der beiden hatte ihm mehr über die Lebensumstände der Kinder oder ehemaligen Partner erzählen wollen. Und auch keiner der beiden hatte ihm mehr über Ray gesagt als nötig – Alter, Geburtstag, vollständiger Name und Wohnsitz. Das alles kannte er von diesem ungläubigen Gör. Ja, das mit dem Glauben hatten sie auch – beschämt – erwähnt. Sie waren sehr anständig.

„In guten, wie auch in schlechten Zeiten beschützt er uns mit seiner Heiligen Gutmütigkeit, seiner Ehrenvollen Barmherzigkeit und Vergebung aller Sünden“, sprach er seinen Text weiter – und zwar von Herzen. Er glaubte, was er da betete. Und er genoss es, es mitzuteilen.

Was er aber nicht genoss, war die Verbindung zwischen Kyrie und Ray. Wenn sie sich jetzt schon einen Partner fürs Leben suchen wollte, warum nahm sie dann nicht Nathan?

Sie kannte diesen Knirps doch schon seit ihrer Geburt! Und dann war er ständig mit ihr aufgewachsen, hatte sie überallhin begleitet und sie immer beschützt. In den zwanzig Jahren, in denen Nathan bei ihr gewesen war, war ihr nie etwas zugestoßen – und in dem halben Jahr, in dem sie sich auf Ray verlassen hatte, wurde sie von der Treppe gestoßen. Wer da der Richtige für sie war, stand wohl außer Frage!

Magdalena schaute ihn von der ersten Reihe aus durchdringend an – als wüsste sie, woran er dachte. Als würde sie ihn mit ihren Blicken schelten – doch was konnte er dafür? Er war um seinen kleinen Engel besorgt! Er liebte seine Tochter so sehr wie seine Frau! Was sollte er sonst tun, außer sich Vorwürfe und Hoffnungen zu machen?

Er war eben kein hoffnungsvoll in Gott vernarrter Priester – er war ein hoffnungslos in seine Tochter vernarrter Vater!
 

Acedia … kam pünktlich.

Hätte man ihm das erzählt, so hätte er vermutlich kurz aufgelacht und den Erzähler einen Idioten geschimpft – doch jetzt gab es keinen Erzähler. Es war real.

Das letzte Mal als Acedia pünktlich gekommen war, war seine Welt zusammen gebrochen. Doch das war so lange her, dass es keine Bedeutung mehr hatte. Er hoffte bloß, dass sie es nicht wiederholen würde.

Ira richtete sich in seinem Stuhl auf. Acedia nahm auf ihrem Platz und schaute in die Runde. Invidia fehlte noch. Vermutlich hatte ihr Assistent mehr zu erzählen gehabt.

Er überlegte, ob er sich nicht besser auch einen Assistenten zulegen sollte. Sie waren schon ernorme Erleichterungen – doch sie brachten auch Verpflichtungen und Sorgepflicht mit sich. Und den Gedanken an die Ewigkeit. Denn sobald man wusste, dass der Assistent bereit war, den Platz als Todsünde einzunehmen, erkannte man scheinbar, dass es für einen selbst an der Zeit war, aus dem Himmel zu verschwinden.

„Wann kommt sie denn?“, fragte Acedia ungeduldig in den Raum hinein.

Niemand sagte ein Wort. Fünf unbeeindruckte Blicke trafen sie.

„Es ist wichtig“, gab sie hinzu, „Vielleicht sogar wichtig genug, um Sin dazu zu holen.“

„Sin wird nicht geholt“, warf Gula streng ein, „Er kommt einfach.“

Sie seufzte. „Ja, und der Himmel ist blau“, antwortete sie gereizt, „Aber Invidia soll sich jetzt beeilen! Ich habe keine Lust, alles zu wiederholen. Jetzt komme ich einmal pünktlich – und dann das!“ Sie verschränkte die Arme. „Ist sie immer so unwillkommen unpünktlich?“

Avaritia nickte. „Ja, aber Superbia ist für gewöhnlich noch unpünktlicher.“ Sie stockte kurz. „Und du natürlich.“

„Sie muss einfach betonen, dass sie nie auf der Erde war“, erklang Invidias Stimme von der Tür her, welche sich hinter ihr geräuschlos schloss, „Würde zumindest Luxuria jetzt sagen, wenn sie hier wäre.“

„Hast du endlich eingesehen, dass sie nicht mehr zurückkommen wird?“, wollte Acedia gespannt wissen, „Es ist nämlich an die Öffentlichkeit gelangt, dass sie nicht mehr da ist.“

Sechs Augenpaare richteten sich auf den rothaarigen Engel.

Invidia näherte sich langsam ihrem Sessel und machte es sich darin bequem – ohne aber dass sie die Augen von Acedia ließ. Alle waren gebannt von ihren Worten.

„Wie meinst du das?“, wollte Ira wissen, „Wer hat geplaudert?“

Acedia zuckte lediglich mit den Schultern. „Es weiß scheinbar jeder. Mein Assistent hat es mir mitgeteilt.“ Sie schaute streng durch die Reihen. „Wir müssen handeln!“, rief sie, „Wir müssen eine Engelsversammlung einberufen – wir brauchen eine neue Todsünde.“

„Luxuria ist bestimmt noch am Leben“, wandte Superbia ein, „Es würde uns allen einmal gut tun, eine Zeit lang eine Auszeit zu nehmen.“

„Nein“, widersprach sie ihm, „würde es nicht.“ Sie stemmte die Arme in die Hüften und erhob sich. „Wenn wir das nämlich tun würden, so würde die Erde in einem Jahr einhundert Dämonen beherbergen.“

„Einhundert Einjährige“, verbesserte Superbia sie, „Was kein Problem darstellt, wenn wir alle innerhalb des Jahres zurückkehren.“

„Ich widerspreche“, mischte sich Gula ein, „Immerhin hätten die anderen Dämonen dadurch Schlupflöcher, durch die sie die Menschen leichter kontrollieren könnten – sie hätten ihre eigene Armee und wären dem Himmel so nah wie noch nie zuvor.“

Ira nickte zustimmend. „Wir sollten es versuchen. Wir müssen jemanden zu Luxuria ernennen.“

Avaritia schüttelte den Kopf. „Und wenn es nicht gelingt?“ Sie schaute von einem zum anderen. „Was würden die Leute von uns denken? Wen können wir anführen, wenn wir nicht einmal unsere sieben Mitglieder beherrschen können?“

Invidia pflichtete ihr bei: „Das ist wahr. Wir würden sämtliche Glaubhaftigkeit verlieren. Stellt euch nur vor, sie würden nach Sin verlangen!“

Aus irgendeinem Grund kam Sin kaum mehr bei Konferenzen vorbei – und er blieb nur noch im Konferenzraum. Superbia und Invidia konnten von Zeiten erzählen, in denen er noch im gesamten oberen Stockwerk, manchmal sogar am Fuß des Turms, unterwegs war. Doch mit der Zeit wurden die Besuche seltener und seltener. Und jetzt erschien er kaum noch hier.

Es war, als würde er die ganze Zeit Gott zur Seite stehen.

Als würden sie sich über Lappalien wie Luxuria unterhalten, während Sin und Gott den wahren Kampf führten. Die wahre Arbeit leisteten. Was für eine Farce.

„Oder“, lenkte Superbia ein, „Wenn es gelingt. Was wäre dann die perfekte Ausrede?“

„Ihr könnt nicht aus Angst vor den Konsequenzen die Wahrheit verbergen!“, rief Acedia – leicht wütend – aus, „Das wäre eine Lüge!“

Superbia sah sie aus kalten Augen an. „Die Todsünden können auch zu sechst bestehen, Acedia“, wies er sie hin, „Und wenn Luxuria zurückkommt, so ist das Glück uns geweiht.“

„Und wenn nicht?“, wollte sie von ihm wissen, „Was, wenn sie niemals zurückkommt? Wird dann die Wolllust einfach gestrichen? Funktioniert das hier so?“ Ihre Augen blitzten gefährlich auf.

„Wenn die Zeit reif ist, so werden wir sie wählen lassen“, antwortete er kühl.

Ira erkannte, was hinter dieser Antwort steckte: Nachdem Luxuria in etwa genauso alt wie Acedia und er war, würden sie sie neu wählen lassen, nachdem sie beide gestorben waren. Dann würde Luxuria mit großer Wahrscheinlichkeit nämlich auch tot sein – und damit würde alles seinen gewohnten Lauf nehmen.

„Aber das Volk weiß davon“, wandte Gula ein, „Wenn sie es wissen, werden sie nicht nur nach Sin, sondern auch nach Luxuria verlangen.“

„Sie werden verstehen, dass Sin damit beschäftigt ist, Gott im Kampf gegen die Dämonen direkt zu unterstützen“, gab Invidia frei heraus zurück, „Und Luxuria hat keine Anwesenheitspflicht – nirgendwo. Keiner von uns hat das. Wir wissen bloß, was Kulanz bedeutet.“

Superbia stimmte ihr zu: „In meiner vorherigen Gruppe gab es eine Avaritia, die es liebte, jahrelang auszugehen“, erklärte er zum hundertsten Mal, „Und dennoch haben wir restlichen sechs alle gut geführt, die Halbengel gut gerettet, die Gerichtsurteile gut gefällt und auch alle anderen Probleme entsprechend gut gelöst.“

Ira seufzte. Dieses Theater brauchte endlich seinen letzten Akt – doch der würde heute eher nicht kommen. „Wer für die Einberufung einer Engelsversammlung ist, der möge jetzt die rechte Hand heben.“

Dreimal schoss die rechte Hand nach oben: Acedia, Gula und er selbst stimmten noch immer dafür. Sie benötigten die Mehrheit, um den Entschluss durchzubringen.

„Wer für das Abwarten und Weiterführen unserer Pflichten ist, der möge jetzt die rechte Hand heben“, stellte Invidia die Gegenfrage. Erneut schossen drei Hände nach oben. Superbia, Invidia und Avaritia sprachen sich dafür aus – und standen dafür ein.

„Wie lautet unser nächster Punkt auf der Tagesordnung?“, wollte Acedia gereizt wissen, „Nachdem wir einige unnachgiebige Torköpfe unter uns haben!“

„Solltest du nicht einfach zu faul zum Reden sein?“, wollte Invidia genervt wissen, „Der nächste Punkt betrifft das Anliegen eines Engels. Er behauptet, mit Absicht von einem Schwert gestreift worden zu sein. Wir sollen dem anderen die Erinnerung nehmen.“

Ira hörte mit einem Ohr zu. Sie hatten so viele Aufgaben – und Luxuria zu finden war eine von ihnen. Doch seiner Meinung nach war diese von enormer Bedeutung. Nicht nur, weil Luxuria vor so langer Zeit seine allerbeste Freundin gewesen war – nein. Sie war auch eine Todsünde, der große Macht anvertraut worden war. Große Macht – und ein Geheimnis. Doch sobald Ira versuchte, dieses Geheimnis zu lüften, stießen seine Gedanken gegen eine Wand aus Licht und Liebe. Er erkannte diese Blockade. Und er wusste, dass irgendwann die Zeit kommen würde, an der er erkennen durfte, was sich dahinter verbarg.

Bis dahin musste er sich um das kümmern, was vor ihm aufgedeckt lag – das, wogegen er etwas unternehmen konnte. Und das hieß im Moment Luxuria.

Wenn während ihrer Abwesenheit irgendetwas Schreckliches geschah – wie würden die verbliebenen Todsünden dann reagieren? Was würden die Engel tun, wenn sie herausfanden, weshalb die Todsünde abwesend war? Was konnte eine so zuverlässige Todsünde so lange aufhalten?

Und wie würden sie vor dem Volk reagieren, falls dieses sie auf Luxurias Abwesenheit ansprach? So viele Fragen, doch keine Antworten. Aber eines stand fest: Sie durften ihre Glaubwürdigkeit, das Vertrauen, das in sie gesetzt wurde, nicht verlieren.

Niemals.

Es war viel einfacher, aus dem Bett zu kommen, wenn man ausgeschlafen war. Das hatte sie mittlerweile erkannt – und zu diesem Zweck hatte sie sich gestern genauso früh schlafen gelegt, wie sie spät aufgestanden war. Vor ihren Eltern zuzugeben, dass sie tatsächlich das Frühstück verpasst hatte, hatte ihr einiges abverlangt – doch sie hatte ihren Stolz vergessen und es getan. Und dann gefrühstückt, während ihre Eltern zu Mittag gegessen hatten. Aber wegen der Snacks in der Nacht hatte sie sowieso bloß wenig Hunger gehabt.

Sie seufzte lautlos. Vermutlich war es sehr peinlich, wenn man in ihrem Alter wegen ein wenig Schlafmangels so ein Theater abzog, aber sie fühlte sich einfach schlapp. Nie wieder würde sie so lange wach bleiben! Wenn sie 25 Jahre alt war, dann würde sie einfach ihre Fahrberechtigung machen und jeden Tag um Punkt zehn Uhr am Abend zu Hause sein – und schlafen. Schlafen bis zum Morgen, um dann fit und fröhlich den nächsten Tag beschreiten zu können. Wo auch immer sie in fünf Jahren dann stehen würde. Aber vermutlich wäre ihre Platz dann immer noch zuhause – immerhin würde sie noch immer studieren. Und weil sie in diesem ersten Jahr relativ wenig Auslastung hatte – sechs Stunden pro Tag waren wenig, andere blieben den ganzen Tag an der Uni -, würde sie in den nächsten Jahren dann mehr Zeit hier verbringen. Aber sie hatte damit schon von Anfang an gerechnet: Sie wollte bloß die Grundlagen beherrschen – und das schaffte sie, indem sie sich Zeit zum Lernen nahm.

Natürlich hatte sie damals, als sie ihren Plan festgelegt hatte, keine Ahnung davon gehabt, dass sie die Zeit auch brauchen würde. Und zwar, um die Grundlagen des Engelsseins zu erlernen!

Gestern war sie wieder bei Nathan gewesen. Er hatte ziemlich abgelenkt gewirkt, wollte sie aber nicht mit seinen Sorgen belasten. Sie hatte es akzeptieren müssen, da er sie einfach unvermittelt mit dem Schwert angegriffen hatte, um ihre eigene Konzentration zu steigern. Aber sie waren es langsam angegangen. Außerdem hatte sie ihn über den Sänger der Sieben Sünden befragt – er gab allerdings zu, dass er in all seiner Zeit als Mensch nichts davon bemerkt hatte und entsprechend auch nicht wusste, um welchen Engel es sich dabei handelte. Aber er hatte vorgeschlagen, dass sie diese Frage Liana stellen sollte.

Noch dazu hatte die Zeit im Himmel ihrer Müdigkeit den Rest gegeben – und sie hatte gestern wieder entspannen können. Und weil sie aus Fehlern lernte, war sie auch zeitig schlafen gegangen. Doch darüber würde sie sich in den Ferien keine Gedanken mehr machen müssen – denn dann würde des Nachts ihre Zeit im Himmel wieder losgehen. Diese anstrengende, mühevolle Zeit … Aber … zumindest würde sie irgendwann ihre Großmutter besuchen! Das war doch positiv. Nathan durfte es bloß nicht vergessen haben.

„Heute bist du aber früh dran“, kommentierte Ray, der plötzlich neben ihr aufgetaucht war, „Hast du etwa die Vorlesung sausen lassen?“ Er zwinkerte und setzte sich neben sie, wobei er seine Tasche ins Gras stellte. Das machte dem Gras nichts – bald würde die kalte Jahreszeit hereinbrechen, da würde es sowieso absterben.

„Also bitte, wofür hältst du mich?“, empörte sie sich, „Denkst du wirklich, dass ich dazu fähig wäre?“, spielte sie theatralisch auf, wobei sie alles mit dem Blick eines Unschuldsengels und ungläubiger Gestik unterstrich.

Er schüttelte den Kopf und lachte in sich hinein. „Nein, ich weiß doch, wie zuverlässig du bist.“

„Du hast mir nicht auf meine Nachricht geantwortet“, fiel Kyrie ein, „Ich habe dir gestern eine geschrieben.“

Er sah sie verwirrt an. „Sag bloß, dass du gestern wach warst.“

Unbehaglich schaute sie hin und her. „D- Doch? Ich war gestern wach?“

Er verschränkte die Arme, während er anerkennend nickte. „So eine bist du also. Das hätte ich nie von dir gedacht.“ Es klang enttäuscht, doch die Ironie war leicht zu erkennen.

Sie fasste ihm an die Schulter und stieß ihn kurz an. „Idiot“, beleidigte sie ihn scherzhaft, „Hast du wirklich den ganzen Tag über geschlafen?“, wollte sie ungläubig wissen.

„Meine Devise lautet: An Wochenenden so viel wie möglich, unter der Woche so wenig wie nötig!“, verkündete er fröhlich.

Sie starrte ihn perplex an. „Und damit kommst du durch?“

Er lachte lediglich und wechselte dann das Thema: „Wie hat dir das Konzert gefallen?“

„Hättest du meine Nachricht gelesen, wüsstest du es“, klagte sie ihn an.

„Verrätst du es mir?“ Er legte einen flehenden Blick auf, „Bitte?“, fügte er dramatisch lang gezogen hinzu.

Kyrie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Wenn du mich so fragst …“, gab sie nach, „Ja, es war ganz in Ordnung. Eine bessere Band hätte es nicht gegeben, die Begleitung entpuppte sich als ganz passabel.“

„Die Aktionen, die Ted abgezogen hat, waren wirklich nicht in meinem Interesse“, versicherte er erneut – todernst, „Er ist ein kindischer Vollidiot.“

Sie winkte ab. „Ich bitte dich – das weiß ich doch!“ Sie lächelte. „Ich fand den Abend hervorragend und habe nur selten etwas mehr genossen!“ … Sie hätte hinzufügen können, dass sie damit nicht den Teil über den Vollidioten meinte – aber … Was hier abgesprochen wurde, blieb bei ihnen. So gesehen, machte es also keinen Unterschied, ob sie ihn jetzt wirklich für einen ‚kindischen Vollidioten’ hielt oder eben nicht.

Ein seltsames Glitzern trat in seine Augen – er wirkte überglücklich. Irgendwie fand Kyrie das erleichternd – als würde ihr ein Stein vom Herzen fallen. Sie war nicht schlecht drauf, keinesfalls, aber dennoch … fühlte es sich so an, als würde er sie aufmuntern.

„Ich bedanke mich noch einmal dafür, dass du die Rolle meiner Begleitung angenommen hast“, sagte er mit hallender Stimme, wobei er zugleich aufstand und sich dann tief verbeugte, „Und für den Tanz, der folgte.“ Er sah sie erwartungsvoll an.

Sie blinzelte verwirrt. Dann erhob sie sich genauso, streckte ihm die Hand entgegen und vollführte einen Knicks. „Die Ehre war ganz meinerseits.“

Er lächelte sie an – und sie lächelte zurück.

Und ihr Herz schlug dabei ganz fest.
 

Ray bog auf der Straße um die Ecke und blieb abrupt stehen – Kims Auto stand noch immer vor der Tür. Also war sie noch da. Das war unschön. Er wollte ihr nicht begegnen – nicht jetzt, wo er sich in Hochstimmung befand. Die Zeit, die er mit Kyrie verbrachte, führte bei ihm einfach zu Glück. Er fühlte sich erfüllt.

Also zückte er sein Mobilfunkgerät, wobei er erkannte, dass er drei Nachrichten erhalten hatte – eine von Kyrie, eine von Diane und die letzte von Kylie. Er hätte es gestern doch einmal überprüfen sollen. Aber das machte ja nichts! Immerhin lief ihm die Zeit nicht davon – und egal wie spät er per Telefon antwortete: Er würde immer und immer wieder schneller sein, als würde er es persönlich tun. … Zumindest bei seiner Schwester und bei seiner besten Freundin. Bei Kyrie war es etwas komplizierter – aber diese hatte ihn nur gefragt, wie es ihm gefallen habe und ob er noch schliefe. Und das um zwei Uhr mittags! Das Mädchen war wohl wirklich ein Frühaufsteher.

Diane hatte bloß die Bestätigung geschickt, dass es ihr und ihrer Mutter gut ginge – seine Schwester tat das öfter. Vor allem, wenn er sich die Mühe machte und eine lange Frage ausformulierte, kam von ihr eine knappe Antwort zurück. Also antwortete er gar nicht darauf. Aber zumindest schrieb sie. Aber er hatte sich bereits bei ihr beschwert – er wollte nie wieder eine Periode erleben, in der sie einfach tagelang nichts verlauten ließ!

Kylie schrieb: „58 Tage noch, dann sehen wir uns wieder! Außer ich würde in der Zwischenzeit gekündigt werden.“ Das freute ihn! Sie würde wohl die ewig lange Zugstrecke zurücklegen, aber dafür hatten sie dann wieder Zeit für sich! Und sie konnten sich wie alte Freunde benehmen, er würde ihr die Stadt zeigen, die Universität – Kyrie! „Diese Woche übernehme ich wieder deine Mutter. Ich habe heute schon im Schach gegen sie verloren. Bei ihr kann man einfach nicht schummeln! Die Frau ist ein Genie. Man merkt, dass du nichts von ihr geerbt hast.“ Ein Smiley, der die Zunge hinaus streckte, folgte ihren Worten.

Kylies Nachrichten waren immer so viel lebhafter als die von Diane. Wenn er mit Kylie schrieb, fühlte er, dass es seiner Mutter gut ging – bei Diane war es einfach das Wort, das sie ihm gab. „Ich arbeite dann mal weiter! Und, wehe dir, du enttäuscht mich dann. Ich erwarte Luxus, schließlich bin ich dann zum ersten Mal in einer Stadt!“ Er lachte über ihre Worte. „Und das für eine ganze, lange Woche, mein Freund! Samstag bis Samstag!“

Aber sie schnitt damit ein wichtiges Thema an: Er würde mit Kim sprechen müssen – wegen dem Essen und dergleichen. Aber … das hatte Zeit. Das musste nicht hier und heute sein. Und sein Vater würde es sowieso von seiner Kim erfahren – da hatte er keine Sorge.

Also stand er dort, hinter der Kreuzung, und wartete, bis Kim das Haus verließ. Aber es dauerte und dauerte ewig.

Er hätte sich eintausend spannendere Tätigkeiten ausdenken können, die er jetzt betreiben hätte können, anstatt einfach hier herumzulungern und zu warten – vermutlich würde sie sowieso noch in diese Richtung fahren.

Ihm gegenüber saß eine dicke Katze, die ihn gelangweilt betrachtete – wenn er bloß untätig herumstand, wurde er das Gefühl nicht los, dieser faulen Katze ähnlich zu sein.

Aber wenn Kim nicht heraus kam … Vielleicht war sie krank? Vielleicht schlief sie? Vielleicht würde er hier bis morgen warten?

Nein – er musste jetzt wohl einfach reingehen, auch auf die Gefahr hin, dass er mit dieser Frau kommunizieren müsste.

Also schlenderte er den Rest des Weges entlang, öffnete das große Gartentor und durchquerte den ordentlich gemähten Garten. Er hatte wirklich seit seiner Ankunft hier noch nie etwas für den Haushalt getan. Aber … er wurde weder dazu aufgefordert, noch hatte er großartige Lust, seine Zeit in etwas hineinzuinvestieren, das er hasste.

Er öffnete die Tür einen Spalt breit und hörte für einen kurzen Moment hin.

Ruhe.

Vielleicht schlief sie wirklich.

Er trat ein und schloss die Tür hinter sich, wobei sie mit einem kaum hörbaren Klacken ins Schloss fiel. Er schlich in die Küche und betrachtete das Essen, welches auf der Mikrowelle stand. Und erschrocken stellte er fest, dass Kim auf der Eckbank lag und schlief.

… Entweder er war jetzt laut und weckte sie auf die Gefahr hin, dass sie mit ihm sprach … oder er würde einfach später vorbeischauen, um sein Essen zu holen.

Und er entschied sich für Letzteres, so machte er sofort kehrt und wandte sich den Treppen zu, die in den ersten Stück führten, wo sein Zimmer wohl bereits auf ihn warten würde.

„Ray?“, erklang plötzlich ihre Stimme aus der Küche.

Er zögerte einen kurzen Moment. Dann besann er sich und nahm die Treppen.

„Ich muss dir etwas erzählen, in …“, verklang die leise Stimme im Schnallen seiner Tür.

Nichts konnte wichtig genug sein, dass er mit ihr sprechen würde. Und wenn sie ihm das Essen persönlich hochbringen würde.

Er setzte sich an den Schreibtisch und packte seine Unterlagen aus. Langsam und einprägend besah er, was er heute alles aufgeschrieben hatte.

„Und los geht es“, munterte er sich selbst auf.
 

Ira saß in seinem Büro. Wie alles andere im Himmel war es von Licht durchflutet, mit bedeutungslosen Zeichen versehen und wunderschön hell eingerichtet. In seiner Zeit als Assistent hatte er einen Holztisch gesehen, welchen er hier nachbilden hatte lassen. Natürlich wären seine Kräfte stark genug gewesen, um das selbst zu machen – doch die Ränge, die Einrichtungsgegenstände dank ihrer Berufung produzierten, waren sehr viel geschickter darin.

Ordentliche Stapel lagen am Tisch. Unterlagen, Protokolle, Aufgaben.

Er kümmerte sich darum alleine. Ihm war noch nicht der perfekte Assistent über den Weg gelaufen, doch er sehnte sich danach, seine Wahl so schnell wie möglich treffen zu können. Seit Luxurias Verschwinden wurden ihre Aufträge auf die Verbliebenen aufgeteilt – er hatte jetzt noch mehr zu tun. Und dazu wollte er noch so viel wie möglich über ihren Aufenthalt erfahren – aber er hatte keine Zeit zu ermitteln. Das musste er wohl wirklich den Assistenten der anderen überlassen. Alleine … hatte er da keine Chance.

Er nahm einen Zettel und las, was darauf stand. Es war eine Bitte. Ein Engel wollte seine Erinnerungen löschen lassen.

Die Aufgabe kam auf den dafür vorgesehenen Stapel. Das waren die Aufträge der Todsünden. Sie konnten Dinge verändern. Diese Belange gingen bloß sie etwas an – die Assistenten erfuhren davon nichts. Denn die geheimsten Hoffnungen, Wünsche und Gedanken der Engel durfte nur Gott erfahren – und die Todsünden waren die nächsten Stellvertreter dafür.

Plötzlich ertönte ein Klopfen an der Tür.

„Ira?“, erklang die Stimme von Superbias Assistenten dahinter, „Ein Auftrag.“

„Komm rein“, lud er ihn ein, behielt seine Augen aber am Papier.

Der Engel tat wie geheißen. „Ein weiterer Halbengel ist gesichtet worden. Heute Nacht ist die Auswahl“

„Sie vermehren sich“, murmelte Ira. Seit Luxurias Verschwinden, wie es ihm erschien.

Es gab immer einige Ausnahmejahre – in etwa alle zwanzig Jahre, wie er sich notiert hatte, doch die Gründe dafür hatte er irgendwie nicht … erforscht. Was unüblich für ihn war. Doch etwas in ihm verriet ihm, dass es seine Richtigkeit hatte. Aber es gab natürlich auch hier Ausnahmejahre – vermutlich war es doch alles bloß reiner Zufall.

„Bitte?“, fragte der Assistent höflich nach.

„Danke, du darfst gehen“, empfahl er ihm, ohne sich auch nur einmal umzuwenden. Falls Superbia je sterben würde, würde er den Mann oft genug zu Gesicht bekommen.

Heute war ausnahmsweise keine Konferenz – da war es doch klar, dass etwas anderes zwischen ihn und seine Arbeit rücken müsste.

Derzeit hatten sie einen Halbengel in Ausbildung, den von Acedias Assistenten, und noch einen, der aber erst in zwanzig Jahren seinen besonderen Auftritt bekommen würde.

Vielleicht würden diese Eltern heute Nacht ja den Mut entwickeln, das Kind selbst entscheiden zu lassen. Er hatte es ja selbst gesehen, dass es sehr wohl Spaß bereiten konnte, auf so einen Halbwüchsigen aufzupassen. Leider hatte sich sein Mensch dagegen entschieden. Er konnte sich kaum mehr an den Namen erinnern. Aber es war schade, dass er so früh hatte wieder gehen müssen. Er hatte viele Freunde gehabt. Er selbst war seither nicht mehr auf der Erde gewesen. Seine Pflichten als Assistent hatten ihn abgehalten, dann war er auch noch recht schnell zur Todsünde gekürt worden …

Er bereute es nicht.

Aber jetzt sollte er sich wieder den Bittstellungen zuwenden. Immerhin war sein heutiger Tag erneut begrenzt.

„Erinnerst du dich eigentlich noch an … die Antwort auf diese bestimmte Frage?“, wollte Ray von ihr wissen. Er schaute Kyrie an. Sie saß neben ihm und schaute betont nachdenklich drein, dazu hatte sie die Arme verschränkt. Diese schwarze Jacke, unter der ihr weißes Shirt beinahe strahlend zu Geltung kam, passte sehr gut zu ihr. Und zum Wetter. Der Einsturz war relativ rasch gekommen – perfekt für die Ferien.

Er hoffte bloß, dass es nicht schneite. Es würde ihm zwar ein Stückchen Heimat zurückgeben, doch … wenn er schon einmal aus dem Roten Dorf raus kam, dann konnte das Wetter auch genauso gut halten und die Sonne zumindest ein wenig länger zum Vorschein bringen.

„Tut mir leid“, kam es von ihr. Sie lächelte entschuldigend. „Aber ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“

„Aber die Heilige Schrift kannst du auswendig“, kommentierte er trocken. Ehe sie sich zur Wehr setzen konnte, fuhr er fort – das entrüstete Aufblitzen in ihren Augen genießend: „Ob wir uns außerhalb der Schule …“ Das klang blöd. „Fernab der Mauer …“ Genauso. „Nicht hier“ … Das war vermutlich das Treffendste. „… treffen wollen.“

„Ich habe zugestimmt“, erinnerte sie sich. Dann zog sie einen Schmollmund. „Du hättest die Frage einfach sofort wiederholen können.“ Gleich danach murmelte sie irgendetwas von wegen „dramatischer Effekt“.

Er lachte. „Vermutlich!“

„Aber ich ziehe meine Aussage deshalb nicht zurück“, beruhigte sie ihn, wobei sie ihm sanft auf die Schulter klopfte, was ihn kurz zusammen zucken ließ. Es tat nicht weh, auch wenn es seine linke Schulter war, doch … es kam überraschend. Und war angenehm.

Ein solches Schulterklopfen vermisste er mittlerweile seit fünf Monaten.

„Das stimmt mich positiv“, gab er grinsend zurück, „Vorschlag?“

„Morgen beginnen die Ferien“, stellte Kyrie fest, wobei sie wieder ihre Hände verschränkte, „Aber es ist zudem Sonntag, was bedeutet, dass ich sehr früh aufstehe.“

Er nickte. „Du stehst immer früh auf, hör auf, es zu leugnen.“

„Misch dich nicht ein“, murmelte sie kühl, „Darum geht es hier nicht.“

Er lachte. „Wie steht es mit Montag? Für dich habe ich immer Zeit.“

Sie schaute ihn überrascht an. „Unternimmst du nichts mit Ted oder … Ken oder-…“

Er unterbrach sie mit einem Nicken. „Nein, Ken und Maggie haben reiche Eltern und arbeiten nebenbei – sie fahren über die Ferien ins Lichte Dorf.“ Da war doch etwas … „Ah!“, machte er, „Da wohnt doch deine Oma, oder? Die besuchst du doch auch, oder?“

„Ja“, antwortete sie, „Aber … ich bin mir noch nicht sicher wann.“

Er schob eine Augenbraue nach oben. „Das kommt dich dann aber teuer zu stehen.“

Sie winkte sofort ab. „Ich werde es verkraften … Aber darum geht es jetzt auch nicht!“

„Wenn ich mit dir rede, geht es immer nur um das eine“, bemängelte er amüsiert.

Sie blinzelte verwirrt. „Was?“

Dieses Mädchen! „Los, sprich! Wann hast du Zeit? Du bist diejenige mit dem übervollen Terminkalender.“

„Was machen wir überhaupt?“, warf sie ein.

„Darum geht es jetzt nicht“, entgegnete er.

Sie schaute unbeeindruckt. „Hast du ein Problem mit meiner Ausdrucksweise?“

Er erwog, es nicht zu tun, aber irgendetwas in seinem Inneren drängte ihn dazu – er tätschelte ihr den Kopf und kommentierte: „Du bist so ein süßes Mädchen.“

Sie schaute ihn erbost an – die Zornesröte stieg ihr ins Gesicht. „Montag ist in Ordnung!“, gab sie sich geschlagen.

„Wenn nicht, einfach schreiben!“, schlug er vor.

Sie nickte. „Oder du, falls du doch noch Hobbys erhältst, die du bisher vergessen hast.“

Er lachte. „So verkalkt bin ich jetzt auch wieder nicht!“

Sie lächelte kurz. Dann holte sie auf: „Nachdem wir das jetzt geklärt hätten … Was machen wir wo?“

„Eine solch kalte Jahreszeit lädt dazu ein …“ Er überdachte kurz, was man in dieser Stadt alles tun konnte – na ja, in dieser Stadt konnte man schlichtweg alles tun. Kino – aber es lief kein guter Film. Dabei zusehen, wie ein Film gedreht wurde – aber es wurde kein guter gedreht. Eis essen – es war kalt. Sich in ein Café setzen, die Zeit totschlagen und dabei Imbisse zu sich nehmen … Da kam er wohl schon näher ran. Oder in ein schickes Restaurant gehen, um zu essen. … Nein, das war wohl zu teuer. Er hatte ehrlich keine Lust, bei seinem Vater um Geld zu fragen. Natürlich konnten sie auch am Abend etwas machen. Aber er wollte mit ihr nirgendwo hingehen, wo er für gewöhnlich hinging – das waren keine Orte für sie. Außerdem war es dort laut. Und er wollte schließlich Zeit mit ihr verbringen, mit ihr sprechen … Das Café schien zu siegen. „Wir überlegen uns beide etwas bis Montag“, schlug er vor, „Dann wählen wir spontan.“

„Wo treffen wir uns dann?“, wollte sie wissen.

„Ich weiß, wo du wohnst, also kann ich dich um … 16 Uhr dort abholen?“, unterbreitete er ihr.

Sie nickte. „Ja, Montag, 14 Uhr – vor meinem Haus.“

„Oder hast du jetzt schon einen Vorschlag?“

Sofort schüttelte sie den Kopf. „Nein, nein, lass es uns bis Montag überlegen!“

„Also schön!“ Er grinste.

Sie grinste ebenfalls. „Ich freue mich schon.“
 

Nathan seufzte. „Seit ich Assistent bin, hat es nur zwei Halbengel gegeben“, erklärte er, „Und jetzt noch dieses eine kleine Mädchen, das in zwanzig Jahren auf die Probe gestellt werden soll – Gott stehe ihr bei.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Und ihrem Assistenten.“ Daraufhin grinste er – das Lachen ertönte erst, als Kyrie ihn beleidigt anschaute.

Er legte einen Arm um ihre Schultern. „Ach komm, das war doch bloß ein Witz.“

Sie warf ihr Schwert fort, woraufhin es beinahe sofort verschwand. „Ich … Ich bin einfach …“, begann sie, sprach aber nicht weiter.

„Zum hundertsten Mal“, beruhigte er sie, wobei er sie an den Schultern packte und vor sich hin stellte, „Schau mich an – ich bin dein Mentor!“

Sie tat es. In ihren Augen steckte Niedergeschlagenheit.

„Du bist gut“, versicherte er ihr, „Den Umständen entsprechend sogar sehr gut – aber … die Umstände sind einfach zu einschränkend, um ein besseres Ergebnis erzielen zu können.“

„Also willst du damit sagen, dass ich unser festgesetztes Ziel niemals erreichen werde?“, fragte sie lustlos, „Dass ich einfach aufgeben, dem Himmel fernbleiben und in fünfundzwanzig Jahren mein jähes Ende finden soll?“ Die Frustration war deutlich zu hören.

„Gegen Joshua würdest du in fünfundzwanzig Jahren vielleicht gewinnen“, stellte er erfreut fest.

„Du willst mich also fünfundzwanzig weitere Jahre als Klette bei dir haben?“, wollte sie wissen, „Willst … willst jeden Tag zu mir kommen, um mich abzuholen? Bei mir bleiben, sodass ich ihnen nicht schutzlos ausgeliefert bin?“

„Es macht mir nichts aus“, rechtfertigte er sich, „Wirklich nicht – ich habe keinerlei Problem damit.“ Die hundert Jahre war er bereit, für sie zu opfern. Sie verdiente ein glückliches Leben. Wie glücklich sie ohne wahre Freiheit auch sein konnte.

Für einen Moment sagte sie nichts. Dann rief sie ihr Schwert erneut. Das konnte sie mittlerweile wirklich gut. Sogar schon kurz nachdem sie den Himmel betrat. Manche Engel ließen sich einen ganzen Zyklus Zeit, um das beherrschen zu lernen – doch … sie ließen sich Zeit. Sie hingegen tat ihr Bestes. Und wenn man sich bemühte, war man eben weiter fortgeschritten als andere. Aber manchmal konnten auch Faulpelze Glück haben – wie auch Anfänger. So war der Lauf der Dinge.

Doch mit guter Vorbereitung konnte man sich auf beinahe alles gefasst machen!

„Wenn wir doch bloß wüssten, wer Jeff und Milli und Drake sind“, lamentierte Nathan, „Dann könnte Thierry einen Übungskampf fechten und dann mit dir ihre Kampftechniken durchgehen“, murmelte er gedankenverloren. Das hatte ihm Acedia ganz am Anfang gezeigt. Wie sie kämpfte. Sie hatte zwar betont, dass sie kein Fan von der Schwertkunst war, sondern mehr Wert auf die Beherrschung des Erlöschens und Aufbauens war – was ihn damals ungemein beruhigt hatte -, doch sie hatten gekämpft. Sie wollte wissen, was er so drauf hatte.

Er hatte eigentlich sehr viel zeigen müssen, was er dann Kyrie beigebracht hatte. Bloß mit dem Unterschied, dass er zuvor Jahrhunderte damit zugebracht hatte, genau das zu erlernen und zu verbessern.

Sein Problem war allen Anscheins nach sein Müßiggang gewesen – wenn er genauso stur an sich gearbeitet hätte wie Kyrie, wäre er mittlerweile vermutlich viel weiter. Und er hätte nicht all seine Jahre verschwendet. Aber damals hatte er es noch nicht verstanden – was es bedeutete, bloß eine begrenzte Zeit für etwas zu haben.

Achtzig Jahre, um aus ihr die perfekte Schwertmeisterin zu machen.

Er grinste.

„Was?“, fragte sie ungehalten, wobei sie bereits in Kampfstellung vor ihm stand.

„Nein, nur …“ Achtzig Jahre? Bei ihrem Talent würde sie zweihundert brauchen – mindestens. Bei ihrem Pazifismus – vierhundert. Aber bei der Sturheit mit der sie an die Sache heranging, mit der sie all ihre Abneigung überwand und zum reinen Selbstschutz zur Waffe griff … Vielleicht würde es bloß weiterer zwanzig Jahre bedürfen. „Erinnerst du dich noch an deinen Kampf mit Thi?“

Sie seufzte. „Nein, ich habe alles vergessen.“ Der Sarkasmus war nicht zu überhören. Ein seltener Ton aus ihrem lieben Munde, doch dennoch ein angewandter!

Er grinste. „Gut, dann wirst du jetzt überrascht sein!“ Und er ahmte beim nächsten Kampf seinen alten Konkurrenten nach. Nur gegen einen Nathan zu kämpfen, war nicht genug – gegen den echten Thi würde es hilfreicher sein, aber beim letzten Mittwochstreffen war er nicht da gewesen. Um genau zu sein war es das seltsamste Mittwochstreffen überhaupt: Es waren bloß Kyrie und er aufgetaucht. Also hatten sie eine ganz normale Übungsstunde daraus gemacht. Nächste Woche würden die anderen es ihnen schon mitteilen, was sie so zu erledigen hatten. Und vielleicht würden die anderen einwilligen, mit Nathan zu kämpfen, sodass er ihre Stile sich aneignen konnte, um Kyrie perfekt vorbereiten zu können – allerdings in der Zwischenzeit … Er selbst hatte so viele Kämpfe gefochten, damals, vor so langer Zeit, dass er sich sicher war, einige Asse aus dem Ärmel ziehen zu können. Sie würden es aushalten.
 

„Und was hast du heute im Himmel alles gelernt?“, fragte Magdalena lächelnd, während sie ihr Brot schmierte.

Kyrie zuckte mit den Schultern. „Nichts Besonderes. Ich habe etwas Zeit mit Nathan verbracht …“

„Es ist wirklich sehr freundlich von ihm, dass er dich immer abholt und wieder herbringt“; betonte John, „Anders als andere Personen.“

Sie schaute ihn ungehalten an. „Er ist in letzter Zeit sehr beschäftigt“, erklärte sie dann, „Sonst würde er länger mit euch sprechen.“

John wandte seinen Blick auf seine Tochter. Sie wirkte seltsam angespannt. So als … würde sie lügen. Sich unbehaglich fühlen. Aber sie brauchte doch vor ihm keine Geheimnisse zu haben! Er fand alles, was sie tat, wundervoll. „Gibt es Probleme?“, wollte er dann wissen.

Schock veränderte ihr Miene – doch sie bekam sich sogleich wieder ein und zeigte eisige Ruhe. „Nein, alles bestens. Keine Überfälle, keine Schwierigkeiten. Und bei euch?“

Er lachte. „Danke, hier läuft auch alles gut.“

Magdalena nickte zustimmend, während sie ihr Brot verschlang. Sie musste sich beeilen, weil sie heute noch im Restaurant aushelfen musste.

Er selbst hatte für heute frei. Die Messe gab es erst morgen. „Gehst du heute wieder weg?“, wollte er wissen, „Zu einem … Konzert.“

„Keine Sorge, morgen gehe ich wieder zur Kirche“, versicherte sie, „Aber am Montag bin ich tagsüber wieder weg. Und mittwochs. Wie immer.“

„Solange du mit dem Lernen klarkommst“, erinnerte John sie streng. Um seine Worte zu unterstreichen, verschränkte er die Arme, „Hast du in den Ferien sonst etwas vor?“

„Ich …“, begann sie, brach dann aber wieder ab.

Er schaute sie auffordernd an.

„Nun … Ich habe gehofft, dass Nathan mit mir ins Lichte Dorf geht. Zu Großmutter …“, erklärte sie kleinlaut.

„Teleportieren“, murmelte John überrascht, „Wirklich, wirklich …“ Er schüttelte den Kopf und schaute gen Himmel. „Es gibt Dinge, die man einfach nicht begreifen kann, wenn man sie nicht selbst erlebt.“ Er seufzte. Engel … sie waren wirklich überall.

Kyrie hatte es ihnen bereits am Anfang erzählt – was es mit dem Teleportieren auf sich hatte. Er hatte es sich nicht wirklich vorstellen können – bis Nathan dann ständig in ihrem Haus erschien, ohne je durch die Tür gekommen zu sein.

Und dass sie das über die ganze Welt verteilt tun konnten … Auch seine Tochter.

Er fasste sich an die Stirn. Allein der Gedanke daran, dass es Wirklichkeit war, bereitete ihm Kopfschmerzen. Aber Gott hatte die Engel eben zu Beschützern der Menschen ausgebildet – und dafür mussten sie zu jeder Zeit jede Stelle erreichen können.

„Grüß Mutter dann schön von mir, ja?“, bat seine Frau. Sie hatten akzeptiert, dass Menschen den Himmel weder betreten konnten noch durften. Es wäre so vieles einfacher, wenn das möglich gewesen wäre …

„Natürlich“, meinte Kyrie, „Aber … wenn sie anruft – ich habe das Zugticket.“

John lachte laut auf. „Mirabelle würde einen Herzinfarkt erleiden, wenn es anders wäre!“

„Ihre Enkelin als Schwarzfahrerin“, murmelte Magdalena amüsiert, „Wie unvorstellbar.“

Kyrie nickte. „Habt ihr ihr etwas davon erzählt, dass Nathan weggegangen sei?“, wollte sie dann wissen.

John schüttelte den Kopf. „Ich habe geschwiegen.“ Er schwieg sehr oft, wenn seine Schwiegermutter zu Besuch war. Aber die alte Dame brachte immer wieder Abwechslung ins Haus.

Auch seine Frau wies zurück: „Nein. Kein Wort. Er kann also gerne mitkommen.“

„Vielleicht hörst du dann ja auf sie“, brachte John noch ein, ehe ihn vier wütend dreinblickende Augen zum Schweigen brachten. Dass Magdalena gegen ihn war!

Aber er … er würde es wirklich gut heißen, wenn Kyrie und Nathan ...

„Wann bringst du eigentlich einmal deine Freunde aus dem Himmel mit?“, wechselte Magdalena schnell das Thema, „Liana und die anderen, meine ich.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe bald“, gab sie zu, „Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie Zeit haben.“

Magdalena zog einen Schmollmund. „Für mein Schätzchen müssen sie sich doch Zeit nehmen!“ Dann erhob sie sich. „Ich mache mich auf den Weg. Bis später, ihr beiden. Seid brav.“

Sie verabschiedeten sich von ihr, umarmten sie und beobachteten sie beide dabei, wie sie von Dannen ging.

John sah zu Kyrie. „Schauen wir einen Film?“, schlug er vor.

Sie nickte. „Es sind Ferien“, begründete sie daraufhin, „Was sehen wir uns an?“

Er zuckte mit den Schultern. „Such du es aus. Nach deinen Prüfungen hast du es dir verdient!“

Er war einfach stolz auf seine Kleine. Dass sie zu seiner einer klugen, fleißigen, lernwilligen jungen Dame heranwachsen würde … Einfach unglaublich! So erinnerte sie ihn sehr an ihre Mutter. Damals, als sie noch jung war!

„Keine Planänderung vorgesehen!“, hatte sie gestern Abend noch eine Nachricht erreicht – daraufhin war sie in den Himmel aufgebrochen und hatte die ganze Nacht lang geübt. Und wie sie geübt hatte … Es war die härteste Übungsstunde – Stunde war gut! – seit geraumer Zeit. Seit dem Kampf mit Thi, um genau zu sein. Auch die vom Samstag war anstrengend, doch die vom Sonntag extrem. Nathan hatte plötzlich ganz verändert gekämpft … gar nicht …wie er selbst. Im Nachhinein hatte er ihr verraten, dass er die Kampfstile anderer bestmöglich imitiert hatte. Dabei war ihr aufgefallen, dass sie total auf seinen konzentriert gewesen war – sie hatte bereits seine Angriffe erwartet, ihr Schwert so gehalten, dass sie seine Angriffe blocken konnte … und dann hatte er einfach etwas ganz anderes gemacht!

„Kampfbewusstsein“, murmelte sie. So hatte er das genannt. Sie musste die Schritte aller Gegner antizipieren können – nicht nur die seinen. Denn eines hatte er ihr versprochen: Jeder könnte zu ihrem Gegner werden – bloß nicht er. Und das glaubte sie ihm. Hatte er damit also betont, dass all ihre Übungsstunden umsonst waren? Oder war es mehr so, dass sie endlich die erste Phase geschafft hatte und sich nun präziser auf andere Kampfstile vorbereiten konnte, sodass sie irgendwann gegen Joshua gewinnen konnte. Und dann gegen Thi … Und wenn es schlussendlich Hart auf Hart kam, würde sie Jeff, Milli, Drake und Xenon gleichzeitig gegenüber stehen und …

Sie erschauderte. Besser nicht daran denken … Sie hasste den Gedanken an diesen Moment, wenn sie vor ihnen stand, sich verteidigen musste … und trotz aller Übung kläglich versagte … Ein Kämpfer war nur so stark, wie er sich selbst einschätzte – das hatte Nathan ihr ganz am Anfang zu erklären versucht, doch … sie konnte nichts dagegen ausrichten, dass sie in dieser Hinsicht ein verfluchter Realist war! Sie sah doch, dass die anderen ausgebildete Kämpfer waren – Engel, die seit über zweihundert Jahren ihr Training vollzogen! Vermutlich waren sie noch in irgendeiner Schwert-Sportmannschaft … Und sie? Was war denn ihr Ziel? Joshua in einem halben Jahr zu besiegen? Joshua morgen schon zu besiegen? Oder erst in achtzig Jahren, wenn es sowieso schon egal wäre, wo sie starb? Im Himmel wäre es zumindest schön zu sterben, da sie dort zu Gott gelangen könnte. Auf der Erde hingegen …

Wenn sie so weitermachte, würde sie einfach einen ganzen Tag im Himmel verbringen und so ihr Ableben genießen können …

Wenn sie dann aber im Himmel starb … würde Ray dann nach ihr suchen?

Allein beim Gedanken daran errötete sie. Was glaubte sie denn? Dass er die Wohlfahrt war? Er hatte zwar zwei Wochen lang nach ihr gesucht, aber … nun … also … Wie sollte sie sich das jetzt erklären?

Sie hoffte, dass kein Außenstehender ihr Mienenspiel jetzt beobachten konnte – es musste einfach lächerlich wirken, wie sie mit ihrer Herbstjacke und einem viel zu kühlen Kleid auf der Gartenbank saß und Grimassen zog! Dass sie erst wirkte, als wollte sie auf der Stelle zum Suizid aufbrechen und in der nächsten Sekunde errötete sie wie ein Schulmädchen!

Aber was war sie mehr als ein zu altes Schulmädchen?

Sie verschränkte ihre Arme auf dem Tisch und legte ihren Kopf hinein. Ein Schulmädchen, das aufgegeben hatte, verliebt zu sein, weil es wusste, dass es sowieso keinen Zweck hatte. Weil er ihre Gefühle sowieso nie erwidert hätte. Niemals in ihrem ganzen Leben …

Und wenn sie an Joshua dachte, dann verstand sie auch warum.

Hoffentlich würden die beiden irgendwann doch glücklich sein können … Es wäre einfach schön anzusehen … Vielleicht wäre das Schulmädchen Kyrie dann auch glücklich – wenn es Nathan wirklich so sehr geliebt hatte, wie es glaubte, dann würde es froh darüber sein müssen.

Für den Moment war das eifersüchtige, deprimierte Schulmädchen in ihr aber schon zufrieden damit, dass Nathan Melissa und all ihre Vorgängerinnen nie wirklich geliebt hatte. … Das ließ aber die Frage zu … Wenn … wenn sie ihm damals ihre Gefühle gestanden hätte, damals, bevor er ihr auf diese grausame Weise klar gemacht hatte, dass sie nicht in seiner Liga spielte, hätte er sie dann auch einfach genommen? Einfach … als Zeitvertreib – bis diese zwanzig Jahre um waren. Und … im Himmel wäre dann die Enttäuschung ans Licht gekommen. Allerdings unter dem Vorschein, dass er als Assistent der Todsünden sowieso keine Zeit für sie gehabt hatte – oder vielleicht auch mit Begründung „Engel und Halbengel, das könnte nie funktionieren“ … oder doch mit der Version, dass Joshua …

Egal welche davon … alles hätte ihr das Herz gebrochen. Alles hätte genau denselben Lauf genommen. Das Schulmädchen Kyrie wäre verbittert und hätte sich von der Liebe ein für alle Mal abgewandt – denn wenn nicht er, dann niemand.

Wenn man sich mit ihr abgab, war man sowieso nur das Gespött der Menge. Entweder man wurde bloß ignoriert oder man wurde einfach fertig gemacht. Es wurde über einen gelacht, man wurde mit Worten getreten oder man wurde in seiner einsamen Naivität schamlos ausgenutzt, um an die einzige Person heranzukommen, die einen beachtete …

Denn wenn man sich bei Kyrie aufhielt, dann schenkte Nathan einem einen Blick.

Sie wusste nicht, ob Nathan davon wusste. Er hatte immer wieder seinen wachsamen Blick auf sie gerichtet, hatte sie von diesen falschen Freunden befreit und sie ein Leben in Isolation und Schadlosigkeit führen lassen … ein Leben ohne Fehl und Tadel … aber auch ein Leben ohne wahre Freundschaft.

Als Kinder … als sie zusammen gespielt hatten, als er immer bei ihr war, damals, als sie festgestellt hatte, dass sie ihn lieb hatte, dass er der Einzige war, den sie jemals lieben wollte, da hatte sie seine Freundschaft gehabt. Keine andere. Sie brauchte auch keine. Sie hatte ihn …

Und dann hatte er sich losgelöst.

Sie zurückgelassen … Sie ersetzt.

Und jetzt hatte er sie wieder zurück, verteidigte sie und … tat zumindest so, als würde er sich freuen, dass er sie wieder bei sich hatte … Und, als wäre sie zurück in diesen frühen Tagen der Jugend, gab sie sich damit zufrieden. So verzweifelt war sie, dass sie sich von ihm einfach wieder zurückholen ließ … Als würde sie erneut auf diese eine Chance hoffen … obwohl er in seiner nächsten Umgebung eine charismatische Frau wie Liana hatte, eine intelligente, zynische wie Deliora oder den geheimnisvollen, ruhigen Joshua oder den aufgeweckten, sportlichen, gut aussehenden Thierry! Und dann hatte er noch diese totale Durchschnittsperson, um die er sich kümmern musste, weil sie ein Engel werden wollte, die er wieder gehen lassen wollte und die noch am selben Tag wieder zu ihm zurückkehren musste, weil sie einfach nicht in der Lage war, auf sich selbst aufzupassen, wie es Erwachsene an und für sich taten … Sie war einfach eine Versagerin … schlicht und einfach … schwach.

„Schläfst du schon wieder?“, ließ eine Stimme sie hochfahren.

Erschrocken starrte sie in Rays Gesicht, der sich gerade zu ihr runter gebeugt hatte – vermutlich im dumpfen Versuch, sie aufzuwecken.

Er grinste. „Siehst du? Das kommt davon, wenn man am Morgen zu früh wach ist – alles holt einen wieder ein.“

Sie lächelte. „Hallo“, begrüßte sie ihn. Ihre ganze melancholische Stimmung war wie weggefegt. Sie konnte keinen trübseligen Gedanken mehr fassen. Er machte sie einfach … glücklich. „Wie war dein erster Ferientag?“

Er verzog sein Gesicht. „Na ja“, begann er lang gezogen, „Relativ unspektakulär – großteils auch etwas verschlafen.“ Erneut schlich sich ein Grinsen auf sein Gesicht. „Darum spekuliere ich auf den zweiten.“

Sie lachte kurz auf. „Ich habe gelernt“, ließ sie spontan verlauten – sie hatte keine Ahnung, warum sie das getan hatte. Aber … es war einfach so.

Schockiert starrte er sie an. „Allen Ernstes?“

„Was tun wir heute? Hast du spannende Ideen mitgebracht?“, wollte sie wissen, wobei sie seinen Schock einfach genoss, ohne daraufeinzugehen, und erhob sich. „Komm, gehen wir schon los … Dann können wir auch meinem Va-…“ Als sie den schwarzen Wagen um die Ecke biegen sah, ließ sie den Satz unvollendet.

Hoffentlich würde er Ray nicht böse anfahren. Und hoffentlich ersparte er sich seine Predigten über Nathan. Sie war nicht mehr das Schulkind, das auf ihn hoffte. Nein, egal war geschah, sie … akzeptierte ein Nein. Sie brauchte keine zwei Schläge ins Gesicht, um ihren Fehler einzusehen. Nicht sie.

„Oh, das Auto kenne ich“, murmelte Ray unbegeistert, „Aber ja, ich habe eine Idee. Sie ist sehr unprofessionell und wirkte vielleicht undurchdacht – aber ich habe sehr viele Gedanken an sie verwendet!“

Sie schaute ihn an. „Lass hören!“

„Wir gehen in ein Café.“ Er sah sie erwartungsvoll an – und sie ihn ebenfalls. Sie erwartete ein „Und dann“ oder ein „Und danach“ oder zumindest ein „Oder wir …“. Aber es kam nichts.

Sie blinzelte verwirrt. „Klingt … sehr kreativ …“, kommentierte sie.

„Bessere Vorschläge?“ Er wirkte wirklich gespannt.

„Nein …“, gab sie zu. Immerhin war sie auf genau denselben Vorschlag gekommen. Was wirklich peinlich war und auf ihre Unkreativität hinwies. Aber mit Liana und den anderen ging sie auch nur zum Trainingsplatz, auf die Treppe oder ins Café … Und in der Stadt war sie noch nie beim Sportplatz …

John stieg aus dem Wagen und schaute zu Kyrie und Ray. Sie fühlte seinen unzufriedenen Blick bis hierhin und hatte beinahe den Wunsch, sich hinter Ray zu verstecken – aber das war wohl ihr Fehler … Immer suchte sie nur Schutz hinter anderen, ließ andere die Prügel austragen und suhlte sich in ihrer Angst, aber …

Je näher ihr Vater kam, desto größer wurde das Bedürfnis. Er wusste doch, dass sie heute etwas unternahm, warum wirkte er dann so herrisch und unzufrieden? Warum konnte er nicht einfach „Hallo“ sagen und vorübergehen und sie ihr Leben leben lassen? Wie … wie ein gutwilliger Vater eben … Mit wem sie wegging, war doch egal …

„Guten Tag“, begrüßte er sie.

„Hallo“, antwortete sie zögerlich.

„Guten Tag“, fügte Ray mit einem freundlichen Nicken hinzu.

Und John ging an ihnen vorbei und ins Haus. Doch an der Tür hielt er noch einmal inne: „Deine Mutter kommt später. Ich hole sie gegen Fünf ab. Eine Dienstkraft ist krank, sie hat heute verlängerte Schicht.“ Dann war er dabei, die Tür zu schließen, doch ehe sie ins Schloss fiel, wünschte er noch: „Einen schönen Tag.“ Und das Klacken ertönte.

Sie schaute überrascht zur Tür. „Danke“, murmelte sie, doch sie konnte ihren Blick nicht von der eintönigen Tür lassen. Er … hatte keinen Kommentar abgelassen, es einfach akzeptiert und …

Ach … was führte sie sich denn so auf? Als wäre es etwas Besonderes mit einem Jungen aus der Universität etwas zu unternehmen? Als wäre da mehr dahinter, es war doch ganz normal, dass … Vielleicht war es für andere normal … für sie nicht. Für sie war es mittlerweile normal, mitten in der Nacht von einem Engel geweckt zu werden, um die Schwertkunst zu trainieren …

In was für einer Welt lebte sie eigentlich?

„Kyrie?“, holte Ray sie wieder in die Realität zurück, „Wir … sollten gehen … Denke ich.“

Sie errötete kaum merklich. „J- Ja!“, stimmte sie zu und ging mit ihm durch den Garten.

„Und hast du dir das Zugticket schon bestellt?“, wollte er von ihr wissen, während sie so dahinschlenderten.

„Zugticket?“, fragte sie, bevor sie darüber nachgedacht hatte.

„Zu deiner Oma“, fügte er leicht amüsiert hinzu, „Du musst ja Zug fahren, außer du würdest auf Pilgerreise gehen … Was jammerschade wäre, dann könnte ich mich in den Ferien … und vermutlich auch im nächsten Jahr … nicht mehr mit dir treffen!“ Er grinste.

Sie lachte leicht gezwungen. „Ja, Zug, natürlich, haha …“ Dann schluckte sie ihren Unmut hinunter. „Nein, noch nicht. Wie ich bereits gesagt habe – Spontane Fahrt.“

„Sehr spontan“, bestimmte er näher, „Spontan hat ja seinen Rahmen, aber du liegt damit wohl auf der untersten Grenze.“

Sie hoffte, dass das Thema bald ein Ende nehmen würde. Sie würde sich noch verplappern, das sah sie schon kommen …

„In welches Café gehen wir überhaupt?“, vollzog sie einen schnellen Themenwechsel.

„Ich bin da nicht so heikel, such du dir eines aus“, schlug er vor.

„Ich bin kein großer Café-Geher“, gab sie zu, „Ich gehe da eher nach dir.“

Verblüfft schaute er sie an. „Ich aber auch nicht …“

Beide sahen sich erstaunt an.

Seine grünen Augen stachen so unter seinem dunkelbraunen Haar hervor, welches noch immer unordentlich von seinem Kopf ragte – allerdings kein Vergleich zu Nathans Kopf-Disaster! – und ihn so verpeilt aussehen ließ … Wer würde da nur glauben können, dass dieser Mensch drei Studien absolvierte und vermutlich alle drei ausgezeichnet bestehen würde?

Vor allem bei seiner heutigen Garderobe. Während der Uni achtete er zumindest darauf, adäquat gekleidet zu sein und eine Anzug-Jacke über ein weißes Hemd anzuziehen, doch heute hatte er besonders bequem wirkendes Shirt gewählt, welches mit einem chaotischen Muster durchsetzt war. Überaus … unernst.

„Wenn du willst, können wir auch Shirts kaufen – du scheinst ja nahezu begeistert davon zu sein.“ Er grinste.

Sie sah funkelte ihn erbost an. „Hey, ich betrachte dich nur eingehend.“

„Ach ja?“ Er wirkte ehrlich überrascht.

Sie machte einen Schritt zurück … und errötete erneut. „Warum denn … nicht?“

Er schüttelte bloß den Kopf und lachte. „Los, suchen wir uns ein nettes Plätzchen zum Reden.“ Er ging los.

Sie schaute ihm kurz nach. … Und fragte sich, was das war … Das gerade eben …

Ihr Herz … schlug so schnell … Als würde sie einen Stern beobachten, der so unerreichbar fern war … So fern für sie, so nah für andere … Sie würde nie eine Chance bei diesem Stern haben … Sie sollte es doch gleich aufgeben.

Doch sie lief ihm hinterher.

Und er wartete auf sie. Bis sie ihn eingeholt hatte. Er … wartete tatsächlich.

„Hast du schon gegessen?“, wollte Kyrie dann von ihm wissen.

„Ja“, antwortete er, „Aber für unnötigen Süßkram habe ich immer Platz.“

Sie lachte. „Das ist gut. Ich nämlich auch.“

„Aber ich muss dich gleich vorwarnen: Viel Geld habe ich nicht!“ Er machte eine defensive Geste.

„Ich kann dich einladen“, bot sie ihm unverschmäht an, „Heute zeige ich mich einmal von meiner spendablen Seite.“

„Ach, als wärst du jemals geizig“, ließ er verlauten, „Bei deiner Tugend könntest du ja fast ein Engel sein.“

Kyrie starrte ihn entgeistert an. „Was?“, fragte sie unsicher.

Er lachte bloß. „Nichts, nur Blödsinn.“ Dann schaute er sie neckend an. „Als gäbe es so etwas.“

„Alle da?“, wunderte sich Nathan amüsiert, als er mit Kyrie am Treffpunkt erschien – natürlich waren sie wieder die Letzten, immerhin war Nathan dabei. „Letzte Woche gab es ja einen gewaltigen Ansturm.“ Er grinste.

Sie hatten zuvor schon trainiert, da Kyrie ja sowieso nichts zu tun gehabt hätte und auch Nathan sich immer den ganzen Mittwoch frei hielt. Also hatten sie gestern entschieden, dass er sie früh abholen würde, um sich zuvor schon vorbereiten zu können.

Liana sprang auf und umarmte Kyrie. „Kyrie! Du bist in Ordnung“, rief sie erfreut, „Ich bin so froh. Weißt du, wir haben uns jetzt ja schon lange nicht mehr gesehen. Immerhin war ich letzte Woche nicht da.“ Sie ließ sie los. „Ich musste nämlich mit einer Freundin einigen Gerüchten folgen – da dachte ich, dass ihr euch derweil zu viert vergnügen könntet. Unterwegs bin ich dann aber Thierry begegnet, der genau an dem Mittwoch seine Trainingseinheit nicht ausfallen lassen konnte, weil nämlich Gula beim Siegerteam war und ihnen Tipps und Tricks gegeben hat und sogar mit spielen hat lassen.“ Sie wirkte hellauf begeistert und gestikulierte wild hin und her. Das Glitzern in ihren Augen schien ihre Atmung zu ersetzen – viel Luft konnte sie nicht holen, so schnell und durchgehend wie sie sprach! „Aber Gula hat auch uns sehr gut in den Kram gepasst – also haben wir ihn bis nach dem Spiel abgepasst, um ihm Fragen zu stellen. Er hat allerdings geblockt, weshalb wir die ganze Zeit eigentlich verschwendet hatten und unsere Suche dann ein erfolgloses Ende genommen hat - am Freitag! Manchmal vergeht die Zeit einfach zu schnell.“ Sie lachte.

Kyrie zwang sich dazu, ebenfalls zu lachen – aber mehr aus Verzweiflung. Es fiel ihr schwer, die Informationen in eine Ordnung zu bringen, da so viel und so schnell auf einmal auf sie eingeredet wurde. Aber Nathan wirkte zum Glück in etwa genauso verwirrt.

„Damit ist die Geschichte aber noch nicht vorbei“, nahm sie den Faden gerade wieder auf, als Kyrie zu einer Antwort ansetzen wollte, „Immerhin habe ich auch noch Deliora getroffen, die mir dann gesagt hat, dass es schon Freitag war, weil ich sie gefragt habe, weshalb sie noch nicht beim Mittwochstreffen sei, woraufhin sie gesagt hat, dass sie da keine Zeit gehabt habe, weil eine riesige Bestellung neuer Werke eingegangen war – zufälligerweise über das Thema, zu dem ich recherchiert habe! Nämlich zum sagenumwobenen Verschwinden Luxurias!“

Und plötzlich richteten sich alle Blicke auf sie.

Nein, nicht auf sie … auf Nathan.

Also schaute Kyrie auch einfach zu ihm. Und er wirkte unangenehm berührt.

„Deliora“, sagte er, als der Engel ihn ebenfalls belastend anschaute, „Du kennst das doch – das Ding mit der Geheimhaltung und …“

„Was könnte es sein, das uns das Recht nimmt, in Erfahrung zu bringen, was vor sich geht?“, fuhr Liana ihn böse an, „Wir wollen in einer geschützten Umgebung leben – solange ihr Todsünden das hinbekommt, kümmern wir uns nicht darum. Was also beunruhigt euch so, dass ihr euch nicht öffentlich zu ihrem Verschwinden äußert? Acedia verschwindet doch auch immer wieder für lange Zeit – was macht Luxurias Verschwinden so geheimnisvoll?“, wollte sie wissen, „Oder Superbia! In seinen tausend Jahren Amtszeit war er zweihundert Jahre lang verschwunden!“

„Achthundert Jahre Amtszeit“, verbesserte Deliora sie, „Aber die zweihundert stimmen.“ Alle wirkten vorwurfsvoll.

Kyrie verstand es aber einfach nicht.

„Gula hat auch ziemlich nervös gewirkt, als er mit uns gesprochen hat“, erklärte Thierry, „So als würde er sich verfolgt fühlen!“, fügte er noch bekräftigend hinzu. Plötzlich senkte er allerdings die Tonlage und wirkte ungemein – und ungewohnt – besorgt: „Sag – geht im Himmel ein Abtrünniger um?“

Erstickte Laute drangen von Liana und Deliora her, als hätten sie wirklich einen riesigen Schock erlitten, als hätte er etwas angesprochen, das sie nie erwartet hätten.

Kyrie hatte bloß ein ungutes Gefühl im Magen. Die Atmosphäre war so ungewohnt ernst, dass sie sich beinahe schon deshalb sorgte … Und die Bezeichnung „Abtrünniger“ verbesserte das Gesamtbild keineswegs …

Sie blickte zu Joshua. Wie immer konnte sie keinerlei Emotion aus seinem Gesicht ablesen. Absolute Kühle umgab ihn. Er musste sehr gut gelernt haben, seine Gefühle hinter dieser Maske zu verstecken … Sie fragte sich, was ihn dazu gezwungen hatte …

Plötzlich erwiderte er ihren Blick. Gefühllos.

Sie wunderte sich, weshalb er letzten Mittwoch nicht da war – doch wandte sie sich wieder dem Geschehen neben sich zu. Joshua ließ doch nie eine Gelegenheit aus, bei Nathan zu sein … Und Nathan hatte es sich auch gar nicht so richtig anmerken lassen, ob es ihn betrübte oder nicht – er hatte einfach … trainiert …

Sie kannte ihren Lehrmeister wirklich schlecht … Es hätte nie etwas zwischen ihnen funktionieren können, wenn sie so uneinfühlsam war – und die ganze Hintergrundinformation, die ihr zu seiner Geschichte gefehlt hätte … die ihr teilweise immer noch fehlte … Nein, sie waren nur für die Beziehung Lehrer-Schüler bestimmt – alles andere wäre eine Farce.

Nathan ließ sich mit der Antwort reichlich Zeit. Sein Mund zuckte hin und her, als wolle er antworten – aber als bekäme er kein einziges Wort heraus. Diese Verschwiegenheitspflicht schien ihn richtig zu quälen.

Doch dann ertönte seine Stimme: „Wir … wissen es selbst nicht …“ Plötzlich stockte er. „Wir“, wiederholte er abfällig, beinahe amüsiert, „Ich meine – die Todsünden.“ Er schaute durch die Runde. Sorge sprach aus seinem Blick. „Luxuria ist nicht wie Acedia oder Superbia, sie ist mehr wie Gula – zuverlässig, pünktlich, fleißig und immer bestrebt, Probleme zu lösen.“ Sein Blick blieb in Deliora hängen. „Wie sie etwa.“ Er nickte in ihre Richtung. „Letzten Mittwoch bist du nicht aufgetaucht – wir haben uns keine Sorgen gemacht, weil jeder einmal ausfallen kann. Vielleicht auch zweimal.“ Er zuckte mit den Schultern. „Bei Engeln wie dir ist drei vermutlich die Grenze.“ Danach wandte er sich zu Kyrie. „Oder als du nicht da warst – wir waren uns ziemlich sicher, dass es etwas Wichtiges hat sein müssen, das dich abhält – du bist zu pflichtbewusst, um einfach so fernzubleiben.“ Ein kurzes Grinsen schlich auf seine Lippen. „Liana, Thi und ich sind da wieder eine ganz andere Partie. Wenn einer von uns sich – unter normalen Umständen -…“ Er wandte sich mit diesem Einwurf wohl betont an Kyries Situation, weshalb sie sich unbehaglich fühlte … Nur wegen ihr war er so pflichtbewusst … Aber … war das nicht eigentlich etwas, was jeder Assistent sein sollte? Eine perfekte Unterstützung für den Vorgesetzten?

„… für zwei, drei Monate – oder gar Jahre – nicht mehr blicken lassen würde, so würde das in der Umgebung keinerlei Aufsehen erregen. Es wäre normal“, beendete er diesen Gedanken.

Deliora nickte zustimmend.

„Luxuria ist aber in all ihren vierhundert-weiß-ich-was Jahren noch nie zu spät gekommen. Immer pünktlich“, erklärte er, „Und plötzlich fehlt sie. Tage. Wochen. Mittlerweile zwei Monate. Ohne Spur, ohne Nachricht – ohne ersichtlichen Grund.“ Er verschränkte die Arme. „Besorgniserregend bei ihr, was bei Acedia einfach Normalzustand wäre“, fügte er hinzu – und dann stockte er wieder. Er kämpfte sichtlich damit, ihnen weitere Informationen zukommen zu lassen. Letztendlich seufzte er. „Gut … Es gibt unter den Todsünden zwei Parteien – diejenigen, die daran festhalten, dass Luxuria sich einfach eine Auszeit nimmt und zurückkehren wird – und die anderen, die an ein Verbrechen glauben. Vielleicht wirklich an einen Abtrünnigen. Vielleicht ein Racheengel.“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht auch nicht. Keine Ahnung.“

Liana stieß geschockt die Luft aus. Thierry verschränkte die Arme merklich erschaudernd. Deliora trat einen Schritt zurück und starrte geschockt zu Nathan. Sogar Joshua runzelte die Stirn. Also wusste auch er nichts davon …

Kyrie verschränkte einfach weiterhin die Arme. Es klang … schlimm … Was konnte denn stark genug sein, um eine Todsünde zu entführen? Abtrünniger Racheengel klang ja nicht gerade wie der freundliche Nachbar …

„Also tun sie nichts dagegen“, schlussfolgere Deliora langsam, „Weil es keine Mehrheit gibt. Drei-Drei.“

Nathan nickte. „Richtig kombiniert. Darum hört ihr auch nichts davon – sie haben keine Ahnung, was für Schritte sie setzen sollen. Luxuria hatte noch keinen Assistenten, weil sie ja noch mindestens vierhundert Jahre Amtszeit vor sich hätte. Niemand hätte mit einem Verschwinden gerechnet.“

Alle Engel schauten betroffen drein. Sie schienen die komplette Tragweite zu verstehen.

„Luxuria …“, murmelte Kyrie ohne groß darüber nachzudenken, „… es waren Sieben Todsünden, als sie mich geholt haben …“

Nathan sah zu ihr. Er nickte. „Ja, sie ist kurz nach deinem Aufstieg zum Halbengel verschwunden … Die wunderschöne Frau mit dem langen blonden Haar, falls du dich erinnerst.“ Er brach kurz ab. „Das war auch das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.“

„Ich habe bis auf Gula keine Todsünde mehr gesehen, seit … keine Ahnung … Ja, seit der Einsetzung von Gula.“, fügte Thierry hinzu, „Wenn man keine Probleme macht, dann sieht man die Todsünden auch nicht. Die unteren Ränge treffe ich viel häufiger – wenn jemand mal wieder behauptet, man hätte ihn unfair getreten oder so.“

Liana nickte. „Gula jetzt diese beiden Male, dann bin ich Invidia vor ein paar Jahren einmal begegnet und dazwischen Superbia. Luxuria schon nicht mehr, seit sie ein Assistent geworden ist.“ Sie lachte. „Diese kecke Blondine, mit ihrer rothaarigen Freundin!“

„Du kanntest Acedia noch vor der Einsetzung zur Todsünde?“, wunderte sich Nathan. Er wirkte ehrlich überrascht.

Sie blinzelte ihn verwirrt an. „Das habe ich dir bestimmt schon einmal erzählt. Spätestens, als du zum Assistent geworden bist.“ Ihre Stimme flachte ab. „Aber da hattest du ja andere Sorgen.“

Er nickte. „Gut zu wissen … Heißt das … du … Diese Untersuchung!“ Er wirkte beinahe schockiert. „Du suchst nach Luxuria?“

Sie stemmte die Arme in die Hüfte. „Und ob! Wenn Eure Obrigkeit dazu nicht in der Lage ist, dann tut es das Bodenpersonal!“

„Wart ihr … Freunde?“, wollte Nathan wissen. Er wirkte angespannt.

„Na ja, nicht wirklich – mehr gute Bekannte“, schwächte sie ab, „Ich bin zu jung, um wirklich ihre Freundin gewesen sein zu können – aber sie und Acedia haben mich durch den Zyklus gebracht.“ Sie lachte. „Die beiden waren wie Schwestern – unzertrennlich! Bis … auf diese eine Uneinigkeit, aber …“ Sie winkte ab. „Das sollte man ruhen lassen.“

„Was?“, fragte Nathan aufgeregt nach. Er trat auf Liana zu. „Bitte, sag es mir – sag mir was …“

Sie hielt ihn mit ihren Händen auf Abstand. „Stopp. Das ist Privatangelegenheit.“

„Wie alt ist Liana eigentlich?“, flüsterte Kyrie Deliora zu.

Diese zuckte mit den Schultern. „Frag das nicht zu laut. Man fragt Damen nicht nach dem Alter.“

„Kanntest du die alten Todsünden auch noch?“, wollte Kyrie interessiert wissen.

Deliora lachte. Dann antwortete sie laut: „Nathan, du hast die Erklärungen wirklich nur unzureichend durchfließen lassen! Ihr mangelt es an akuter Allgemeinbildung.“ Sie zwinkerte Kyrie zu. „Es gibt keine vorherigen Todsünden. Es gibt bloß die Todsünden.“

Kyrie blinzelte verwirrt. „Was?“

„Die Todsünden gehen nahtlos ineinander über – der Geist der Todsünden bleibt erhalten. Sie legen ihre Namen für immer ab und werden zur Todsünde. Und darum gibt es kein Vorher und Nachher.“ Deliora wirkte amüsiert – vermutlich durch ihr Unverständnis.

Nathan mischte sich ein: „Verschon sie mit dieser Theorie, die habe ich mit Absicht ausgelassen – sie ist unverständlich, wenn man nicht damit aufwächst. Man merkt, dass du noch nie auf der Erde warst.“

Deliora verzog beleidigt ihr Gesicht, sagte aber nichts.

„Entschuldigt mich bitte, ich muss Liana kurz entführen“, fügte Nathan dann hinzu – und verschwand mit dem Engel in eine Richtung.

Kyrie schaute ihm nach. Und plötzlich kehrte die Kälte zurück, die immer kam, nachdem Nathan ging. Diese Einsamkeit … Diese … Angst.

Sie schaute sich panisch um. Würden Thi, Deliora und Joshua reichen, um sie zu beschützen? Würden sie sie beschützen? Sie waren nicht dazu verpflichtet, also … Aber … Sie waren doch Freunde, oder? … Nein! Das war falsch … Sie … Sie musste für sich selbst sorgen können! Aber … das konnte sie nicht.

„Er hat recht“, mischte Thi plötzlich wieder mit, „Kyrie, ich will zu dir nach Hause!“

Sie schaute ihn schockiert an, weil er sie aus der Gedankenwelt gerissen hatte, indem er ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Was?“

„Du hast doch gesagt, dass wir einmal mit dir auf die Erde können, oder?“, fragte er – unsicher? – nach.

Sie ordnete schnell ihre Gedanken. Dann erkannte sie die Botschaft dahinter – und plötzlich war die Kälte durch Wärme ersetzt. Sie starrte ihn erfreut an. „Ja – ja natürlich! Wann?“

„Ich will da auch mit“, sagte Deliora dann sofort, „Aber … heute ist schlecht und nächster Mittwoch genauso.“

„Übernächste Woche habe ich einen Wochentrainingskurs im Fechten“, erklärte Thierry dann, „Da kann ich auch nicht.“

„Wie wäre der letzte Mittwoch in den Ferien?“, schlug Kyrie vor.

Sie traf auf Unverständnis.

Bei diesen verständnislosen Gesichtern begann sie kurz zu lachen – es sah einfach zu komisch aus! Aber … Sie räusperte sich, um sich wieder zu fangen. „In drei Wochen. Also in drei Mittwochen?“

Thi und Deliora stimmten erfreut zu – Joshua nickte.

Also kam Joshua auch mit! Das hörte sich ja toll an.

Diese Engel. Bei ihr zuhause. … Hoffentlich würde das gut gehen.
 

„Bitte, ich muss wissen, was damals vorgefallen ist“, drängte Nathan auf Liana ein. Sie standen abseits der anderen – soweit, dass er sie kaum mehr sehen konnte. Er wusste, dass er Kyrie eigentlich nicht alleine lassen sollte, aber … Er vertraute seinen Freunden soweit, dass sie für diese kurze Zeit auf sie achten konnten.

Sie stellte sich stur vor ihn, schüttelte abweisend den Kopf und verschränkte felsenfest die Arme. „Nein. Nein. Nein.“ Sie sah ihn tadelnd an. „Staatsgeheimnis.“

„Aber …“, begann er mit seiner Entgegnung, doch sie entwaffnete ihn sofort mit einer Erläuterung ihrer Aussage.

„Luxuria hat mich damals gebeten, nicht darüber zu reden – und so werde ich das auch beibehalten“, gab Liana zurück.

„Ich hätte euch gar nichts von der Sachlage erzählen sollen“, keifte er sie an.

„Ich helfe dir jetzt ja“, blaffte sie zurück.

„Ich muss aber alles wissen, um es Acedia zu erzählen!“, bellte er beinahe wütend.

„Sie weiß es doch schon längst!“, schrie sie ihn an.

„Dann soll sie es mir sagen!“, zischte er erbost.

„Dann rede doch mit ihr und hör auf, mich anzuschreien!“, fuhr sie ihn an.

Plötzlich starrten sich beide mit hochrotem Gesicht an. Und im selben Moment ertönte ein Lachen aus beiden Mündern. Und sie lachten. Lachten, was das Zeug hielt.

Als sie sich beruhigten, ergriff Liana wieder das Wort: „Also – das ganze hängt mit Acedia zusammen. Du weißt doch, dass Luxuria, Acedia und Ira in etwa gleich alt sind, oder? Sie haben zusammen den Zyklus verbracht.“

Nathan nickte. „Ja, das ist mir bekannt“, meinte er, „Und weiter?“

„Man fragte sich, weshalb drei so starke Engel in so kurzer Zeitspanne geboren worden sind, aber es hat nie eine Antwort darauf gegeben. In diesem Jahrgang gab es sowieso ziemlich starke, aber sie waren die stärksten. Es war also absehbar, dass einer von ihnen zum Assistenten werden würde“, begann Liana ihre Erklärung.

Nathan kombinierte: „Also ist ein Machtkampf zwischen ihnen ausgebrochen und … Nein, das ist blöd.“

„Sei still und hör mir zu“, befahl sie ihm, ehe sie ruhig erklärte: „Sie sind Freunde geworden und haben als Dreiergespann alles durchgezogen, was Freunde eben so taten – bis an den Tag, an dem wirklich eine Todsünde gekommen war, um eine von ihnen zu erwählen.“

„Und dann?“, hakte Nathan nach, als es so wirkte, als wolle Liana an der Stelle aufhören.

„Na ja – wie Freundschaften eben so waren. Acedia ging, um Assistent zu werden und vernachlässigte ihre Freunde total.“ Der vorwurfsvolle Ton war nicht zu überhören. „Und irgendwann unternahmen sie nichts mehr gemeinsam. Dann sind die anderen beiden ebenfalls nacheinander berufen worden – und die Freundschaft war zerbrochen. Ob sie jetzt als Todsünden wieder Freunde wurden, weiß ich aber nicht. Sie haben auch alle den Kontakt zu mir abgebrochen.“ Liana wirkte betrübt.

Ihm war nie klar gewesen, dass Liana mit anderen Assistenten ebenso befreundet gewesen war … Dass sie diese Trennung bereits durchlebt hatte … dass …

„Es … tut mir leid …“, murmelte er, „Ich … will dich nicht noch einmal so verletzt sehen …“

Sie schaute ihn kalkulierend an.

„Ich hoffe, dass wir auch Freunde bleiben können, wenn ich – falls ich – einmal zur Todsünde werde.“

Sie lächelte. „Danke, Nathan – deine Freundschaft bedeutet mir sehr viel.“

Er legte seinen Arm um sie und drückte sie fest. „Ich wusste nicht, dass …“

„Schon in Ordnung“, meinte sie leise, „Ich weiß doch, was du für andere Probleme durchzustehen hast … Aber wisse, dass wir deine Freunde sind und dir immer helfen werden – egal wie hoch oben die Probleme gelagert sind. Gemeinsam erklimmen wir sie.“

„Danke.“ Er lächelte fröhlich.
 

„Kennst du eigentlich andere Engel, die auf der Erde leben?“, wollte Kyrie von Liana wissen.

Sie schaute sie verständnislos an. „Na ja, ich kenne einige der Dauersitzer, wie zum Beispiel Chimära und Samuel oder Raphion, Myrrhe und Kin“, antwortete sie unsicher, „Meintest du das?“

Jetzt blinzelte sie perplex.

„Chimära und Samuel waren meine Eltern“, flüsterte Nathan ihr ins Ohr, „Weißt du noch?“

Plötzlich verstand sie. „Ah!“, machte sie, „Ja, natürlich – aber … andere Engel, die einfach zum Spaß und ohne Rang und Aufgabe die Erde besuchen“, erläuterte sie ihre Frage.

Liana lachte kurz auf. „Sie sind selten, aber natürlich kenne ich sie.“ Dann lächelte sie spitzbübisch, „Wieso? Hast du einen hübschen Engel gefunden?“

Sie nickte. „Ja, ich denke, dass der Sänger einer Band ein Engel sein könnte.“

Liana stockte kurz, „Ja, das ist gut möglich …“ Dann lachte sie triumphierend auf. „Wenn wir auf der Erde sind, dann zeigst du ihn mir einfach, dann kann ich es dir genau sagen!“

Kyrie lächelte. „Ja, natürlich, das mache ich!“

„Also in drei Mittwochen“, murmelte Nathan vor sich hin. Dann wandte er sich Kyrie zu, während er ein Stück Licht aß. Sie saßen wie immer im Café und tratschten. „Wann besuchen wir eigentlich Mirabelle?“

„Wann kannst du mir trainingsfrei geben?“, stellte Kyrie die Gegenfrage.

„Apropos!“, rief Nathan plötzlich aus, „Thierry, Liana, Deliora und Joshua!“ Er schaute alle vier bedeutungsvoll an. „Rückt kurz zu mir.“ Alle vier taten wie geheißen.

Kyrie beobachtete sie dabei. Als die vier so zusammentraten und tuschelten fühlte sie sich beinahe ausgeschlossen. … Worüber sie wohl sprachen? Vielleicht über ihr Training. Hatte Nathan ihnen ihr Ziel noch nicht gesagt? Oder stellte er ihr jetzt Hindernisse? Oder ging es um etwas ganz anderes?

Gedankenversunken aß sie ein Stück Licht.

Plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Schockiert fuhr sie herum – und starrte bloß in Nathans zu strenges Gesicht.

„Jetzt hast du mich erschreckt“, murmelte sie.

„Trainingseinheit beginnt jetzt“, erklärte er – und plötzlich regnete es Schwerter.
 

Nathan beobachtete Kyrie dabei, wie sie den Attacken auswich. Seine Freunde taten es, wie geheißen – sie attackierten manchmal gleichzeitig, dann wieder einzeln. Ihr Ziel war es, Kyrie nicht zu verletzen, da ihnen das ansonsten Probleme eingebracht hätte – und Kyries Ziel war es, nicht verletzt zu werden, zu blocken und selbst anzugreifen.

Bei Kyries Selbstbewusstsein war es nicht verwunderlich, dass sie in diesem Kampf ihr Bestes gab. Sie rechnete damit, dass Liana, Deliora und Joshua ihre Lebenszeit mit Training verbracht hatten – sie konnte nicht wissen, dass Deliora sich von Anfang an auf Erschaffen und Auflösen konzentriert hatte, sodass ihre Schwertkampffähigkeiten auf Anfängerniveau ruhten. Sie konnte nicht wissen, dass Liana dem Schwertkampf beinahe zur selben Zeit wie Nathan den Rücken gekehrt hatte – und dass Joshua bereits im Zyklus bewiesen hatte, dass er kein Talent zum Führen eines Schwertes besaß.

Darum hatte er Joshua als Kyries Ziel ausgewählt – sie würde denken, dass sich in ihm ein versteckter Meister verbarg, sodass sie ihr Ziel nie erreichte. Irgendwie wirkte es auf ihn so, als hätte Kyrie in ihrem Lehrmeister ein Feindbild entdeckt – als wollte er sie ewig bloß trainieren lassen.

Nachdem er nicht wusste, wie gut Xenons Leute waren, konnte er auch schlecht beurteilen, wann ihr Training zu Ende war – doch wenn sie Joshua besiegte, dann würde das zumindest ihr Selbstvertrauen stärken. Vor allem, wenn sie dachte, dass er ein großer Gegner wäre.

Heute würde dieser Tag sein.

Er hatte Liana und Deliora aufgetragen, auf sie so einzudreschen, wie es ihnen - mit ihrer Unfähigkeit zu kämpfen - möglich war, ohne jemanden zu verletzen. Das war dann die Aufwärmphase, in der sie ihre gerade angesammelte Energie verbrauchte, um das wahre Schlachtfeld zu simulieren.

Sie war noch zu ungeübt, um ihre Kräfte richtig einzuteilen. Nach einiger Zeit würde Thierry hinzukommen. Sie würde den Kräfteunterschied sofort merken und sämtlichen Mut verlieren. Sie würde wohl schlussfolgern, dass er es der Stärke nach richtete – also dass Joshua als der Stärkste von ihnen antreten würde.

Und wenn sie dann kurz vor dem Aufgeben wäre, sobald Joshua den Ring betrat, würde sie durch ihre Sturheit weiterkämpfen und ihn besiegen. Und dann endlich glücklich sein und gerne weiter kämpfen. Hoffentlich würde sie dadurch ihren verfluchten Unmut verlieren.

Er blieb immer in ihrer Nähe, um sie nicht zu beunruhigen, auch wenn das der wahren Situation natürlich nicht entsprach. Joshua und Thierry hielten sich derweil versteckt.

Deliora und Liana hatten es geschafft, sie vom Café wegzulocken – auf eine freie Kampffläche.

Bisher schlug sie sich ganz gut. Mal sehen, wie lange das noch so bleiben würde. … Na ja, ganz gut war vielleicht untertrieben. Sehr gut – aber Deliora und Liana hatten keine Ahnung von Taktik. Und mittlerweile war Kyrie darin geübt, seine Attacken ziemlich gut abzuwehren und gegen seine Nachahm-Attacken entwickelte sie auch langsam eine Strategie.

Eigentlich war er doch ganz stolz auf seine Schülerin. Sehr stolz sogar.

Kyrie blockte den nächsten von Thierrys Angriffen. Sie fühlte sich seltsam schwer und unausgeglichen. Ganz anders als sonst im Himmel. Vielleicht lag das daran, dass ihre Freunde sie gerade wie wild attackieren – zumindest hatten Deliora und Liana jetzt ihre kleinen Zwischenwürfe aufgegeben … -, aber vielleicht auch deshalb, weil es einfach so hart war, sich so lange zu konzentrieren. Manchmal glaubte sie, ihr Schwert würde ihr aus der Hand fallen – das wäre ihr Tod, denn es würde sich auf der Erde gleich danach auflösen. Also holte sie ihre Konzentration immer wieder zurück und versuchte auch anzugreifen – doch es funktionierte einfach nicht so gut wie gegen Nathan.

Thierry war einfach viel stärker als Nathan! Aber zumindest hatte sie mittlerweile Ahnung von seinem Kampfstil. In den letzten Tagen hatte sie mehr Zeit ins Training investiert – immerhin hatte sie keinen strengen Uni-Zeitplan mehr zu verfolgen. Und Nathan hatte vermehrt auf die Taktik seines Freundes zurückgegriffen. Einige der Attacken erkannte sie – und sie hatte auch die Ansätze intus, um zu blocken. Doch die Präzision, mit der Thi an die Sache ging, war viel höher als bei Nathan. Der Unterschied zwischen Original und Imitat war gravierend. Und noch dazu war dieser Engel so stark und so … stark …

Gedanken zu fassen, wurde immer schwerer und schwerer. Es war, als würde ihr die Energie doppelt so schnell entrinnen als sonst. Hatte sie sich etwa noch nie so sehr angestrengt? Sie musste sich dringend öfter so anstrengen … Sonst … würde sie ihr Ziel … nie erreichen …

Joshua zu besiegen … Konnte ein kleiner Mann wie Joshua wirklich noch stärker sein als Thi? Ob Nathan jemals eine von Joshuas Attacken nachgeahmt hatte? Sie hatte keine Ahnung, zu wem welche Attacke gehörte …

Noch ein Schlag – noch einmal pariert. Sie wich zurück und flog ein wenig zur Seite.

Auch ihre Flügel gaben langsam nach. Sie war nicht mehr schnell. Sie war einfach langsam – ausgelaugt. So richtig ausgelaugt … Dabei … hatte sie sich doch gerade erst das ganze Licht zugeführt … Hatten Deliora und Liana sie so sehr drangenommen …?

Mittlerweile hätte sie keine Chance mehr gegen drei Leute … Falls … falls Joshua heute kämpfen sollte, so konnte sie bloß hoffen, dass er Thi ersetzte – und dass sie keinen gemeinsamen Angriff starteten.

Noch ein Aufschlag.

Ihr Griff wurde locker, beinahe schlug er ihr das Schwert aus der Hand. Aber … sie musste es festhalten. Sie wich noch weiter zurück. Von all diesem Zurückweichen ihrerseits mussten sie bereits an einem ganz anderen Ort gelandet sein. Doch sie hatte keine Zeit, die Umgebung zu betrachten. Sie sah beinahe schon verschwommen, was direkt vor ihr lag … wie sollte sie da … weiterschauen?

Noch ein Schritt zurück, um den nächsten Schlag perfekt parieren zu können … Ja, sie hatte die Kraft … richtig bemessen …

Ihr Arm wurde dabei aber ein wenig zurückgerissen – sie fiel zu Boden.

Aber sie wollte sich jetzt nicht ausruhen, konnte sich jetzt nicht ausruhen … Sie musste … wieder auf …

Ächzend erhob sie sich – da sah sie bereits die nächste Attacke auf sich zukommen … Er … imitierte es … perfekt … original … So würden Jeff … und … Mike … Mike? Wer war Mike?

Sie blockte. Wollte zu einem Gegenangriff ansetzen, aber es funktionierte nicht … Sie fühlte sich schwach. Richtig schwach. Zu Boden gedrückt. Nicht einmal die Heilkraft des Himmels vermochte ihr zu helfen. Es war, als würde sie jede Sekunde, die sie dort kämpfend verbrachte, an Energie einbüßen.

Plötzlich stand Joshua vor ihr.

Er hielt das Schwert auf sie gerichtet.

Ihre … Chance … sie sah … einen Fehler … einen Mangel an Deckung … Dort … ein … Platz … Er … Sie streckte ihre Hand noch vorne, um ihn dort zu entwaffnen, doch sie hielt kein Schwert mehr in der Hand.

Wo … war … ihr … Schwert …?

„Oh nein!“, rief Nathan panisch. Nathan … da hinten … überall … Warum war er hier? Sie kämpfte doch … weil er …

„Joshua, hilf mir!“, ertönte seine Stimme.

Und plötzlich stand sie in der Kälte.

Automatisch zog sie ihre Flügel ein.

Die Sonne stand am Himmel, der golden leuchtete, was darauf hindeutete, dass es Morgen war. Wie früh morgens denn?

Sie lehnte an Nathan, der sie festhielt.

Joshua stützte sie ebenfalls.

Langsam wurden ihre Gedanken wieder klarer.

… Moment.

Warum stand sie unten in der Nördlichen?

Warum war sie nicht mehr im Himmel?

Sie fühlte sich wieder frisch und munter. Sofort stellte sie sich auf ihre eigenen Beine und löste sich von Joshuas und Nathans Hilfe. Kein Problem.

Ihre Flügel waren eingezogen, ihr Schwert verschwunden.

Dann schaute sie in Nathans Gesicht. Er war bleich. Schreck verzerrte sein Gesicht. Der Schock schien tief in seinen Knochen zu sitzen.

Auch Joshua wirkte nicht weniger aufgewühlt. So viel Gefühl auf seinem Gesicht …

„Leute?“, fragte sie besorgt nach, „Was ist … passiert?“

Sofort sprang Nathan zu ihr und umarmte sie. „Oh, Gott, wie hast du mich erschreckt!“ Er drückte sie fest an sich. Sie umarmte ihn zurück, auch wenn sie den Anlass nicht so recht kannte.

Auch Joshua schloss sich plötzlich in die Umarmung mit ein. Aber er ging danach sofort wieder auf Abstand.

„Warum … Was … ist passiert?“, wiederholte sie verblüfft.

Er trat einen Schritt von ihr zurück. Er sah sie erleichtert an. Er wirkte wirklich … mitgenommen.

Plötzlich umarmte Joshua Nathan. „Es ist alles gut …“, beruhigte er ihn, während er ihm sanft über den Rücken strich, „Es ist alles wieder in Ordnung …“

Sie verschränkte die Arme und schaute unauffällig Richtung Himmel. Wirklich … ihr ging es wieder fabelhaft. Eigentlich war es doch immer andersherum – wenn sie nach einem langen Tag in den Himmel kam, war sie ausgeruht, aber diesmal hatte der Himmel sie beinahe fertig gemacht. Die Erde schien ihr Heilung zu bieten, fast als …

Irgendwo erklang eine Kirchturmuhr. Messezeit.

„Messezeit?“, rief sie erschrocken aus. Dann starrte sie genauso überrascht Nathan an. „M … Moment …“

Nathan löste sich langsam, behutsam von Joshua, als würde er jeden Zentimeter, der zwischen sie trat, zutiefst bereuen. Aber er wandte sich Kyrie zu. Er nickte. „Ich habe in meiner Aufgabe als Lehrer und Behüter total versagt“, stellte er sich der Wahrheit, „Ich habe die Zeit total vergessen und dich über vierundzwanzig Stunden im Himmel belassen.“ Er seufzte. „Ich bin froh, dass kein irreparabler Schaden entstanden ist … Aber du solltest jetzt zu Bett gehen. Ich weiß nicht, ob es einen Rückfall geben wird oder nicht oder …“

„Ich war wirklich vierundzwanzig Stunden im Himmel?“, rief sie schockiert aus. Der Himmel also? Er hatte so an ihren Kräften gezerrt? Nicht einmal dem Himmel konnte sie komplett trauen? Jeder fiel ihr irgendwann in den Rücken?

Sie fiel auf die Knie und sank langsam in sich zusammen. Sie war wohl wirklich nirgendwo richtig willkommen … Auf Erde nur für fünfundzwanzig Jahre … Im Himmel für einen ganzen Tag … Wo nur war sie … wirklich zuhause? Bei ihren Eltern? Ja … sie liebten sie, boten ihr Schutz, aber … auch sie konnten nichts gegen ihre wahre Natur tun … Nach fünfundzwanzig Jahren … Bei Ray? … Wieso kam gerade er ihr in den Sinn?

Nathan legte eine Hand auf ihre Schulter. „Bitte, mach dir keine Vorwürfe – denke über nichts Dummes nach … Es sind einfach die Spielregeln. Dein Körper verkraftet diese Unmenge an Energie einfach nicht. Er hat versucht, dich zu beschützen, indem er den Überschuss wieder abgegeben hat.“ Er lächelte. „Er hat nur versucht, dich zu retten.“ Dann tätschelte er ihren Kopf. „Und genau deshalb solltest du auch ihn beschützen. Gehen wir zu dir heim.“

Sie sah Joshua an. „Danke, dass du mir geholfen hast …“, murmelte sie.

Er nickte. „Du hast versucht, gegen meine leere Hand anzukämpfen, obwohl du am Boden gelegen hast …“, erklärte er sachlich, „Wer sich da keine Sorgen macht …“ Dann hielt er ihr ihre Hand hin. Sie nahm sie und zog sich mit seiner Hilfe wieder auf. Vor ihren Augen drehte sich alles. Ihr war so schwummrig zumute, richtig … unangenehm … Sie trat einen Schritt zurück, in der Hoffnung, ihr Gleichgewicht zu finden. Geistesgegenwärtig fing Nathan sie ab und stützte sie.

„Nachwirkungen“, vermutete er betont, „Soll ich dich tragen?“ Er lächelte spitzbübisch.

Sie lehnte sich erneut an ihn. Sie fühlte sich, als würde sie sofort wieder zusammenbrechen … Was für eine verkehrte Welt … Der Himmel saugte sie ab, nachdem sie den Himmel verließ, war sie geschwächt … Und jetzt musste sie schlafen, um nicht mehr müde zu sein …

Oh, das war dann wohl normal. Theoretisch.

Morgen sollte sie wieder fit sein … Sie würde sich wieder mit Ray treffen. Wieder spontan … Wie am Montag … Gestern hatte sie gelernt und ihre Trainingseinheit genossen, was sie Ray natürlich vorenthalten hatte. Er hatte Verständnis dafür aufgebracht. Aber er hatte genug andere Freunde, mit denen er etwas unternehmen konnte … Im Gegensatz zu ihr …

Apropos … Wo waren sie? Liana, Deliora und Thierry …

Plötzlich fühlte sie sich ganz erleichtert. Sie spürte ihr eigenes Gewicht nicht mehr – da realisierte sie, dass Nathan sie aufgehoben hatte und trug.

„Ich weiß ja, wo du wohnst“, sprach er frei heraus. Aber er ging noch nicht los.

Kyrie öffnete die Augen. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie sie sie geschlossen hatte … Hatte sie ihr Bewusstsein verloren?

Nathan starrte Joshua an. „Kommst du mit? Dann schaffen wir es danach zu zweit in den Himmel“, schlug er vor.

Joshua wirkte überrascht, aber er nickte stumm – und folgte ihnen genauso wortlos.

„Wo sind … Liana und die anderen?“, wollte sie wissen. Ihre Stimme hat kaum Kraft … So geschwächt zu sein … Es erinnerte sie beinahe an früher. Damals, als die anderen sie mit ihren Gemeinheiten zum Weinen gebracht hatten … Damals war sie auch manchmal einfach am Weg zusammengesunken und hatte ihren Tränen freien Lauf gelassen.

Sie schaute Nathan ins Gesicht – sein Blick ging stur gerade aus. Er hatte sie nie aufgefangen. Auch wenn es die Erfüllung ihrer Träume gewesen wäre – damals. Jetzt hielt er sie. Sie freute sich darüber, aber … es war kein Traum mehr. Keiner mehr gewesen. Es ging einfach in Erfüllung, war sozusagen eine unerwartete Wendung …

„Im Himmel“, erklärte er leise, „Ich habe ihnen befohlen, oben zu bleiben. Es würde deinen Eltern so schon nicht gefallen, da muss ich sie nicht gleich mit einer ganzen Garde erschrecken.“

Kyrie nickte. „Danke“, murmelte sie. Dann schloss sie Augen erneut. So … müde … Er wog sie langsam hin und her, vielleicht war es auch bloß die Bewegung, die bei seinen Schritten entstand. So langsam … so sanft … so … freundschaftlich …
 

„Schläft sie?“, wunderte sich Nathan mit gedämpfter Stimme, als er in Kyries Gesicht sah. Es war so blass, richtig ausgezehrt. Sie war nie die farbigste Person gewesen, doch diesmal konnte man es beinahe als farblos bezeichnen. Über vierundzwanzig Stunden …

Sein Herz verknotete sich. Wie hatte er das bloß zulassen können?

Er sollte wohl vor den Sieben Todsünden eine Strafe fordern, aber … Weil er ein Assistent war, würden sie wohl alle Augen zudrücken und ihn entkommen lassen. Es würde sich nichts bringen. Er konnte jetzt auch nicht in Selbstmitleid zerfließen – er konnte nur hoffen, dass sie ihm das verzieh und dass sie jetzt nicht noch mehr Angst vor dem Himmel hatte …

Warum war er nur so erpicht darauf gewesen, sie heute schon gegen Joshua antreten zu lassen? Ihr heute schon zu beweisen, was sie konnte? Vor all ihren Freunden! Er hatte sie blamiert! Ihr mehr geschadet, als geholfen … Warum hatte er nicht einfach angehalten?

Hoffentlich machte sich Thierry keine Vorwürfe. Aber er hatte sich definitiv zurückgehalten – er brauchte gar nicht darüber nachzudenken, nein … Es war bloß seine eigene Schuld. Er hätte besser aufpassen müssen. Sie beschützen müssen.

Er wollte sie nicht verlieren. Nicht jetzt, wo sie offen miteinander sprechen konnten. Er hatte wirklich keine Geheimnisse mehr vor ihr. Jetzt waren sie endlich die Freunde, die sie schon lange sein sollten. Wie hatten es die Assistenten vor ihm nur geschafft, sich mit ihren Schützlingen anzufreunden, obwohl so viel Heimlichtuerei zwischen ihnen stand? Hatte sie das nie gestört?

„Mach dir nicht so viele Sorgen“, erklang Joshuas leise, sanfte Stimme, „Sie wird es überleben und verstehen.“ Er ging einfach neben ihm her. Einfach so … Auf der Erde …

Hatte er nicht auf der Erde Zuflucht vor ihm finden wollen? Vor seiner Sehnsucht zu ihm? Und jetzt spazierten sie die Treppen dieses überalten Gebäudes hinunter, als seien sie einfach nur Freunde, die Treppen stiegen.

„Ja“, murmelte er, „Wie gefällt dir die Erde bisher?“, wollte er mit lauterer Stimme wissen.

Joshua sah sich um. „Sie scheint ziemlich dreckig und zerfallen zu sein. Und sie bietet wenig Platz.“

Nathan schaute ihn verwundert an – erst dann realisierte er, dass Joshua seine Flügel noch ausgebreitet hatte. Doch dieses zarte Weiß auf diesem finsteren Schwarz passte so gut zu ihm, machte ihn einfach aus, dass er das einfach so hingenommen hatte! Auch seine Kleidung entsprach nicht den irdischen Vorschriften. Aber was redete er denn da? Wie konnte Joshua das auch wissen?

Er selbst hatte sich in letzter Zeit bereits im Himmel so zurechtgemacht, dass er nicht auffiel, doch so unerwartet Besuch zu bekommen … Aber wenn Joshua schon hier war, wollte er nicht auf seine Anwesenheit verzichten.

„… Der Himmel sieht von unten aber genauso schön aus wie von oben“, fügte er noch leise hinzu.

Nathan blieb stehen. „Stopp.“ Er schaute auf Kyrie. Sie schien noch immer zu schlafen.

Sanft legte er sie auf einem großen Treppenabsatz ab, lehnte sie gegen eine Mauer und hoffte, dass sie schlafen konnte. Zum Glück hatte sie ihre Flügel automatisch eingezogen, sobald sie die Erde erreicht hatten.

Genauso wie Nathan. Das machte er mittlerweile einfach ohne nachzudenken. Aber Joshua …

Er erhob sich, nachdem er Kyrie zurechtgerückt hatte, wieder und musterte Joshua, der einige Treppen unter ihm stand. Er selbst breitete seine Flügel wieder aus.

Plötzlich machte Joshua einen stark überraschten Gesichtsausdruck – er schien seine Unaufmerksamkeit bemerkt zu haben. Sofort zog er die Flügel ein.

Das Leuchten um ihn herum verschwand auf der Stelle. Es war so schön gewesen … Dieses Goldene, das ihn umgab … Es war nur so klein und schwach – es passte zu seiner ruhigen Ausstrahlung … Auch wenn er es selbst nicht sehen hatte können, als seine Flügel eingezogen waren … Wieso war Joshua nicht aufgefallen, dass er Nathans Leuchten nicht genießen konnte? … Vielleicht wusste er einfach nicht, dass man es auch auf der Erde sehen konnte? Aber das war … nebensächlich.

Nathan konzentrierte sich und formte mit Hilfe seiner Magie Kleidung für seinen Freund. Das zehrte hier sehr an seinen Lichtreserven, doch es war es ihm wert – so waren sie dann wohl zu einem Spaziergang in Zweisamkeit gezwungen.

„Was machst du da?“, forderte Joshua ruhig zu wissen. Er achtete immer auf einen kühlen, leisen Ton – um Kyrie nicht zu wecken. Er war so aufmerksam …

„Kleidung für dich“, beantwortete Nathan die Frage ehrlich, „Du kannst nicht mit deinen Himmelsfetzen hier herumstreunen.“ Er selbst brauchte ein wenig länger für Kleidung, weil er an keine so genaue Ausarbeitung gewohnt war – das war auch der Grund, weshalb Todsünden bei Besuchen auf der Erde immer nur langweilige Mäntel trugen: Sie waren nicht präzise genug, um passende Erdenkleidung herzustellen. Und sich jedes Mal komplett neu einzukleiden – auf Vorbestellung bei unteren, dafür zuständigen Rängen – war den Todsünden wohl doch zu anstrengend.

Nathan hatte seine Kleidung vor einer Weile bei einem aus dem siebten Rang anfertigen lassen, der darauf spezialisiert war – derjenige war auch manchmal in der Menschenwelt unterwegs, um dort die neueste Modeentwicklung mitzuverfolgen. Wenn er mit seinen Freunden auf die Erde kam, musste er daran denken, zuvor zu dem Mann zu gehen, um vor allem Liana keine Enttäuschung zu bieten.

Er grinste beim Gedanken daran.

„Ich hoffe, dass das Grinsen nichts zu bedeuten hat“, erklang ein Murmeln von Joshua.

Er schaute zu ihm. Der Schwarzhaarige lächelte ihm zu.

Und ehe Nathan sich versah, stand er bei Joshua und fuhr ihm durchs Haar … Er drängte ihn zurück bis zur Steinmauer und sah ihm in diese schwarzen Augen. Sie waren eigentlich so ziemlich in derselben Größenklasse, doch wenn er sich so klein machte, sich so nachgiebig zeigte, wirkte er tausendmal kleiner als er … Beschützenswert. Lieblich.

Er legte seine Stirn an Joshuas und schloss die Augen. „Was sollte es denn bedeuten?“, wollte er keck wissen.

Plötzlich legte Joshua seine Arme um Nathan und wisperte: „Wenn du nur öfter bei mir sein könntest …“

Nathan atmete resigniert durch. „Wenn ich es könnte …“

„Ich vermisse dich“, fügte er leise an, „Zu sehr …“

„Ich liebe dich“, erwiderte er gedankenverloren, „Zu sehr …“

„Du musst loslassen“, erinnert Joshua ihn plötzlich. Entgegen seiner Worte drückte er ihn aber fester an sich. „Ich will dich aber nicht loslassen.“

„Das ist nur ein Problem“, gestand Nathan betrübt, „Ich kann dich auch nicht einfach so vergessen … Ich bin nicht so stark wie Acedia.“ Wenn er mehr Zeit zur Verfügung hätte, würde er sie mit Joshua verbringen. Es war entsprechend also gut, dass er Kyrie noch als Schülerin bei sich hatte. Sie konsumierte seine verbliebene Freizeit ruckzuck. Sie hielt ihn von Joshua fern. Und je ferner sie sich blieben, desto besser war es für seine Zukunft. Bis er eine Todsünde war, musste er sich von seinen Gefühlen gelöst haben.

„Du bist der stärkste Engel, den ich kenne“, flüsterte er ihm leise zu. Nathan konnte seinen Atem spüren. Diesen Atem, der im Himmel immer warm war, hier auf der Erde aber kalt …

„Ich habe es nicht auf die Kraft bezogen …“, erklärte Nathan, wollte gerade fortfahren, als Joshua ihn aber sanft unterbrach.

„Ich auch nicht“, meinte er – belustigt, „Aber du liebst so stark … Manchmal glaube ich, dass du nach mir rufst, dass ich dabei so unendlich viel stärker werde … Und wenn ich nach dir rufe, dann erscheinst du nie …“

Nathan lächelte. „Am Anfang habe ich sie deutlich gespürt, doch seit ich meine Flügel zwanzig Jahre nicht mehr getragen habe, spüre ich diese verzweifelten Rufe gar nicht mehr …“

„Ich werde nie aufhören, sie dir zu senden“; versprach er.

„Ich werde mich daran erinnern“, entgegnete er – und ehe er sich versah, drückte er Joshua einen Kuss auf die Lippen. Dieser erwiderte. Und Nathan fühlte sich wie im Himmel – als würde Joshuas Energie auf ihn übergehen … So stark … So leidenschaftlich …

Er wollte nicht, dass dieser Moment jemals endete.
 

Kyrie wollte ihren Atem anhalten, wollte überhaupt nicht gesehen werden und schon gar nicht gehört. Sie glaubten, sie wäre noch ohnmächtig, doch ein seltsamer Ruck hatte sie wieder aufgeweckt … Aber sie wollte sich nicht melden und als sie aufgewacht war …

Sie errötete noch mehr. Drehte sich vom Schauspiel weg … und hoffte, dass ihr Herzklopfen nicht zu hören war.

… Das, dem sie da gelauscht hatte, war wohl dann der eindeutige Beweis für die Liebe zwischen den beiden. Es gab eigentlich nichts mehr, was dagegen sprach, dass … dass Nathan … und Joshua …

Und dass Nathan diese Mädchen nur ausgenutzt hatte … oder vielmehr – hatte er sie als Ablenkung genutzt? Um Joshua zu vergessen? Er musste Joshua vergessen, um eine Todsünde zu werden … weil er sich wohl seiner Gefühle enteignen musste … um … um gerecht herrschen zu können, ohne Voreingenommenheit, ohne Verletzlichkeit …

Grausam … Er musste sich selbst und diejenigen, die er mochte, aufgeben, um den anderen ein faires Leben zu ermöglichen …

Alle Todsünden mussten das … Und dann kamen Leute wie sie angerannt, die von Verletzungen sprachen, von Ungerechtigkeit … Vor ihnen, die ihre Liebe aufgegeben hatten … Nathan liebte Joshua … Gula liebte Sport … Sie wusste nicht, was die anderen geliebt hatten, doch es musste in jedem Leben etwas geben, das man ihnen weggenommen hatte … Nein – das sie aufgegeben hatten.

… Wenn sie selbst vor diese Wahl gestellt würde … würde man ihr dann den Glauben nehmen? Oder ihre Eltern? Nathan? … Ray?

Wieso … kam Ray ihr jetzt schon wieder in den Sinn? Ray war doch unerreichbar für sie, sie trafen sich, sie lachten miteinander, sie hatten zusammen Eis gegessen und waren auf einem Konzert gewesen … Er gab ihr Glück und Freude, ließ sie sich fühlen, als sei sie im Himmel, wenn sie nur sah, dass er wirklich gekommen war …

Dieses Gefühl … eigentlich hatte sie das bisher nur bei einer einzigen Person gekannt … Damals …

Sie konnte sich keines weiteren Blickes erwehren – jetzt küssten sie sich! … Laut …

Am liebten wäre sie gegangen … Aber sie war dermaßen geschwächt, dass sie nicht einmal hätte aufstehen können … Und ihre Flügel rufen und einfach in den Himmel tauchen … Nein, das traute sie sich nicht … Viel lieber … tauchte sie in ihren Erinnerungen … an früher …

Als sie noch an eine Chance geglaubt hatte.

Nathan schreckte auf, als er aus Kyries Richtung ein Geräusch gehört hatte. Verflucht! Er hatte sie total vergessen! Vermutlich hätte sogar Xenon herkommen können und sie einfach so umbringen, ohne dass er das bemerkt hätte.

Das passierte immer, wenn Joshua in der Nähe war!

Joshua ließ ihn los, auf seinen Wangen zeichnete sich ein roter Schimmer ab – also hatte er ihren Gast ebenfalls vergessen gehabt.

Sofort machte Nathan weiter mit der Anfertigung von Joshuas Mantel – er konnte Joshua keinen lausigen Umhang geben, den hätte er wenn dann nur Liana gegeben – und reichte ihm ihn dann. „Zieh ihn an“, wies er Joshua sachlich an und ging dann zu Kyrie.

Er kniete sich neben sie, sah, dass ihre Augen gezwungen geschlossen wirkten und lächelte. Die rote Farbe, die ihr Gesicht überzog, war doch schon einmal ein gutes Zeichen.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich.

Sie öffnete die Augen – und lächelte peinlich berührt.

„Haben wir … Habe ich dich geweckt?“, fragte er, wobei ihm das Ausmaß der Peinlichkeit gar nicht wirklich bewusst war. Er zog seine Flügel schnell wieder ein. „Dann … gehen wir lieber wieder …“ Er hob sie hoch.

„Also hast du … Melinda und die anderen … wirklich nur als Ablenkung benutzt?“, fragte sie plötzlich.

Er war gerade dabei, die Stufen nach unten zu gehen, doch bei ihrer Frage gefror ihm das Blut in den Adern. … Er hatte ihr also noch nichts von ihm und Joshua gesagt, aber … Er hatte es ihr doch gesagt … Da war doch mal etwas mit zwei schwarzen Läufern oder so … Hatte sie die Anspielung wirklich nicht verstanden?! Aber … noch schlimmer … was er wirklich noch mit keinem Wort erwähnt hatte … vor Joshua … Oh, Gott …

„Wolltest du … Joshua so dringend vergessen?“, bohrte sie langsam nach.

Machte sie das mit Absicht?! Ihn in Verlegenheit zu bringen! Das roch gewaltig nach einem Racheakt!

Nein, nein, sie wusste ja nicht, wie unehrlich er war – und wenn er sagte, es gäbe keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen, hatte er noch ein ganzes Handschuhfach voller Geheimnisse übrig, die er selbst vergessen hatte!

Konnte er ihr es verübeln, dass sie das jetzt ansprach? … Eigentlich wäre sie das Gespräch sie ja gar nichts angegangen, aber … Es war ja seine Schuld, dass sie noch hier war …

Er fühlte einen stechenden Blick auf sich ruhen.

Er lächelte Joshua an.

Er hatte ja noch einen ganzen Rückweg vor sich, um das zu erklären …

„Sie wird es wohl langsam verkraftet haben“, murmelte er, „Oder?“

„Sie trifft sich schon wieder mit anderen“, entgegnete Kyrie beschwichtigend.

Wenn sie darüber Bescheid wusste … Hatte sie sich dann endlich in die Gesellschaft integrieren können? Auch wenn sie nur ein halber Mensch war? Auch wenn er bezweifelte, dass das irgendetwas damit zu tun hatte. Bei ihr bestand das Problem einfach darin, dass sie sich die Dinge viel zu sehr zu Herzen nahm, die andere ihr vorwarfen, dass sie noch dazu kein Selbstvertrauen besaß und immer sofort davon ausging, dass andere sie nicht bei sich haben wollten.

Wie oft war er damals bloß gefragt worden, weshalb er Kyrie nicht zu ihnen brachte?

… Na ja, er hatte ihnen kaum sagen können, dass er in jedem von ihnen einen Dämon vermutete und deshalb ziemlich gut auf sie achten mussten – dass er Kyrie möglichst isoliert halten musste.

Bis sie dieses gewisse Alter erreicht hatten – wie alt waren sie da eigentlich? Zwölf? Siebzehn? -, hatte er sich als ihren besten Freund verkauft und sie dadurch gerettet. Als sie dann älter war, hatte er sie nur noch von der Ferne beobachtet und … seinen eigenen Bedürfnissen etwas Abhilfe verschafft … Ja, er war egoistisch – aber er hatte jeden Tag gen Himmel gestarrt und sich gefragt, was Joshua gerade trieb! Irgendwie hatte er sich ablenken müssen, sonst wäre er wahnsinnig geworden.

„Dann ist es ja gut“, richtete er, „Aber dich lässt sie jetzt in Ruhe, oder?“

Kyrie antwortete nicht, sie nickte bloß geringfügig.

„Gehen wir“, schlug er vor und marschierte eilig die Treppen hinunter – als er an Joshua vorbei ging, bemerkte er, dass dieser schwarze Mantel ihm perfekt passte. Zum Glück war er eine Todsünde. Er hatte so viel Energie übrig, dass er sozusagen einen Teil des Himmels mit sich selbst herumtrug! Er war einfach erstaunlich.

Aber er wollte ja gar nicht wissen, wie lange das Teil hielt … Hoffentlich lange genug!

„Wir sollten uns beeilen“, fügte er hinzu und beschleunigte seine Schritte, „Sonst könnte einem von uns ja noch kalt werden.“

Schweigend eilten sie die Straße entlang – es war nicht das Hochhaus, auf das sie gewöhnlicherweise gingen, sondern eines, das höher gebaut, dafür weiter weg gelegen war. Aber diese paar Straßen hatten sie auch schnell überquert – und ehe er sich versah, stand er schon vor ihrem Haus. Kyrie hatte wieder selbst gehen können – so ein Tief schien ja nicht lange anzuhalten. Zum Glück. Vielleicht würde sie dann auch ohne tagelangen Schlaf wieder fit sein!

Er schaute sich um. Das Auto ihrer Eltern war gar nicht da.

„Sie arbeiten …“, stellte Kyrie bedrückt fest.

„Wie sieht es mit einem Schlüssel aus?“, fragte er besorgt, „Sonst könnte ich dich … Oh, nein, doch nicht …“

„Hoffentlich ist er da“, murmelte sie hoffnungsvoll.

Als sie vor der geschlossenen Tür standen und kein Schlüssel in der Nähe war, wussten sie, dass ihre Hoffnung umsonst gewesen war.

„Ich kann im Garten bleiben“, schlug Kyrie vor, „Oder zu einem Nachbarn gehen … Jake sollte nichts zu tun haben …“

Nathan begutachtete Joshua. „Können wir sie wirklich alleine lassen?“

Als er das A-Wort in den Mund nahm, zuckte Kyrie zusammen. … Sie befürchtete Xenon wirklich überall … Was hatte dieser Engel ihr nur angetan?

„Wir können ruhig bleiben. Außer du hättest etwas zu tun“, entgegnete Joshua.

Er hatte jederzeit genug zu tun. Aber in ihm steckte auch genug Lehrmeister, um seinen Schützling nicht alleine zu lassen. Vor allem nach dieser Misere.

„Wir warten, bis du ins Haus kommst und dich in deinem Bett dann schön ausruhst“, befand Nathan bestimmt.

Er setzte Kyrie auf der Gartenbank ab und ließ sich daneben fallen. Joshua besetzte den Platz neben ihm. Aber er blieb auf Abstand. Was ihn sichtlich quälte.

Kyrie zückte plötzlich ihr Handy. „So spät schon?“, beklagte sie leise.

„Hast du heute noch etwas vor?“, wollte Nathan wissen und spickte dabei auf ihr Handy. Sie öffnete gerade eine Nachricht.

„14 Uhr, bei dir im Garten, wie gehabt!“, las er dort. Ehe er den Absender erkennen konnte, schloss die Nachricht wieder, ohne darauf zu antworten.

„Wann kommen deine Eltern?“, fragte Nathan nach.

„14 Uhr“, antwortete sie tonlos.

„Könnte knapp werden mit deiner Verabredung“, kommentierte er.

„Ihr solltet doch lieber gehen“, meinte sie, „Wenn dich hier jemand sieht, der dich kennt …“

Da hatte sie wohl Recht, aber … Sein Ehrgefühl ließ es nicht zu, sie hier einfach sitzen zu lassen – die Verspätung war seine Schuld. Dass weder er noch sie Energie hatten, war ebenfalls ihm zuzuschreiben … Und am Rückweg lag ein Gespräch voller Erklärungen! Keine rosige Aussicht – auch wenn es Zeit mit Joshua bedeutete, aber … Das war eigentlich ganz und gar nicht sein Ziel. Vielmehr das Gegenteil! Er durfte seinen Gelüsten nicht nachgeben! Musste stark bleiben. Und stark war er nun einmal, wenn er bei Kyrie war.

„Ich verstecke einfach mein Gesicht“, schlug er vor und legte sich dann auf den Tisch, wobei er das Gesicht mit den Händen vergrub.

„Und diese Pose behältst du für die nächsten zwei Stunden?“, informierte sie sich amüsiert.

„Dir scheint es wieder zu gut zu gehen“, beschwerte sich Nathan.

„Und wer ist Melissa?“, mischte Joshua dann ein.

„Melinda“, verbesserte ihn Nathan. Dann biss er sich auf die Lippen. Warum sprach er das jetzt plötzlich an? Es musste ihn ja wirklich brennend interessieren, wenn er so offen darauf los redete! Oder er hielt Kyrie für nicht zurechnungsfähig. Oder er vertraute …

Er vertraute ihr.

Wusste er, dass Nathan Kyrie gerne zwischen sie schob? Das auch jetzt gerne tun würde? Aber es war nicht fair ihr gegenüber, sie einfach als Trennwand zu benutzen, anstatt als Freundin an zu sehen. Sie war doch seine Freundin. Er vertraute ihr doch ebenso!

„Er weiß nichts dav-…?!“, stieß Kyrie schockiert aus, unterbrach sich dann aber selbst – wobei sie leicht erblasste, wie Nathan aus dem Augenwinkel beobachten konnte.

„Moment“, rief er plötzlich aus und er hob sich, „Ich sehe ja wieder gut zehn Jahre älter aus“, meinte er selbst gefällig, „Wofür verstecke ich mein Gesicht eigentlich? Oder meine Figur.“

Plötzlich begann Kyrie zu kichern. Und Joshua lachte ebenfalls leise.

„Das war mein Ernst“, betonte er nachdrücklich, dann wandte er sich seinem Freund zu. Sah ihm wieder in diese verführerischen schwarzen Augen …

Doch er bekam sich wieder ein: „Das waren Leute aus Kyries und meiner Schulklasse … oder Uniklasse … Und die haben mich eben … gut … bei sich aufgenommen.“ Er grinste schuldbewusst.

„Gut aufgenommen“, wiederholte Joshua – amüsiert. Amüsiert? Er reagierte … amüsiert? Warum war er nicht wütend oder eifersüchtig oder … oder … Oder. Spielte er das nur? Akzeptierte er Nathans Versuch? Hätte er dasselbe gemacht? Oh, Joshua …

„Und vielleicht habe ich dabei den einen oder anderes Kuss gestohlen“, gestand er in Erinnerung schwelgend … Wie hießen die alle noch? Egal. Eigentlich zählte doch keine wirklich …

Doch anstatt eben so locker wie vorhin zu reagieren, spürte er gefährlich Zucken … auf beiden Seiten! Was zuckte Kyrie denn da herum?

Zwei relativ unangenehm dreinblickende Augenpaare starrten ihn messerscharf an.

Er grinste einfach.

Und hoffte, dass diese Geständnisstunde bald vorbei war – er ahnte Schmerzen am Ende des Tunnels.
 

John fuhr mit dem Wagen die Straße entlang. Magdalena hatte bereits die ganze Woche länger arbeiten müssen, da die andere immernoch ausfiel. Weil er also weder den Umweg zu Magdalena noch den zu Kyrie machen musste, schaffte er es, viel schneller, zuhause anzukommen. Wirklich erstaunlich!

Es war bloß nicht so gemütlich, dass das Essen dann sofort gekocht wurde. Kyrie konnte zumindest eine Suppe kochen, aber als sie dann gestern gar nicht da war, glaubte er, verzweifeln zu müssen. Früher hatte er immer mit Magdalena mitgekocht, als er zur Uni gegangen war, weshalb er immer früher Schluss gehabt hatte als seine Frau. Doch mit der Zeit hatte er sich das abgewöhnt – und jetzt wusste er nicht einmal mehr, wo das ganze Zeug stand!

Aber er hatte es geschafft. Mit Schmerzen in den Fingern. Am Montag und am Mittwoch! Am Dienstag war Kyrie erst später in den Himmel aufgebrochen, also … Manchmal wunderte er sich, ob sie langsam nicht zu viel Zeit im Himmel verbrachte.

Als wollte Gott ihm ein Zeichen senden, entdeckte er diesen Ray vor sich. Er schlenderte zu Fuß am Bürgersteig entlang. Er würde also bald bei ihnen sein. Heute trafen sich Kyrie und er also wieder! Anstatt dass sie mehr Zeit mit Nathan verbrachte!

Ob Kyrie überhaupt wieder zuhause war? … Moment. Hatte sie überhaupt einen Schlüssel?

Für einen Moment hatte er sich überlegt, diesen Ray einsteigen zu lassen und mitzunehmen, doch wenn Kyrie keinen Schlüssel hatte, würde sie ohnehin nicht aus dem Haus kommen, falls Nathan sie gleich dorthin gebracht hatte … oder sie stünde noch im Garten! Alleine!

Was, wenn diese Verbrecher wieder auf sie zu kamen?

Er stieg aufs Gas und raste nach Hause. Ray ließ er hinter sich. Männer mussten auf sich selbst achten können!

Die Straße ließ er schleunigst hinter sich – und als John seinen Garten sehen konnte, war er überrascht, dort oben drei Menschen auszumachen. War sie etwa schon in Gewalt der Einbrecher?!

Er parkte das Auto nachlässig auf den Platz und hüpfte nach draußen.

Sofort lief er durch den Garten – und als er sich kurz vor dem Tisch befand, erkannte er Kyrie und Nathan als zwei dieser Personen.

Der dritte junge Mann raubte ihm beinahe den Atem. Eigentlich starrte er keine anderen Menschen an, doch dieser Mann war atemberaubend schön. Seine blasse Haut, diese dunklen Augen, dazu das wunderschön glänzende schwarze Haar … Er wirkte, als sei er in seinem ganzen Leben noch nie Ärger ausgesetzt gewesen … Unbefleckt, unbeschadet und ohne Makel …

„Papa?“, fragte Kyrie nach.

„John?“, fügte Nathan hinzu, wobei er aufstand und ihm sogleich auf die Schulter klopfte, „Alles in Ordnung?“

Er realisierte, dass er mit offenem Mund dagestanden hatte, um diese Reinheit eines Engels zu beobachten … diese makellose …

„Ja!“, rief er sogleich aus, „Ja, alles klar. Bei euch? Bei dir? Ich meine – Habt ihr keinen Schlüssel?“ Er schaute von Kyrie zu Nathan.

Seine Tochter schüttelte den Kopf.

Sofort eilte John zum Tor und sperrte es auf. „So, bitte eintreten …“, lud er seine Gäste ein. Dabei warf er einen bedeutungsschweren Blick auf den jungen Unbekannten. Ob Kyrie vielleicht ihn auserwählt hatte? War er ebenso ein Engel? … Als der Mann sich erhob, um den anderen beiden ins Haus zu folgen, fielen John beinahe die Augen aus dem Kopf! Dieser Mantel … So wunderschön … Die Liebe, die von dieser Kleidung ausging, sprang ihn beinahe an …

Moment – was sah er da eigentlich?! … Das … das … war doch nur Kleidung …

Er verstand die Welt nicht mehr.

Er atmete tief durch.

Seine Tochter war ein Engel. Ihre Freunde waren Engel – warum wunderte er sich eigentlich über irgendetwas?

Als alle eingetreten waren, schloss er die Tür hinter sich.

„Das ist übrigens Joshua“, stellte Nathan den anderen Mann vor.

Dieser nickte ihm leicht zu, sagte aber nichts … Ein Engel, erhaben und wunderschön … So kühl und doch barmherzig …

„Hier“, sagte Kyrie plötzlich. Sie hielt eine Sonnenbrille, eine Kappe und einen Mantel in der Hand. Sie reichte Nathan die Gegenstände. „Sonnenbrille und Kappe sind nur zur Sicherheit für dich“, erklärte sie dann, „Sodass sich wirklich niemand erkennt …“ Sie lächelte. „Der Mantel ist für Joshua. Wer weiß, wie lange sein Mantel noch hält.“

Als wäre das das Stichwort gewesen, stand Joshua plötzlich ohne Mantel da.

Und offenbarte andere Kleidung. Fremdländische Kleidung!

Schwarze Stiefel umgaben seine Beine bis über die Knie, danach folgte eine graue Hose, welche aber nicht sein komplettes Bein verdeckte, sondern die durchtrainierten, schönen Seiten offen zeigte … ein langes Hemd, ebenfalls sehr tief an den Seiten geöffnet, verdeckte den Rest seines beinahe zierlich wirkenden Körpers. Nathan war ein Muskelprotz gegen diesen mickrigen Jungen!

„Du denkst wirklich voraus“, lobte John seine Tochter – und er grinste, „Und du hörst mir ja tatsächlich zu!“

Sie kicherte leise.

„Langsam sollten wir gehen, wir wollen deine Verabredung ja nicht stören“, erklärte Nathan – wobei er keck grinste.

„Danke, dass ihr geblieben seid“, bedankte sich Kyrie, „Wann ist die nächste Stunde?“

„Ich … hole dich morgen Abend ab“, schlug er vor, „Dann kannst du dich erholen.“ Nathan tätschelte ihre Schulter. „Dann geht es wieder los!“

Plötzlich machte sich John wieder Hoffnungen. Wie er mit seiner Tochter sprach! Das musste doch mehr bedeuten!

„Schönen Tag noch, John“, wünschte Nathan, „Und danke für die Ausrüstung!“

„Danke“, meinte Joshua leise und folgte Nathan.

Kyrie verabschiedete sich fröhlich. Sie vereinbarten, dass sie die Kleidungsstücke einfach auf dem gewohnten Dach versteckt halten sollten.

John schaute ihnen hinterher.

Als sie den Garten verließen, gingen sie knapp nebeneinander. Sie sprachen miteinander. Und wirkten wirklich zufrieden.

… Was hatte das zu bedeuten?

Er schloss die Tür wieder. „Ray ist unterwegs“, warnte er Kyrie vor, „Ich koche noch. Willst du hier essen?“

Sie sah sich unbehaglich um. Dann atmete sie tief durch und erwiderte seinen Blick fest. „Dürfte Ray mit essen?“

In John versteifte sich alles.

Doch er willigte ein.

Er war einfach zu nett.

Und Kyries darauf folgendes Strahlen war jeden Preis wert.

Ray schlenderte die Straße entlang und ignorierte das schwarze Auto, das einfach an ihm vorbeifuhr, als gäbe es ihn nicht. Irgendwie fand er das amüsant, was John abzog – ihn einfach so auszugrenzen. Er wollte nicht wagemutig sein, doch er befürchtete beinahe, dass das etwas mit seiner Einstellung zu Gott zu tun hatte. Aber … eigentlich war es doch bedeutungslos. Viel bedeutender war sein akuter Schlafmangel.

Er hatte die letzten Tage nicht zuhause verbracht. Nachdem er am Montag mit Kyrie in dem Café sein Eis gegessen, seinen Kaffee getrunken und sich mit ihr ausgiebig über – wortwörtlich – Gott und die Welt unterhalten hatte, hatte er sie noch nach Hause begleitet, um daraufhin von Ted abgeholt zu werden, der dann den restlichen Montag mit ihm verbracht hatte. Und Dienstag. Und da war dann Marc dazugekommen – darum hatte er auch am Dienstag keine Zeit für Kyrie gehabt. Es war eine spontane Verabredung mit Ted und Marc, also … wollte er sie eigentlich am Mittwoch treffen – aber da war sie beschäftigt gewesen.

Und so hatten sie sich auf Donnerstag einigen können. Leider hatte er aber am Dienstag die Zeit übersehen, war deshalb bis Mittwoch bei Marc geblieben und hatte mit ihm die Nacht durchgemacht … Und entsprechend wenig Schlaf abbekommen.

Aber zum Glück war er daran gewöhnt. Bloß dass diesmal der Uni-Stress wegfiel. Immer wenn er jemanden traf, dem er erzählte, dass er drei Studien auf einmal absolvierte, widmete dieser ihm einen blöden Blick – aber er ließ sich nicht abhalten. Er würde diese drei Studien zu Ende bringen, würde sie thematisch vereinen und damit die Welt verbessern. Und dann hätten diese Leute alle einen richtigen Grund, blöd zu starren. Vor allem, wenn er in den Ferien anfangen musste zu lernen. Ab morgen nahm er sich das wirklich vor!

Dabei fiel ihm auf, dass Kyrie nicht blöd gestarrt hatte. Überrascht, aber nicht blöd. Sie schien ihn deshalb einfach nicht für verrückt zu halten. Das war ein schönes Gefühl. Wirklich … Was würden sie heute eigentlich machen?

An ihm spazierten zwei große Männer vorbei. Gefährlich eng beisammen gingen die beiden – und seltsam wirkten sie. Vielleicht kamen sie aus dem Süden, wo sie solche Temperaturen nicht mehr für angenehm hielten, doch heute war eigentlich ein schöner Tag. Die Sonne lachte endlich wieder vom Himmel und wärmte die Stadt auf. Vom Wetterumbruch der letzten Tage war kaum mehr etwas zu spüren. Und trotzdem trug einer eine Kappe, der andere einen Mantel.

Seltsame Gesellen liefen hier herum – aber sie waren bedeutungslos.

Also setzte er seinen Weg bedenkenlos fort, solange bis er am Gartenzaun von Kyries Haus angekommen war. Heute saß Kyrie gar nicht im Garten. Seltsam.

Daraufhin öffnete er das kleine Gartentor und schritt in den Garten ein. Er überquerte den Weg, der von dieser Grünfläche umgeben war, und klopfte an der Tür. Johns Auto stand am Parkplatz – ziemlich schief, aber es stand -, doch wenn er Glück hatte, würde Kyrie ihm öffnen und sie konnten gleich gehen.

Sein Vorschlag variierte zwar nicht vom letzten, doch vielleicht war ihr etwas Neues eingefallen.

„Hallo!“, ertönte Kyries fröhliche Stimme, als sie die Tür öffnete und zu ihm aufsah.

Sie wirkte irgendwie blass. Blasser als sonst.

„Hey“, grüßte er zurück, „Bist du bereit oder bin ich heute früh dran?“

Sie schaute auf eine imaginäre Armbanduhr. „Du bist sogar zu spät“, bemängelte sie ihn, lächelte ihm dann aber zu und schlug vor: „Willst du vielleicht zum Essen bleiben?“

Er blinzelte sie perplex an.

„Mein Vater ist erst jetzt zurückgekommen“, erklärte sie, „Darum habe ich noch nicht gegessen.“

Er legte den Kopf schief. „Also würde das deinem Vater keinen Ärger bereiten?“, versicherte er sich.

Sie schüttelte begeistert den Kopf und öffnete die Tür weiter. „Nein, keineswegs!“ Dann sah sie ihn verschmilzt an. „Um ehrlich zu sein, habe ich bereits für dich mitgekocht.“

„Hatte ich überhaupt eine Wahl?“, stellte er die rhetorische Frage und trat danach ins Haus ein. Es war eine verhältnismäßig große Halle. Natürlich war die bei seinem Vater zuhause größer und prunkvoller und … nicht sofort mit der Küche verbunden und auch das Wohnzimmer hatte einen eigenen Raum und … Irgendwie wirkte dieser untere Stock mehr wie eine Wohnung als wie ein richtig abgetrenntes Haus. Das wiederum erinnerte ihn an sein Zuhause, wo sie ebenso gemütlich dahinvegetierten und sich nichts aus unnötigen Verzierungen und möglichst vielen, großen Räumen machten. Er sah sich genauer um – das ganze Wohnzimmer war nett dekoriert. Vor allem Fotos dominierten den Raum. Fotos von einer kleinen Kyrie und einem anderen Kind auf Ponys und mit Schultaschen, die viel zu groß für die Kinder wirkten. Man konnte Kyries ganzes Entwicklungsstadium aus den Bildern erkennen – scheinbar liebte jemand in ihrer Familie Fotos. Doch auch Bilder von John und Magdalena waren dabei, die diese in jungen Jahren zeigten. Sie schienen sich ja schon ewig zu kennen.

Doch auch andere Gegenstände verliehen dem Raum Leben. Wirklich ein nettes Haus. Bei seinem Vater zuhause gab es keine Bilder von Kindern, keines seiner Mutter … und auch keines von Kim. Das waren eben die Unterschiede.

Zudem erkannte er, dass eine Treppe noch nach oben führte. Doch das obere Geschoss konnte – in Anbetracht der Gesamtgröße des Hauses – nicht allzu groß sein. Aber es würden bestimmt noch tausende Fotos herumlungern.

Kyrie kicherte belustigt und bedeutete ihm dann, ihr zu folgen. Sie steuerten direkt auf die Küche zu, die man bereits von der Eingangstür aus sehen konnte, da sie in keinem versteckten Winkel lag. Aber die Küche an sich war relativ modern.

Nicht, dass er sich allzu gut mit Küchen auskannte. Doch ihm fiel auf, dass alles schön sauber war.

Dann stieg ihm der Geruch von Essen in die Nase. Es duftete nach frisch Gekochtem, Würzigem … Er hatte keine Ahnung, was genau es werden würde, doch allein der Geschmack sorgte dafür, dass er Hunger verspürte. Bei Marc und Ted existierte wirklich nichts zu essen, was es nicht um wenige Aran in einem Imbissladen zu kaufen gäbe. So gesehen, sollte er Kim wirklich dankbar dafür sein, dass sie jeden Tag für ihn mitkochte, doch … Er würde es auch ohne sie überleben. Das war unnötig.

„Das riecht ja besonders lecker“, lobte er, „Hast du das gekocht?“

„Mein Vater und ich zusammen“, verbesserte sie ihn lächelnd, „Ich hoffe, dass es … annehmbar sein wird. Religionslehrer sind keine Köche.“

Er lachte. „Das kann ich mir vorstellen. Ist deine Mutter nicht da?“ Sonst saß diese ja auch immer im Wagen.

Kyrie schüttelte den Kopf. „Nein, sie arbeitet noch“, klärte sie ihn auf, „Aber bitte setze dich.“ Sie deutete auf einen Stuhl. Es war wirklich für drei Leute gedeckt! Sie hätte ihn tatsächlich nicht gehen lassen. Aber er war irgendwie froh darum.

„Hallo“, begrüßte er John, als er diesen beim Kühlschrank stehen sah.

John drehte sich um und starrte ihn an. Aber er wirkte gar nicht so feindselig wie sonst. „Grüß Gott“, erwiderte er streng, „Bist du gut angekommen?“, informierte er sich, „Ich wollte dich mitnehmen, aber es ist etwas dazwischen gekommen.“

Ray winkte ab. „Bitte, es nichts passiert“, entgegnete er locker, „Die paar Schritte habe ich noch geschafft.“ Er grinste. „Aber danke für den Gedanken.“

„Hm“, machte John und schloss den Kühlschrank, wobei er ein Getränk herausholte und auf den Tisch stellte.

Kyrie ging wieder zum Herd und bearbeitete dort das Essen.

John füllte sein Glas auf. „Willst du auch etwas davon?“, bot er ihm an.

Ray nickte. „Ja, danke.“ John nahm das Glas und ließ auch dort den Saft hineinfallen. Als er es zurückgab, nickte Ray noch einmal dankbar.

„Es dauert nicht mehr lange“, versprach Kyrie.

John lächelte Kopf schüttelnd, Ray schaute zu ihr. Sie wirkte höchst unprofessionell, als würde sie nicht allzu oft kochen. Aber er wollte gar nicht wissen, wie er selbst dabei aussehen würde. Oder Kylie. Dieser Herd würde vermutlich nicht lange stehen. Sie war auch mehr wie Ted oder Marc, dass sie den Imbiss bevorzugte.

„Erholst du dich in den Ferien?“, begann John plötzlich einen Smalltalk.

Das überraschte Ray doch sehr. Er hätte nicht gedacht, dass der Mann Kontakt zu ihm aufnehmen würde – auch wenn sie sich gegenüber saßen.

„Ja“, antwortete er wahrheitsgetreu, „Es ist schon etwas anderes.“ Dann grinste er. „Aber langsam werde ich mit dem Lernen auch wieder starten müssen.“

John nickte. „Das wäre wohl besser“; meinte er, „Hoffentlich kommt Kyrie auch zu dem Entschluss.“

Ray blickte kurz zu seiner Mauerfreundin, die plötzlich ziemlich steif und ungelenk wirkte. „Ach? Sie lernt noch gar nicht?“, fragte er nach – schmunzelnd. Spielte sie also nur die fleißige Studentin und lag derweil wie jeder andere auf der faulen Haut? So eine war sie also!

John wirkte verwirrt und schaute zu seiner Tochter. „Oder?“

Kyrie sah vom Herd auf und von einem zum anderen. Sie schien verlegen zu sein. „Ja, Lernen … Haha, das ist doch nur ein Rahmenbegriff. Definieren kann man ihn doch ziemlich breit, oder?“ Sie lachte nervös. Niemand stimmte mit ein. „Oder?“, wiederholte sie.

„Was lernst du denn sonst, wenn du nicht fürs Studium lernst?“, wollte Ray wissen, „Wie man sich endlich einmal entspannt?“

Sie blinzelte ihn an. „J- Ja!“, meinte sie, „Genau … das.“ Das wirkte so nicht-überzeugend, dass Ray zu dem Schluss kam, dass sie ein Geheimnis vor ihm haben musste.

„Das Tanzen kann es nicht sein“, sinnierte er laut, „Das kannst du nämlich ausgezeichnet. Im Kochen bist du auch ganz gut, wie ich das einschätzen kann, und im Nähen müsstest du auch ganz geschickt sein, wenn du das Talent deiner Mutter geerbt hast.“

Kyrie lief rot an, während John ein Lachen entfuhr. „Wenn das so wäre, mein Junge!“

Ray grinste. „Kein Talent im Nähen?“

Sie wandte sich wieder dem Herd zu. „Ausbaufähig.“

„Was übst du denn sonst?“, informierte er sich gespannt.

„Geheimnis“, erklang von ihrer Seite.

„Na gut, wenn du im nächsten Test versagst, offenbarst du es mir“, schlug er vor, „Dann wird dir bewusst, wie wichtig es ist, zu lernen!“

„Der Junge gefällt mir“, kommentierte John.

Kyrie wandte sich um und trug zwei Teller zum Tisch. Dann pflanzte sie in die Mitte eine Schüssel mit Salat. „Mahlzeit, weniger Reden, mehr Essen“, wies sie sie an und holte danach noch ihr eigenes Essen.

„Danke, Mahlzeit“, wünschte Ray ihnen.

„Einen guten Appetit“, murmelte John und startete.

Während sie aßen, verklangen die Gespräche allmählich – bis Ray seinen Kommentar zum Essen einfach nicht mehr verkneifen konnte: „Das schmeckt ja vorzüglich!“

Kyrie sah ihn erfreut an. „Wirklich? Dir schmeckt das?“ Sie wirkte überrascht.

„Warum überrascht dich das?“, wunderte er sich laut, wobei er sein Essen skeptisch musterte, „Ist da etwas drin, das nicht drinnen sein sollte?“

Kyrie lachte kurz auf. „Nein! So war … Also, ich - …“

„Du bist nicht so gut im Kochen und freust dich“, übersetzte John, wobei er gemütlich weiter aß. Und jeden Bissen sichtlich genoss.

Seine Tochter nickte.

Ray schmunzelte und machte sich ebenfalls wieder über das Essen her. Das war also eine intakte Familienbeziehung. Sie ärgerten sich gegenseitig, sie lachten miteinander und sie aßen zusammen. So etwas entwickelte sich, wenn es keine Ärgernisse in der Vergangenheit gab, die einen Keil zwischen die Familie trieben. Einfach schön.

Als das Essen beendet war, verräumte Kyrie die Reste und startete den Abwasch, wobei Ray ihr anbot, dabei zu helfen. Doch sie lehnte ab – was Ray auch nicht wirklich empörte. Er hätte auch abgelehnt, wenn das Angebot von ihm gekommen wäre.

Also pflanzte er sich wieder vor John und starrte den eher kleinen Mann neugierig an. Dieser betrachtete ihn ebenfalls. Kyrie klapperte mit den Utensilien herum und verursachte damit Hintergrundgeräusche.

„Was habt ihr heute vor?“, informierte sich John.

Ray zuckte mit den Schultern. „Reden“, entgegnete er, „Auch wenn uns langsam die Themen ausgehen.“ Er grinste.

„Dir fällt doch immer wieder etwas ein“, kommentierte Kyrie.

Er hielt sein Grinsen aufrecht. Da fiel ihm ein, dass er ihr einen schönen Gruß ausrichten sollte – von Melinda. Der Melinda, die er beim Konzert durch Kyrie ersetzt hatte. Sie war zufällig bei Marc gewesen, als er ebenfalls dort war. Sie war ganz nett. Wenn auch etwas herrisch und vielleicht nervig. Aber was das Aussehen anging, hatte sie wirklich gewisse Ähnlichkeit mit Kyrie, wie Ken ihm berichtet hatte, nachdem Kyrie aus dem Auto gestiegen war – nach dem Konzert. Maggie war eine alte Freundin von Melinda. Diese hatte sich scheinbar für Nathan, der ins Blaue Dorf gezogen war, komplett verändert. Und zwar teuflisch in Richtung Kyrie, da diese Nathans Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Als er davon gehört hatte, war ein Stich der Eifersucht durch ihn gezuckt, auch wenn er sich sicher war, dass Kyrie ansatzweise davon erzählt hatte – bloß dass es damals anders geklungen hatte.

Aber in Anbetracht des Fortlaufs der Geschichte, war er unsicher, ob sich Kyrie über die Erwähnung des Namens dieser Frau freuen würde. Er würde es für sich behalten, wenn sie nicht zufällig darauf zu sprechen kämen.

„Und du studierst wirklich drei Studienrichtungen?“, fragte John interessiert nach, „Das klingt sehr schwierig.“

Ray nickte. „Ja, aber wenn man sich die Zeit nimmt und gut einteilt, dann läuft das schon. Ich habe ja sonst keine Hobbys.“ Er grinste. „Na ja, keine allzu wichtigen.“

John nickte. „Damit erinnerst du mich an meine Frau – sie hat auch Zeit für zehn verschiedene Dinge am Tag, wohingegen ich mich auf gerade einmal ein oder zwei konzentrieren kann.“

Ray hörte nicht auf zu grinsen. „Dann weiß ich ja, woher Kyrie ihr Multitasking-Talent hat. Sie kann nicht einmal schlafen und lernen gleichzeitig.“

„So früh steht sie auch wieder nicht auf“, verbesserte John ihn.

Er sah belustigt zu Kyrie. „Was man hier alles erfährt.“ Dann lachte er.

Und John stimmte mit ein.

„Danke!“, rief Kyrie erfreut aus und umarmte Nathan stürmisch. Danach sah sie zu John und Magdalena, welche gerade noch beim Essen saßen. „Könnt ihr bitte anrufen?“

John nickte. „Natürlich. Wie lange werdet ihr brauchen, bis ihr dort seid?“, informierte er sich.

„So … fünfzehn Minuten“, antwortete Nathan gelassen, „Na ja, vielleicht auch zwanzig.“

„Ihr kommt damit reichlich spät“, beschwerte sich John leise, „Aber das macht nichts.“

„Ich glaube, ich rufe lieber an“, bot Magdalena an, „Dann bekommt sie vielleicht keinen Schreianfall …“

Er grinste. „Na ja, wir können es auch verschieben“, bot er an.

„Nein!“, beharrte Kyrie, „Morgen ist die Messe, danach muss ich wieder in den Himmel! Und am Montag bleibt auch keine Zeit dafür. Und am Dienstag auch nicht … Und am Mittwoch auch nicht. Und dann ist die Woche schon wieder so gut wie um!“

Er nickte. „Ihr hört es.“ Wie John und Magdalena ihn immer anstarrten … Richtig ehrerbietig. Beinahe niedlich. Aber so hatten sie ihn oftmals angestarrt – aber erst seit er sich direkt ins Haus warpte und damit wohl offenkundig seine Kräfte betonte, wurden sie so ehrfurchtsvoll. Scheinbar hatten sie früher wirklich daran gezweifelt, ob ihre Erlebnisse mit den Engeln nicht doch nur Träume gewesen waren. Irgendwie verständlich. Und dass das kleine Nachbarskind auch ein Engel war … Es musste tatsächlich schwer zu begreifen sein.

„Wo ist eigentlich Joshua?“, wunderte sich John, während Magdalena zum Telefon schritt und Mirabelle anrief.

… Warum fragte er nach Joshua? Joshua war nicht da! Ende. Nach dem … Spaziergang … bei dem sie einmal wieder richtig geplaudert hatten und nach dem Versprechen am Hochhausdach, dass sie sich bis Mittwoch nicht mehr sehen würden und dass an diesem Tage nichts vorgefallen war, hatte er ihn nicht mehr gesehen! Und nicht mehr vor, ihn zu sehen. Sein … tiefster Instinkt, oder was auch immer für diese Fehlreaktionen verantwortlich war, zwang ihn immer dazu, sich auf den armen Mann zu stürzen! Wie … Wie sollte Joshua sich je an ein Leben ohne ihn gewöhnen, wenn er ihm doch immer wieder Hoffnung machte?

… Sich selbst immer wieder Hoffnung machte, seine Aufgabe total vernachlässigte und immer nur so minimale Hindernisse zwischen sie stellte! Oh, er konnte sich selbst nicht mehr Ernst nehmen! … Was sollte er bloß tun? Er war so egoistisch.

„Ist alles in Ordnung?“, wunderte sich John, „Du wirkst so verzweifelt …“

„Ja“, mischte sich Kyrie ein und antwortete seinerstatt, „Alles in Ordnung. Sei lieber still, sonst hört Mama nicht alles, was Oma sagt.“

„Sollte es nicht anders herum …?“, begann John, schwieg aber, weil Kyrie ihn böse anschaute.

Diesen bösen Blick hatte sie eindeutig von ihrer Mutter. Den kannte Nathan noch. Damals, die Sache mit dem Schokoladekuchen … Ob sie ihm das noch übel nahm? Er war ja bloß ein sechsjähriger Junge. Na ja, vielleicht ein bisschen älter, aber körperlich war er erst sechs Jahre alt! Dass sie ihn damals gescholten hatten, bewies wohl, dass sie tatsächlich nicht wirklich ernst nehmen konnten, dass ein sechsjähriger Junge ein Schutzengel sein sollte.

„Mach dir keine Sorgen“, beschwichtigte Nathan ihn mit gedämpfter Stimme, „Ich habe mir nur Gedanken um die nächste Trainingsstunde mit Kyrie gemacht. Wenn ihr Schwe-…ah!“ Kyrie unterbrach ihn, indem sie ihn – mit voller Absicht! – anrempelte und dabei in seine Rippen stieß. Hatte sie das Schwerttraining tatsächlich vor ihren Eltern geheim gehalten? Die ganze Sache mit Xenon? Kyrie. Kein Wunder, dass sie sich so quälte! Wenn sie ihren engsten Vertrauten ihre wahren Gefühle verschwieg … Sie musste doch mit jemanden darüber reden! Nicht noch mehr Lügen auf ihren Schultern lasten.

Haha, das dachte ja der Richtige.

John schaute ihn fragend an.

„Wenn ihr Schweigen mich wieder umhüllt, weil sie die Heiligen Schriften nicht perfekt zitieren kann“, verbesserte sich Nathan, wobei er ihr mit einem Blick verdeutlichte, dass das die Rache für den Stoß in die Rippen war. Auch wenn sie ihm leid tat – er ließ sich nicht absichtlich anrempeln!

Jetzt sah John sie mahnend an. „Stimmt das?“

Sie nickte. „Ja! Wie grausam. Ich sollte lieber lernen, als Oma …“

„Sie ist einverstanden“, erklärte Magdalena erfreut, „Na ja, nachdem ihr schon im Zug sitzt und bald aussteigt, hatte sie nicht viel Wahl, aber …“ Sie lächelte. „Oma freut sich schon darauf, euch zu sehen.“

„Danke, Mama!“ Kyrie umarmte sie. „Wir werden schöne Grüße ausrichten und … und … Zu deinem Geburtstag seht ihr euch ja wieder.“ Sie lächelte.

„Ich bin nur froh, dass du sie besuchen kannst“, erklärte Magdalena, „Dann ist sie nicht alleine und … sie muss nicht immer her kommen.“ Die Frau lächelte.

Magdalenas Vater musste schon lange gestorben sein. Nathan kannte ihn nicht. Oder er kam einfach nie mit, aber so etwas hatte er auch nie mitbekommen. Also …

„Im Lichten Dorf ist das Wetter wie hier“, klärte John sie auf, „Deshalb solltest du dir lieber eine Jacke mitnehmen.“

Kyrie nickte eifrig und lief los, um sich eine solche zu holen. Aber warum? Sie würde sie ja sowieso am Hochhaus ablegen. Sie spielte wohl einfach wieder die gehorsame Tochter.

„Geht es ihr im Himmel wirklich gut?“, informierte der Vater sich – besorgt?

Nathan sah ihn perplex an. Und wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatte ihm bestimmt auch verschwiegen, dass es ihr am Mittwoch beinahe an den Kragen gegangen wäre. Gestern war alles in Ordnung gewesen. Sie hatten noch einmal eine Testrunde eingelegt, um zu überprüfen, ob sie den Himmel vertrug – Kyrie war wirklich mutig gewesen. Sie hatte keine Angst gehabt. Zum Glück. Nathan hätte wirklich nicht gewusst, wie er reagieren hätte sollen, wäre es anders gewesen. Aber … von jetzt an würde er sie davor bewahren, zu viel Zeit dort oben zu verbringen. Vielleicht sollten sie langsam mit den Übungen auf der Erde beginnen. … Hm … Nach den Ferien vielleicht? Oder noch in den Ferien?

„Nathan?“, holte John ihn in die Realität zurück.

„Perfekt“, log er geradeheraus, „In drei Wochen werden einige Engel euch sowieso Besuch abstatten, da könnt ihr es euch bestätigen lassen.“ Er grinste. „Aber wundert euch nicht, wenn sie sich dumm aufführen – es wird ihr erstes Mal sein.“ Er stockte. „Na gut, bei Joshua das zweite.“

Ein seltsames Glänzen trat in Johns Augen. „Noch mehr Engel?!“

Nathan nickte vorsichtig.

„Warum hat Kyrie das verschwiegen?“, wunderte er sich laut.

… Sogar das hatte sie verschwiegen? Und er dachte immer, sie würde ihnen alles erzählen!

Er zuckte mit den Schultern. Da kam Kyrie aus ihrem Zimmer auch schon mit einer Jacke zurück. „Gehen wir?“, schlug sie vor.

Er nickte. Sie verabschiedeten sich und marschierten los.

Das erste Stück verlief schweigend, doch dann setzte Nathan zum Gespräch an: „Ich bedaure, aber wenn wir heute zurückkommen, dann muss ich dich hier absetzen. Ich komme in letzter Zeit kaum mit meiner Arbeit voran.“ Als er ihren nachdenklichen Blick bemerkte, fügte er sofort hinzu: „Es liegt nicht an dir, Acedia scheint nur in letzter Zeit so abgelenkt zu sein, dass ich immer mehr Arbeit bekomme!“

„Macht sie sich Sorgen um Luxuria?“, mutmaßte Kyrie.

Nathan war überrascht. Schockiert. Eigentlich sollte das gar keiner wissen! Und jetzt fragte sogar das Erdenmädchen ihn danach! … Er hatte es zwar vor ihr herausposaunt, aber …

„Keine Ahnung“, gab er zu, „Sie redet mit mir nicht darüber. Sie hält nicht viel von sozialem Kontakt.“

„Vielleicht vermisst sie ihre Freunde aus alter Zeit?“, sinnierte Kyrie leise.

Er lachte. „Sie hatte vierhundert Jahre, um das einzusehen. Was will sie mehr?“ Er selbst hatte noch keine hundert. Aber … Moment. Wenn sie recht hatte … Dann … wenn er nach vierhundert Jahren noch immer an Joshua hing? Da konnte er es doch gleich aufgeben!

„Oder sie sorgt sich einfach um den Abtrünnigen“, schlussfolgerte sie weiter.

Ihre Wortwahl entlockte ihm ein Schmunzeln. Einfach alles nachahmen!

„Worauf … müssen denn die anderen Assistenten verzichten?“, wollte Kyrie vorsichtig wissen.

Nathan zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Bis auf Xenon kenne ich keinen beim Namen, wie soll ich da wissen, was ihnen etwas bedeutet?“

„Loszulassen, ist schwierig“, murmelte sie daraufhin.

Er sah sie an. Plötzlich wirkte sie betrübt.

„Am leichtesten ist es, wenn man ein Stück seiner Persönlichkeit aufgibt. Die, die daran hängt …“, machte sie weiter, leiser werdend, „Und plötzlich wird einem diese Person … gleichgültig.“

Wenn er es nicht besser wüsste, dann hätte er gefragt, ob sie aus Erfahrung spräche. Aber … von wem hätte sie denn loslassen müssen? Alle hatten sie verraten. Wenn jemand einem Böses tat, war es doch gleich viel einfacher, ihn abzuwerfen, als wenn jemand ständig gutes Gefühl in einem zurückließ …

„Und wenn sie dann doch zu einem zurückkehrt …“ Sie brach ab.

Sie befanden sich jetzt vor dem Hochhaus, in das sie steigen wollten. Nathan blieb stehen. „Von wem … redest du?“, fragte er nach. Plötzlich beschlich ihn ein gewisses Gefühl.

„… dann kann sie einem nicht mehr weh tun“, beendete sie ihren Satz. Sie ging an ihm vorbei und die Treppen nach oben.

… Sie sprach doch wohl hoffentlich nicht von … ihm? Dieser Verlauf kam ihm unheimlich bekannt vor. Und mit Melinda oder einer ihrer Vorgängerinnen hatte sie sich wohl nicht mehr angefreundet? Oder? Wer blieb denn noch außer er selbst?!

Er eilte ihr hinterher. „Wir besuchen jetzt gleich deine Oma, mach ein fröhlicheres Gesicht!“, wies er sie an.

Sie drehte sich ihm zu und lächelte. „Es hilft, wenn es sein muss.“ Dann stürmte sie los – und er hastete ihr nach, bis sie das Dach erreichten, wo sie bereits ihre Jacke verstaute. Darunter trug sie ein weißes, rückenfreies Shirt, einen roten Rock und weiße Stiefel.

Er stemmte die Arme in die Hüfte. „Einen Moment, junge Dame“, ermahnte er sie, „Sage es mir!“

Sie lächelte. „Als würdest du es nicht wissen.“ Und ihre Flügel erschienen.

Also ließ er auch seine erscheinen. Ihm war nie klar gewesen, wie viel er ihr bedeutet hatte. Wie schmerzlich die Trennung war … Wie sie sich nun fühlen musste, nachdem sie die Wahrheit kannte … Ob sie nicht sogar vielleicht froh über ihre Entscheidung, ihn zu vergessen, gewesen war … nachdem er all ihre Freundinnen ausgenutzt hatte …

Er schritt näher zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du warst immer meine Freundin und wirst es immer bleiben. Und ich will mit dir so viel Zeit wie möglich verbringen.“

Sie sah ihn fröhlich an. „Danke, wisse du von mir dasselbe.“

Und zusammen portierten sie sich in den Himmel. Und sobald sie das glänzende Gold erreicht hatten, verließen sie es auch wieder – und ihr Ziel lautete: „Zum höchsten Gebäude im Lichten Dorf“, wies er sie an. Und schon verschwanden sie an diese Stelle.
 

Ihre Großmutter schien einen Großeinkauf unternommen zu haben. Snacks und Süßigkeiten, Kuchen und Desserts breiteten sich am ganzen Tisch aus. Kyrie wusste nicht, ob es hier immer so aussah, nachdem sie zum ersten Mal in ihrem Leben hier war, doch diese Knabbereien wirkten einfach köstlich.

Und Mirabelle glücklich. Glücklich, dass ihre einzige Enkelin sie besuchte – und das mit einem Mann! Zuerst hatte sie Nathan gar nicht erkannt, wie sie beteuert hatte, weil er plötzlich so erwachsen wirkte, doch dann war sie glücklich, dass sie zusammen hier erschienen.

Sie wollte ihnen sofort ein gemeinsames Schlafzimmer einrichten, sodass sie die ganzen Ferien hier verbringen konnten, doch Kyrie hatte ihr aufgetischt, dass sie ein Hin- und Retourticket für den heutigen Tag besaßen.

Die Details über die Beschwerlichkeit der Reise waren auch kaum erfunden, da sie wirklich eine Weile durch dieses enorm große Hochhaus geeilt waren, welches sich als Bürogebäude herausgestellt hatte, und danach waren sie noch eine ganze Weile in der Stadt herumgeirrt. Diesen Weg hatte Nathan dann wohl vergessen, in seine Rechnung mit einzubeziehen!

Also aßen und tranken sie gemeinsam, sprachen mit ihrer Großmutter darüber, was in den letzten beiden Monaten so passiert war und sprachen über die Universität. Natürlich hatte Nathan keine Ahnung davon, was sie in letzter Zeit so gelernt hatte, doch das störte nicht – Mirabelle hielt nichts von der Religion und war deshalb auch dagegen, dass Kyrie so etwas studierte.

Dass sie vor zwei Engeln saß, wusste die betagte Frau mit ihrem klischeehaften, grauen Haarknoten natürlich nicht. Ihr Großmutter-Instinkt verleitete sie dazu, ihnen ständig neues Essen auf den Tisch zu stellen, sodass Kyrie nach wenigen Stunden bereits übel wurde. Doch sie sagte nichts. Sondern aß weiter.

Und ein Blick auf Nathans Gesicht verriet ihr, dass es ihm kaum besser erging.

„Und geht es dir besser als das letzte Mal?“, informierte sich Mirabelle dann.

Kyrie schaute verwirrt drein.

„Du warst todtraurig, doch heute wirkst du glücklich!“, stellte die alte Frau fest – wobei sie beharrlich Nathan anstarrte, „Was hast du meiner Enkelin da untergejubelt, Jungchen, hm?“

Er grinste. „Ich habe da kaum etwas dazu beigetragen“, wehrte er sich belustigt, „Das hat sie ganz alleine wieder hinbekommen.“

„Darüber bin ich jedenfalls wirklich erleichtert!“, meinte Mirabelle, „Und wenn ich im nächsten Jahr wiederkomme, will ich, dass du genauso glücklich wie heute bist.“ Sie wirkte todernst und streng.

Kyrie nickte. „Jawohl!“ Dann lächelte sie. „Ich freue mich schon darauf.“

„In ein paar Wochen hat meine Magdalena wieder Geburtstag“, murmelte die Frau vor sich hin, „Und dann ewig darauf John.“

Sie stimmte zu. „Genau. Aber du darfst ruhig öfter dazwischen anrufen“, merkte sie an, „Wir freuen uns immer, wenn wir von dir hören.“

Als Antwort lachte Mirabelle bloß.

Und so verfloss die Zeit mit netten Gesprächen und leckeren Keksen.

„Wann geht euer Rückzug denn?“, informierte sich Mirabelle.

Nachdem sie um eine Antwort gefochten hatten – Nathan hatte gewonnen; Kyrie wollte sich an ihn anpassen, nachdem er hier nur freiwillig war und wirklich Wichtigeres zu tun hatte.

Die Stunden waren vergangen wie im Flug! Und sie hatte alles genossen. Sie liebte ihre Oma. Hoffentlich würde Nathan noch einmal die Zeit finden, mit ihr hierher zu kommen. Mirabelle würde sich bestimmt auch freuen.

Sie lächelte, als sie sich von ihrer Oma verabschiedete. Und ihre Großmutter umarmte sie fest. „Du bist schon so ein großes Mädchen geworden“, stellte sie erneut fest, „Es ist schade, dass ich dich nicht öfter treffen kann.“

„Wir werden versuchen, dich öfter besuchen zu kommen!“, versprach Kyrie enthusiastisch, „Oder, Nathan?“

Er grinste. „Natürlich. Ich liebe Süßes.“

Mirabelle lachte. „Na dann, beeilt euch, Kinder, sonst verpasst ihr den Zug noch! Aber denkt immer daran – ich habe einen Platz für euch frei. Nur leider kein Auto!“

Sie bedankten sich noch einmal ordentlich und verabschiedeten sich.

Der Abschied stimmte Kyrie irgendwie traurig. Am liebsten hätte sie ihre Oma einfach mitgenommen, dass sie für immer in der Nördlichen leben konnte … Doch das ging leider nicht.

„So eine nette Frau“, kommentierte Nathan, „Mit viel zu viel Geld.“

Kyrie lächelte. „So sind Omas eben. Liebevoll und ausgerüstet mit sämtlichen Essen.“

„Da hast du wohl Recht“, stimmte er ihr amüsiert zu.

Und brachen in Gelächter aus, während sie durch die Straßen schlenderten, auf denen die Temperatur ständig sank. Es war schon beinahe dunkel geworden, der goldene Glanz verschwand allmählich und machte dem Dunkel Platz. Und sie suchten verzweifelt nach dem Eingang zum Bürogebäude – welches schon geschlossen hatte.

„Oh nein“, bedauerte Kyrie. Sie hätten sofort die Öffnungszeiten begutachten sollen!

„Bitte“, murmelte Nathan, „Bitte haben sie eine Kirche!“

Nachdem sie in einer – dem überraschten Blick der Verkaufskraft nach - kaum besuchten Touristeninformation noch einmal ganz genau nachgefragt hatten, ob es denn kein höheres Gebäude als die Kirche gäbe, hatten sie aufgegeben. Die Kirche war nicht einmal annähernd eine Kirche! Sie war so groß wie ein Haus. Und das Krankenhaus war ebenfalls kein Turm, sondern ein Gebilde aus vielen kleinen, einzelnen Häusern! Und damit hatte es dieses Dorf tatsächlich geschafft, kein Hochhaus zu haben!

Bevor Nathan in seiner Verzweiflung auf die Idee gekommen wäre, das Hochhaus hochzuklettern, überredete Kyrie ihn zu einer Rückkehr zu ihrer Oma. Und dabei wollte sie morgen wirklich mit ihrem Vater die Messe gestalten. Und lernen.

Sie hatten sich informiert, ab wann das Bürogebäude wieder geöffnet hatte – und stellten betrübt fest, dass das bereits um acht Uhr morgens war. Montags.

„Warum bin ich nicht einfach zu Fuß gegangen?“, beschwerte er sich, nachdem sie nebeneinander im Bett lagen.

Sie waren noch bis ein Uhr mit ihrer Großmutter unten gewesen, hatten mit ihr Karten gespielt und noch mehr gegessen. Dann waren sie zu Bett gegangen. Mirabelle schien keineswegs betrübt darüber zu sein, dass sie „den Zug verpasst“ hatten. Um eine Ausrede zu haben, weshalb sie morgen nicht bereits wieder abfahren konnten, gestanden sie, dass sie nicht genug Geld hatten. Sie hatten auch wirklich kein Geld. Wenn man sich teleportieren konnte, brauchte man an sowas doch eigentlich gar nicht erst zu denken ...! Und ihre Großmutter hatte natürlich auch nicht genug Geld übrig, da sie ja erst vor kurzem bei ihnen zuhause gewesen war.

Plötzlich schreckte Nathan hoch. „Wir fliegen!“

Kyrie schaute ihn fragend an. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, fast so schwer wie ihr Bauch. Sie war übervoll. Mehr als übervoll …

„Wenn wir ausgeruht sind, schaffen wir es, den Weg unter der Wolkendecke entlang zu fliegen.“

Sie schaute ihn skeptisch an. „Das geht?“

Er nickte. „Es dauert länger, ich bin mir nicht sicher wie lange, und es sollte uns bestmöglich keiner sehen, aber es ist möglich. So kommst du morgen noch zu deiner Messe und ich kann dann einfach von der Nördlichen aus in den Himmel aufsteigen.“

„Und das zehrt auch meine Kräfte nicht auf?“, informierte sie sich. Auch wenn sie zugeben musste, dass sie gerne noch etwas mehr Zeit mit Mirabelle verbringen wollte. Wer wusste schon, wie oft sie sie noch sehen würde? Auch wenn sie froh über die neu gewonne Möglichkeit war.

„Aber ich glaube, dass es um sechs schon hell sein wird“, wandte Kyrie ein, „Das heißt also, dass wir gesehen werden könnten.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, es gibt eine bestimmte Höhe, von der aus Menschen uns für nichts weiter als Vögel halten werden.“ Er gab sich fest entschlossen. „Und wenn das Wetter mitspielt, dann können wir uns im Grau der Wolken verstecken. Oder im Glanz des Himmels. Oder sonst wo! Ich muss nach da oben!“

„Dann schlaf lieber“, riet sie ihm, „Sonst packst du das nicht.“

„Das würde noch vier Stunden Schlaf machen“, murmelte er, „Auf der Erde … Es gibt kein näheres Dorf, oder?“

„Nein“, bedauerte Kyrie, „Ob wir ins Niedliche Dorf oder in die Hauptstadt … flögen … wäre egal.“

„Schade“, murmelte er, „Aber lass uns schlafen. Und morgen schauen wir dann, wie wir das machen.“

Sie nickte. Sie hatte sich bei ihrem Vater per Handy gemeldet, nachdem Mirabelle bei ihr zuhause angerufen hatte und die offizielle Version geschildert hatte. Kyrie hatte John dann erklärt, was ihr wirkliches Problem war und dass ihre Eltern vermutlich erst ab Montag wieder mit ihr rechnen konnten – und dass ihr das mit der Messe leid tat.

Aber John hatte es gut – zu gut! – aufgenommen.

„Wenn wir dann auf der Erde fliegen“, fiel ihr plötzlich ein, „… dann werden wir danach ziemlich fertig sein, oder?“

Er schaltete das Nachtlicht aus. Beide trugen Nachtgewänder, die Mirabelle ihnen zur Verfügung gestellt hatte – ihre Oma hatte ihr erklärt, dass sie manchmal Gäste hier hatte, die ebenfalls den Zug verpasst hatten. Es war praktisch, dass ihre Oma beinahe direkt am Bahnhof lebte. Bloß blöd, dass Kyrie das erst heute herausgefunden hatte, nachdem sie das Touristenbüro am Bahnhof deprimiert wieder verlassen hatten, und nach wenigen Schritten bereits wieder vor Mirabelles Haus standen. Hauptsache vom Bürogebäude aus dauerte es ewig!

„Vermutlich“, merkte er an, „Ziemlich sogar. Magie auf der Erde anzuwenden, ist eine Sache“, erklärte er, „Wirklich zu fliegen, obwohl die Schwerkraft an einem zieht, eine ganz andere. Habe ich gehört.“

„Du … hast das noch nie gemacht?!“, stellte Kyrie schockiert fest.

„Wie denn?“, fragte er amüsiert, „Oder hast du mich je fliegen sehen?“

„Das stimmt“, murmelte sie.

„Also – hast du heute von mir gesprochen?“, rollte er das alte Thema wieder auf.

… Sie hätte es nie angesprochen, wenn sie geahnt hätte, in welcher Situation dieser Tag enden würde. Es war mehr aus Reflex geschehen! Er hatte ihr so leid getan und Joshua erst!

„Ja“, gab sie widerstrebend zu.

Er bewegte sich am Bett. Sie fühlte seinen Blick auf sich lasten.

„Du warst … in mich verliebt?“, fasste er die Geschichte zögerlich zusammen.

Wie konnte er das nur so herzlos und offen aussprechen?

Sie verkroch sich unter der Decke. „Ja“, wisperte sie. Und bereute es sofort. Andererseits war es erlösend, aber ...

„Oh“, machte er. Er rückte von ihr weg. „Tut mir leid.“ Seine Stimme klang plötzlich fiel ferner. Hatte er sich weggedreht? „Ich habe es nie bemerkt.“

„Du warst zu beschäftigt“, beschwichtigte sie ihn, ohne vorher über ihre Worte nachzudenken.

„Bist du … froh darüber, über mich hinweg zu sein?“, informierte er sich.

Sie ließ sich Zeit mit Antworten. Was sollte sie ihm jetzt sagen? … Die Wahrheit vermutlich. „Ja“, bestätigte sie, „Es hat wirklich wehgetan, wie du mit … mit all diesen Mädchen … Deinen Blick hast du aber nie von mir abgewendet …“

„Ich musste sehen, wo du bleibst“, meinte er leise, „Ich hatte wirklich keine Ahnung von deinen Gefühlen.“

„Ich von deinen auch nicht“, entgegnete sie.

„Wie?“, fragte er verwirrt.

„Du und … Joshua …“, setzte sie an, brach dann aber ab, weil es so falsch klang.

Er antwortete nicht.

„So gesehen, war ich schon froh, dass ich es auf die andere Art erfahren hatte … Dass ich keines deiner … Opfer geworden war …“ Sie seufzte leise. „Auch wenn ich … vielleicht heimlich immer wieder davon geträumt habe, dass …“ Sie brach ab.

„Soll ich dich küssen?“, bot er ihr sachlich an. Sie hörte ihm an, dass es ein Wiedergutmachungsgeschenk war.

Sie erschauderte. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Doch … seltsamerweise … fühlte sie nichts dabei … Nichts als … Abneigung.

Er war ihr Lehrmeister, ihr früherer bester Freund, derjenige, der sie lange alleine gelassen und dann wieder aufgefangen hatte … und der Teil, der geglaubt hatte, ihn lieben zu müssen, war gestorben … Und anstatt … anstatt dass sich Sehnsucht nach diesem Ich breit machte … tauchte das Bild eines ganz anderen Menschen vor ihrem inneren Auge auf. Dieses spitzbübische Lächeln, dem immer eine bedrückende Art von Traurigkeit anhaftete, diese funkelnden grünen Augen … Ray …

„Schlaf jetzt“, wies sie ihn an, „Morgen wird ein anstrengender Tag werden, wenn du so pflichtbewusst sein willst.“

Er lachte kurz. „Tut mir leid für die Frage.“

„Schon in Ordnung“, antwortete sie leise, „Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, ertönte seine Antwort. "Ich bin froh, dass du nicht zugestimmt hast." Und bald darauf kehrte Ruhe ein.

Sie wusste, dass es nicht böse gemeint war.
 

Kyrie weckte ihn tatsächlich um fünf Uhr auf, doch … Nathan war ehrlich – er schaffte es einfach nicht, aufzustehen. Dieses weiche Bett … Es war keine Wolke, es war Stoff! Richtiger Stoff! Wenn er etwas auf der Menschenwelt vermisst hatte, dann war es dieser Schlaf, der nicht genesend erholsam, sondern relaxend erholsam war! Ein gravierender Unterschied. Ein Unterschied, der ihn bis zwölf Uhr mittags weiterschlafen hatte lassen.

Kyrie war bereits bei ihrer Großmutter – seit fünf Uhr, so wie er diese Frühaufsteherin kannte – und half ihr im Haushalt und unterhielt sie. Sie schien es wirklich zu genießen, bei ihrer Großmutter zu sein. Verständlich, wo sie die alte Dame nur so selten sah. Doch er konnte Kyrie nicht alleine lassen, musste aber in den Himmel zurück.

Nachdem er aus dem Fenster geschaut hatte und der Himmel so klar war, dass er beinahe glaubte, die Welt der Engel sehen zu können, gestand er ein, dass sie den ganzen Tag hier bleiben mussten – aber sie würden den „Nachtzug“ nehmen.

Dann konnten sie nachts noch in den Himmel gehen, sodass Kyrie für Montag ausgeruht war, sie die Schwertübung vormittags absolvierten und er sich danach in Ruhe auf seine Arbeit konzentrieren konnte.

Mirabelle schien noch immer unzufrieden, aber sie wirkte genauso froh dem „jungen Paar“ geholfen zu haben. Er grinste in sich hinein. Wenn sie wüsste.

Also verbrachten sie den Tag damit, das Lichte Dorf zu begutachten – es war klein, weshalb es bloß zwei Stunden einnahm, einmal durchzuschlendern. Kyrie und er hatten sich gestern wie in einem Labyrinth gefühlt, doch mit einem Fremdenführer wie Mirabelle herumzulaufen, vereinfachte das ganze ziemlich. Und sie war verflucht schnell für ihr Alter.

Und am Ende schauten sie der Abendsonne beim Untergehen zu, während sie auf der Terrasse von Mirabelles kleinem, niedlichem Haus saßen und Tee tranken, zu dem es natürlich Kekse gab.

Nathan gab es ungern zu, doch er fühlte sich, als müsste er sämtliche Kekse wieder abtrainieren. Das Schwertkampftraining würde ihm dabei wohl helfen. Überflüssige Kilo wurden vom Himmel nämlich nicht geheilt. Es gab nämlich eigentlich keine übergewichtigen Engel, da Engel normalerweise kein Essen von der Erde aßen. Er musste seinen Freunden unbedingt Kuchen vorstellen. Die süße Version, nicht die himmlische. Dann wäre er nicht mehr der einzige fette Engel.

„Warum grinst er so vor sich hin?“, wunderte sich die Großmutter.

„Manchmal hat er solche Anfälle“, beschwichtigte Kyrie sie.

„Such dir lieber einen weniger verrückten Freund“, gab Mirabelle zurück, woraufhin Kyrie lachte.

Solche Aussagen verletzten sie also wirklich nicht mehr. Sie war tatsächlich über ihn hinweg – ohne dass er davon wusste! Entweder er war blind oder … Was auch immer mit ihm falsch war. Wie konnte er das bloß nicht bemerken? Nie? Seine Gedanken waren einfach zu … sehr auf Joshua fokussiert … Er unterdrückte ein Seufzen. Er wollte sich damit nicht mehr auseinandersetzen. Warum konnte er nicht einfach so stark sein wie Kyrie und dieses Ich abtöten? Dieses Ich, das Joshua liebte …
 

Mirabelle hatte sie zum Bahnhof begeleitet – und durch einen billigen Trick, kombiniert mit einem Hauch des Schicksals und einer ausgeliehenen Geldbörse ungeklärter Herkunft, hatten sie sich davon gestohlen und waren nun auf dem Weg, das Dorf zu verlassen. Allein der Fußweg war schon anstrengend genug! Noch dazu war es so dunkel, dass man kaum etwas sehen konnte. Die Geldbörse hatten sie natürlich dem Besitzer zurückgebracht, ehe er sie vermisst hatte. Ob Mirabelle das mit dem Glücksspiel geglaubt hatte?

„Wenn du gestern zu Fuß zu meinem Haus gekommen wärst“, fasste Kyrie zusammen, „hättest du jetzt noch genug Licht übrig, um vom Boden aus in den Himmel zu kommen.“

Er sprang über einen Stein, der in diesem Wald aus dem Boden ragte. Dieser Wald war beinahe blickdicht! Ein Dickicht ohne gleichen! Ob hier überhaupt schon einmal ein Mensch durchgegangen war? Sämtliche Äste flogen in ihr Gesicht und hinterließen ihre Spuren darauf. Sie versuchte, sich mit den Händen zu wehren, konnte aber nicht alles abblocken.

„Richtig“, meinte er, „Aber so habe ich gerade einen Katzensprung zu wenig.“

Wie machte er das nur, dass er nie stolperte, dass er nie etwas ins Gesicht bekommen zu schien?! „Und ich habe zu wenig, weil ich sie benutzt habe“, murmelte sie, „Ich bin so schwach …“

„Ja“, sagte er, „Aber Joshua war letztens genauso fertig.“

„Habe ich … mein Ziel eigentlich erreicht?“, fiel ihr dabei ein.

Er nickte. „Ja. Du hast die vierundzwanzig Stunden im Himmel überlebt – dich kriegt keiner mehr klein.“ Er grinste, was sie am Leuchten seiner weißen Zähne erkannte. „Etwas Übung brauchst du zwar noch, aber wir liegen gut in der Zeit.“ Zum Glück war es nie stockfinster. Nur dunkel. Und alles war voller Blätter.

„Wirst du … ewig so viel Zeit für mich aufwenden können?“, informierte sie sich, während sie beinahe über einen Ast stolperte – doch er hielt sie rechtzeitig fest.

„Lange genug“, beruhigte er sie, „Irgendwann wirst du ein Schwertmeister sein, vor dem sich die anderen fürchten.“ Er war eindeutig amüsiert.

Gerade, als sie zu einer Antwort ansetzen wollte, rief er erleichtert aus: „Das ist der Ort, den ich mir vorgestellt habe!“ Und schon breitete er seine Flügel aus und flog vorsichtig nach oben.

Sie schaute ihm lediglich nach und wartete auf Anweisungen. Sie wünschte sich, ebenfalls ihre Flügel ausfahren zu können – dann würde sie durch sein Licht endlich etwas sehen!

Als er wieder tiefer flog, meinte er: „Wir sollten weit genug weg sein, dass sie uns für große Vögel halten.“ Er grinste, „Los!“

Kyrie streckte ihre Flügel erfreut aus. Selten vollzog sie diese Prozedur an solch einer tiefen Stelle. Und als sie zu Nathan schaute, stellte sie fest, dass dieses Licht keineswegs erleuchtete. Es war seltsam, aber … das war kein natürliches Licht, das die Umgebung erhellte. Es betonte bloß Nathan. Es war seltsam.

„Und jetzt – zieh dein Schwert!“, folgte der nächste Befehl.

Schockiert über die plötzliche Aufgabe, starrte sie ihn nur an. „Was?“

„Zieh es – du bist vom Himmel entfernt. So können wir herausfinden, wie gut du wirklich bist“, begründete er.

„Sollten wir nicht warten, bis ich keine Energie mehr brauche?“, schlug sie vor.

Er lachte leise. „Beim Fliegen geht es um Muskeln, nicht um Licht.“

Sie nickte – und konzentrierte sich. Sie musste ihr Schwert rufen. Hier. Es hier behalten.

Also strengte sie sich an, konzentrierte sich einzig und allein darauf, den Gegenstand aus Licht herbei zu beschwören – egal, wie schwer es ihr fiel. Und plötzlich hielt sie es in den Händen. Sie starrte es überrascht an. Es leuchtete – und es beleuchtete die Umgebung! Sie erkannte eine Wurzel vor sich. Aber die konnte ihr jetzt auch nichts mehr anhaben – sie würde fliegen!

Ob Menschen dieses Schwert dann eigentlich auch sehen konnten?

Nathan klatschte vergnügt. „Sehr gut, das ging sogar richtig schnell.“ Er grinste. „Aber nicht schnell genug.“ Dann verschränkte er die Arme. „Lass es los.“

… Also übten sie jetzt die Geschwindigkeit, mit der sie es an dieser Stelle rufen konnte? Na gut …

Ihr Schwert fiel – und nach wenigen Augenblicken verschwand es, löste sich einfach in Nichts auf. Sobald es den Kontakt zu ihren Händen verlor. Hier unten ging das besonders schnell. Eine Entwaffnung wäre tatsächlich ihr Tod.

„Egal wie stark jemand ist“, begann Nathan, „Auf der Erde haben diese Schwerter keine Existenzberechtigung. Das Schwert gehört bloß dem Engel, der es gerufen hat – niemand sonst soll es aufheben können.“

Sie nickte. „Ja …“ Dann rief sie ihr Schwert erneut.

Und der gesamte Ablauf wurde so lange wiederholt, bis sie sich vollkommen energieleer fühlte.

Sie hatte doch geahnt, dass das eine schlechte Idee war.

Kyrie stieg in den Himmel hinauf. Nathan hatte Recht gehabt – das hatte gar nichts mit dem Licht zu tun! Nur mit Muskeln. Zum Glück war sie ein mageres, kleines Mädchen. Ihre Flügel mussten somit kaum etwas tragen!

Und die Aussicht war wundervoll! Überall brannten Lichter. Es war wie ein wunderschönes Muster, auf das sie hinabblickte. Plötzlich verstand sie, weshalb es Lichtes Dorf hieß – es war voller Licht! Der Bahnhof war beleuchtet, die Schienen gleißten empor, jedes Haus schien von einer Lichterkette umgeben zu sein – na ja, vielleicht nicht jedes, aber … das Bürogebäude auf jeden Fall! Spöttisch leuchtete es zu ihnen auf.

„Warum fliegen wir eigentlich nicht einfach auf das Dach des Bürogebäudes?“, wollte Kyrie wissen. Eigentlich sollte es dunkel genug sein, dass sie keiner sah. Bis auf das Licht des Gebildes an sich.

Nathan lachte. „Weißt du, das hatte ich auch vor gehabt“, meinte er, wobei er direkt neben ihr flog und dabei engelsgleich herumsegelte. Sein Licht zeichnete sich deutlich ab. „Aber das ganze Licht da unten ist mir eine Spur zu gefährlich. Wenn uns einer sieht, könnten die anderen Menschen anfangen, Nachforschungen anzustellen. Vor allem, wenn uns die falsche Person erkennt.“

„Und warum können wir uns nicht einfach von hier aus warpen?“, informierte sich Kyrie.

Sie fühlte die Wolkendecke direkt über sich. Der Himmel war so nah, schenkte ihr aber keinerlei Heilung.

„Das funktioniert nicht“, erklärte Nathan, „Versuch es ruhig – du wirst nicht durchkommen.“

Ihr Magen verkrampfte sich. … Was, wenn das ein Test war? Wenn … wenn er sie in den Himmel schicken wollte? Allein? Um ihr zu beweisen, dass sie keine Angst zu haben brauchte, um sie loszuwerden, um … Sie sog stark die Luft ein. Sie war kühl und erfrischend.

… Nein, sie … sie vertraute ihm doch. Er würde das nicht tun. Er hatte ihr gesagt, er würde immer für sie da sein. Deshalb tat sie, wie geheißen – doch egal, wie sehr sie sich darauf konzentrierte, sie hatte tatsächlich keine Chance, in den Himmel zu gelangen, solange sie flog.

„Du kannst die Verbindung nur aufbauen, wenn deine Flügel ruhig sind“, fügte er hinzu, „Wenn sie statisch in den Himmel gelangen können. Diese Sicherheitsvorkehrung dient wohl dazu, Engel davon abzuhalten, wirklich so weit nach oben zu fliegen und vielleicht von Menschen gesichtet zu werden. Halbengelhassern ist es ja durchaus zuzutrauen, dass sie keine Rücksicht auf die Geheimhaltung nehmen“, meinte er, „Je weniger von Engeln wissen, desto eher ist der Frieden gesichert.“

„Warum?“, wollte Kyrie wissen. Sie versuchte, so gerade wie möglich zu fliegen. Leider war es windstill, sodass alle Kraft aus ihr kommen musste – hoffentlich würde sie durchhalten können.

Im Roten Dorf wäre es einfach gewesen, wieder in den Himmel zu gelangen, auch wenn das Krankenhaus und die Kirche geschlossen gewesen wären – die Berge schienen dort beinahe den Himmel zu berühren.

Hier gab es nichts als Hügelchen.

„Warum?“, wiederholte er, „Weil Menschen totale Egoisten sind – irgendeiner wird sich dann die Kraft der Engel zunutze machen wollen, ein anderer wird gegen ihn antreten wollen, die Dämonen heraufbeschwören und der Krieg stünde erneut vor der Tür!“ Er schüttelte betrübt den Kopf. „Der geheime Kampf ist mir da sehr viel lieber.“

Der geheime Kampf, der durch die Vernichtung von Halbdämonen erfolgte. Kyrie fand es noch immer falsch, doch was sollte sie dagegen tun? Sie hatte nur Glück, im richtigen Moment, die die richtige Entscheidung getroffen zu haben – sie war sich sicher, dass es viele Menschen gäbe, die wirklich abgelehnt hätten, zu einem Engel zu werden.

Zum Glück hatten ihre Eltern sie entsprechend gut erzogen. Sonst wäre sie schon tot. Und dieser Umstand stieß ihr noch immer sehr sauer auf. Dass Engel solche Mörder waren, dass sie unbarmherzig waren, wenn es um Dämonen ging …

„Ich verstehe“, murmelte sie. Ihre Flügel schlugen. Doch die Schwerkraft drückte wirklich nach unten – im Himmel war das nicht so. Da war es natürlich, einfach zu fliegen. Doch hier … Kein Wunder, dass Engel ungern auf der Erde waren. Es war unnatürlich für sie. Sie gehörten in den Himmel.

Und Halbengel gehörten einfach irgendwo dazwischen hin. Vielleicht genau dahin, wo sie jetzt war. Alleine, bis auf Nathan. Nicht auf der Erde, doch ohne Chance, in den Himmel zu gelangen.

„Ich freue mich schon auf den Himmel“, murmelte Nathan, „Ich werde einfach umfallen.“

Fliegen wurde mit der Zeit wirklich anstrengend. Hoffentlich würde sie in der Zukunft nie wieder dazu genötigt werden. Hoffentlich! „Ich kann es nachvollziehen“, antwortete sie, „Ich muss dann in den Himmel, um mein Licht aufzuladen“, erinnerte sie ihn, „Aber das Schwerttraining können wir für heute vergessen“, bot sie an.

Er nickte. „Danke dafür“, sagte er, „Ich bin wirklich in Verzug mit allem. Aber ich bin froh, dass du das Schwert jetzt recht schnell rufen kannst.“

„Ich bin auch erleichtert“, gab sie zu, „Aber ich hoffe, dass ich es niemals auf der Erde rufen werde müssen …“ Oder im Himmel. Wenn es einfach ewig so weitergehen könnte, wie es jetzt war … Dass sie ihre Zeit mit Nathan und ihren Engelsfreunden verbringen durfte, dass sie die restliche Zeit mit Ray unterwegs sein konnte … Und dass sie nebenbei noch ihr Studium beendete. Es war ein wundervolles Leben – wenn da nicht diese furchtbare Angst wäre …

Die Angst, durch die sich alles verändert hatte.

Warum war sie zu schwach, diese loszuwerden? Warum konnte sie sich nie überwinden? Diese Angst, die sie zwang, zur Waffe zu greifen. Diese Angst, die Nathan zwang, wieder ihr Lehrer zu sein, ihr immer beizustehen, sie nie aus den Augen zu lassen …

Schwäche … Angst war eine Schwäche.

Eindeutig.
 

Nathan landete mit Kyrie auf dem ersten Hochhaus der Nördlichen. Sofort zogen alle beide ihre Flügel ein und legten sich auf den harten Steinboden.

Er schloss die Augen. „Endlich“, murmelte er erleichtert.

Sein Rücken schmerzte. Er hatte seinen Körper die ganze Zeit über strecken müssen. Bis er erschlaffte. Dann hielten nur noch die Flügel ihn oben – zum Glück war dazwischen irgendwann einmal ein Windstrom gekommen, der ihn weiter geschoben hatte.

Er hatte es etwas länger ausgehalten als Kyrie – aber nicht lange genug. Am Ende hatten beide geschwankt.

Aber sie konnten keine Pause einlegen, weil sie nicht abschätzen konnten, ob sich Menschen dort unten herumtrieben oder nicht. Nachdem sie das Lichte Dorf hinter sich gelassen hatten, war es einfach nur noch dunkel gewesen – bis sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Nordstadt erreicht hatten, wo die Lichter sie wieder daran erinnerten, dass sie lebten.

Sie hatten sich im Süden abgesetzt, da dort kein Nachtleben stattfand, dort wo nur die Arbeiter lebten, die um diese Uhrzeit also schon schliefen – und im Gegensatz zum Westen und Norden und Teilen des Ostens war der Süden kaum bis gar nicht beleuchtet, was sich nun zu ihrem Vorteil auswirkte.

„So … erleichtert“, wisperte Kyrie erschöpft, „Will … nicht mehr … aufstehen …“

Er nickte kaum merklich. „Gleichfalls …“

Also blieben sie so liegen, bis Nathan sich wieder fit genug fühlte, um sich zu rühren.

„Komm, gehen wir in den Himmel … Wenn wir uns lange genug aufladen, dann können wir sofort in dein Haus gelangen …“

„Nein, sonst musst du alleine …“, entgegnete sie langsam, „zurückgehen …“ Sie wirkte, als würde sie jeden Moment einschlafen.

„Mir ist das egal“, beruhigte er sie, „Hauptsache du bist dann zuhause.“

Sie erhob sich ihren Kopf. „Danke.“

Und so quälten sie sich beide auf und ließen ihre Flügel ausfahren – um sich sogleich in den Himmel zu begeben.

Dort oben sanken alle beide gleich wieder Boden. Doch die heilende Wirkung des Himmels machte sich sofort bemerkbar. Er schloss die Augen. „Wir sollten in mein Haus gehen, da können wir uns besser ausruhen.“ Doch er konnte seinem Vorschlag nicht folgen, da seine Flügel sich nicht rühren wollten. „Oder wir bleiben einfach hier.“

Kyrie nickte stumm.

Und so ruhten sie sich beide aus – und das, obwohl alle beide Besseres zu tun gehabt hätten.

„Von jetzt an“, murmelte er, „werde ich immer die Öffnungszeiten beachten. Immer.“
 

Ray hatte das Essen bei Kyrie total geschmeckt und sehr gut gefallen, vor allem, da sie danach noch mit ihrem Vater eine Runde Karten gespielt hatten – und das hatte er schon ewig nicht mehr getan. Seine Freunde waren keine Kartenfans. Mit Kyrie und John hatte das total viel Spaß gemacht. Als John dann um Fünf seine Frau abholen musste, waren er und Kyrie raus gegangen und hatten Eis gegessen. Und sich dabei unterhalten.

Sie hatte Recht. Ihm fiel wirklich immer ein neues Thema ein – aber am öftesten sprach er einfach über sein Studium, was er dort alles herausfand und lernte. Die Rechtsformen, wie sie früher waren, der Aufbau des menschlichen Körpers und weshalb er krank wurde, was für Chancen man hatte, wenn man überfallen wurde … Es war so traumhaft.

„Hattest du einen schönen Tag?“, wollte er von Kyrie wissen.

Sie ging heute irgendwie versteift. Magdalena war heute beim Essen dabei gewesen, darum hatte Ray auch sie begrüßen können. Diesmal hatte er aber nicht bei Kyrie gegessen – sie hatte ihr Mahl bereits beendet gehabt und Ray sparte sich seinen Hunger für das Kino auf, zu dem sie jetzt unterwegs waren.

„Gestern?“, fragte sie, „Ja. Ich war bei meiner Oma für zwei Tage.“

„Tatsächlich?“, murmelte er, „Du hast wohl mehr Geld, als es scheint.“

Sie lächelte ihm zu. „Oder einfach meine Methoden.“ Sie vollzog seltsame Bewegungen, als wollte sie ihren Körper entspannen.

„Bist du etwa zu Fuß gegangen?“, wollte er belustigt wissen. Das würde doch kein normaler Mensch machen!

„So in etwa“, gab sie zurück, „Und egal wie sehr ich mich ausruhe, es fühlt sich einfach schrecklich an …“

„Du hättest einfach ein Zugticket kaufen sollen“, meinte er keck.

Sie nickte. „Das nächste Mal mache ich das vielleicht auch.“

Er grinste. „Vielleicht solltest du einmal zu arbeiten anfangen, dann würdest du auch Geld verdienen.“

„Du arbeitest doch auch nicht“, entgegnete sie barsch.

Er nickte. „Ich fahre aber auch nicht mit dem Zug.“

„Das ist ein Argument“, meinte Kyrie daraufhin kleinlaut.

Er lachte – und sie stimmte mit ein.

Er hatte einfach Spaß mit ihr. Es war so ungezwungen und vor allem … ehrlich. Sie war eine der wenigen Menschen, die seine wahren Gefühle und Empfindungen kannten. Und sie besaß diese einzigartige Anziehungskraft. Als würde allein ihre Anwesenheit sein Gemüt beschwichtigen, ihm Frieden bringen … ihn glücklich machen.

Er wollte einfach Zeit mit ihr verbringen. So viel Zeit wie möglich.

„Ich habe dafür den ganzen Tag lang gelernt“, gab er an, „Während du Spaß bei deiner Oma hattest!“

Kyrie lachte. „Und wer ist jetzt der Fleißigere von uns?“, wollte sie wissen.

„Ich habe dich da wohl entthront“, stellte er grinsend fest.

„Den hole ich mir schon wieder zurück!“, schwor sie daraufhin.

Und schon endete der Weg, als sie das Kino erreichten, die Karten zahlten und den Film bewunderten.

So stellte man sich einen ganz normalen Tag wohl vor. Einen ganz normalen Ferientag. Einen einfachen, schönen Tag mit Kyrie.
 

Als Kyrie auf den Kalender sah, konnte sie es kaum glauben: Die Ferien neigten sich bereits dem Ende zu. Dieser Monat war so unendlich schnell vergangen – und sie hatte sich so sehr amüsiert wie noch nie! Nicht nur die beiden bisherigen Mittwochstreffen waren unglaublich– auch wenn Thierry, Liana und Deliora abwechselnd keine Zeit gehabt hatten – und sehr informativ gewesen. Leider hatte Liana keine Informationen mehr über Luxurias Aufenthalt erhalten. Und Nathan hatte ihnen dazu auch nichts mehr erzählen können. Es war wirklich beunruhigend, dass einer der stärksten Engel einfach so verschwinden konnte … Wenn das Nathan passieren würde … Sie wollte gar nicht daran denken.

Neben den Mittwochstreffen hatte sie auch das Schwerttraining absolviert – hin und wieder hatten sie am Hochhausdach geübt, wie sie ihr Schwert schneller heraufbeschwören konnte. Sie hatten auch dort gekämpft. Nathan kritisierte, dass sie jeden Kampf mit einer Blockreihe begann und nie von sich aus die Initiative ergriff. Aber … Kyrie konnte sich dazu einfach nicht überwinden.

Genauso wenig, wie sie sich überwinden konnte, zu Ray ehrlich zu sein. Sie konnte ihm nichts über ihre Gefühle sagen, weil diese Mauer von Geheimnissen sie einfach trennte. Sie konnte ihm nicht sagen, wie viel er ihr bedeutete, solange sie ihm nicht auch die Wahrheit anvertrauen konnte. … Und sie war viel zu schüchtern dafür … Sie … Sie konnte doch nicht einfach einem Jungen … Es fing an wie früher. Warum konnte sie nicht einfach erwachsen geworden sein?

Aber … wenn die Ferien vorbei waren, würden sie und Ray wieder ihre alten Gewohnheiten aufgreifen. Sie würden sich nicht mehr um zwei Uhr treffen und den ganzen Tag miteinander verbringen. Sie würde wieder ihre Mauertreffen abhalten und ihre eigenen Leben leben. Wie vor den Ferien. Sie würden wieder einfache Mauerfreunde sein – und wenn Kyrie Glück hatte, würden ihre Gefühle für ihn verblassen.

Auch wenn diese Zeit wundervoll gewesen war. So atemberaubend schön …

Sie hatte so viel gelacht, nie geweint und immer Freude verspürt. Sie hatte sich aber nicht mehr dazu hinreißen lassen, sich mit seinen anderen Freunden zu treffen. Er hatte das auch nie vorgeschlagen. Sie waren einmal zusammen auf ein Konzert gegangen, hatten wieder miteinander getanzt und … Sie liebte dieses Gefühl. Wenn sie an Ray dachte. Dieses Herzklopfen. Wenn sie die Augen schloss, dann dachte sie an Ray und … und … Sie wusste nicht weshalb, vielleicht war es die Art, wie er sie anschaute, doch … sie glaubte, dass er auch sie mochte und … Sie dachte an die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten – bei den Mauertreffen hatten sie gut eine halbe Stunde füreinander gehabt, doch hier in den Ferien … Sie hatten sich etwa dreimal die Woche – manchmal mehr, manchmal weniger – getroffen und beinahe den ganzen Tag, hin und wieder einen Teil der Nacht, miteinander verbracht. Sie hatten die Stadt erkundet, hatten sämtliche Cafés besucht und sich … sich wie Freunde verhalten. Richtige Freunde.

Ein Freund, der sie nicht benutzte, nicht belog, nicht betrog. Ein Freund, den sie belügen musste. Ein Freund, der nie die Wahrheit über sie herausfinden würde … Ein Freund, den sie dennoch niemals verlieren wollte. Und vielleicht brachte sie es auch genau deshalb nicht über sich, ihn auf ihre Gefühle anzusprechen. Denn wenn er doch einmal davon erfuhr, was sie war, dann … würde er sich von ihr abwenden … Und zudem sollte sie doch zufrieden sein, wie es war! Neben den Mauertreffen hatte sie noch genug Zeit für alles andere.

Sie musste lernen – sowohl für das Studium, als auch für ihr Dasein als Engel. Sie … sie hatte doch außer in den Ferien nicht genug Zeit für ihn und … egal, wie sehr sie es wollte, es funktionierte einfach nicht … würde nie funktionieren …

Sie saß auf ihrem Bett und begutachtete die Feder, die scheinbar Glück brachte. Sie könnte sich wünschen, nie zu einem Engel geworden zu sein, nie überhaupt die Wahl gehabt zu haben, einfach als ganz normales Mädchen zur Welt gekommen zu sein … Sie hätte dann all die Zeit, die sie für ihr Training aufwandte, für Ray übrig … Sie hätten mehr zusammen unternehmen können, doch … Sie verwendete den Großteil ihrer Zeit an ihre vergangene Liebe … An Nathan … Es war … grotesk … Den anderen Teil ihrer Zeit benutzte sie, um etwas über eine Religion zu lernen, die schlichtweg unwahr war. Aber … sie wollte doch ihren Vater nicht enttäuschen. Er glaubte daran. Also würde sie ebenfalls daran glauben. Denn die Wahrheit … war zu schrecklich.

Noch dazu wartete sie im Moment nicht darauf, dass ihr geliebter Ray in dieses Zimmer kam … Es … war so, dass sie auf Nathans Erscheinen wartete. Darauf, dass er zusammen mit Liana, Deliora, Thierry in dieses Zimmer platzte.

Sie liebte Nathan als Lehrmeister, mochte ihre Freunde aus dem Himmel sehr gerne, hatte sie tief in ihr Herz geschlossen … Und doch … doch wollte sie ans Fenster gehen, um zu überprüfen, ob nicht doch Ray auftauchte, um sie abzuholen …

Sie seufzte.

Warum konnte sie nicht einfach einmal in ihrem Leben mit etwas zufrieden sein?

„Luxuria wird jetzt schon seit zweieinhalb Monaten vermisst“, fasste Acedia zusammen, „Das Volk ist in Aufruhr! Unterschiedliche Gruppen stellen Nachforschungen an. Sie suchen alle Orte auf, an denen sie Luxuria einmal angetroffen haben. Die Engel, die zu uns kommen, bitten immer wieder um Hinweise, wie weit wir, Luxurias Verschwinden betreffend, sind!“ Sie holte tief Luft. „Und noch dazu kommt alle gefühlte drei Tage ein Halbengel auf die Welt, dessen Eltern sofort unser Angebot ablehnen, was wirklich nicht sehr hilfreich ist, unseren Ruf aufzubessern.“ Sie verschränkte die Arme. „Es ist nötig, aber … unnötig!“

Ira nickte zustimmend. „Außerdem haben wir immer noch keine Hinweise.“

„Mein Assistent sucht seit einer Weile die Erde nach ihrem Verschwinden ab“, mischte sich Invidia ein, „Aber noch hat er keinen Anhaltspunkt auf ihr Verbleiben.“ Sie lächelte. „Vielleicht hat sie sich ja einen netten Menschen angelacht und benimmt sich deshalb ungewöhnlich?“

„Vielleicht sollten wir alle das tun und unsere Pflichten total vernachlässigen!“, schlug Acedia voll strömenden Sarkasmus vor, „Hört sich doch toll an, oder?“

„Habt ihr vielleicht euren Charakter vertauscht?“, informierte sich Superbia amüsiert, „Soweit ich weiß, warst du doch immer diejenige, die genau das getan hat, während Luxuria die Suchtrupps alarmieren wollte, um dich an den Haaren herbeizuzerren.“

„Das ist nicht witzig!“, entgegnete Acedia aufgewühlt, „Und genau mein Punkt – das ist nicht ihr Stil. Das ist meiner.“

Avaritia entgegnete: „Vielleicht möchte sie dir einfach eines auswischen. Dafür, dass du deine Pflicht und Aufgabe nie ernst genommen hast. Seit sie verschwunden ist, kommst du weitaus pünktlicher und bist immer mit Feuer und Flamme dabei.“

Die Todsünde der Faulheit verschränkte beleidigt ihre Arme und wandte sich ab.

„Sie hätte so viele Jahre dafür Zeit gehabt“, meinte Ira langsam, „Warum sollte sie das ausgerechnet jetzt starten?“

„Wieso nicht?“, wollte Invidia wissen.

Ira wollte etwas entgegnen, doch er wusste nicht, was. Aber da war doch ein bestimmter Gedanke gewesen, der ihn das sagen hatte lassen … Doch welcher? Er war einfach verschwunden. Also ließ er die Frage unbeantwortet.

„Ich nehme an, dass es immer noch unentschieden ausgeht“, fasste Superbia zusammen, „Und Sin meldet sich auch nicht zu Wort, also … Sollten wir uns wohl unseren üblichen Aufgaben widmen.“ Er erhob sich. Alle anderen taten es ihm gleich.

Ira sah zu Acedia, die noch immer unzufrieden wirkte. Dass Luxuria ihr wirklich noch immer so viel bedeutete … Doch diese Geschichten gehörten vergangenen Tagen an. Sie hatten keinerlei Existenzberechtigung mehr. Egal, was Luxuria früher für ihn war – er musste als Todsünde denken. Sie brauchten Todsünden, die einsatzfähig waren.

Vor allem jetzt. Jetzt, wo die Zeit kam, an der sie … An der sie … was?

Er fragte sich, ob dieses Geheimnis auch in den Köpfen der anderen Todsünden Gestalt annahm. Oder ob es nur ihn betraf? Doch was war es … Und viel wichtiger: Was beinhaltete es, dass es einen Denkschutz wert war? War es so gefährlich? Hatte es etwas mit Luxurias Verschwinden zu tun?

Ira ließ sich zurückfallen, um neben dem schweigsamen Gula herzuschweben, während alle anderen Todsünden bereits vor ihm flogen, um schnellstmöglich in den Saal des Höchsten Gerichts zu gelangen.

Er hatte gehört, dass sich Gula in letzter Zeit wieder häufiger mit den Sportarten des Himmels beschäftigte. Warum wohl? Vielleicht hatte das etwas mit diesem Geheimnis zu tun? Wollte er sich erinnern? Oder nur ablenken? Ablenkung gebührte einer Todsünde nicht.

„Gula“, erregte er seine Aufmerksamkeit. Er sprach leise. Kein anderer sollte das mitbekommen – am Ende hielten sie nichts mehr auf ihn, weil sie ihn als verrückt betrachteten, und das wollte er sich nicht leisten.

Der hünenhafte Mann blickte zu ihm herunter. Ira war groß, Gula war ein Berg.

„Warum spielst du in letzter Zeit wieder?“, fragte er leise.

Der große Mann wandte sich ab.

Also würde er ihm diese Frage nicht beantworten.

„Ich mache mir Sorgen“, ertönte dann nach einer Zeit plötzlich von ihm. Seine Haare hatte er wieder durch einen Rossschwanz gezähmt, „Etwas regt sich. Doch ich bin mir nicht sicher, was.“

Ira nickte. Und er glaubte, seine Antwort gefunden zu haben. Es stellte sich nur die Frage, ob die anderen Todsünden dasselbe fühlten. Oder nur er und Gula?

Aber wenn sie beide es nicht wussten, dann würde es vermutlich keiner wissen … Und er würde einfach warten, bis die Denkblockade sich löste. Nur der Ersteller einer solchen konnte sie lösen. Und nachdem Ira eine Todsünde war, blieben nur Sin oder Gott persönlich, die in der Lage wären, ihm eine aufzuerlegen. Und wenn sie eine schufen, dann hatte das einen Grund. Und er würde abwarten müssen, wozu sich das entwickelte – er hatte keine Chance, sie zu brechen. Und wenn sie einen besonders guten Grund hatte, dann war er sich nicht sicher, ob er sie überhaupt aufbrechen wollte. Gula erging es vermutlich genau gleich.

Sie kamen im Saal des Höchsten Gerichts an.

Und wie erwartet, strömte ein Engel nach dem anderen hinein, wobei jeder zweite sich nach Luxurias Verbleib erkundigte. So als würden sie sie alle persönlich kennen und von ihrer Tadellosigkeit wissen.

Der Saal des Höchsten Gerichts befand sich im untersten Bereich des Turms der Ränge, sodass auch der schwächste Engel ihn erreichen konnte. Und entsprechend nutzten die Engel jene Chance. Natürlich musste ihr Anliegen zuerst von den dafür zuständigen Engel des Siebten Rangs kontrolliert werden, danach wurden sie dem jeweiligen Rang zugeteilt, doch mit der Zeit wirkte es auf Ira so, als würde die Hälfte von diesen Leuten nur lügen, um sie über Luxuria auszuquetschen. Seit das Geheimnis an die Öffentlichkeit geraten war, vermehrten sich die Leute, die Tag für Tag hier hereinspazierten und nichts vorzutragen hatten. Vielleicht schwindelten aber auch die unteren Ränge, um etwas herauszubekommen. Acedia hatte verlauten lassen, dass ihr Assistent herausgefunden habe, dass auch in den anderen Rängen Engel plötzlich abhanden gekommen wären. Vielleicht waren die Verbliebenen also besorgt.

Eine erschreckende Wendung.

Die Todsünden hätten sich einfach für eine Seite entscheiden müssen. Und sie sollten wirklich eine Engelsversammlung einberufen – doch das funktionierte erst mit der Zustimmung der anderen Partei.

Also lauschte er den Worten der Bittsteller.
 


 

Nathan hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, nachdem er und Kyrie von ihrem anstrengenden Ausflug zurückgekehrt waren. Wirklich sehr. Aber Fortschritte hatte er deshalb keine gemacht – vor allem im Fall Luxuria nicht.

Aber dafür hatten er und Kyrie beim Kämpfen eindeutige Verbesserungen gezeigt. Kyrie wirkte viel sicherer, beinahe professionell! Na gut, so gut auch wieder nicht, aber sehr wohl passabel! Noch ein paar Ferien, in denen sie wirklich ganze Tage zum Trainieren opfern konnten, dann würde sie tatsächlich meisterhaft werden.

Doch heute war kein Training angesetzt – heute war Mittwoch. Und die letzten beiden Mittwoche hatten sie es geschafft, keine vierundzwanzig Stunden im Himmel zu verbringen. Liana, Deliora und Thierry waren erleichtert gewesen, dass Kyrie nichts passiert war und sie hatten wieder viel miteinander unternommen und das so unbekümmert, als sei tatsächlich nichts vorgefallen.

Bloß Joshua war ruhiger geworden. Zu ruhig. Es musste die Enttäuschung sein. Diese bittere Enttäuschung.

„Seid ihr bereit?“, fragte Nathan seine Freunde, die vor ihm standen und denen eindeutig mulmig zumute war. Es würde ihr erstes Mal auf der Erde werden. „Wir werden uns sofort in Kyries Haus begeben. Nachdem wir alle voll ausgebildete Engel sind, sollte uns das möglich sein, auch wenn ihr den Raum nicht wirklich kennt.“ Bedeutungsvolle Blicke wurden ausgetauscht. „Sogar Kyrie schafft das. Also werdet ihr es wohl auch schaffen!“

„Also gut!“, meinte Liana dann mutig, „Fangen wir an.“

„Halten wir uns an den Händen“, schlug Deliora vor, „Damit gehen wir sicher, dass keiner sich von den anderen trennt.“

„In Kyries Eingangshalle“, erklärte Nathan, „lautet unser Ziel.“

Alle nickten, ergriffen die jeweiligen Hände des anderen und sprachen ihr Ziel laut aus. Nathan hielt Thierrys Hand – nicht Joshuas. Nein, er musste sich von Joshua trennen. Er durfte sich nicht immer in seine Nähe begeben. Nein, das konnte er nicht …

Er stand mitten in der Eingangshalle von Kyries Haus. Er schaute neben sich – und erkannte schockiert, dass er Joshuas Hand hielt. … Scheinbar hatte es dieser Mann schon wieder geschafft, seine Gedanken so durcheinander zu werfen, dass …

Er sah sich um. Liana grinste ihn an, Deliora schüttelte den Kopf und Thierry verkniff sich das Lachen. Joshua lächelte ihn bloß an, ließ dann aber freiwillig seine Hand los.

„Und wo ist jetzt Kyrie?“, wollte Liana wissen, wobei sie sich umschaute. Plötzlich lachte sie. „Wie süß! Kyrie als sie noch im Zyklus war, schaut nur, schaut nur!“ Sie zeigte auf die Bilder, die überall herumhingen.

„Nathan“, stellte Joshua fest, der ebenfalls zu den Bildern gegangen war.

Nathan zog die Stirn kraus und ging zu Joshua. Das Bild, auf dem er und Kyrie auf einem zu klein geratenen Pferd saßen und wie kleine Ritter wirkten. „Ja“, meinte er. Joshua würde ihn einfach überall erkennen.

Liana sah das Bild an und lachte los. „So hast du im Zyklus ausgesehen?“, fragte sie, „Du warst ja mal richtig süß!“

„Das war kein Zyklus“, verbesserte Deliora sie barsch, „Er wurde einfach zurückgesetzt, um hier nicht aufzufallen. Das von Kyrie ist auch kein Zyklus.“

„Apropos“, meinte Liana, „Sollte sie nicht hier irgendwo sein?“ Sie schaute sich um, wobei sie Delioras Zurechtweisung einfach überging. Deliora zog einen Schmollmund.

„Zieht eure Flügel ein“, wies Nathan sie an, „Die haben hier nichts verloren.“

Joshua tat es ohne zu zögern, die anderen drei schauten ihn ungläubig an.

Er selbst ließ seine auch verschwinden.

„Ohne Flügel?“, sprach Thierry ehrfürchtig, „Wie aufregend!“ Seine verschwanden. Doch er wirkte immernoch riesig.

Deliora tat es ihm kommentarlos nach, drehte sich aber forschend um, um zu überprüfen, ob sie jetzt tatsächlich weg waren.

Nur Liana brauchte länger. „Das habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gemacht!“, rief sie laut aus, „Wie spannend! So spannend!“ Und schon waren ihre Federschwingen genauso verschwunden. „Und sie sind weg!“, wunderte sie sich, „Ach so!“ Sie strahlte Nathan an. „Darum hast du uns angewiesen, unsere Rücken frei zu halten! Sonst wären dort jetzt Löcher zu sehen!“ Sie nickte zufrieden. „Du denkst voraus.“

„Das Zeug, das die Ränge herstellen, wird sicher den ganzen Tag halten“, fügte Nathan noch hinzu, wobei er nicht umhin konnte, Joshua kurz anzugrinsen, „Also macht euch keine Sorgen. Außerdem solltet ihr ganz nach Menschenart gekleidet sein. Also unauffällig.“ Seine nächsten Worte richtete er vor allem an Liana: „Jetzt liegt es nur noch an euch, euch auch unauffällig zu verhalten.“ Er verschränkte die Arme. „Kapiert? Kein Himmel, keine Engel, kein Licht und keine Flügel!“

Alle nickten zustimmend.

„Ihr seid schon da?“, ertönte Kyries Stimme von oben.

Nathan wandte sich der Treppe zu, auf der seine Schülerin verwundert stand. „Natürlich!“, rief er, „Oder hast du erwartet, dass wir zu spät kommen würden?“

Sie rannte die Treppen nach unten und stellte sich vor ihre Freunde, welche sie überrascht anstarrten – und sie schaute genauso erstaunt zu ihnen.

„Ohne Flügel“, murmelte Thierry vor sich hin, „kann man nicht fliegen …“

Nathan lachte. „Darum sollten wir jetzt losgehen!“
 

„Die Häuser sind riesig!“, rief Liana erstaunt aus, als sie am Gehsteig entlang lief und in den Himmel hinauf starrte, „Und diese Schaufenster! Und alles ist voller bunter Farben!“ Ein Glitzern war in ihren Augen zu sehen, das kindliche Freude andeutete.

„Und es ist eiskalt“, murmelte Deliora, die die Hände verschränkte und sich beinahe im Gehen zusammenkauerte.

„Ich kann dir immernoch meine Jacke leihen“, bot Kyrie ihr an. Es war eigentlich gar nicht so kalt. Während der Ferien war das Wetter wieder eingebrochen. Einige Leute redeten davon, dass es in diesem Jahr wieder einmal Schnee geben würde. Aber heute war zum Glück ein Ausnahmetag, die Temperatur war wieder ein wenig angestiegen.

Die schaute sie an. Dann richtete sie ihre Brille. „Nein, danke, ich halte es aus.“

„Ich hätte ihnen Mäntel anfertigen lassen sollen“, murmelte Nathan vor sich hin. Er trug wieder eine Sonnenbrille und eine Kappe.

„Hättest du“, stimmte Deliora zu, „Das ist wirklich sehr unverantwortlich von dir. Schande über dich.“ Sie klang total ernst.

„Wir können in einem Geschäft auch eine Jacke kaufen“, bot Kyrie an.

„Sie haben kein Geld“, entgegnete Nathan.

„Das kann ich ihnen kaufen“, meinte Kyrie, „Im Himmel nützt es ihnen doch nichts, da kann ich die Jacken dann behalten.“

„Wozu benötigst du dann Thierrys Jacke?“, wunderte sich Nathan belustigt.

Sie winkte ab und stellte sich neben Deliora, der sie den Vorschlag unterbreitete.
 

Während sie einen Schaufensterbummel veranstalteten – wobei Liana und Thierry in jedes zweite Geschäft eintraten, um dort sämtliche Kleidung anzuprobieren und neue Gegenstände zu entdecken, wie etwa Spielzeug, - ging Kyrie neben Nathan her, der auffällig weit weg von Joshua ging. Es war wirklich traurig, diese beiden mitanzusehen … Sie liebten sich doch eindeutig und mussten voneinander getrennt sein, obwohl sie zusammen waren und … Kompliziert war es obendrein noch.

Und das alles nur, weil Nathan ein Assistent war. Ob er sich manchmal wohl wünschte, abgelehnt zu haben? … Dann wäre ein anderer Assistent zu ihr gekommen. Eine andere Person. … Hätte derjenige andere Lösungen gefunden als Nathan? Hätte er sich nicht von ihr … losgelöst? Hätte sie nicht alleine gelassen … Hätte sie nicht angestarrt … Wenn der Assistent eine Frau gewesen wäre … Hätte Melinda sich dann überhaupt jemals dazu hinreißen lassen, sich mit Kyrie anzufreunden?

Ein Plakat auf der anderen Straßenseite befreite sie von ihren trübseligen Gedanken. … Es war nicht zu ändern – weder für Nathan, noch für sie. Sie war einfach dankbar, dass Nathan und sie wieder Freunde waren. Denn … wer auch immer der andere Assistent gewesen wäre: Es wäre nicht sicher gewesen, ob er sie in ihren Zeiten der Not, als sie bereits ein freier Engel war, wieder aufgenommen hätte. Das hatte Nathan getan. Und dafür … empfand sie tiefsten Dank.

„Liana, der da!“, rief sie Liana zu, die gerade wieder aus einem Geschäft stürmte, um ins nächste zu gelangen.

Die Frau blieb stehen und schaute Kyrie fragend an.

„Auf dem Plakat“, erklärte sie, „Das ist der Sänger der Sieben Sünden.“

„Ah!“, machte Liana, dann besah sie sich des Mannes. Sie wirkte nachdenklich, aber dann nickte sie. „Ja, den kenne ich. Nate, so heißt er. Den habe ich bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr gesehen! Jetzt weiß ich auch warum.“ Sie lachte. „Na ja, in gut fünfzehn Jahren werde ich ihm schon wieder begegnen, dann kann er mir vorsingen.“ Sie grinste.

„Wir könnten auch gemeinsam auf ein Konzert gehen“, schlug Kyrie vor, „Falls sie einmal wieder hier auftreten.“ Sie würde sich informieren. Dann konnte sie auch Ray ihnen allen vorstellen! … Moment. Wollte sie das überhaupt? Das wäre nur fünf weitere Lügen, die sie ihm auftischte – und ob diese fünf ihre Klappe halten konnten? Und … Nathan … Wie sollte sie das mit Nathan erklären? Vielleicht würde ja nur Liana kommen wollen?

„Warum kennst du eigentlich jeden?“, wollte Deliora wissen, die plötzlich neben Kyrie stand.

Liana grinste. „Wer sich informiert, ist der Gewinner.“

„Was ist das für ein Spruch?“, murrte die andere.

„Das passiert eben, wenn die Engel keine Aufgaben haben“, beruhigte Nathan sie, „Wir beide sind ja rund um die Uhr beschäftigt, Thi hat genauso seine Hobbys – nur Liana handelt mit Informationen.“

„So etwas nennt sich, glaube ich, Tratschtante“, gab Thierry hinzu, der hinter Liana aus dem Geschäft trat.

Und alle lachten.
 

Nach einer langen, ausgiebigen und besonders humorvollen Shoppingtour, deren Krönung darin bestand, dass Thierry ein übergroßes Frauenkleid anzog, das im Himmel auch für Männer akzeptabel gewesen wäre, führten sie ihre Runde durch die Stadt solange fort, bis sie in einem kleinen Café landeten, in dem ihre Freunde zum ersten Mal heiße Schokolade tranken, süßen Kuchen aßen und andere Snacks zu sich nahmen.

„Das ist wirklich … ein Traum“, schwärmte Liana, „Ich will für immer hier bleiben!“ Sie nahm noch ein Stück Kuchen zu sich.

„Jetzt verstehe ich, wieso Nathan so fest zugenommen hat“, murmelte Joshua, als er das letzte Stück seines Kuchens verschlang.

Alle starrten ihn an. Ausnahmslos alle. Fassungslos. Überrascht.

„W- warte mal …“, fing sich Liana wieder, „Du … hast geredet? Schlecht? Über …“ Sie deutete auf Nathan, der direkt neben ihr saß, weshalb sie ihren Finger in sein Gesicht bohrte, „ihn?!“

Nathan warf ihr einen bösen Blick zu und räumte ihre Hand aus seinem Gesicht. Dann schaute er Joshua unbegeistert an. „Was soll das jetzt wieder heißen?“

Thierry antwortete verträumt, als er die heiße Schokolade trank: „Hier würde ich alles aufgeben … Für das!“ Dann sah er zu Joshua. „Ich verstehe es jetzt auch.“

Liana klopfte beruhigend auf Nathans Bauch. „Keine Panik, alle haben das bemerkt.“

Kyrie lachte. „Ihr seid aber ganz schön kritisch. Er ist doch gut durchtrainiert!“

Nathan nickte zustimmend und hielt seinen Daumen hoch. „Sie hat es erkannt.“

„Du kanntest ihn früher nicht“, wies Thierry sie hin, „Als er … und …“ Er aß seinen Kuchen weiter und brach das Gespräch ab. „Ich liebe das Zeug!“, schrie er, „Ich komme von jetzt an jeden Tag hierher!“

Eine Kellnerin warf ihnen jetzt einen auffälligen, fragenden Blick zu. Vorhin hatte sie es noch kaschiert.

„Du findest doch von selbst nicht einmal vom Himmel runter“, murrte Deliora leise.

„Wie wäre es, wenn wir jedes Mittwochtreffen von jetzt an hier unten beginnen?“, schlug Liana vor, „Oder jedes zweite komplett hier verbringen?“

Plötzlich waren alle Blicke auf Kyrie gerichtet. Sie schaute verzweifelt zu Nathan.

„Nein“, sagte er geradeheraus, „Ich lasse mich hier nicht als dick bezeichnen!“

„Dann wären wir alle dick“, versuchte Liana, ihn zu überreden.

So wie sie dreinschauten, würden sie ohne Nathan wohl wirklich nicht vom Himmel runter kommen.

„Meinetwegen“, stimmte er dann doch lächelnd zu und aß das letzte Stück Kuchen, das auf Lianas Teller gelegen hatte. Er wirkte zufrieden. „Und das war der Preis dafür.“

Sie sah ihn erzürnt an. „Das war mein Kuchen!“

„Stopft euch jetzt nicht zu voll“, meinte Kyrie dann. Sie hatte das Gefühl, eingreifen zu müssen, um Tote zu verhindern. „Meine Eltern haben für euch ein Abendessen vorbereitet.“

„Noch mehr Essen!“, freute sich Thierry, „Ich glaube, ich bin im Himmel!“
 

John hatte von Kyrie ein wenig über ihre Freunde erfahren können, doch als sie alle um den Tisch herum saßen und gierig auf das Essen starrten, fing seine Welt an, sich zu verschieben. Und das sollten wirklich Engel sein?

Er hatte sie nicht kommen sehen, weil Kyrie bereits aus dem Haus war, als Magdalena und er zurückgekommen waren. Und sie waren erst jetzt wieder hier.

Alle hatten sich bei ihm höflich vorgestellt. Es schien, als sei er der erste Mensch, mit dem sie gesprochen hatten. Und vor allem waren sie freundlich und schienen gutherzig! Und wunderschön waren sie. Auch Magdalena schien verzaubert von ihrem Anblick zu sein.

Zwar trugen sie scheinbar gewöhnliche Kleidung, doch in ihren Gesichtern lag ein Zauber, der ihn anzog. Der ihn beeindruckte. Sie … machten ihn glücklich, als würde ein Licht ihn umarmen.

Und als er die Freude in ihren Gesichtern sah, während er ihnen das Essen servierte, verstärkte das sein Glücksgefühl lediglich. Er liebte diese Engel bereits jetzt schon.

„Und du kennst Nathan schon seit er klein war?“, fragte der Engel, der sich Liana nannte, „Und wusstest die ganze Zeit über von seinem Engeldasein?“

John nickte ehrfürchtig.

„Und du hast Kyrie nie etwas davon gesagt?“, fügte sie noch verwundert hinzu, während sie aß, „Das ist wirklich erstaunlich. Sehr gutes Durchhaltevermögen. Das bewundere ich ziemlich. Ich meine – ich hätte das vermutlich nicht ausgehalten. Meine Tochter solange zu belügen!“ Sie lachte leise. „Na ja, meine Tochter ist gut, ich habe ja keine. Glaube ich. Und wenn, würde ich sie sowieso nie treffen.“ Sie aß einfach weiter.

John starrte sie an. Er musste seine Gedanken erst ordnen. Wie konnte sie so schnell so viele Themen ansprechen? … Aber natürlich behielt sie Recht. Er hatte seine Tochter belogen. Oder eher – ihr etwas verschwiegen. Doch war das nicht auch eine Lüge? Eine berechtigte, denn sie war von Engeln befohlen worden, doch … eine Lüge ohne Zweifel.

„Belästige ihn nicht so mit deinem Leben“, wies Deliora sie an. Der Engel trug eine Brille. John fragte sich, ob sie die wirklich benötigte – Kyrie hatte ihm erzählt, dass der Himmel eine heilende Wirkung besäße. Sie hatte es ja auch bewiesen, als sie ihren Arm wieder heil gemacht hatte. Warum brauchte der Engel dann eine solche Gerätschaft auf der Nase?

„Nein, das macht mir nichts aus“, entgegnete John, „Ich rede gerne mit ihr.“

„Wie die Tochter, so der Vater“, stellte Thierry fest, „Zu gutmütig!“

„Was hat das mit Gutmütigkeit zu tun?“, wollte Liana empört wissen, „Ich führe ganz normale Gespräche!“

„Als seiest du normal!“, gab er zurück.

Nathan grinste John an. „Hast du dir Engel je so vorgestellt?“

John schüttelte den Kopf. Sein Weltbild war … zerstört. In Trümmer gehauen.

Wo war die Anmut der Sieben Todsünden? Wo war die Grazie aus den Geschichten?

„Ich wollte dich vor der Wahrheit bewahren“, entschuldigte sich Kyrie dann, wobei sie ihm eine Hand auf die Schulter legte, „Aber … ich liebe sie genauso, wie sie sind.“

„Das war aber süß von dir!“, rief Liana, sprang von ihrem Stuhl auf, umrundeten den gesamten Tisch und umarmte Kyrie, „Ich vermisse meine Flügel!“

Kyrie lächelte.

John lächelte zurück. „Ich glaube, ich verstehe, was du an ihnen findest.“ Auch wenn sie ganz und gar nicht dem entsprachen, was er sich vorgestellt hatte. Doch auch Kyrie war ein Engel. Und sie war ebenfalls … normal. Hatte einen guten Charakter, machte ausgefallene Sachen.

Er vermutete, dass jeder das Recht darauf hatte, seine Eigenarten zu entwickeln – Engel wie auch Menschen.

Er schüttelte den Kopf. Vielleicht würde er den gesamten Abend morgen beim Aufwachen aber auch für einen einfachen, verrückten Traum halten.
 

„Ich muss leider lernen, sonst hätte ich euch gerne noch länger hier behalten“, entschuldigte sich Kyrie bei ihren Freunden. Sie hatte jedem eine Jacke geliehen, weil die Nacht doch um einiges kälter war als der Tag. Deliora hatte ihre eigene Jacke anbehalten. Kyrie hatte sie ihr geschenkt.

„Dieser Fernseher war unglaublich“, rief Thierry aus, „Was für seltsame Sportarten ihr habt! Gut, dass dein Vater mir die Regeln erklärt hat. Ich werde eine Mannschaft im Himmel gründen.“

Liana hielt Kyries Mobiltelefon in der Hand und tippte darauf herum. „Oh, die Nachricht ging an Ray.“

Kyrie ging neben ihr her, um zu sehen, was sie geschrieben hatte. Doch es war sinnloses Geschreibsel. „Das ist nicht schlimm“, meinte sie, „Aber so ein Telefon ist doch praktisch.“

„Ja! Man kann jeden immer erreichen! Fast wie der Ruf. Nur praktischer, weil der andere nicht zu kommen hat und man keine Energie verschwendet. Man kann auf große Entfernungen miteinander reden!“ Sie grinste. „Das wäre doch etwas zum Erfinden!“ Sie starrte Deliora an.

„Schon versucht“, mischte sich Nathan ein, der neben Thierry herging – und Joshua zu meiden schien, „Aber das funktioniert im Himmel nicht. Die Menschen haben ein Netz aufgebaut, mit dem das geht. Und das erreicht den Himmel nicht.“

„Schade“, jammerte Liana, „Oh!“, rief sie dann aus, „Eine Antwort.“

Kyrie nahm ihr das Handy und las lautlos: „Was soll das denn heißen?“

„Nur ein bedeutungsloser Versuch“, tippte sie, „Entschuldige. Gute Nacht, bis morgen!“ Sie sandte sie Nachricht. „Jetzt bitte nichts mehr schreiben“; bat sie ihre Freundin.

Diese kicherte. „Tut mir leid!“

„Aber du hast wirklich freundliche Eltern“, meinte Deliora, „Du kleiner Glückspilz.“ Sie lächelte sanft. „Ich … ich frage mich, wer meine Eltern sind …“

Alle Engel richteten ihre Augen auf Deliora.

„Was?“, fragte sie genervt, wobei sie von einem zum anderen blickte, „Ich bin berechtigt, diese Frage zu stellen!“

… Es musste wirklich … seltsam sein, ohne Eltern aufzuwachsen. Ihre Eltern waren immer für sie da, hatten sie immer unterstützt … Was hätte sie nur ohne sie getan? Sie wäre wohl sehr einsam gewesen. Bis auf Nathan, der sich ja so und anders mit ihr angefreundet hätte …

„Ja, aber …“, entgegnete Thierry, „Wir sind doch deine Familie!“

Kyrie schaute Thierry überrascht an. … Waren Freunde eine Familie? So hatte sie das noch gar nie betrachtet. Wenn man keine Eltern hatte, dann … hatte man wohl Freunde. Also waren im Umkehrschluss auch Eltern Freunde.

„Habe ich je das Gegenteil behauptet?“, verlangte Deliora zu wissen. Dann lächelte sie erneut.

Und plötzlich war die Stimmung wieder locker und die letzten Schritte bis zur Dachterrasse des leer stehenden Hauses wurden neben Ächzen von Lachen begleitet.

„Und das ist der Ort, an dem Xenon …?“, wollte Liana mitfühlend wissen, ehe sie ihre Flügel ausstreckte.

Kyrie nickte und ließ auch ihre ausfahren.

Liana schüttelte den Kopf und umarmte Kyrie. „Und du lernst heute noch ein wenig?“

„Ja“, antwortete Nathan ihrerstatt, „Nachdem ihr jetzt ein bisschen überzogen habt, wäre sie sowieso zu müde, wenn sie einfach zuhause schlafen würde. Wir trainieren jetzt.“

Kyrie nickte erneut.

„Dann viel Spaß“, wünschten sie ihr von allen Seiten, bis nur noch sie und Nathan übrig blieben.

Er ließ auch seine Flügel erscheinen. „Bist du bereit?“, wollte er wissen.

Sie nickte. „Ja. Und danke für den schönen Tag.“ Sie lächelte glücklich. „Ich freue mich schon auf die nächsten Male.“

Und damit warpten sie sich in den Himmel.

Kyrie hatte sich gestern und heute himmelfrei genommen – das schien Nathan genauso gelegen gekommen zu sein wie ihr. Da hatten sie beide Zeit, endlich ihren Aufgaben nachzugehen. Na gut – Aufgabe … Gestern hatte Kyrie zuerst mit ihrem Vater die Messe vorbereitet, dann hatte sie daran teilgenommen.

Zu Mittag war sie mit ihren Eltern in ein Restaurant gegangen, weil ihre Mutter frei bekommen hatte – anlässlich ihres Geburtstags, der heute war. Sie hatten also vorgefeiert, weil heute außerdem die Uni wieder begonnen hatte.

Es war ein schöner Tag. Und vor allem konnte sie früh schlafen gehen, um heute fit zu sein.

Am ersten Tag wirkte die komplette Gruppe ziemlich fertig. Kaum einer schien dem Vortragenden Aufmerksamkeit zu schenken – bis auf Kyrie natürlich. Man musste einfach einschätzen können, wann man zu Bett zu gehen hatte!

Die Vorleser hatten einfach weiter gesprochen, als sei kein Monat zwischen dieser und der vorherigen Einheit vergangen – doch Kyrie störte das nicht. Sie hatte in den Ferien gelernt, sodass sie einfach weitermachen konnte. Einige ihrer Sitznachbarn schienen Probleme mit der Erinnerung zu haben.

Als sie den Raum verlassen wollte, lagerte plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um und starrte in Melindas Gesicht. Ihr Haar war noch immer so falsch schwarz.

„Hat Ray dir den Gruß ausgerichtet?“, wollte die Frau keck grinsend wissen, „Ich habe gehört, dass ihr euch ziemlich nahe steht.“

Kyrie erwiderte ihren Blick kühl. Sie wollte genauso … ironisch antworten … wollte etwas zurückgeben, das ihr die Sprache verschlug, aber … genau heute hatten sie die Interpretation von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, vorgenommen, was sich in ihrem Gewissen festgesetzt hatte. Sie … sie konnte jetzt nichts über Nathan sagen – das würde Melinda doch … verletzen.

„Was für einen Gruß?“, informierte sich Kyrie sachlich. Am liebsten wäre sie einfach gegangen. Sie wollte nicht mehr in dieses verräterische Gesicht sehen. Wollte mit dieser … gemeinen Person nichts zu mehr zu tun haben.

„Von mir an dich“, meinte sie, „Es tut mir leid, was ich mit dir abgezogen habe.“

Überrascht hielt Kyrie inne. Was … was sagte sie da?

Sie wandte sich Melinda komplett zu. An ihnen drängten sich die anderen Kursbesucher vorbei. Keiner von Melindas Gruppe war mehr anwesend. Sie schaute in die Augen dieser Frau und … wusste nicht, ob sie Aufrichtigkeit darin finden konnte. Sie wusste nicht, ob sie mit dieser Frau Ehrlichkeit überhaupt irgendwie assoziieren konnte! Wie sollte sie ihr da denn … verzeihen? Das war doch nur eine weitere Lüge, um sie zu quälen. Wollte sie ihr jetzt noch Ray wegschnappen? Wollte sie ihr alles nehmen? Was hatte sie ihr eigentlich getan?

„Lass mich in Ruhe“, wisperte Kyrie einfach und drehte sich wieder weg. Sie wollte gehen, doch Melinda packte ihre Hand.

„Bitte!“, flehte sie, „Verzeihe mir. Ich mache alles wieder gut, was ich dir angetan habe!“

… Plötzlich wurde Kyrie etwas klar. Egal wie sehr Melinda sie in diesem Moment verletzt hatte … es gab nichts, was sie gutzumachen hatte. Kyrie konnte sie nicht leiden, wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben – doch sie brauchte sie auch nicht. Sie hatte es jetzt drei Monate ohne sie überlebt – also mehr Zeit, als sie überhaupt miteinander verbracht hatten. Am Tag, an dem Melinda sie einfach weggeworfen hatte wie einen angebissenen Apfel, hatte sie um Melindas Freundschaft geweint – doch an jenem Tag hatte sie Rays Freundschaft erhalten. Hatte Nathans Freundschaft zurück gewonnen. Und durch ihn hatte sie seine Engelsfreunde ebenfalls lieben gelernt. Leute, die sie nie verraten hatten. Leute, denen sie wirklich vertraute.

Für Melinda … wäre da nicht einmal mehr Platz.

„Du hast nichts gutzumachen“, erklärte Kyrie ihr, „Du bist einfach ein Mensch, der sein Leben an mir vorbei lebt. Und das kannst du gerne bleiben.“ Und damit riss sie sich los und eilte davon. Doch Melinda folgte ihr nicht. Sie fühlte bloß deren Blick in ihrem Rücken.

Sollte sie doch denken, was sie wollte. Sollte sie doch belügen, wen sie wollte. Kyrie würde sie nicht mehr verraten können. Niemals.
 

Ray wartete auf der Mauer auf Kyrie. Der erste Tag war echt anstrengend. Er war zwar ganz gut mitgekommen, doch der Schlafmangel, den Ferien immer verursachten, war deutlich zu spüren. Aber er freute sich auch darauf, Kyrie wieder zu sehen. Ihr letztes Treffen war am Freitag gewesen. … Ob Kyrie sich wohl auch Zeit nehmen konnte, wenn sie wieder an der Uni waren?

Oder würden sie wieder in das alte Schema zurückfallen? Irgendwie gefiel ihm dieser Gedanke überhaupt nicht. Er wollte nicht nur so wenig Zeit mit Kyrie verbringen! Dafür konnte er sie zwar jeden Tag genießen, doch … nur so kurze Zeit lang … Sie mussten etwas dagegen unternehmen. Ganz dringend! Natürlich war es wichtig – für ihn sogar überlebenswichtig – zu lernen, aber … Er glaubte nicht, dass er viel lernen können würde, wenn er im Gedanken die ganze Zeit bei Kyrie war.

„Hallo!“, begrüßte sie ihn da auch schon und setzte sich gleich neben ihn. Sie trug eine warme Jacke. Das Wetter hatte wirklich umgeschlagen – wie es aussah, würde es wohl in wenigen Wochen zu schneien beginnen, wenn die Grade weiter sanken. Natürlich würde es genau in dem Jahr schneien, in dem er da war – aber zumindest konnte er den Leuten hier dann Tipps und Tricks zum Schneeschaufeln geben. Oder auch nicht.

„Hallo“, antwortete er und schaute sie erfreut an, „Gleich vorweg. Ich habe nachgedacht.“

Sie wirkte schockiert. „Ach … ja? Worüber denn?“

„Wir können das nicht so beibehalten“, begann er, verstummte dann aber, als sie den Blickkontakt abbrach.

„Ich verstehe“, murmelte sie, „Natürlich hast du viel zu tun mit drei Studien, ich verstehe es vollkommen, wenn du …“

Er legte seine Hand auf ihren Mund. „Mach das zu, da kommt heute nur Unsinn heraus.“

Sie schaute überrascht auf und versuchte zu reden.

Weil er aber nichts verstand, gab er seine Hand wieder weg.

„Was soll das?“, beschwerte sie sich, „Das war fies.“

Er grinste. „Bist du jetzt beleidigt?“

Sie dachte kurz nach. „Nein“, antwortete sie langsam und wohlüberlegt, „Aber …“ Sie sagte daraufhin nichts mehr.

„Lass mich jetzt weiterreden“, verlangte er, „Also: Ich will dich wieder öfter treffen! Die Mauertreffen sind zu kurz.“

„Du könntest zum Essen mitkommen“, bot sie an. Sehr schnell. Als hätte sie sich das bereits überlegt.

Er unterdrückte diesmal ein Grinsen und meinte: „Ja, das könnte ich.“

Sie nickte. „Gut! Ab morgen, okay?“

Er stimmte zu; „Ja, dann erledige ich noch alles und dann … Also – wenn es deinen Eltern nichts ausmacht, heißt das.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das wird ihnen nichts ausmachen. Wenn es deinem Vater nichts ausmacht.“

„Dem ist das egal“, meinte er, „Und Kim wird auch damit leben können.“ Die beiden hatte er die letzten Wochen wieder umgehen können. Er hatte hin und wieder das Essen gegessen, das sie für ihn vorbereitet hatte, doch das war selten. Er würde ihr einfach einen Zettel schreiben, dass sie für ihn nicht mehr zu kochen brauchte. Dann waren alle glücklich. Vor allem er.

„Aber ich muss wirklich Lernzeit einplanen“, bemerkte sie dann, „Und du genauso!“

„Wir … könnten gemeinsam lernen“, schlug er dann vor.

Sie schaute ihn überrascht an. „Wie soll das gehen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Schon einmal etwas von Lernpausen gehört?“

„Die werden sich dann aber vervielfachen“; befürchtete sie.

Er lachte. „Ein Versuch wäre es doch wert, oder?“

Sie nickte. „Auf alle Fälle!“
 

Nathan hatte einfach keine Anhaltspunkte. Er wusste nicht weiter. Er hatte mittlerweile so ziemlich alle Namen von Engeln herausgefunden, die in den letzten acht Jahrhunderten spurlos verschwunden waren – und aller Ränge, die einfach so verschollen waren, wobei er aber einige wieder ausfindig hatte machen können. Das waren die Deserteure, die sich versteckten, aber doch wieder erkannt wurden. Das war dann wohl der Nachteil an ewiger Jugend und Schönheit – dass man im Großen und Ganzen einfach immer gleich ausschaute.

Er hatte einigen untergeordneten Engeln aufgetragen, auf der Erde zu suchen, wobei Acedia ihn darauf hingewiesen hatte, dass Xenon bereits die Erde durchkämmt hatte.

Aber er vertraute dem Mann nicht. Am liebsten hätte er gesehen, dass Xenon dahinter steckte – dann würde sein Assistenten-Schutz wegfallen müssen! Dann würde er endlich seine gerechte Strafe erhalten. Dieser Vollidiot.

Er öffnete die Tür zu Acedias Büro und begutachtete die Zettel, die so nachlässig überall herumlagen. Also machte er sich ans Aufräumen, bis Acedia endlich kommen würde. Sie wollten heute wieder eine Besprechung ansetzen, sodass er ihr über seine neuerlichen „Erfolge“ berichten konnte. Allerdings würde er ihr mitteilen müssen, dass seine Untersuchungen gestoppt werden mussten – aufgrund von Beweismangel. Als Hauptverdächtige sah er nämlich Acedia, Ira und Liana – die einzigen Personen, die ihm etwas zu Luxurias Vergangenheit verraten konnten, in der er die Ursache für ihr Verschwinden sah. Da er Acedia und Liana allerdings einfach ausschloss, weil er es ihnen nicht zutraute, und gegen Ira nichts vorzuweisen hatte …

Es hatte einfach keinen Sinn und Zweck.

Die Tür wurde aufgestoßen und Acedia kam mit einem Stapel voll Bücher hinein geflogen.

„Perfekt“, lobte sie ihn, „Hier, du wirst Luxurias Aufgaben durchgehen und erfüllen, soweit es dir möglich ist, der Rest kommt zu mir“, wies sie ihn dann an, „Ich mache heute hier weiter. Im Saal des Höchsten Gerichts können die mich jetzt vergessen! Diese lästigen, neugierigen Engel …“ Sie zog eine Grimasse und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

„Ich freue mich“, erwiderte er trocken und nahm die Bücher von ihr entgegen. Er legte sie auf den Boden, sodass er sich später darum kümmern konnte. „Du bist einfach abgehauen?“, informierte er sich – wobei er nicht wusste, ob er belustigt oder besorgt sein sollte.

„Es kommen keine Aufgaben mehr für uns“, meinte sie, „Es kommen nur noch lästige Fragesteller!“ Sie deutete auf die Bücher, die sie gerade eben gebracht hatte. „Für was schauen wir uns diese ernsthaften Probleme eigentlich durch, wenn diejenigen ohne Probleme uns die ganze Zeit belästigen können?“

Nathan schaute auf die Papieransammlung. Ja, hierin waren all jene verzeichnet, die bereits von ihren Erinnerungen erlöst worden waren, aber auch jene, die unter besonders schwierigen Voraussetzungen behandelt werden mussten. Kyrie würde wohl unter diese Kategorie fallen. Aber er befürchtete, dass ihr Problem mittlerweile einfach untergehen würde.

„Und Superbias Gruppe lässt sich einfach nicht überzeugen!“, jammerte sie, „Wir brauchen eine Engelsversammlung und müssen Luxuria ersetzen lassen – damit wären all unsere Probleme gelöst.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Zumindest bist du jetzt zuverlässiger geworden“, entgegnete Nathan optimistisch, „Der ganze Druck, den sie auf dich ausüben, hat also genutzt.“ Er lächelte. „Du übernimmst sogar Verantwortung!“

„Der ganze Druck wäre nie zustande gekommen, wenn sie einfach sofort auf mich gehört hätten“, murmelte Acedia erzürnt, „Aber nein, diese sturen …“ Sie beendete ihren Satz nicht.

Nathan seufzte. „Na gut, aber zu dem Thema muss ich dir sowieso noch etwas mitteilen.“

Sie sah ihn plötzlich interessiert an. Stimmungsschwankungen! Diese Geschichte wühlte sie wohl wirklich sehr auf. Da würde ihr seine Nachricht eher weniger gefallen.

„Ich bin am Ende meiner Kreativität angelangt“, gestand er ihr, „Ich komme nicht weiter. Mir fällt kein Gesichtspunkt mehr ein, den ich behandeln könnte.“

Sie verdrehte genervt die Augen. „Du sollst einfach einen Serienentführer finden!“

„Ich denke, wenn ihr wirklich eine Engelsversammlung einberufen würdet“, begann er, „dann würde das mehr Engel zum Suchen aufrufen – und vielleicht würden dadurch noch mehr Opfer zum Vorschein kommen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber dadurch würde vielleicht zumindest endlich eine Verbindung zwischen allen Verschwundenen auftauchen!“

„Ich werde es den anderen nahe legen“, meinte sie, „Sie müssen verstehen, dass es jederzeit den nächsten treffen könnte!“

Nathan nickte. „Zu dem Schluss bin ich auch gekommen. Ich glaube, dass derjenige, der sie alle verschwinden lässt, auf etwas wartet. Vielleicht erhofft er sich eine bestimmte Reaktion.“ Er hielt kurz inne. „Zumindest, falls bloß einer für alle Verschwinden zuständig ist – oder eben eine ganze Gruppe.“ Er seufzte. „Vielleicht gibt es auch lauter Einzeltäter oder mehrere Einzeltäter oder …“ Ihm fiel etwas ein. „Die Halbengelhasser könnte so eine Gruppe sein, die für alle Verschwinden verantwortlich sind.“

Acedia schaute ihn skeptisch an. „Warum sollten Halbengelhasser eine Todsünde verschwinden lassen?“

Nathan setzte zu einer Antwort an – wollte unbedingt antworten … Aber ihm fiel kein Argument ein. „Es war nur ein Beispiel“, nuschelte er.

Sie grinste kurz. „Du glaubst also daran, dass es eine ganze Gruppe sein könnte“, fasste sie zusammen, „Dass Luxuria von einem Einzeltäter angegriffen worden sein könnte … oder dass es doch der Serientäter war.“

„Seit über achthundert Jahren verschwinden niedere, aber mächtige Rangangehörige spurlos“, fasste er zusammen, „Weiter zurück reichen keine zuverlässigen Informationen mehr, da ich mit Superbia nicht reden will und ich sonst keine Engel kenne, die über achthundert Jahre alt sind“, meinte er, „Es war schon lange auffällig, aber weil es sich um niedere handelt, hat wohl keiner reagiert.“

„Und … jetzt hat diese Gruppe Luxuria attackiert, um endlich die ganze Aufmerksamkeit zu bekommen?“, informierte sich Acedia gespannt, „Um … endlich eine Reaktion zu bekommen.“

Nathan nickte. „Ich weiß aber nicht, zu welchem Zweck. Ich habe keine Ahnung von ihren Ambitionen oder ihrer Vorgehensweise – aber es ist gut möglich, dass Luxuria sie gekannt hat. Es braucht Kraft, um eine Todsünde zu überwältigen, aber man muss sie zuerst einmal nach unten locken. Es sei denn, man gelänge in dieses Stockwerk.“ Er gestikulierte dazu. „Vielleicht war es ein Assistent?“

Acedia widmete ihm einen Blick, der ihn geisteskrank nannte. „Warum sollte ein Assistent Luxuria umbringen? Sie besitzt selbst keinen. Der Assistent hat keine Chance, jemals Luxurias Platz einzunehmen.“ Dann verschränkte sie die Arme. Belustigt. „Außer du willst mir hier etwas gestehen?“

Nathan schüttelte schleunigst den Kopf, dann seufzte er. Es gab tausend Möglichkeiten. Es bestand noch immer die Möglichkeit, dass sie in einer Stunde quietschfidel zurückkehrte und ihnen von einem Kurzurlaub erzählte! Acedias Partei war es, die behauptete, dass ihr etwas geschehen sein musste, weil sie zu zuverlässig war, um einfach zu gehen.

Acedia erhob sich und ging zu ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter und munterte ihn auf: „Mach weiter, Nathan.“ Sie lächelte. „Ich bin mir sicher, du wirst das Rätsel lösen können, bevor noch etwas Schlimmeres passiert.“

Sie hatte den ganzen Abend noch mit ihrer Mutter verbracht, um sie an ihrem Tag nicht alleine zu lassen. Er war ausgeklungen, indem sie sich zu Dritt vor den Fernseher gesetzt hatten und alte Videos angeschaut hatten. Ihre Mutter war als Kind einfach zu süß gewesen! Und sie erinnerte sie wirklich ein wenig an sich selbst. Vor allem diese großen Augen.

Während ihr Vater beim Einkaufen war, hatte Kyrie ihre Mutter bearbeitet, sodass diese nichts gegen Rays Anwesenheit beim Essen einzuwenden hatte – und mit wem sie lernte, war sowieso Kyries Sache. Und mit Magdalena auf ihrer Seite war es auch kein Problem, John von der Richtigkeit ihres Vorhabens zu überzeugen – wenngleich er sehr unzufrieden wirkte. Aber nicht mehr ganz so unzufrieden wie vor kurzer Zeit noch.

Melinda hatte heute auch keinen Versuch mehr unternommen, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Und Ray hatte sie gestern völlig vergessen, darauf anzusprechen. Sein Thema war einfach weitaus interessanter gewesen! … Aber vielleicht fiel sie da auch auf eine ganz miese Lüge von Melinda hinein … Das wäre ja nichts Neues.

„Ray!“, rief sie, als sie ihn kommen sah.

Er eilte zu ihr.

„Hat Melinda dir je Grüße an mich übermittelt?“, wollte sie eiligst wissen. Es war unhöflich, ohne ein „Hallo“ zu starten, aber das würde riskieren, dass sie das Thema schon wieder verdrängte.

Er wirkte perplex, aber auch ertappt. „Nun …“, startete er verlegen, während er sich auf die Mauer pflanzte, „… ja.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber es wirkte auf mich nicht sehr ernsthaft, weshalb ich es einfach übergangen habe.“ Er lächelte entschuldigend. „Wieso?“

„Nur so“, meinte Kyrie schnell. Und was hatte sie sich jetzt davon erwartet? … Sie wusste es nicht. Sie wollte einfach Gewissheit, dass Melinda und Ray miteinander gesprochen hatten. Melinda sollte sich von Ray fernhalten!

„Komm, sag schon“, bat er – amüsiert.

Sie zuckte mit den Schultern. „Sie … wollte mich gestern um Verzeihung bitten …“

„Was genau ist eigentlich zwischen euch vorgefallen?“, informierte sich Ray, „Du hast ja schon öfter so etwas angedeutet, aber …“

„Wir waren Freunde“, erklärte Kyrie leise, „Aber … sie hat mich eigentlich nur ausgenutzt. Und mich an meinem Geburtstag einfach zurückgelassen – oder eher abgestoßen - um mich auszulachen.“

„Klingt unschön“, kommentierte er, dann schaute er ihr in die Augen, „Und vor allem ungerecht. Wieso macht sie das mit dir? Das ist doch …“ Er brach ab.

„Es war auch unschön“, stimmte sie zu, „Sie … wollte Nathans Aufmerksamkeit erhaschen – durch mich.“ Dann bemerkte sie, dass sie jetzt bald zu der Begründung kommen würde – zu der, dass Nathan dazu auserkoren war, sie zu beschützen und … das war nichts für ihn. „Ich weiß nicht, wie sie darauf gekommen ist“, fügte sie dann schnell hinzu.

Ray nickte langsam. „Das tut mir leid.“

„Braucht es dir nicht“, meinte sie, „Jetzt habe ich ja dich.“

Plötzlich realisierte sie, was sie da gesagt hatte, – sein überraschter Blick mit der hochgezogenen Augenbraue tat dabei sein Übriges – und Kyrie errötete leicht. „Also – ich …“

Er legte seine Hand auf ihr Haar und meinte beruhigend: „Ich bin auch froh, dass ich dich habe.“ Dann grinste er. „Jetzt bekomme ich immer leckeres Mittagsessen.“

Sie schaute ihn dankbar an. „Immer zu deinen Diensten.“

„Und wann hast du Geburtstag gehabt?“, wollte er dann noch wissen.

„An dem Tag, an dem wir uns kennen gelernt haben!“, antwortete sie lächelnd.

Er wandte kurz den Blick ab und dachte nach. Plötzlich hielt er ihr die Hand hin.

Sie schaute ihn überrascht an.

Er verdeutlichte ihr mit seinem Blick, dass sie die Hand nehmen solle – und das tat sie. „Nachträglich noch alles Gute zum Geburtstag. Den nächsten vergesse ich nicht!“ Er grinste.

Die Überraschung saß ihr noch immer fest in den Knochen, als sie fröhlich antwortete: „Danke sehr! Ich fühle mich geehrt – auch wenn es schon drei Monate her ist.“ Sie lachte und er stimmte mit ein. Nachdem sie sich annähernd beruhigt hatten, informierte sie sich: „Wann darf man dir zum Älterwerden gratulieren?“

Er wirkte so, als würde er wirklich ernsthaft darüber nachdenken. „Oh!“, machte er dann, „Das ist ja schon in drei Wochen. Fast.“ Er grinste. „Ich sage dir Bescheid, wenn es soweit ist!“

„Das ist aber keine sehr genaue Angabe“, kritisierte sie ihn, wobei sie seine Hand losließ. Ihre Hand fühlte sich an, als würde ihr etwas fehlen. Sie wollte seine weiter halten … Diese warme, starke Hand, die ihr weiterhelfen konnte …

„Das macht dann des Überraschungseffekt aus, wenn ich plötzlich da stehe und …“ Er hob seine beiden Hände an seinen Mund, um eine Art Lautsprecher zu erzeugen, „… HEUTE! rufe.“ Er grinste sie dann an. „Verstehst du? Das ist Kunst!“

„Zum Glück wirst du Arzt und kein Künstler“, kommentierte sie belustigt.

Er grinste. Und dabei wirkte er glücklich.

… Plötzlich kam in ihr die Frage auf, wie glücklich er jetzt wirklich war. Sie hatten schon lange nicht mehr über seine Mutter gesprochen … über seine Vergangenheit, über Kim und seinen Vater …

Kyrie unterdrückte ein Seufzen. Aber sie wollte ihn auch gar nicht darauf ansprechen. Sie wollte, dass er glücklich war. Glücklich blieb. Egal, was kam … Sie wollte ihn nicht mehr traurig sehen.
 


 

John glaubte, seinem Blick nicht trauen zu können, als Ray mit Kyrie zu seinem Auto spazierte und mit einem frechen „Hallo“ einstieg.

„Grüß Gott“, antwortete er höflich.

„Darf ich mitfahren?“, wollte der Junge dann lächelnd wissen.

Magdalena setzte sofort zur Antwort an: „Ja, selbstverständlich. Und zum Essen bist du auch herzlich eingeladen! Wenn du für Kyrie eine Lerninspiration bist, dann darfst du dich bedienen!“ Sie wirkte hoch erfreut.

„Lerninspiration?“, wiederholte Ray betont belustigt.

„Lerninspiration …“, murmelte John vor sich hin, „Und was inspirierst du noch so?“

„Ich weiß nicht“, gestand er, „Wenn ich auch eine Kochinspiration bin, stehe ich gerne zur Verfügung.“

Kyrie lachte vergnügt.

Sie war wirklich glücklich, wenn sie bei diesem Jungen war. Und das, obwohl er kein Engel war. Warum konnte sie nicht einfach bei ihren Engelfreunden bleiben? Die hatten mehr Charakter als dieser Junge – und vor allem mehr Glaube und Wissen. Außerdem brauchte sie diese nicht zu belügen – nur diesen Mann musste sie anlügen. Dabei hätte er seine Tochter gerne vor der Lügnerei bewahrt, der er selbst ausgesetzt war. Es waren gute Lügen, Lügen für höhere Zwecke, doch Lügen ohne Zweifel. Zumindest aber hatte Kyrie ihre Eltern, mit denen sie die Wahrheit austauschen konnte. Auch wenn sie seit einiger Zeit nichts mehr vom Himmel erzählte, außer, dass es toll war, dort zu sein. Aber zu ihnen konnte sie auch ihre Engelsfreunde bringen, ohne sich dabei in einem Netz aus Lügen zu verfangen. Warum brauchte sie dann den Kontakt zu so einem einfachen Atheisten?

„Mach dir keine Sorgen“, murmelte seine Frau ihm kaum hörbar zu, „Die Dinge nehmen den Lauf, den sie nehmen sollen. Darauf haben Eltern keinen Einfluss.“

Damit hatte sie wohl Recht. Aber … wenn er so genau darüber nachdachte, dann war Ray gar nicht so schlimm. Er war doch ganz höflich und vielleicht auch nett. Aber diese Lügen!

Und dazu hatte er noch interfamiliäre Probleme, wenn er Radiants und Kims Erzählungen richtig deutete. Aber … das war nicht seine Sache. Das war die Sache der Sonicsons, wie man es auch drehte und wendete.

Er musste einfach dafür sorgen, dass die Kingstons in keine Probleme gerieten. Das mit Kyries Arm hatte ihn bereits erschüttert … Wenn noch mehr auf ihn zu käme … Er wusste nicht, wie er das verkraften sollte.

Da kam er auch schon bei ihrem Haus an. „Alles aussteigen“, wies er sie an, „Jetzt gibt es Essen.“
 

„Dein Gekochtes war ja schon ein Meisterwerk“, lobte Ray Kyrie, während sie die Treppen nach oben stiegen, „Aber deine Mutter …“ Er seufzte. „Ich glaube, ich bin verliebt.“

Kyrie schien den Scherz nicht ganz so positiv aufzufassen. Aber dann überredete sie sich doch zu einem Lächeln.

Er grinste. „Keine Panik, ich rede vom Essen.“

Sie warf ihm einen mahnenden Blick zu, der ihn Idiot schimpfte, und führte ihn gleich zu ihrem Zimmer. Sie öffnete die Tür. „Frisch aufgeräumt und bereit zum Lernen“, erklärte sie ihm.

Er betrat den kleinen Raum. Er hatte Recht – der obere Stock war klein, so auch Kyries Zimmer. Er konnte darin knapp aufrecht stehen. Viel größer hätte er nicht mehr sein dürfen.

„Bitte, setz dich“, wies sie ihn an und deutete dabei auf einen Stuhl, „Ich hoffe, es ist bequem? Ich hole noch schnell etwas zu trinken.“ Damit war sie auf und davon. Irgendwie wirkte sie ziemlich nervös auf ihn – aber er konnte sich nicht wirklich erklären, weshalb.

Er nickte und machte sich daran, seine Bücher auszupacken.

Dieses kleine Zimmer passte gut zu Kyrie. Es war klein, nicht besonders ausgeschmückt und schien matt – man musste genauer hinsehen, um Besonderheiten zu erkennen. Und als er sich so umschaute, fiel sein Blick auf ein Glas, in dem eine wunderschöne, lange, weiße Feder aufbewahrt war. Neben ihrem Bett.

Ob die einem Schwan gehörte? Warum hatte sie eine Schwanenfeder neben ihrem Bett? Das verlangte nach einer Untersuchung.

Schon hörte er Schritte, die ihm bedeuteten, dass sie die Treppe empor schritt – und als sie dann mit einem Tablett in der Hand die Tür öffnete, sprach er sie sogleich darauf an: „Sammelst du Schwanenfedern?“ Er nickte in Richtung des Glases.

Sie folgte seinem Zeichen – und ihre Augen weiteten sich, während sie erblasste. Sie wirkte, als hätte sie einen Geist gesehen – und als würde sich das Tablett gleich verabschieden.

Ray sprang sofort auf und stützte die Gerätschaft mit den Gläsern und dem Krug darauf.

Kyrie fing sich gleich wieder und schüttelte den Kopf. „Äh, na … Ja … Ich …“

Ray stellte das Tablett am Schreibtisch ab und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Schon in Ordnung, ich finde Schwäne auch schön.“

Sie lächelte ihn verzweifelt an – wirkte, als sei sie den Tränen nahe.

Irgendwie fühlte er sich unwohl– als hätte er zu viel gesagt. Und dieses Gefühl löste kaum einer in ihm aus. Ihn brachte auch kaum jemand zum Weinen. Und dazu, bei ihm zu lernen. Kyrie …

Sie schaffte einfach, was noch niemand vor ihr geschafft hatte.

Er nahm ein gefülltes Glas und reichte es ihr. „Hier“, meinte er, „Setz du dich lieber, bevor du dich noch verabschiedest.“

Bis sich Kyrie wieder beruhigt hatte, lernten sie schweigend weiter – dann kehrte ihre heitere Stimmung plötzlich wieder zurück und sie verbrachten den Nachmittag eher damit, sich dumme Sprüche zuzuwerfen, Sätze aus ihren Lehrbüchern zu veralbern und sich alle gefühlte zehn Minuten etwas zu essen zu suchen, als wirklich ernsthaft zu lernen.

Aber … es hatte sich gelohnt. Der ganze Tag war atemberaubend – so machte Lernen wirklich Spaß. Und ihm hatte es zuvor schon Freude bereitet. Aber … Kyrie schien den Raum einfach aufzuhellen.
 

Ray war zu Fuß wieder heimgegangen – gegen sechs Uhr, weil Kyrie um sieben bereits wieder mit Nathan verabredet war. Sie vermisste seine Anwesenheit jetzt schon. Er hatte sie aufgeheitert – auch wenn es sie geschockt hatte, sie diese Feder glatt übersehen hatte. Wirklich … einfach … vergessen … Gut, dass er sie für eine Schwanenfeder gehalten hatte! Danke, Gott sei Dank, denn … ihr wäre kein Tier eingefallen, das eine so reine, weiße Feder besaß …

Sie ging zu ihrem Bett und strich sanft darüber. Ihre erste Feder … Damals war sie noch aufgeregt gewesen, in den Himmel zu kommen. Hatte sich darüber gefreut, all die Wunder zu entdecken … Mittlerweile hatte sich das geändert. Sie war von dieser puren Angst geleitet, dass sie einem Halbengelhasser begegnen musste, sie schwang jeden Tag ihr Schwert, in der Erwartung, getötet werden zu können und im Notfall zurückzuschlagen … Es war … nichts mehr, wie es sein sollte …

Noch dazu war sie dabei, sich Hals über Kopf in Ray zu verlieben … Sie … sie fragte sich, inwiefern dieses weiße Teil ihr überhaupt Glück gebracht hatte. Oberflächlich vielleicht – aber Ray hatte sie auch ohne diese Feder kennen gelernt, Nathan genauso und der hätte ihr ihre Freunde zwangsläufig genauso ohne dieses Ding vorgestellt!

Und jetzt … jetzt hatte sie genau deswegen beinahe einen weiteren Schock erlitten, hätte fast vor Ray losgeheult wegen dieser Feder! Dieser … dieser dummen Feder …

Sie seufzte und ging nach unten, um das Tablett mit den Gläsern wieder fort zu tragen.

Die Feder ließ sie dort stehen, wo sie war. Sonst würde Ray vielleicht noch mehr darüber nachdenken, wenn sie sie plötzlich wegstellte.

„Wie war das Lernen?“, wollte John wissen, der in der Küche saß und Zeitung las.

„Sehr lehrreich“, antwortete sie, dann setzte sie sich zu ihrem Vater.

Sie las schnell die Überschriften, aber wandte sich dann ab. Dort stand nichts Wichtiges, nichts Weltbewegendes. Es herrschte Frieden – überall.

John schüttelte den Kopf. „Ein Mord in der Südlichen Hauptstadt“, murmelte er, „Wahrlich die Dämonenseite.“

Kyrie schreckte auf. „Was?“

„Man sagt, der Süden sei die Hälfte, in der früher die Dämonen gehaust haben.“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Wer an Dämonen glauben will, soll es tun. Wir wissen von den Engeln.“ Er zwinkerte Kyrie an.

Sie lächelte gezwungen. „Äh ja …“

„Aber einigen Menschen sollte man wirklich die Feder auf die Waagschale legen. Bei einigen Leuten ist das Gewissen dann tausend Male schwerer“, richtete er, „Was gibt es für Gründe, Menschen umzubringen, ihnen Schaden zuzufügen?“, wollte er wissen, „Keinen. Wenn jeder so denken würde, wäre der Frieden endlich perfekt!“ Er murrte: „Wenn sie einfach alle Waffen abgeben würden, ihr Gewissen federleicht halten würden und sich immer um das Wohl der Mitmenschen sorgen würden …“ Er schüttelte den Kopf. „Aber das sind eben diese ungläubigen Atheisten, die das einfach nicht verstehen wollen.“

Kyrie erhob sich schnell, ehe ihr noch schlecht wurde. Ehe sie noch weinen musste. Ihr Vater .. Er … Er half ihr nicht wirklich. „Ich gehe in den Himmel“, entschuldigte sie sich und lief zurück in ihr Zimmer, ohne auf ein weiteres Wort zu warten.

Sie hielt sich den Bauch. Hätte sich am liebten … an irgendeine Brust geschmissen und losgeweint … Sie wollte nichts mehr geheim halten … Aber sie konnte auch keinem die Wahrheit sagen! Sie wollte nicht mehr kämpfen, aber einfach so sterben wollte sie auch nicht … Sie … Sie wollte doch nur in Frieden leben … Einfach und glücklich … mit Ray …
 

Ray schlenderte nach Hause. Er hielt sein Mobiltelefon in der Hand und schrieb fröhlich mit Kylie hin und her. „Noch gut drei Wochen!“, las er, „Dann komme ich.“

Er lächelte. „Ja, dann stellen wir die Stadt gemeinsam auf den Kopf. Also spare lieber schön weiter!“, schrieb er hastig zurück.

Es war schon ein ziemlicher Fußmarsch, doch er hatte Kyries Angebot, ihn heimfahren zu lassen, einfach abgelehnt – er hatte sie schon so verunsichert, da wollte er ihrem Vater nicht noch weiter auf die Nerven gehen. Außerdem würde er jetzt gar nicht heimgehen … Eigentlich war jetzt die Zeit, in der er wieder abhaute, um keinem zu begegnen – und das pflegte er auch weiterhin.

Also tippte er an Ted: „Hol mich beim Imbiss im Westblock ab.“

„Bin ich dein Taxi?“, kam nach wenigen Augenblicken zurück.

„So in etwa“, antwortete Ray dann und erhielt sogleich die Antwort von Kylie.

Er seufzte. Mit zwei Leuten gleichzeitig zu schreiben, war ganz schön anstrengend.

Aber er musste durchhalten. „Lerne du lieber zu kochen“, stand auf dem Bildschirm unter Kylies Namen.

Stimmt. In dieser Woche würde er Kyrie dann absagen müssen – er schnorrte schon alleine genug, da brauchte er nicht noch eine zweite Person mitzubringen. Aber er wollte, dass sich die beiden kennen lernten. Sie hatten beide einfach diese besondere Ausstrahlung – er war sich sicher, dass sie sich mögen würden.

„Keine Sorge, ich habe mich nebenbei zum Gourmetkoch ausbilden lassen“, behauptete er ihr gegenüber, „Neben meiner Lehre zum Chemieprofessor.“

„Idiot“, schrieb Ted.

„Idiot“, schrieb Kylie.

„Idiot“, stimmte er ihnen zu und grinste.

Als Kyrie auf die Uhr schaute, die im Vorleseraum thronte, wurde sie nervös. Schlagartig sehr nervös. Heute war Mittwoch. Und mittwochs fanden Mittwochstreffen statt. Wie jeden Mittwoch – nur mit dem Unterschied, dass sie völlig vergessen hatte, genau das Ray mitzuteilen! Mittwochs war einfach keine Zeit für ihn – egal, wie schwer ihr Herz wurde, wenn sie daran dachte, ihn heute nur zum Mauertreffen zu sehen.

Dass sie ihm gleich am zweiten Tag ihrer neuen Tagesordnung versetzen musste …

Das bedeutete, dass sie ihn nur fünf Tage die Woche bei sich zu Hause genießen konnte – denn sonntags wollte ihr Vater keine Gäste. … Nicht, dass Kyrie jemals in Versuchung gekommen wäre, sonntags wen mitzubringen … Doch … früher.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass der kleine Nathan damals immer mit der kleinen Kyrie zur Messe gegangen war. Aber … das war bloß in der Grundschule. Danach waren sie immer zu Kyrie gegangen. Immer zu ihr.

Sie hatte seine Eltern zwar manchmal gesehen, aber eigentlich nie richtig viel mit Chimära und Samuel Princeton zu tun gehabt. … Aber die beiden waren vermutlich eher damit beschäftigt, irgendwo in der Stadt Dämonen zu verjagen, als sich um das Nachbarskind zu kümmern.

Ob sie sie überhaupt wieder erkennen würde, wenn sie ihnen in der Stadt einmal begegnen würde? Ob Nathan das überhaupt könnte?

Nathan … Gestern hatte sie sich beruhigen können, bevor er aufgetaucht war. Sie hatte ihre Gedanken an die weiße Feder einfach verbannt. Und dabei war ihr aufgefallen, dass sie Ray heute gar nicht zu sich nach Hause einladen konnte! Natürlich würde es die Engel nicht stören, wenn sie einfach nicht kommen würde – aber nachdem sie das letzte Mal einen so triftigen Grund gehabt hatte, wären sie bestimmt besorgt. Und Nathan würde sowieso auch nach unten kommen, um sie abzuholen! Und es wäre gemein von ihr, ihre Freunde zu versetzen, die sich extra für sie Zeit nahmen.

Jetzt musste sie sich entscheiden. Ray sah sie öfter. Es wäre wohl fairer, ihn nicht zu treffen.

Aber nur daran zu denken, würde ihr auch nicht dabei helfen, Ray zu versetzen! … Sie musste stark sein, ihm klar machen, dass es einfach nicht ging. Dass er heute ihretwegen Hunger leiden müsste!

… Nein. Nein, das konnte sie doch nicht so einfach …

Zum Essen. Zum Essen würde er doch bleiben können! Sie selbst war zum Essen ja auch noch da. Also konnte er dort mitkommen …

Sie fühlte, wie sie sich langsam beruhigte.

Zum Glück achtete hier niemand auf sie, sonst würde sie wirklich noch als die Verrückte abgestempelt werden.

Als die Stunde beendet wurde, verspürte Kyrie Erleichterung. Im Eiltempo packte sie ihre Sachen zusammen und dann verließ sie auf die Schnelle den Raum. Sie konnte heute keine Störenfriede gebrauchen – sie musste so viel Zeit wie möglich mit Ray verbringen!

Darum raste sie beinahe zur Mauer – und ein glückliches Lächeln zierte ihr Gesicht, als sie erblickte, dass Ray bereits dort war. … Und dieses Lächeln verschwand, als sie erkannte, dass er mit jemandem sprach. Mit Ted.

„Hallo“, begrüßte sie die beiden leise, als sie zu ihnen stieß, „Störe ich?“, wollte sie gleich darauf wissen.

Sie sahen sie an. „Hallo“, sagte Ray lächelnd, „Ach was, nein. Ted wartet hier nur auf seinen Großvater.“

„Und ihr beide trefft euch hier immer zur obligatorischen Pärchenstunde, was?“, fragte der andere provokant. Dann lachte er.

„Wie schon gesagt: Ignoriere ihn“, riet Ray ihr ruhig.

Sie lächelte. … Wobei er ja nicht ganz Unrecht hatte. Sie waren kein Paar. Leider nicht … Aber Kyrie wollte so viel Zeit mit Ray verbringen, weil sie ihn so gern hatte … So richtig, richtig gerne, wie man einen anderen Menschen nur gerne haben konnte! So … dass sie ihn am liebsten die ganze Zeit umarmen wollte … Und ihn bei sich haben … ihn bei sich spüren … Sie seufzte.

Plötzlich spürte sie, dass Ray und Ted sie beide komisch anschauten. Und verstummten.

Sie lächelte unangenehm berührt. „Haha …“, machte sie dann, woraufhin sie sich Ray zuwandte: „Ich habe heute Nachmittag leider keine Zeit“, gestand sie ihm mit einer Trauer in der Stimme. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um auch den letzten Rest noch herauszubekommen, ohne loszuheulen. Egal, wie mickrig sie gerade wirkte! Sie musste stark sein, es durchziehen. „An keinem Mittwoch.“

Er wirkte bestürzt. „Heißt das, dass ich mittwochs wieder alleine lernen muss?“

„Lernen?“, wiederholte Ted plötzlich sehr interessiert.

Sie überging den älteren Mann einfach. „Ja“, gab sie betrübt zu, „Aber du kannst zum Essen gerne kommen!“

Er lächelte. „Wenn es euch nichts ausmacht.“

„Essen?“, mischte Ted sich ein, „Hey, sagt bloß, ihr esst immer zusammen?“ Er räusperte sich. „Ihr seid ein Paar.“

„Halt die Klappe“, gab Ray zurück, ohne den Blick von Kyrie abzuwenden.

„Es macht uns nichts aus“, versicherte Kyrie ihm noch einmal.

Dann grinste Ray. „Gut!“

Kyrie setzte sich neben ihn.

„Ja, ja“, murrte Ted, „Aber! Wo waren wir?“ Plötzlich wirkte seine Stimmung wieder ganz verändert, als er nachdachte. „Also bin ich das ganze nächste Jahr fort!“

Ray nickte. „Ich verstehe … Also brauche ich ein neues Taxi …“

„Magst du mich etwa nur deswegen?!“, rief Ted laut aus.

Ray zuckte mit den Schultern. „Mark macht doch bald den Führerschein, oder?“

„… Danke für deine Freundschaft“, maulte der große Mann.

„Ach was, das war doch nur ein Scherz! Aber eine kleine Pause von deinen Kommentaren kann nicht schaden.“ Ray grinste, dann zog er sein Mobiltelefon hervor. „Und damit bleiben wir sowieso in Verbindung!“

„Falls ich das wissen darf …“, mischte sich Kyrie dann leise ein, „Warum wirst du weg sein?“

„Klar darfst du das wissen, meine Liebe!“, meinte Ted hocherfreut – freute er sich wirklich darüber, dass sie fragte? -, „Mein Großvater hat bei einem Preisausschreiben mitgemacht – und er hat gewonnen! Einen Urlaub für drei Personen im Goldenen Dorf!“ Der Mann strahlte. „Also nimmt er meine Oma und mich, seinen Lieblingsenkel, mit!“ Er wirkte stolz und betonte seinen Titel.

Kyrie nickte. „Das ist ja sehr erfreulich!“, meinte sie, „Aber die Zugfahrt wird lang.“

Ted nickte. „Ja, die wird anstrengend. Aber mit meinen Großeltern vergeht die Zeit schnell.“

„Und der Urlaub“, fügte Ray dann hinzu, „geht ein gutes Jahr lang!“

„Ist das dann nicht mehr ein Umzug?“, wollte Kyrie überrascht wissen.

„Nein, keineswegs!“, korrigierte er sie, „Das ist eine willkommene Pause von miserablen Freunden.“ Er deutete besonders auffällig auf Ray.

„Das vorhin war ein Scherz“, wiederholte Ray belustigt.

„Das sagen sie immer“, gab Ted zurück. Dann schaute er sich um. „Oh, mein Großvater. Na dann – macht es gut, ihr Turteltäubchen!“ Er grinste sie an. „Passt aber auf, ich will nicht Onkel werden, während ich nicht da bin!“ Und mit diesen Worten lief er an der drängenden Menschenmenge vorbei und verschwand.

„Er ist ein Idiot“, kommentierte Ray mit verschränkten Armen, „Aber ich werde ihn vermissen.“

„Wann fährt er?“, wollte Kyrie wissen, wobei sie versuchte, seine letzten Worte in ihren Hinterkopf zu verbannen, wo sie keinen Schaden anrichten konnten. … Onkel werden … Sie wusste genau, wie er das meinte! Aber … Sie versuchte, gegen aufkeimendes Erröten anzukämpfen.

„Gleich nächste Woche“, beantwortete Ray die Frage, „Ich hoffe, dass er sich da unten gut erholt. Ich habe gehört, sie hätten die grünsten Wiesen und die grünsten und größten Wälder.“

„Er wird bestimmt Fotos machen“, meinte Kyrie, „Und dir welche schicken.“

„Da hast du wohl recht“, stimmte er ihr zu. Dann schaute er sie an. „Was machst du heute Nachmittag denn so plötzlich?“

Sie lächelte ihn an. „Das war gar nicht plötzlich. Ich habe es nur vergessen. Es ist das, was ich jeden Mittwoch mache.“

Er musterte sie interessiert.

Also gab er sich mit irgendeiner Belaberung nicht zufrieden …

„Ich treffe mich mit ein paar Freunden“, erklärte sie ihm, „Jeden Mittwoch.“

Er nickte. „Dann wünsche ich euch viel Spaß. Was macht ihr dann?“ Er wirkte neugierig.

„Wir essen zusammen, wir reden, wir verbringen Zeit miteinander …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dasselbe, was wir beide auch immer so tun.“

Er grinste. „Du hast wirklich keine Hobbys.“
 

John räumte die Teller in die Spülmaschine.

„Gurken!“, erklang Kyries Stimme, „Die kann ich überhaupt nicht leiden.“

„Zum Glück können wir wählerisch sein, was?“, antwortete Ray, wobei ihre Stimmen aus der Halle kamen. Der Junge war wieder unterwegs nach Hause. Kyrie musste heute in den Himmel, darum konnte der Student nicht hier bleiben. Aber Hauptsache zum Essen kam er.

Lerninspiration. Dass John nicht lachte.

Er inspirierte seine Tochter wohl auf ganz andere Weise – auf eine Weise, die ihm gar nicht passte.

„John, wasch die Teller“, befahl Magdalena, „Und konzentriere dich auf die Arbeit!“ Sie schalt ihn, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Es war eben seine Frau. Und die kannte ihn besser als irgendein anderer Mensch. Weil sie keine Geheimnisse voreinander hatten – und genau daran würde die Freundschaft zwischen Ray und Kyrie zugrunde gehen, das sah er schon kommen. Aber er wollte seine Tochter vor Unglück bewahren. Sie hatte doch ihre Engelfreunde! Warum nutzte sie die Gelegenheit nicht, glücklich zu sein?

Er blendete das Gelächter von draußen aus.

„Ja, natürlich“, reagierte er auf die Worte seiner Frau, „Ich bin schon dabei.“ Und so ging er an die Arbeit.

Seit Ray bei ihnen aß, herrschte Gelächter am Tisch vor. Es war nie trostlos bei ihnen gewesen – doch in letzter Zeit wirkte Kyrie so verschlossen, so verändert, als würde sie etwas bedrücken. Aber wenn dieser junge Mann hier war, dann spürte man nichts mehr davon. Reines Glück umgab die beiden – und diese Glückseligkeit drückten sie in Lachen und in Witzen aus. Sogar während des Essens.

Ray bot ihnen jedes Mal wieder seine Hilfe an, doch sie lehnten ab. Er war Gast, er brauchte nichts zu tun.

„Ich gehe mit Ray noch ein Stück“, erklang Kyries Stimme, ehe die Tür geöffnet und wieder zugestoßen wurde. Stille kehrte ein.

„Ich mache mir Sorgen“, gab John dann unvermittelt zu, „Was will er von ihr?“

„Das Thema hatten wir doch schon durchgesprochen“, wies Magdalena ihn hin, „Lass dem Schicksal seinen Lauf.“ Plötzlich ließ sie ein Glas fallen, welches am Boden zersplitterte. Es klirrte, doch John erschrak nicht. Aber er hörte den unausgesprochenen Fluch aus den geschlossenen Lippen seiner überraschten Frau. Doch laut sagte Magdalena: „Die Wege des Herrn sind unergründlich.“

Die Wege des Herrn waren unergründlich, ja … Das traf zu. Das war sein Leitspruch.

„Das habe ich zum ersten Mal gehört, als wir ein Paar wurden“, sinnierte Magdalena, als sie die Kehrschaufel holte und die Splitter zusammensammelte, „Dann als du um meine Hand angehalten hast …“ Sie seufzte.

John überprüfte, ob es ihr gut ging, aber sie kehrte einfach weiter. Er ordnete weiter die Teller ein. Sie schaffte das alleine. „Dann als plötzlich ein Baby hat kommen sollen …“, machte er weiter, „Und als dann ein Pack von Engeln vor der Tür gestanden hat und uns die frohe Botschaft überbracht hat …“ Er lächelte beim Gedanken an das schöne Licht, das sie alle umgeben hatte.

„Und dann noch tausende Male“, beendete Magdalena das Thema, „bei Kleinigkeiten.“ Sie lächelte ihn fröhlich an, als sie das Glas entsorgte. „Also lass dieses Thema ruhen – es ist nicht dein Leben, das da beeinflusst wird. Und er ist ein guter Junge.“ Ein verträumter Ausdruck trat in ihre Augen. „Wie sie einander ansehen …“ Sie schaute zu ihm.

Und ihre Blicke trafen sich.
 

„Also, ich habe herumgefragt“; erklärte Liana, „Und das war wirklich Nate! Es gibt wirklich Engel, die wissen, dass er auf der Erde singt! Das macht er komplett zwanglos und freiwillig, einfach, weil er es gerne tut. Scheinbar gefällt es ihm in eurer Welt sehr gut. Im Himmel gibt er keine Konzerte. Aber für nächstes Jahr ist eine Konzerttour auf der Erde angesetzt! Wenn du also Karten dafür kaufen könntest, wäre es toll! Natürlich gäbe er auch noch kleinere Konzerte in unterschiedlichen Dörfern, falls du dahin willst, aber ich glaube, dass es in deiner Stadt am schönsten sein wird!“

Kyrie nickte, um zu verdeutlichen, dass sie ihr folgen konnte. Auch wenn sie schnell und viel sprach – wie immer. „Ja, ich werde sehen, was ich tun kann.“ Jetzt erinnerte sie sich wieder daran, was sie vergessen hatte, zu fragen: Ob Ray wisse, wann das nächste Konzert der Sieben Sünden in der Nördlichen stattfand. War sie schon so alt, dass sie sich alles aufschreiben musste, um es nicht zu vergessen?

… Aber Liana hatte genau genommen recht. Sie konnten auch anderswo das Konzert ansehen – aber nicht im Goldenen Dorf, das würde zu viele Fragen aufwerfen, falls sie dort Ted begegnen würde. … Und in der Nördlichen wäre Ray dabei, an anderen Orten nicht …

„Würde sonst noch jemand von euch mitkommen?“, fragte Kyrie an Nathan und Joshua gewandt, die neben ihnen her flogen. Deliora und Thierry waren einfach nicht aufgetaucht … Gut, dass sie gekommen war. Sonst wären die anderen drei alleine gewesen. Auch wenn sie bisweilen nur herumgeflogen waren und geredet hatten – aber sie wollten am Sportplatz vorbeischauen, um zu sehen, ob ein Spiel stattfand. Vielleicht würden sie Thi dann dennoch sehen! Auch wenn man das normalerweise nicht machte … Aber es ging ihnen ja ums Spiel und nicht um Thierry, weshalb es sehr wohl legitim war!

„Ja“, meinte Nathan freundlich, „Wenn ich Zeit habe, gerne! Am besten wäre ein Mittwoch.“

Joshua zuckte mit den Schultern.

„Wenn ihr nächste Woche zu mir kommt, kann ich dir, Thi und Deliora ein Lied vorspielen. Dann wisst ihr, was das für eine Band ist“, bot sie Joshua lächelnd an.

Joshua nickte gleichgültig. Besser als nichts.

„Abgemacht!“, rief Liana erfreut aus, „Huh! Wenn der alte Stinker dann zurückkommt, kann ich ihm sagen, dass ich dort war!“

„… Warum habe ich eigentlich gespürt, dass er ein Engel ist?“, wunderte sich Kyrie dann, „Ich meine … Keiner von uns beiden hatte seine Flügel ausgestreckt.“

„Habe ich dir das nicht erklärt?“, fragte Nathan dann laut. Er grinste, um seinen Fehler zu kaschieren. „Na ja – wenn du nahe an ihn herankommst, dann spürst du sein Licht. Je stärker er ist, desto eher spürt man es“, erklärte er, „Es ist mehr ein Wunder, dass er dein Licht gespürt hat.“ Nathan grinste. „Oder mehr dein Lichtchen.“

Kyrie zog eine Schnute. „Danke.“

Liana lachte. „Lass dich nicht fertig machen!“, munterte sie sie auf, „Nur weil er so übernatürlich stark ist, braucht er die Schwächeren nicht fertig zu machen.“

„Aber es macht mir Spaß“, gestand Nathan grinsend.

Da kamen sie bereits am Sportplatz an – und unten stand eine Gruppe von Engeln.

„Oh, das ist die Schwertkampfmannschaft, bei der Thierry Mitglied ist!“, erklärte Nathan fröhlich, „Die kommen doch gerade richtig.“ Und schon düste er los, um sich auf einen leeren Platz zu setzen. Trainingseinheiten waren für kaum jemanden interessant, weshalb auch kaum Plätze besetzt waren.

Kyrie fühlte sich allein gelassen, schutzlos ausgeliefert … darum schlug sie schnell mit ihren Flügeln, um Nathan nachzukommen – Joshua und Liana blieben bei ihr. Warum konnte Nathan sich nicht einfach an sie anpassen? Oder ihr klar machen, was er vorhatte! Sie wollte an seiner Seite bleiben …

Sie setzte sich neben Nathan hin, Liana ließ sich am nächsten Platz nieder und Joshua blieb hinter Liana.

Kyrie begutachtete das Spielfeld. Es schaute schon wieder komplett anders aus als das letzte Mal beim großen Spiel. Aber es war auch eine andere Sportart. Thierry war so fleißig und begabt, weshalb er in so vielen Disziplinen ein Meister war!

Der Engel hielt sein Schwert in den Händen und bekämpfte einen anderen. Sie wirkten so professionell! Ihre Bewegungen waren so fließend!

„So wirst du auch einmal werden“, scherzte Nathan, wobei er sie sanft anstieß, „Wir müssen nur fleißig weiterüben!“

Sie sah ihn unsicher an. „So gut werde ich bestimmt nie.“ Sie wusste, dass er es nicht ernst gemeint hatte, aber dennoch … Wenn sie wirklich eine Chance haben wollte, dann musste sie auf ein Wunder hoffen oder wirklich so fleißig weitermachen!

Sie beobachteten die Kämpfe weiter – andere Mitglieder des Teams hatten nun auch zu den Schwertern gegriffen.

„Hey … das da“, wunderte sich Liana plötzlich, „Der Schwarzhaarige.“ Sie deutete auf eine große Person, die man nur von hinten sah, die aber ebenfalls ein Schwert in den Händen hielt – und genau auf Thierry zuging.

„Das ist doch Gula“, erkannte Nathan verwundert, „Der hätte doch eigentlich Besseres zu tun, als da unten Schwertmeister zu spielen.“

Kyrie schaute auf die Todsünde herab. Gula … Derjenige, der von ihrem Leid wusste … Der, der es für sich behielt, nichts dagegen unternahm … Sie unterdrückte ein Seufzen. Und der damit wohl genau so handelte, wie jede andere Todsünde das tun würde.

Jetzt redete der Mann mit Thierry. Natürlich würde Thi nicht erscheinen, wenn er einen Termin mit einer Todsünde hatte. Das war klar. Das konnte ihm keiner verübeln. Es war schon nett genug, dass er seine anderen Trainingseinheiten für sie sausen ließ.

„Wirklich bescheuert, dass Xenon ein Assistent ist“, murmelte Nathan vor sich hin, „Wenn dieser Umstand nicht wäre …“

Kyrie nickte zustimmend. „Ja …“

Und irgendwie sank die Stimmung an diesem Mittwoch steil bergab.

Sie hatte ihm für Samstag abgesagt. Er hatte sie eingeladen, mit ihm auf ein Konzert zu gehen – aber sie hatte erklärt, dass sie lernen müsste. Das war schade. Ray wäre gerne mit Kyrie hingegangen.

Dann eben nur Ken, Maggie und Mark. Ted war schon abgefahren. Sie hatten sich nicht groß verabschiedet. Sie waren keine engen Freunde. Nur … Bekannte. Ray fühlte sich zu ihm nicht auf diese Weise hingezogen wie zu anderen Leuten.

Das mit Kylie war ganz anders. Sie war seine beste Freundin. Von ihr hatte er sich eine gefühlte Woche lang verabschiedet. Er war richtig deprimiert bei dem Gedanken gewesen, dass er sie bis zum Sommer nicht mehr sehen würde – und jetzt kam sie doch tatsächlich schon früher!

Dafür war der Nachrichtenstrom zu ihr wieder abgebrochen. Sie hatte ihm mitgeteilt, dass sie in den letzten Wochen vor ihrer Abreise doppelt so hart arbeiten musste, um auch wirklich genug Geld dabei zu haben, und um nicht im Nachhinein hinausgeworfen zu werden. Er fand es schade, dass sie nicht einfach ewig bleiben konnte, doch … Sonst würde er seine Mutter in die Hände einer Unfähigen geben müssen und das wollte er ganz bestimmt nicht. Diane wäre zwar noch immer dort, aber … Er traute Kylies Fähigkeiten mehr als denen seiner Schwester.

Vor allem, da Kylie ihm auch wirklich mehr Nachrichten übersendete als die andere – mit Diane hatte er schon ewig nicht mehr geschrieben. Aber solange Kylie ihm am Laufenden hielt, sah er darin kein großes Problem … Außerdem hatte Kylie ihre besondere Fähigkeit, durch welche sie jedem Wunsch ihrer Mutter gerecht war. Dieses kleine Superhirn, das einfach immer alles wusste … Aber ... das machte seine Mutter dennoch nicht gesund. Das mit dem Heilen würde er eines Tages übernehmen müssen.

„Guten Tag!“, begrüßte Kyrie ihn.

„Hey“, antwortete er daraufhin lächelnd. Sie nahm neben ihm auf der Mauer Platz.

Ray fragte sich, ob seine Mutter Kyrie mögen würde. Er wollte sie ihr vorstellen. Nachdem Kylie sie kennen lernte, würde ihre Mutter sowieso zwangsläufig von ihr erfahren.

„In gut zwei Wochen kommt eine Freundin aus dem Roten Dorf zu mir“, erklärte er Kyrie. Er hatte ihr schon von Kylie erzählt, aber noch nie, dass sie schon so bald kommen würde, „Sie bleibt in etwa eine Woche.“

Kyrie schaute ihn fragend an.

„Ich würde euch einander gerne vorstellen“, fügte er dann hinzu, „Sie heißt …“

Kyrie nickte. „Kylie“, beendete sie seinen Satz, „Ja, ich würde mich freuen, sie einmal zu treffen.“ Sie lächelte. Er lächelte zurück. Also hörte sie ihm doch hin und wieder zu!

„Gut!“, kommentierte er es, „In der Woche werde ich Kylie die Stadt zeigen … Da habe ich dann vermutlich keine Zeit, mit dir zu lernen oder zu essen …“ Er stockte kurz, ehe er fortfuhr: „Oder mich hier mit dir zu treffen …“ Seine Stimme war automatisch leiser geworden, beinahe … bedauernd … Ja, er bedauerte es wirklich, nicht hierher kommen zu können … Aber er würde vermutlich einige Tage der Uni fern bleiben. Das war natürlich nicht sehr schlau, aber … für Kylie! Wenn sie schon so viel Geld ausgab, nur um ihn zu treffen … Er musste ihr etwas bieten.

Plötzlich wirkte sie bestürzt. „Ach so“, murmelte sie, „Ich … verstehe … Schade …“

„Aber danach machen wir gleich weiter wie zuvor!“, beruhigte er sie daraufhin, „Aber ich kann nicht noch ein hungriges Maul mitbringen.“ Er hoffte, ihr genügte das. Er wollte sie nicht traurig sehen! Sie sollte wieder … lächeln. Es war ja kein Abschied für immer! Nur … eine Woche!

Kyrie lächelte ihn an. „Ich verstehe schon, keine Sorge!“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Auf die rechte Schulter. Die Berührung jagte ihm einen Schauer durch den Rücken – aber … einen guten Schauer. Einen, den man immer wieder erleben wollte … Wenn sie ihn jetzt umarmen könnte … Wenn er sie jetzt umarmen könnte …

Er begutachtete das Mädchen neben sich, schaute ihr dabei tief in diese dunklen Augen. Sie war so klein und zierlich … Als würde sie zerbrechen, sobald man sie berührte … Und doch war sie wie eine Porzellanpuppe von unvorstellbarem Wert … Unvorstellbarer Wert … Wie viel bedeutete sie ihm eigentlich wirklich? Das fragte er sich schon eine Zeit lang. Aber er fand darauf keine Antwort … Er … konnte dieses Gefühl einfach nicht beschreiben. Es war da … Tief in ihm drinnen … Allerdings wollte er es nicht herauslassen. Er wollte niemanden so nahe an sich heran lassen.

Kyries Anwesenheit heiterte ihn auf, machte ihn glücklich – er vertraute ihr. Vertraute ihr mit ganzer Kraft und hegte keinen Zweifel an ihr. Er wollte bei ihr bleiben. Die Zeit mit ihr, war traumhaft schön … Ja, traumhaft, das beschrieb es wohl am besten. Und dieses Vertrauen war wunderbar, aber … er wollte nie wieder jemanden vertrauen. Konnte es nicht. Und doch tat er es … Es war grotesk. Er verstand sich selbst nicht mehr! Was war nur los mit ihm?

Er wurde das Gefühl nicht los, dass es wirklich nur ein Traum war. Dass er aufwachen würde, sobald sich die Situation änderte. Dass alles zerstört wäre, sobald er diesem Gefühl nachgab. Doch er hätte nicht auf sie verzichten können. Was hätte er ohne sie tun sollen?

Nichts. Rein gar nichts. Ohne Kyrie … wäre er leer. Genauso leer, wie er es war, als er in die Nördliche Hauptstadt gekommen war. Er würde sich mit den anderen Leuten ablenken, würde sein Haus meiden, indem er Dinge tat, die keinen Sinn ergaben … Aber … mit Kyrie …

Egal was er mit ihr unternahm – es fühlte sich sinnvoll an. Es fühlte sich richtig an. Als sei er genau dort, wo er sein sollte …

Sein Blick wandte sich gen Himmel. Ob er am richtigen Weg war?

„… Essiggurken auf die Augen“, beendete Kyrie gerade einen Satz.

„Wa – Was?“ Er war abgedriftet.

„Man merkt, dass du nicht zuhörst“, ermahnte sie ihn, „wenn du lustlos in der Gegend herumstarrst.“

Er musterte sie blinzelnd. „Hast du etwas gesagt?“

„Ja“, meinte sie, wobei sie die Arme verschränkte, „Aber ich werde es niemals wiederholen.“

Er schaute sie bittend an. „Ach, komm schon!“

Sie schüttelte beinhart den Kopf.

Er legte den seinen schief. „Diesmal höre ich zu!“

„Woran hast du denn gedacht?“, wollte sie neugierig wissen.

Betroffen schaute er von einer Seite zur anderen. Er wollte sie jetzt nicht anlügen – aber was hätte er sagen sollen? Na ja – die Wahrheit …

Er räusperte sich. „Um ehrlich zu sein“, begann er langsam, „habe ich über dich nachgedacht.“

Zu ihrem Interesse kam nun auch Überraschung hinzu. „Über … mich?“ Sie wirkte angespannt.

Er nickte. „Ich … habe mich gefragt, ob du … morgen mit mir zum Eisessen gehen möchtest, anstatt zu lernen“, redete er sich heraus.

Sie dachte über sein Angebot nach – schweigend. Dann sah sie ihn interessiert an. „Das kaufe ich dir zwar nicht ganz ab“, erklärte sie wohl überlegt, „doch ich bin damit einverstanden.“

Er fühlte Erleichterung. Auch wenn sie ihm nicht glaubte – aber sie hatte zugestimmt! Natürlich würde das bedeuten, dass ihnen Zeit zum Lernen verloren ging – und das war wirklich nicht gut, denn er würde sie ganz dringend benötigen -, aber für Kyrie … für sie opferte er seine Zeit liebend gerne.

… Wenn es um seine Freunde ging, war er wirklich spendabel mit der Zeit … Daran sollte er wohl besser etwas ändern, wenn er nicht in allen drei Fächern durchfallen wollte. Aber … darüber konnte er sich übermorgen noch genug Gedanken machen.

„Gut!“, meinte er fröhlich, „Und was hast du gesagt?“

„Dass ich keine Essiggurken mag“, meinte sie sachlich, „Vor allem nicht im Auge, weil der Essig so brennt.“

Er runzelte die Stirn. „Und wie bist du darauf gekommen?“

„Du hast einfach nur gestarrt, da wusste ich, dass du nicht zuhörst“, erklärte sie, „Aber weil ich von Natur aus nett bin, wiederhole ich gerne, was ich zuvor angesprochen habe.“

Er lauschte gespannt.

„Ich kann mich beschäftigen“, gab sie trocken heraus.

„Das war alles?“, wollte er wissen, nachdem nicht mehr kam.

Sie nickte zufrieden.

Und er konnte nicht anders, als zu lachen.
 

Als Kyrie Ray nachschaute und noch einmal wank, verspürte sie diesen plötzlichen Anflug von Traurigkeit. Oder mehr Betrübtheit. Die Zeit mit ihm war so schön … Immer wenn er ging, ging auch dieses Glück, das er mit sich brachte. Das, das sie so liebte. Sein Lachen.

Diesmal waren sie früher dran – aber das war auch gut so: Wenn die anderen nämlich die neue Planung nicht vergessen hatten, dann würden sie auf die Erde kommen, um noch einmal Kuchen zu probieren. Und sonst würden sie eben wieder Zeit im Himmel verbringen. Das war auch schön. Zumindest … das mit dem Zeitverbringen.

Kyrie stand in ihrem Garten und starrte in den Himmel. Halbengelhasser im Himmel. Angst davor, dort alleine zu sein … Wenn sie dort war, nahm sie ihr Schwert in die Hand und bereitete sich darauf vor, anzugreifen … Und für diejenigen, die sich ihrer dort annahmen, stellte sie eine Belastung dar, die man wie ein Kleinkind nicht aus den Augen lassen konnte …

Sie ließ sich auf die Gartenbank fallen. Und das, obwohl es schon gut drei Monate her war.

Seit drei Monaten könnte sie frei sein, wenn sie nur stark genug wäre, sich von ihrer Angst zu befreien … Doch alleine beim Gedanken daran, ihre Flügel ohne Begleitung auszustrecken, ein Hochhaus ohne Begleitung zu betreten, ließ diese Furcht ausbrechen, Die Furcht davor, sich wirklich wehren zu müssen. Und sie gefror auf der Stelle. Nicht in der Lage, sich zu bewegen. Unmöglich, klar zu denken … Keine Chance …

Wieder im Angesicht des Todes zu stehen … Todesengel. Das waren die Halbengelhasser. Unfassbar … dass sie es geschafft hatten, ihr all die Freude am Himmel zu nehmen. Und das an nur einem Tag.

Sie waren wie Melinda … Nur dass sie vor ihr keine Angst mehr hatte. Sie war zwar immernoch unangenehm berührt, wenn sie ihr begegnete oder von ihr angeschaut wurde, aber … sie fürchtete sie nicht mehr. Sie hatte sie das letzte Mal von sich aus abgelehnt …

Aber der Unterschied bestand einfach darin, dass Melinda unbewaffnet war und keinen Grund hatte, sie umbringen zu wollen!

Sie seufzte … Was sollte sie nur tun, wenn Nathan jemals an einem Mittwoch keine Zeit hatte? Sie vertraute den anderen Freunden voll und ganz … Aber wenn Xenon ein Assistent war, dann überstiegen seine Kräfte die der anderen bei weitem. Und sie konnte nicht zulassen, dass die anderen verletzt wurden. In Nathan hatte sie vollstes Vertrauen – er war stark, aber … aber … Er hatte sie alleine gelassen … Manchmal flog er einfach weg … Unbedacht, ohne zurückzuschauen …

Sie blickte wieder auf die Straße. Wenn Ray weg ging, wusste sie, dass er wiederkommen würde. Sie wusste es einfach. Vertraute darauf. Und wenn er sich für eine Woche abmeldete, dann wusste sie, dass er in der nächsten wieder dastehen würde. Sie vertraute ihm.

Als hätte er ihre Gedanken gehört, drehte er sich noch einmal kurz und winkte ihr zu, ehe er um eine Ecke bog und aus ihrem Sichtfeld verschwand.

Sie hatte zurückgewunken.

Bei Nathan allerdings … Was sollte sie tun, wenn er eines Tages einfach nicht erscheinen würde?

Als etwas in der Halle laut schepperte, wusste sie, dass heute nicht dieser Tag war – ihre Freunde waren da.
 

„Ist jemand verletzt?“, wollte John wissen, als er zu den Engeln eilte. Plötzlich blieb er stehen.

Nathan zog seine Flügel ein. „Hopp, Flügel einziehen!“, befahl er. John starrte auf die weißen Federschwingen. Ja, es musste wirklich unnatürlich aussehen.

Aber mittlerweile sollte er den Anblick doch schon gewöhnt sein! Obwohl es vermutlich immer wieder aufs Neue eine Überraschung war. Nathan grinste.

Magdalena kam dann auch aus der Küche. „Guten Tag!“

Die anderen hatten bereits ihre Schwingen verschwinden lassen. „Hallo“, begrüßte er sie, „Ist Kyrie da?“

Die Eingangstür wurde geöffnet und seine Schülerin trat ein. „Hallo“, sagte sie fröhlich an alle gerichtet und lächelte kurz. Dann schaute sie sich um. „Ist Thi schon wieder nicht da?“, fragte sie überrascht.

„Kyrie!“, rief Liana hocherfreut und stürmte auf sie zu, wobei ihr grüner Mantel, der zur Farbe der Blume in ihrem Haar passte, wild herumflog. Sie umarmte ihre Freundin.

Nathan schüttelte den Kopf. „Nein“, bedauerte er.

Kyrie umarmte Liana weiterhin, wobei diese fragte: „Dürfen wir einmal dein Zimmer anschauen? Ich bin neugierig!“ Sie strahlte. Und als Kyrie ein zustimmendes Nicken gab, vervielfachte sich das Strahlen. „Ja!“, rief sie, „Danke!“ Und schon düste sie die Treppen nach oben.

Deliora ging ihr langsam hinterher, hinter ihm Joshua. Nathan wartete auf Kyrie, welche das Schlusslicht bildete.

„Wohin?“, erklang Lianas fragende Stimme.

Kyrie kicherte. „Ich bin schon unterwegs.“ Sie stiegen die Treppe nach oben.

Für Nathan war es ja nichts Neues – er kannte ihr Zimmer.

„Sie freuen sich alle schon gewaltig auf den Kuchen“, erklärte Nathan, „Haben schon die ganze Zeit davon geschwärmt.“

„Dann wird es euch hoffentlich freuen, dass meine Mutter schon welchen gekauft hat!“ Sie lächelte. „Und dass der Kartenvorverkauf für die Sieben Sünden erst am Anfang des nächsten Jahres startet.“

„Oh, hast du endlich einmal voraus gedacht?“, neckte Nathan sie, „Danke!“

Sie warf ihm einen entrüsteten Blick zu und ging dann zu ihrem Zimmer, wo sie auch die Tür öffnete. „Bitte einzeln eintreten!“

Nathan wollte als letzter eintreten, doch plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um – John.

„Kann ich kurz mit dir reden?“, wollte der Mann wissen.

Nathan schaute zur Tür, aber alle waren bereits im Zimmer. Es würde schon nicht lange dauern. „Klar“, meinte er und ging mit ihm wieder nach unten.

Bis in die Küche, wo sie Platz nahmen, herrschte Schweigen.

Nathan bemerkte, dass Magdalena gar nicht mehr da war. „Wo ist denn deine Frau?“

„Im Garten“, beantwortete er die Frage, „Sie kümmert sich um den letzten Rest der Blumen.“

Er nickte. „Ihr habt auch immer einen schönen Garten gehabt.“

„Danke.“ John lächelte. Sein Lächeln erinnerte ihn irgendwie an Kyrie – es war gutherzig.

„Worum geht es?“, informierte sich Nathan.

„Um Kyrie.“ Ihr Vater senkte die Stimme. „Ich glaube, dass sie auf der Erde nicht glücklich sein kann.“

Nathan runzelte die Stirn. „Ach ja?“

„Sie schaut immer in den Himmel und wirkt dabei traurig. In letzter Zeit ist sie so verschlossen – ich denke, dass sie hier unten Angst hat“, erklärte John seine Vermutung, „Und im Himmel hat sie Freunde.“ Er verschränkte die Arme. „Dort kann sie bestimmt auch auf eigenen Beinen stehen.“

Er nickte langsam, um eine Reaktion auf die Worte zu zeigen. Aber er hatte ehrlich keinen Plan, was er darauf antworten sollte. John hatte einfach ein komplett falsches Bild! Und er wusste ja nicht einmal, dass Halbengel nur vierundzwanzig Stunden im Himmel bleiben konnten! Hatte Kyrie ihren Eltern überhaupt irgendetwas erzählt? Ein paar Sachen durfte sie nicht sagen, da war es klar, dass sie es geheim hielt, aber … so etwas? Und warum kam er damit zu ihm? Er war zwar ihr alter Kumpel, er war ihr Lehrmeister, er war immer für sie da – aber … das konnte er doch nicht für sie entscheiden!

Sie auf eigenen Beinen stehen zu lassen? Was John da gerade tat, war wohl das Gegenteil davon.

„Rede bitte mit ihr darüber“, bat John ihn mit Flehen im Blick, „Nur so kann sie davon überzeugt werden. Sie soll nicht in Angst leben.“

Betroffenes Schweigen machte sich breit. Und Nathan wusste noch immer nicht, was er antworten sollte. Kyrie würde ihm nichts vom Übergriff der Halbengelhasser erzählen wollen, um seinen Glauben nicht zu beeinträchtigen. Und er selbst hatte nicht vor, das ihrer statt zu tun. Er wollte sich gar nicht in ihr Leben einmischen.

„Rede du mit ihr“, riet Nathan ihm, „Sie wird dir ihre Gefühle offenbaren, wenn es an der Zeit ist. Ich habe nicht die Zeit, mich auf diese Weise mit ihr zu beschäftigen.“ Hoffentlich klang das jetzt nicht zu abweisend – aber … Es musste sein. Er war nicht ihr Lebensberater. Er war nicht ihr Pfarrer. Der Pfarrer saß vor ihm.

„Aber danke, dass du mir zugehört hast“, meinte John sichtlich unglücklich. Er seufzte. „Hoffentlich findet sie den richtigen Weg …“

„Lass sie nur“, gab Nathan ihm den letzten Tipp, „Sie weiß, was sie tut. Sie ist mutiger und robuster, als sie aussieht.“ Er grinste, als er sich erhob. Die anderen würden sich noch Sorgen machen, wenn er nicht bald aufkreuzte. „Lass sie auf eigenen Beinen stehen.“

„Bist du dir sicher?“, fragte der Mann noch ein letztes Mal nach.

Nathan nickte. „So sicher, wie ein Engel nur sein kann!“

John hatte sich Nathans Tipp zu Herzen genommen – er hatte Kyrie nicht angesprochen. Aber eigentlich eher unfreiwillig. Seine Tochter entfernte sich von ihm. Früh morgens war sie manchmal nicht anwesend, weil sie noch im Himmel war, andere Male war sie zu müde, um ein ordentliches Gespräch zu führen – ihr Gesichtsausdruck verriet ihm da immer, vorsichtig zu sein. Das hatte sie dann wohl von seiner Frau geerbt.

Nachdem sie sie bei der Universität abholten, war Ray dabei – und vor ihm konnte er dieses Thema nicht anschneiden. Und bis Ray gegen Abend ging, blieb das auch so. Kyrie brachte Ray wieder nach draußen und eilte daraufhin tagtäglich in ihr Zimmer zurück, weil sie wusste, dass alsbald Nathan auftauchen würde. Und wenn sie diese Hektik ausstrahlte, wollte er sie ebenso nicht stören.

Und wenn sie in der Nacht zurückkehrte, während John noch wach war, und er sich nach dem Himmel erkundigen wollte, folgte täglich dieselbe Antwort: „Der Himmel ist toll. Gute Nacht.“ Und daraufhin verschwand sie wieder in ihrem Zimmer und Nathan verabschiedete sich bereits an der Tür, ohne sich weiter bei ihnen bemerkbar zu machen.

Sah es so aus, wenn man seine Tochter auf eigenen Beinen stehen ließ? Dass sie an einem vorbei lebte? Dass man kaum mehr Zeit mit ihr verbrachte? Dass sie kaum mehr mit einem sprach? Als sie von Mirabelle zurückgekommen war, hatte sie sie begrüßt, ihnen bestätigt, dass es der alten Frau gut ging und dass sie zurückgeflogen waren unter dem Wolkenhimmel. Das war alles, mehr nicht. Magdalena hatte danach gefragt, wie man von dort oben sah, ob alles wunderschön wäre. Ob man sich fühlte, wie im Traum. … Kyrie hatte nur gelächelt und genickt. Sie hatte ihnen keine weitere Erklärung gegeben.

Und danach hatte es kaum mehr Zeiten gegeben, in denen sie miteinander sprechen hatten können. Damals beim gemeinsamen Essen an Magdalenas Geburtstag hatte sie den Kopf geschüttelt und sie daran erinnert, dass das ein Geheimnis bleiben solle und man es darum nicht in der Öffentlichkeit besprach.

Danach hatten sie nicht mehr gefragt.

Wenn Nathan Recht hatte, würde sie irgendwann anfangen, ihnen ihre Gedanken und Gefühle wieder mitzuteilen. Irgendwann würde sie sich daran erinnern, dass sie sie brauchte – dass sie ihnen alles sagen konnte, was sie wollte! Sie brauchte keine Geheimnisse zu haben. Sie waren ihre Eltern – sie wollten alles über sie wissen. Sie unterstützten sie doch nur!

Kyrie saß am Beifahrersitz, nachdem sie Magdalena hatten aussteigen lassen. Heute war die Sonntagsmesse ausnahmsweise im Südblock angesetzt, weil im Westblock die Tür kaputt gegangen war und es deshalb unangenehm zog. Das Schlimmste daran war, dass der Winter angekommen war. Hoffentlich würde es nicht schneien. Dann war das Autofahren umso ungemütlicher. Sie mussten sogar im Auto noch ihre Mäntel und Mützen tragen, um nicht zu frieren.

Jetzt waren sie alleine. Es war fast acht Uhr morgens. Und keiner sagte ein Wort. Wäre es da nicht gut, mit ihr darüber zu reden? Oder sollte er lieber Schweigen bewahren?

„Kyrie?“, sprach er sie an. Er widmete ihr einen kurzen Blick. Sie schaute zu ihm, wirkte aber müde. Er hatte sich entschieden: Er wollte ihr klarmachen, dass sie ihm vertrauen konnte. Er war immerhin ihr Vater!

„Ja?“, antwortete sie ruhig.

„Ich hoffe, dass du weißt …“, begann er langsam, „… dass du mir vertrauen kannst. Dass du vor mir keine Geheimnisse zu haben brauchst.“ Er hielt kurz inne, in der Hoffnung, eine Antwort zu erhalten. Als diese ausgeblieben war, fuhr er fort: „Du kannst mir vertrauen. In jeder Hinsicht deines Lebens.“

„Verhalte ich mich so seltsam?“, wollte sie leise von ihm wissen.

„Anders“, entgegnete er lächelnd, „Du verhältst dich anders als früher.“

„Und das ist schlecht“, schlussfolgerte sie sachlich.

„Nicht unbedingt schlecht“, sagte er schnell, „Nur … nicht du.“

Er spürte ihren Blick auf sich, doch der Verkehr bannte seine Aufmerksamkeit. Er konnte doch keinen Unfall riskieren!

„Nicht … ich?“, wiederholte sie überrascht.

„Also – egal worum es geht. Rede mit mir“, schlug er ihr vor.

„Ich … habe nichts zu verbergen …“, erklärte sie kleinlaut. Auch wenn ihre Stimme vor Unsicherheit nur so strotzte. Sie log.

„Du brauchst keine Rücksicht auf mich zu nehmen“, wies er sie an, „Ich bin dein Vater. Ich bin glücklich, wenn du glücklich bist.“ Jetzt fühlte er sich stark. Er konnte mit ihr darüber reden! „Wenn du also für immer in Gottes Reich bleiben möchtest, tu das. Deine Mutter und ich wären stolz!“

Sie sog stark und hörbar die Luft ein. „Das würde …“, begann sie kaum hörbar, „Das würde …“ Sie brach ab.

Jetzt wagte er doch einen Blick zu ihr, sie schüttelte ungläubig den Kopf.

Also wollte sie das gar nicht? Hatte er ihr Verhalten falsch gedeutet? Oder … war ihr dieser Ray im Weg?

„Würde dir das nicht gefallen, für lange Zeit im Himmel zu sein?“, fragte er gerade heraus.

„Ja“, sagte sie sehr schnell, „Ja, das ist es! Ich will nicht. Der Himmel ist wunderschön und toll, aber … ich kann doch mein Studium nicht einfach abbrechen und euch alleine lassen oder Ray …“

Also wirklich Ray. Für ihn würde sie also auf der Erde bleiben.

John unterdrückte ein Seufzen. „Ich will dich nicht unglücklich sehen“, meinte er.

„Mach dir keine Sorgen“, bat sie ihn, „Ich weiß, was ich tue.“
 


 

Ray schaute sich die Gestalten an, die im Bahnhof hin und her liefen. Sie alle waren eingepackt, als hätten sie mit einem Schneesturm zu kämpfen, dabei waren nur die Grade gefallen. Diese Stadtbewohner waren auch verwöhnt. Alle trugen irgendwelche Mützen und Schals und hatten sogar schon sichtlich gefütterte Stiefel an den Füßen.

Er selbst lief noch mit seinen normalen Schuhen herum, ohne Schal, ohne Kappe – nur eine wärmere Jacke hatte er sich angelegt, um nicht ganz aus der Reihe zu tanzen. Aber von Kälte konnte wirklich noch nicht die Rede sein.

Wie viele andere wartete er am Gleis. Wenn er in diesen Zug einsteigen würde, würde der Schaffner ihn hochkantig wieder hinauswerfen, weil er kein Ticket hatte. Aber wenn er eines hätte, brächte er ihn direkt ins Rote Dorf. Direkt zu seiner Mutter.

Wenn er aber hier wartete, dann würde ihm seine blonde Freundin in die Arme laufen. Dann würde er sie nach all der langen Zeit endlich wieder sehen – sechs Monate waren sie voneinander getrennt gewesen.

Er holte sein Handy hervor. Noch keine Nachricht. Aber er rief diejenige von gestern Nacht auf: „Ich bin jetzt im Zug“, schrieb sie, „Es kann sich nur noch um Stunden handeln.“

Der Zug fuhr einfach den ganzen lieben langen Tag durch die Gegend – seit er in Betrieb genommen wurde, war er noch nie ausgefallen. Einmal am Tag kehrte er ein und leerte diejenigen ab, die aussteigen wollten, und sackte die anderen ein, die verreisen wollten. Und den meisten sah man ihren Vermögensstand gleich an. Sein Vater hätte es sich auch leisten können, ihre Mutter öfter zu besuchen. Aber er hatte es nicht getan.

Ein Klingeln ertönte. Das bedeutete, dass der Zug bald ankommen würde. Als er dieses Klingeln zum ersten Mal gehört hatte, waren sein Vater und Kim am Gleis gestanden. Hatten Ausschau nach ihm gehalten. Wenn er nicht diese gewisse Ähnlichkeit mit seinem Vater gehabt hätte, hätte dieser ihn vermutlich überhaupt nicht erkannt. Das passiert wohl einfach, wenn man sein Kind fast fünfzehn Jahre lang nicht sah. Und diese gespielte Freundlichkeit damals – diese falsche Freude. Auf die konnte er verzichten.

Und das tat er mittlerweile gekonnt. Seit gut zwei Wochen lagen jeden Tag Zettel vor seinem Zimmer, in denen mit Kims Handschrift „Radiant und ich müssen mit dir reden“ stand. Seit gut zwei Wochen hob er den Zettel auf und warf ihn in den Mülleimer. Er brauchte mit ihr nicht zu reden. Und mit seinem Vater schon gar nicht. Und durch Kyries Hilfe war er ihnen auch nie begegnet – denn seine Tür war immer abgeschlossen und gut genug isoliert, um nichts zu verstehen. Und wenn seine Musik nebenbei lief, dann hatten sie keine Chance, ihn zu erreichen. Er verbarrikadierte sich – und das brauchte man auch, wenn man mit solchen Leuten unter einem Dach leben musste.

Blondes Haar riss ihn aus seinen Gedanken. Blaue Augen, die darunter hervorlugten durchdrangen ihn erwartungsvoll. Der Zopf, der vor Jahren zu ihrem Markenzeichen geworden war, hing noch immer gerade nach unten – und war um einiges länger, als der Rest ihrer eher kurzen Haare. Insgesamt wirkte sie … besonders.

Und das Lächeln, das ihre Lippen zierte, freute ihn besonders. Ihre Arme waren ausgestreckt.

Ehe er es bemerkte, umarmte er sie lächelnd und sie ihn – und das war kein besonderes Kunststück, da Kylie für ein Mädchen besonders groß war. Nur ein wenig kleiner als er.

„Hey“, begrüßte er sie ruhig, „Ich habe dich vermisst!“

„Das hast du doch schon einunddreißig Mal geschrieben.“ Sie drückte ihn. „Ich dich doch auch!“, meinte sie, „Wie ich dir einunddreißig Mal klar gemacht habe.“

„Jetzt habe ich es aber gesagt“, entgegnete er und drückte sie ein wenig weg. „Jetzt lass dich einmal anschauen.“ Er musterte sie. Sie trug eine lange, schwarze Hose, kurze Stiefel und eine Jacke. Die Kleidung erinnerte ihn an sich selbst, als er hierher gekommen war – bloß, dass es bei ihm wirklich Hochsommer war, bei ihr hingegen so gut wie Winter.

„Ich schaue immer noch gleich gut aus“, erklärte sie ihm, „Du hingegen wirkst ein bisschen bummlig. Bekommst du zu viel zu essen?“

„Nein“, beantwortete er die Frage, „Aber es kann nicht jeder so fettfrei kochen wie du.“

Sie nickte zufrieden. „Genau das, was ich hören wollte!“ Sie grinste, wodurch ihre strahlend weißen Zähne zum Vorschein kamen und im Kontrast zu ihrem Gesicht standen, das, genauso wie bei ihm, von der winterlichen Sonne gebraten war.

Dann hob sie ihre Hand an den Koffer und befahl voller Begeisterung: „Los, Ray. Zum Auto!“

„Um diese Uhrzeit müssen Menschen für gewöhnlich arbeiten“, meinte er daraufhin amüsiert, „Ich habe kein Auto zur Verfügung.“

Jetzt wirkte sie enttäuscht. Ein Seufzen verlieh ihrer Betrübtheit Ausdruck. „Also … zu Fuß?“

Er nickte grinsend. „Sind nur drei Blöcke.“

Ihre Enttäuschung verflog auf der Stelle und sie wirkte plötzlich motiviert. „Na dann, los geht es!“ Sie marschierte los.

Er lachte in sich hinein. Südblock, Westblock, Nordblock. Sie hätte in Geographie besser aufpassen sollen.

Er ging ihr hinterher, ohne sie über ihr fehlerhaftes Denken aufzuklären. Das würde sie schon früh genug merken – und das Meckern würde sowieso am Ende der Straße schon losgehen.

„Soll ich den Koffer nehmen?“, bot er ihr freundlich an, als er neben ihr her schritt.

Sie musterte ihn scharf. „Sehe ich so schwach aus?“ In dem Moment reichte sie ihm den Koffer. „Aber wenn du schon so fragst! Danke!“

Er nahm ihn entgegen und zog ihn hinter sich her. Zum Glück hatte er Rollen. Aber er war dennoch schwer. Zu schwer. Klar, sie blieb eine Woche, aber … „Was hast du da eigentlich drinnen?“ Er zog weiter. „Steine?“

Sie kicherte hinterlistig. „Vielleicht!“ In dem Moment griff sie zum Koffer und sie zogen ihn gemeinsam. „So besser?“

Er nickte. „Viel!“ Dann lachte er. „Mann, ich habe dich vermisst. Du glaubst echt nicht wie sehr.“

„Ja …“, stimmte sie verträumt zu, „Dir muss in deinem Leben echt ein ganzes Maß and Coolness und Brillanz abgegangen sein!“

Als er zu ihr schaute, zierte ein freundliches Grinsen ihr Gesicht. „Verfolgst du immernoch die Vermeidungsstrategie, du kleiner Angsthase?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe ja sowieso keine Wahl. Ich will sie nicht in meinem Leben haben.“ Seine Stimme verbarg jegliche Emotion.

„Ich will dir da ja nicht reinreden“, antwortete Kylie unbesonnen, „Aber deine Mutter macht sich schon ziemliche Sorgen, dass du vereinsamst.“

Er nickte. Das war typisch für sie. Immer besorgt um andere – ob sie im Sterben lag oder nicht. „Ich weiß das zu schätzen, aber ich bin nicht- …“

„… einsam“, unterbrach Kylie, um seinen Satz zu beenden. Plötzlich blieb sie stehen, ließ den Koffer los und faltete ihre Hände, als ob sie beten wollte. Dann fuhr sie mit verstellter Stimme fort: „Ich habe da dieses nette Mauerblümchen kennen gelernt, um das ich mich jetzt kümmern kann!“ Äffte sie ihn mal wieder nach?

„Das Mauerblümchen hat auch einen Namen“, wies er sie unbeeindruckt hin.

Sie machte voller Inbrunst weiter: „Kyrie Kingston, die Theologiestudentin, zwanzig Jahre alt, ihre Haare sind so schwarz wie Ebenholz, ihre Augen so dunkel, wie zwei tiefe Erdlöcher und insgesamt ist sie sehr schwer zu durchforsten!“ Plötzlich wechselte sie ihren Tonfall wieder – sie klang wieder wie immer: „Ihr edler Vater holt sie jeden Tag mit dem Auto ab und mittlerweile esst ihr auch zusammen!“ Sie stieß ihn an. Dann nahm sie den Koffer wieder und stellte sich an den Straßenrand. Er eilte ihr hinterher, um den Koffer wieder mit ihr zu teilen.

„Hör auf damit“, schalt er sie, „Das ist unhöflich.“ Er sah sie an.

Sie grinste keck zurück und starrte dann wieder auf die Straße, um weiterzumachen, ohne ihn anzusehen: „Das kleine Autochen und der gutmütige Pfarrer und die Hobbygärtnerin! Eine tolle Familie! Du wirst sie lieben, Kylie.“

„Hey, das ist …“, wollte er sie gerade zum Schweigen bringen, aber sie hob ihre Hand an seinen Mund und meinte bestimmt: „Sind die drei Blocks nicht schon seit zwei Blocks vorbei?“

Er lächelte voller Genugtuung. „Ich meinte Stadtblocks.“

Sie zog eine Grimasse des Unglaubens. „Was? Du hast … mich ausgetrickst?“ Sie verschränkte beleidigt die Arme. „Jetzt kannst du dir den selbst tragen!“

„Das ist deiner“, erinnerte er sie trocken.

„Das weiß ich“, meinte sie ungehalten, „Und darum trägst du ihn.“

Er lachte laut los und nahm den Koffer, während sie die Straße überquerten.

„Wenn du so lachst, hält man dich für verrückt“, wies sie ihn hin.

Er schüttelte den Kopf. „Die Anwesenheit einer Verrückten steckt einfach an!“

Sie grinste. „Idiot.“

Das war es, was er all die Zeit vermisst hatte. Ihre spontanen Antworten, diese bemerkenswerte Idiotie, die sie an den Tag legte – diese inhaltsleeren Gespräche ohne Sinn und Zweck, die sie einfach führten, weil sie Freunde waren. Das gemeinsame Lachen. Das Veralbern. Die Art, wie sie einfach jede Nachricht, die er ihr je geschickt hatte, zitieren konnte … Das Mädchen konnte sich einfach alles merken!

Kyrie hatte zwar sehr viel decken können, was er vermisst hatte, aber … Sie war nicht Kylie. Kylie hatte eine andere Ausstrahlung. Sie ähnelten sich, aber sie waren nicht gleich. Und genau deshalb … hätte er für Kylie nie das fühlen können, was er für Kyrie empfand.
 

Die Enttäuschung, die von ihren Eltern ausging, hatte sie schon eine ganze Weile lang bemerkt. Aber was sollte sie tun? Lügen? Nicht lügen? Die Wahrheit sagen? Sie noch weiter enttäuschen? Sogar zerbrechen? Das durfte sie ihnen nicht antun! Niemals! Sie hätte es besser verstecken sollen – sie hätte besser lügen müssen … Aber … sie wollte nicht lügen. Sie wollte ehrlich sein. Sie wollte friedlich sein. Und stattdessen kämpfte sie mit einer Waffe gegen einen Feind, den sie nie besiegen konnte. Hätte sie das Waffentraining nicht absolviert, um gegen ihre Angst anzukommen, im Himmel alleine zu sein? Doch nützen tat es nichts. Ihre Angst saß tief. Tief in ihren Knochen, nicht bereit, besiegt zu werden. Sie war zu stark. Und alles war ihr genommen worden, das früher ihre Ängste besiegt hatte. Früher, als sie ein Kind war, war sie immer zu ihren Eltern gelaufen, wenn sie einen Alptraum gehabt hatte. Und diese hatten sie immer damit beruhigt, dass Gott sie vor Alpträumen schützte – sie musste nur genug an ihn glauben.

Jetzt kämpfte sie mit einer Waffe, die ihr Engelsdasein ihr anbot. Und jeden Tag steckte sie sämtliche Kraft und Konzentration in diesen Kampf. Und immer lobte Nathan sie, wie gut sie doch sei … Und immer fühlte sie sich geschmeichelt, versuchte die Hoffnung in sich aufzubauen, wirklich nicht ganz so schlecht zu sein … Und dann drehte Nathan ihr kurz den Rücken zu … Und die Panik ergriff sie wieder. Wieder und wieder wiederholte sich dieses Schauspiel. Wenn Xenon in diesen Moment kam – wenn Jeff oder Drake oder Milli kamen … Wenn Nathan nicht schnell genug war? Nicht stark genug war? Wie sollte sie sich alleine verteidigen?

Sie müsste ihr Schwert rufen. Im Himmel wäre es ganz einfach, da hatte sie ihre Flügel schon ausgestreckt – auf der Erde müsste sie erst noch ihre Flügel ausfahren, doch das erschwerte das Kunststück auch nicht wirklich. Mit Nathan vor ihren Augen und mit voller Konzentration nach einem schönen Tag mit Ray. Da war es ganz einfach diese Waffe zu rufen und sich einzureden, dass es etwas brachte. Aber im Endeffekt … würde sie einfach versteinern, sobald Nathan nicht da war. Sie würde warten, bis sie exekutiert wurde. Sie würde hoffen, dass es schnell vorbei war. Sie war kein mutiger, heldenhafter Engel, der sein Schwert der Gerechtigkeit schwang. Sie war ein kleiner, mickriger Halbengel, mit dem Gewissen eines Dämons. Einer von denen, der ständig log, andere vor schickte und sich feige versteckte. Einer von denen, der vorgab, glücklich und zufrieden zu sein … und sich damit selbst belog …

Sie starrte auf die Malereien in der Kirche. Wunderschön. All diese Flügel, die sie umgaben, die freundlichen, gutmütigen Gesichter, die ihr entgegen lächelten … Sie waren einfach gelogen. Ihr Leben war eine Lüge. Das hatte ihr Vater ihr heute Morgen klar gemacht.

Wie er dort vorne stand und seinen Glauben, seine Geschichten Kund tat, ohne zu ahnen, wie falsch sie doch waren. Wie er keine Ahnung hatte, dass Dämonen sich in der Gegend befanden, dass es eine Antigöttin gegeben hatte und dass Gott keine Zeit hatte, sich um jeden Einzelnen zu kümmern. Dass er nicht einmal Zeit hatte … diejenigen zu bestrafen, die bestraft werden sollten … Und Sin tat es auch nicht. Und den Todsünden war es auch egal. Und die darunter hatten nicht genug Macht, Zeit oder Lust, sich darum zu kümmern … Jeder Engel war auf sich selbst und seine Freunde angewiesen. Aber was … wenn diese Freunde weder Macht, Zeit noch Lust hatten, sich um einen zu kümmern? Wenn man ganz alleine war … War das dann der Moment, in dem es einen egal wäre, wenn man getötet würde?

„Und aus unserer tiefsten Not wird er uns befreien“, predigte John mit lauter, fester und bestimmter Stimme, aus der man seine Überzeugung nur so heraushörte, „und uns zurück auf den Pfad des Lichtes führen.“

Auf den Pfad des Lichtes … Das war der ehrliche Weg, den sie wählen wollte, den sie aber durch den Himmel und allen voran Xenons Leute nicht mehr beschreiten konnte. Von dem sie Ray niemals erzählen konnte … Wegen dem sie auch ihn anlog … Doch konnte sie etwas für diese Lügen? Natürlich hätte sie durchaus die Möglichkeit, ihr Geheimnis in die Welt zu posaunen – doch Nathan hatte Recht. Je weniger die Menschen von der Wahrheit wussten, desto eher blieb der Frieden gewahrt.

Sie seufzte. Wenn sie doch nur weiter wüsste … Sie belastete Nathan mit ihrem Training. Mehr als ihr alles zu zeigen, was er wusste, konnte er auch nicht tun! Mittlerweile hatte er ihr gefühlte hundert verschiedene Kampftechniken beigebracht, ihre Abwehr verschärft und ihre Rufgeschwindigkeit des Schwertes zu einer Bestzeit entwickelt … Und trotzdem schaffte er es nicht, ihre Angst zu stillen. Sie schaffte es nicht ihre Angst zu bezwingen – warum erwartete sie das dann von ihm?

„Seien Sie unbesorgt“, meinte plötzlich eine Stimme neben ihr, „Egal wie dunkel der Weg auch erscheinen mag – irgendwann geht er immer aufs Licht zu.“ Sie starrte in Rays gealtertes Gesicht. Nein … nicht Ray … Radiant. Das war Rays Vater. War er extra hierher gekommen?

Sie nickte. „Ja … Danke!“ … Irgendwann ging der Weg aufs Licht zu? Jeden Tag führte ihr Weg ins Licht des Himmels. Aber dieses Licht war nicht mehr erstrebenswert für sie. Es war zu dunkel. Sie … wollte zu ihrem neuen Licht … Zu Ray. Und der würde sich im Laufe der Woche melden. Das hatte er ihr versprochen – er würde ihr Bescheid geben, wenn er mit Kylie vorbei kommen würde.

Sie hatte ihm vorenthalten, dass sie ihn diese ganze Woche lang sehr vermissen würde. Es würde ungewohnt sein, wieder alleine auf der Mauer zu sitzen. Immerhin wäre das seit vier Monaten das erste Mal, dass sie wieder alleine war.

Radiant lächelte sie an, wandte sich dann aber wieder ihrem Vater zu.

… Radiant Sonicson … Er war ein guter Mann. Ray konnte das unmöglich ignorieren. Aber er wollte es nicht wahr haben. … Wie sie es Maria versprochen hatte – sie würde ihn irgendwann überzeugen. Aber zuerst … musste sie sich selbst davon überzeugen, dass Ray nicht im Recht war.

Als sie bei ihm zuhause ankamen, war niemand zu Hause. Na ja, es war ja noch immer sehr früh – und Kim und sein Vater waren in der Kirche. Hoffentlich blieben sie lange weg.

… Plötzlich fiel ihm etwas ein.

„Oh“, ließ er verlauten, als er den Schlüssel in die Tür steckte.

Kylie hatte den riesigen Garten bestaunt, jetzt wandte sie sich zu ihm um. „Oh?“, wiederholte sie verwirrt.

„Irgendwie habe ich aufgeschoben, sie auf deine Ankunft vorzubereiten“, bemerkte er gerade, „Ich habe es immer auf den nächsten Tag verschoben“, erklärte er nachdenklich, „Und irgendwie habe ich das auch gestern gemacht.“

„Und du willst drei Studien abschließen?“, beschwerte sie sich, wobei sie die Arme ungehalten verschränkte und laut seufzte, „Du kannst ja von Glück sprechen, wenn du die Uni als Hausmeister abschließt!“

„Es macht nichts“, beruhigte er sie sogleich, wobei er die Tür aufstieß und mit dem Koffer hinein ging, „Wir werden sie nicht sehen, sie werden uns nicht sehen und alle werden glücklich sein.“

Sie blieb in der Tür stehen. „Ich würde deinen Vater aber gerne kennenlernen.“

Er gefror auf der Stelle. … Was? Langsam drehte er sich zu ihr um und starrte sie überrascht an.

Sie stand in der Tür, das Licht des Himmels strahlte sie von hinten an, was ihre Vorderseite in Schatten hüllte. Er konnte ihr Gesicht nicht so genau erkennen, aber er war sich sicher, dass sie herumalbern musste. Warum würde sie seinen Vater kennenlernen wollen?

Sie bewegte sich und stellte sich neben ihn, wobei sie ihm eine Hand auf die Schulter legte und anklagend anschaute. „Der arme Mann hat keine Ahnung, wie es seiner Frau geht – und du kümmerst dich nicht um ihn.“ Dann nahm sie ihren Koffer. „Und wo ist jetzt mein Zimmer?“ Ihr kompletter Tonfall hatte sich geändert und sie schaute sich neugierig um. „Ihr habt es aber groß hier. Wirklich, toll.“ Sie ging weiter und schaute in einen Raum. „Huh, an die Größe könnte ich mich gewöhnen!“

Meinte sie das ernst? Wollte sie wirklich … mit seinem Vater über seine Mutter sprechen? … Sie kannte ihre Mutter vermutlich am besten von allen. … Was würde sie ihm sagen?

„Warum willst du mit ihm- …“, begann er leise, beinahe traumatisiert. Warum nahm ihn dieser Fakt so mit? Er wurde von einem erstaunten: „Oh, da liegt ja jemand“, ihrerseits unterbrochen.

Langsam und verwirrt schritt er auf sie zu. Sie stand vor dem Wohnzimmer. Er spähte durch die Tür, die halb geöffnet war. Auf dem großen Sofa lag Kim. Sie schlief. Warum war sie denn nicht in der Kirche? War ihr Vater alleine gegangen?

„Wir gehen lieber“, flüsterte er Kylie zu, „Sonst sieht sie uns womöglich noch.“

„Ist das Radiants Freundin?“, wollte diese hingegen wissen.

Er packte sie am Arm und wollte sie mit sich zerren, doch sie hielt sich mit außerordentlicher Kraft am Türrahmen fest und begutachtete die schlafende Frau.

„Echt hübsch“, kommentierte sie, „… Hey …“ Sie starrte auf etwas.

Ray kümmerte das nicht, er wollte bloß nicht, dass Kim geweckt wurde. Sonst würde sie womöglich jetzt noch mit ihm sprechen. Was auch immer sie ihm sagen wollte.

„… Hey, kann es sein …“ Kylie wandte sich ihm zu. Sie wirkte irgendwie anklagend.

„Was?“, fragte er ungehalten. Konnte sie nicht einfach mit hoch gehen und dann draußen weiterreden, wo sie Kim nicht wecken konnte? Wo sie sich einfach weiterhin ignoriert fühlen konnte?

Hinter ihm klackte das Schloss und die Tür sprang auf. Er wandte sich der Person zu, die dort stand – sein Vater.

„Toll gemacht“, murrte er an Kylie gerichtet, die aber immernoch zu ernst wirkte.

„Radiant …?“, ertönte Kims ruhige Stimme, „Huh? Wer bist du?“ Jetzt hatte sie wohl Kylie erblickt.

„Wer ist das?“, wollte Radiant überrascht wissen, als er wohl ebenfalls Kylie erblickte.

„Niemand und wir gehen jetzt“, fuhr er dazwischen und probierte weiterhin, seine Freundin von der Tür wegzubringen.

„Warum hast du mir nie erzählt, dass sie ein Baby erwartet?“, forderte Kylie beleidigt zu erfahren, „So etwas sagt man seinen Freunden!“

„Wer erwartet bitte ein Baby?“, gab Ray verwirrt – und leicht gereizt – zurück. So lange hatte er es geschafft, sie alle zu ignorieren!

„Kim“, beantwortete sein Vater die Frage.

Schockiert starrte Ray ihn an. „Ernsthaft?“

Als Kim plötzlich an Kylie vorbeiging und ihr Bauch plötzlich die Form einer großen Blase hatte, schenkte Ray der Erzählung Glauben. Kim … Kim erwartete ein Kind? … Aber … Warum … Wie? … Irgendetwas in ihm verkrampfte sich. Er fühlte sich hintergangen – betrogen.

„Wir versuchen dir das schon seit einem guten Monat zu sagen“, erklärte Radiant sachlich, „Aber du ignorierst uns.“

Er wusste nicht, was er antworten sollte. Er starrte einfach auf den gewölbten Bauch der ansonsten so schlanken Frau … und fragte sich, wie er das übersehen hatte können … Das alles … Warum … warum erwartete sie ein Baby?

Kim erreichte Radiant, der die Tür erst jetzt hinter sich schloss, und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, dann umarmte sie ihn.

„Aus diesem Grund werden wir uns vermählen lassen“, fuhr er mit der Geschichte fort, als hätte er Ray nicht schon mit genug Dolchen durchstoßen.

„Und meine Tochter wird diese Woche ebenfalls zu Besuch kommen“, erklärte Kim freundlich, als wollte sie ihm noch einen drauf geben! War das hier eine öffentliche Hinrichtung?!

„Das wird aber voll hier“, gab Kylie dazu. Sie schien reichlich amüsiert über Rays ungläubiges Gesicht. „Wir haben dich alle gewarnt, Ignorant.“

Irgendwie fühlte er sich, als seien alle gegen ihn.

„Liz kommt am Mittwoch an und bleibt eine Weile hier“, erklärte Radiant weiter, „Sie wird im Gästezimmer schlafen.“

„Aber Kylie schläft im Gästezimmer“, entgegnete er perplex.

„Kylie?“ Kim schien verwirrt, dann musterte sie die blonde Frau.

„Ist das deine Freundin?“, informierte sich Radiant verwundert.

„Ich komme aus dem Roten Dorf“, stellte sie sich mit ihrem freundlichsten Lächeln vor. Sie schritt etwas nach vorne und verbeugte sich kurz, „Mein Name ist Kylie Immenson und ich hätte vorgehabt, für eine Woche hier zu bleiben.“ Ein eiskalter Blick traf Ray. „Wie ich bereits seit zwei Monaten ankündige.“

„Du bleibst hier?“, fasste Kim fröhlich zusammen, „Das ist aber nett! Hmm … Aber das Gästezimmer …“

„Ich kann auch beim Sündenbock hier schlafen“, meinte sie locker lässig. Ray wusste genau, wen sie damit meinte. Der Stoß in die Rippen, der daraufhin folgte, wäre gar nicht erst nötig gewesen! „Er schuldet mir ein Bett!“

„Ja, nimm ruhig mein Bett“, bot er ihr an, wobei er nicht freundlich klang, „Ich schlafe am Sofa.“

„Warum hast du nichts gesagt?“, wollte Radiant dann wissen. Zum ersten Mal sah er Emotionen auf dem Gesicht seines Vaters. Er wirkte beinahe … wütend. Zumindest enttäuscht. Ja, es musste echt blöd ausschauen, wenn man zur gleichen Zeit zwei Gäste hatte, von denen die jeweils anderen Hausbewohner nichts wussten. Aber so war es eben.

„Es ist ja alles geklärt, oder?“, gab er ungehalten zurück, „Komm, Kylie, wir gehen.“ Er machte auf der Stelle kehrt und ging wieder auf den Koffer zu, der mitten im Gang stand.

„Habt ihr Hunger? Soll ich euch Frühstück machen?“, bot Kim ihnen an, „Es ist früh – und du bist bestimmt die ganze Nacht gefahren!“ Sie wirkte, als würde sie es erst jetzt realisieren. „Aus dem Roten Dorf?“; wiederholte sie deshalb perplex, „Du solltest dir erst eine Pause gönnen!“

„Wie seid ihr eigentlich hierher gekommen?“, wunderte sich Radiant dann.

„Zu Fuß“, antwortete Kylie wahrheitsgetreu, „Es waren ja nur drei Blöcke.“ Ein wütender Blick durchbohrte ihn.

„Warum hast du nicht gefragt, ob wir sie abholen?“, keifte Radiant Ray an.

Ray wandte sich ungehalten seinem Vater zu und funkelte ihn an. Warum tat er plötzlich so fürsorglich? Sonst war es ihm auch immer egal, wenn er nicht da war, wenn er sich nicht meldete, wenn seine Mutter beinahe starb. Er brauchte hier nicht zu spielen. Kylie kannte ihn doch genauso.

„Ich war sowieso schon im Südblock“, gab er dazu, „Da wäre es nicht einmal umständlich gewesen.“ Radiant musterte dann wieder Kylie. „Ich entschuldige mich für sein Verhalten.“

„Bitte was?“, platzte es aus Ray heraus? Was fiel ihm bitte ein?!

„Ach was!“, sagte Kylie aus, wobei sie abwinkte, „Ich bin an diesen Idioten gewöhnt“, meinte sie locker, „Wenn ich nicht genau das an ihm lieben würde, wäre ich ja gar nicht hier.“

„Ich mache euch Frühstück“, entschied Kim dann eigenständig, wobei sie sich sofort in die Küche begab.

„Danke!“, rief Kylie ihr hinterher, dann entschied sie sich dazu, in die Küche zu gehen, „Soll ich helfen? Ich will keine Unannehmlichkeiten bereiten.“

„Nein, nein“, antwortete Kim aus der Küche heraus, „Bitte, setz dich! Das sind doch keine Umstände! Wir frühstücken jetzt auch erst!“

Kylie verschwand trotzdem in die Küche.

Jetzt stand Ray seinem Vater gegenüber. Der sah noch immer unzufrieden aus. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er schloss ihn wieder. Er schüttelte einfach den Kopf und ging in die Küche. „Ich helfe dir, Schatz.“

Ray starrte auf den Koffer. Den sollte er lieber hoch bringen. Er hatte keine Lust, ein Familienfrühstück zu machen. Er brauchte nicht mit diesen Leuten zu essen. Auch wenn er Kylie auch nicht alleine lassen wollte. Sie war extra für ihn gekommen … Er nahm den Koffer in die Hand. Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

… Und seit wann hatte Kim eine Tochter? … Und warum würde sie noch ein Baby bekommen? Zu allem Überfluss? Sie hatten doch schon mehr als genug Kinder, um die sie sich nicht kümmerten.

Er packte den Koffer und schleppte ihn die Treppen hinauf in sein Zimmer. Dort stellte er ihn ab. Vielleicht sollte er doch mit ihnen essen. Um zu schauen, was sie ihn noch vorenthalten hatten. Eine Schwangerschaft, eine Stiefschwester und eine bevorstehende Hochzeit.

Langsam schlenderte er nach unten. Je länger er brauchte, desto besser.

Als er das Treppenende erreichte, erkannte er, dass Kylie am Türrahmen Ausschau nach ihm hielt.

„Brav“, lobte sie ihn spöttisch.

„Das war gar nicht so einfach“, beschwerte er sich mit einem dezenten Hinweis auf seinen Arm, „Du weißt noch?“

„Hat der Arzt nicht gesagt, du solltest ihn möglichst viel belasten?“ Sie grinste. „Komm jetzt rein, wir essen schon.“

„Haha“, machte er und ging auf die Küche zu. Vor dem Türrahmen blieb er stehen. Er schaute hinein. Am Tisch saßen Kim und Radiant. Kylie wartete auf ihn.

Wollte er wirklich so stark gegen seine Prinzipien verstoßen? Er wollte mit dieser Familie nichts zu tun haben. Das war nicht seine Familie. Seine Familie lebte im Roten Dorf. Und dorthin würde er zurückkehren. Er würde seine Mutter gesund machen.

Plötzlich packte Kylie ihn kräftig an der Hand und zog ihn über die Schwelle.

Er stand in der Küche. Mit den anderen.

„Ich führe dich schon noch dahin, wo du hingehörst“, versprach sie ihm, „Aber du musst mir dabei schon helfen.“ Sie wirkte anklagend. Mit welcher Aufgabe war sie eigentlich hierher gekommen? Irgendwie roch es ziemlich stark nach den Plänen seiner Mutter.

Er ließ sich von ihr zum Tisch führen und auf einen Stuhl drücken. Er saß neben Radiant, gegenüber von Kim.

Beide sahen ihn überrascht an. Kim lächelte freundlich, Radiant wandte sich dem Essen zu.

Kylie setzte sich neben ihn und bedankte sich noch einmal.

… Warum? Warum konnte es nicht einfach seine gewohnten Bahnen laufen? … Er wollte nicht hier sitzen. Er wollte nicht hier sein. Er wollte sich nicht mit ihnen verstehen. Kim … Kim konnte doch jederzeit ausflippen und Radiant verletzen. Radiant hatte seine Mutter im Stich gelassen, hatte sie sogar betrogen … war vor ihr und seiner Verantwortung als Vater geflohen … Warum wollte er dann die Verantwortung über einen erwachsenen Sohn übernehmen? Weil es einfacher war? Weil er ein schlechtes Gewissen hatte? Er würde sich nicht einfach so herum schieben lassen. Radiant bekam keine zweite Chance.

„Dann werde ich für Donnerstag doch eine größere Torte backen müssen“, sinnierte Kim, als Ray ihr seine Aufmerksamkeit schenkte.

Kylie nickte. „Wenn Sie wollen, helfe ich gerne! Ich liebe Backen!“

„Bitte, ich bin Kim, eine einfache Frau“, meinte sie verlegen, „Das Siezen lässt einen immer so alt wirken.“ Sie kicherte und streichelte dabei sanft ihren gerundeten Bauch.

„Was für eine Geschmacksrichtung?“, fragte Kylie – an ihn gewandt.

Er starrte sie verwirrt an. „Was?“

„Kuchen. Geschmacksrichtung. Du.“, wiederholte sie in Kurzform. Dann nahm sie ihre Faust und klopfte sanft gegen seine Stirn. „Hallo? Lebt da noch jemand?“

„Lass das“, maulte er und rieb sich die Stirn empört, „Ich brauche das da oben noch.“

„Wie läuft es beim Studium eigentlich?“, wollte Radiant dann wissen, „Bist du durch das erste Semester gekommen?“

„Klar“, antwortete er knapp.

„Geschmacksrichtung! Sonst wähle ich“, bestimmte Kylie.

Kim kicherte vor sich hin. „Es ist so lebhaft!“

„Warum soll ich wählen?“, wollte er von ihr wissen.

„Hat mal jemand eine Wand? Ich will meinen Kopf dagegen hauen“, murmelte sie plötzlich genervt, „Hallo? Kumpel? Du hast Geburtstag? Geburtstag – Kuchen – klingelt jetzt was?“ Sie verschränkte die Arme. „Und ich habe dich wirklich einmal für klug gehalten.“ Dann seufzte sie. „Aber du bist und bleibst ein Idiot.“

… Stimmt. Er hatte am Donnerstag Geburtstag. … Hey, dann war Kylie ja an seinem Geburtstag da! … Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das war ihre Absicht gewesen. Sie hatte sich wohl deshalb für diese Woche entschieden. Er war schon ganz schön blöd.

Dann starrte er Kim überrascht an. Woher wusste sie denn, wann er Geburtstag hatte – oder warum kümmerte es sie? Er wusste ja nicht einmal, wie sie im Nachnamen hieß. … Sie sollte ihn doch einfach ignorieren! Und was tat er jetzt? Hier. Mit ihr. Am Frühstückstisch sitzen. Er unterdrückte ein Seufzen.

Warum musste Kylie immer alles auf den Kopf stellen?

„Schokolade“, antwortete dann. Kyries Lieblingssorte. Dann konnte er sie auch einladen.
 

Kylie hätte bis Donnerstag im Gästezimmer schlafen können, doch sie hatte entschieden, dass sie sich dann bis Donnerstag schon an Rays Anwesenheit gewöhnen konnte, weshalb sie lieber von Anfang an in seinem Zimmer übernachten wollte. Ihm machte das nichts aus. Es war immerhin Kylie.

Er schlief am Sofa, welches eigentlich immer unbenutzt war, sie durfte sein Bett benutzen. Das Licht war aus, sie waren schlafbereit.

Sie hatten auch einen anstrengenden Tag hinter sich. Das Frühstück war zum Glück schnell vorüber gewesen, die Gespräche mit ihm waren zum Erliegen gekommen – das war schön. Er hatte einfach den anderen beiden dabei zugehört, wie sie Kylie ausgequetscht hatten. Irgendwann hatten sie erfahren, dass sie Krankenschwester war und seine Mutter pflegte. Sein Vater war davon sehr überrascht – und natürlich hatte Ray die vorwurfsvollen Blicke auf sich ruhen gespürt, weil er nie etwas davon gesagt hatte, dass er mit der Pflegerin befreundet war.

Aber er würde es nicht ändern, wenn er es könnte.

Sie erzählte ihnen bereitwillig etwas über den Zustand seiner Mutter – dabei fielen Details, die sie ihm immer vorenthalten hatte. Sie konnte ganze Gesprächsblöcke zitieren – Kim und Radiant dachten vermutlich, es seien eigene Zusammenfassungen. Aber Ray war sich ziemlich sicher, dass die Gespräche genauso abgelaufen waren. Sie hatte einfach ein Superhirn, das sich alles merken konnte. Er war der Beweis – er hatte in der Schule den ganzen Tag mit ihr verbracht, sie hatte niemals auch nur ein Buch aufgeschlagen, aber immer alle Antworten gewusst. Immer genau das aufgeschrieben, was der Lehrer gesagt hatte. Sie war ein Genie. Und dennoch hatte sie sich gegen ein Studium entschieden.

Er schaute in die Dunkelheit, an die Stelle, an der sie liegen sollte.

„Wenn ich es höre, kann ich es“, murmelte er vor sich hin, „Also ich muss etwas können, um zu lernen!“

„Letzte Klasse, vorletzter Schultag, Pause nach der vierten Stunde“, erklang es von ihrer Seite, „Du hast dich darüber gewundert, dass ich nicht auf die Universität gehe.“ Sie schwieg für einen Moment. „Und es ging anders.“

„Ach ja?“ Er lächelte. Das machte sie immer. „Angeberin.“

„Gut, dann sage ich es eben nicht.“ Jetzt hatte er sie schon wieder genervt.

Das hatte er den ganzen Tag über ziemlich oft geschafft. Nach dem Frühstück hatten sie begonnen, die Stadt zu erkunden. Sie hatten mit dem Nordblock angefangen, weil der der nächste war. Und nachdem sie schon durch die ganze Stadt gelaufen waren, mussten sie mit etwas Kleinem beginnen. Deshalb waren sie am frühen Abend auch schon fertig und zurückgekehrt. Kylie hatte ihn gedrängt, noch einmal mit Kim zu Abend zu essen, aber er hatte abgelehnt. Darum waren sie zu einem Imbiss gegangen – dort hatten sie zufällig Ken getroffen. Der hatte sich natürlich über Kylie gewundert, diese hatte ihm dann die Geschichte erzählt. Ray erwartete schon jeden Moment eine Nachricht von Mark. Wenn Ted noch da gewesen wäre, dann hätte er vermutlich schon längst zehn „Treffen wir uns? Bring Kylie ruhig mit!“-Nachrichten bekommen.

Während des Tages hatte es auch angefangen zu schneien. Das Gold des Himmels war einem matten Grau, das einen goldenen Schimmer aufwies, gewichen und Schneeflocken waren heruntergefallen. Einige Leute freuten sich darüber, andere verfluchten den Schnee. Ray lebte einfach damit, Kylie genauso. Auch wenn sie sich tierisch darüber aufregte, dass sie genau in der Woche kommen musste, in der Schnee kam. Aber zumindest hatte sie am Anfang eine unverschneite Stadt miterleben können.

„Und … du hast echt nicht gerafft, dass Kim ein Kind erwartet?“, kam es von Kylie her. Sie konnte einfach nie die Klappe halten. „Also wirklich … So etwas sieht ja sogar ein Blinder mit einem Krückstock!“ Sie lachte.

„Ja, aber – wie du weißt - …“, begann er, wurde aber, wie erwartet, unterbrochen.

„… habe ich sie ewig nicht mehr gesehen, weil ich sie ignoriere, weil ich ein dummer Ignorant bin, der nicht schätzen kann, was ihm am Silbertablett serviert wird“, beendete sie den Satz für ihn. Auch wenn er es nicht genau so ausgedrückt hätte.

„Hey, ich war mit allem zufrieden, was bis heute passiert ist, bevor wir dieses Haus betreten haben“, rechtfertigte er sich, „Nur du musst alles durcheinander bringen.“

„Finde dich damit ab“, meinte sie dann – beinahe kühl, „Soll ich dir von Maria ausrichten. Ich werde ihr sagen, dass Radiant Nachwuchs erwartet. Sie wird sicher erfreuter reagieren als du.“

„Hältst du mir gerade eine Moralpredigt?“, wunderte er sich. Was war nur los mit ihr? War sie wirklich Kylie? Die, die er vor sechs Monaten am Bahnsteig zurücklassen musste? Die, die ihn ermutigt hatte, sein Leben zu leben, wie er es wollte? Warum mischte sie sich plötzlich ein? Bis er sich besser mit Kyrie verstanden hatte, war sie seine Bezugsperson, wenn es um seinen Vater ging! Warum fiel sie ihm jetzt in den Rücken?

„Nein“, sagte sie gerade heraus, „Aber jemand muss dir die Augen öffnen.“

„Gute Nacht“, wies er sie ab und drehte sich weg. Das ging sie nichts an. Also sollte sie sich auch raushalten. Niemanden ging das etwas an.

Er war einfach nur wütend, verletzt und … untröstlich. Und genauso sollte das auch bleiben!

Als er damals … vor sechs Monaten seinen Vater gesehen hatte … Da war er einfach nur noch wütender und enttäuscht als ohnehin schon … Der Mann, der Schuld hatte. Das war sein Vater. Und das würde auch so bleiben!

Als Ray erwachte, war Kylie bereits weg gewesen. Vermutlich war sie früher aufgestanden, um Kim helfen zu können. Das war dann wohl ihr Pflegerinstinkt, der sie dazu verleitete, so was zu machen. Nachdem Montag war, hätte er heute früh aufstehen und zur Uni gehen sollen. Aber er blieb dabei, für Kylie zu schwänzen – dann hatten sie viel mehr Zeit gemeinsam zur Verfügung. Natürlich blieb sein schlechtes Gewissen gegenüber Kyrie, aber sie hatte es ja gut aufgenommen. … Schade, dass er sie heute nicht sehen würde.

Er erhob sich. Es würde doch blöd klingen, wenn er Kylie extra aus dem Roten Dorf käme und er dann die ganze Zeit nur an Kyrie hängen würde, die er ohnehin fast jeden Tag sehen konnte …

Nachdem er sich umgezogen und fertig gemacht hatte, fragte er sich, was er jetzt tun sollte. Er hatte länger geschlafen als sonst, was bedeutete, dass zumindest Kim noch da war. Sollte er zu ihr gehen? So tun, als sei das normal? Oder sollte er hier warten, bis Kylie hoch kam?

Aber sie war so stur … Vermutlich würde sie den ganzen Tag da unten sitzen bleiben, nur um ihn zu zwingen, nach unten zu kommen. Das hatte keinen Zweck … Er seufzte. Warum hatte sie nur diese Mission angenommen, ihn zu bekehren? Das war doch nicht ihre Art! Seine Mutter zog die Fäden, da war er sich sicher. Oder seine Schwester. Oder beide zusammen. Sie hatten Angst, dass dieser … Vorfall … sein ganzes Leben einnehmen würde! Aber er war ganz glücklich gewesen, so wie es gewesen war. Konnten sie das nicht einfach akzeptieren?

Er konnte auch ganz gut ohne die Anwesenheit, Anerkennung oder Aufmerksamkeit bestimmter Personen leben.

Dennoch stieg er die Treppen nach unten. Bereits dabei hörte er zwei tratschende Frauenstimmen.

„Die hat ja ein wunderschönes Gesicht“, erklang Kylies überraschte Stimme, „Wie die Mutter, so die Tochter, was?“

„Sie ist wirklich hübsch“, stimmte Kim zu, „Ich hoffe, dass die Kleine hier drinnen in diesem Sinne ihrer Schwester gleichen wird.“

„Ja, dann wären es zwei sehr hübsche Schwestern“, lobte seine Freundin.

Seit wann konnte die denn bitte so nett sein?

„Sie sorgt sich sehr um ihr Gesicht“, erklärte Kim weiter, „Du … kannst dir bestimmt vorstellen warum. Aber sie ist zufrieden.“

Ray hatte die Türschwelle erreicht. Wieder kostete es ihn Überwindung, einzutreten … Er musste erwarten, dass sie ihn zum Essen aufforderte … Dass er wieder hier essen musste. Vielleicht benahm er sich wie ein kleines Kind, doch … Es sollte so sein! Er wollte es so. Ende.

„Komm ruhig rein, Angsthase“, forderte Kylie ihn auf, ohne ihn anzusehen.

Wie hatte sie bemerkt … Egal. Es war Kylie. Da konnte ihn nichts mehr überraschen. Also sog er scharf die Luft ein und betrat die Küche.

Kim lächelte ihn an, Kylie strahlte eine Aura der Selbstzufriedenheit aus.

„Schau, wir haben hier ein ganzes Frühstücksbuffet zusammengestellt!“, übertrieb Kylie, „Also setz dich und genieße es mit uns.“ Jetzt blickte sie ihn endlich an. Sie wirkte sehr munter und ausgeschlafen.

Er warf ihr einen unbegeisterten Blick zu – dann widmete er sich dem Essen. Es stand schon viel am Tisch, aber ein Buffet konnte man es noch lange nicht nennen. Aber es sah einladend aus, das musste er zugeben. „Danke“, murmelte er dann. … Wie sollte er da weiterhin unfreundlich sein, sodass sie ihn mied?

„Bitte!“, meinte Kim hocherfreut, wobei sie sich dazu setzte, „Es ist wirklich schön, Gesellschaft beim Essen zu haben.“

„Isst du jeden Tag allein?“, informierte sich Kylie neugierig, wobei sie sich schon Brot aufschnitt.

Kim nickte. „Sonntags ist Radiant bei mir, aber sonst immer allein.“

Wollten sie ihm jetzt ein schlechtes Gewissen einreden? Das würde nämlich nicht funktionieren. Das war nämlich das Besondere am Ignorieren: Man tat so, als sei jemand nicht da, weshalb man auch niemandem abging und keinem Gesellschaft leisten konnte.

„Muss echt blöd sein, wenn man so unfreundliche Hausbewohner hat“, sinnierte seine Freundin weiter.

„Ich schmeiß dich gleich raus“, murrte er.

Daraufhin funkelte sie ihn belustigt an. Das war also genau die Reaktion, die sie ihm entlocken wollte.

„Ach was.“ Kim winkte sofort ab. „Ich bin froh, wenn mein Essen gegessen wird und wenn es schmeckt“, meinte sie ruhig lächelnd. „Ein wenig Alleinsein hat auch seine Vorteile.“

„Wenn Liz kommt, bist du eh nicht mehr alleine“, munterte Kylie sie auf.

Kim schüttelte den Kopf. „Nein, da hast du recht.“

„Arbeitest du eigentlich?“, fragte Kylie weiter, wobei sie jetzt damit begann, Obst zu schälen.

Kim nickte. „Aber nur nachmittags“, erklärte sie, „Radiant ist es wichtiger, dass ich das Haus in Ordnung halte, was ich auch gerne tue.“

Kylie stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Das merkt man.“

„Danke. Ich fühle mich geschmeichelt.“ Sie lächelte weiter.

Ray ließ das ganze Gespräch einfach im Hintergrund ablaufen, merkte sich aber einige Kleinigkeiten, die er noch gar nicht gewusst hatte – es war schon beschämend, drei Studienrichtungen zu studieren und dabei noch nicht einmal zu wissen, als was die Stiefmutter arbeitete, aber … So war es nun einmal. Weil es so sein sollte!

„Die Hochzeit soll erst stattfinden, wenn ich mich erholt habe“, beantwortete Kim eine Frage, die Ray überhört hatte, „Ich will weder mit rundem Bauch noch mit Nachwirkungen am Traualtar stehen“, gab sie leise zu, „Das würde Liz schon gar nicht zulassen.“

„Und … sie bleibt tatsächlich bis zur Hochzeit? Das kann ja dann noch ein ganzes Jahr dauern“, hakte Kylie nach, „Ich meine … Huh, das kann dann teuer werden.“

Kim seufzte. „Radiant bezahlt alles. Ich fühle mich schon schlecht dabei, aber ich danke ihm auch von tiefstem Herzen dafür.“

Ray konnte nicht anders, als die Frau anzustarren. Für eine unbekannte Nicht-Verwandte hatte er also Geld für einen halben Umzug? Also das Teuerste vom Teuersten? Und für einen kurzen Besuch seiner eigenen Ehefrau hatte er keine Zeit?! Jetzt erinnerte er sich wieder daran, warum er seinen Vater so verabscheute. Er kümmerte sich um gar nichts, was Maria betraf!

Es wäre wirklich nicht zu viel verlangt gewesen, wenigstens einmal in fünfzehn Jahren vorbeizuschauen!

„Ich habe eine Idee!“, rief Kylie fröhlich aus, „Ray hier geht am Donnerstag, wie gehabt, zur Uni und wir bereiten am Morgen den Kuchen vor! Dann hole ich ihn ab, lerne sein Zuckerpüppchen kennen und dann essen wir Kuchen!“ Sie schien begeistert von der Idee zu sein. Scheinbar hatten sie schon wieder das Thema gewechselt.

Er sah sie skeptisch an. „Ach ja?“

„Wir lernen uns kennen, sie kann mitkommen, du lernst was …“ Sie lächelte zuckersüß. „Und ich kann die Torte backen!“

„Weißt du, wo die Universität sich befindet?“, fragte Kim vorsichtig nach.

Kylie nickte bekräftigend. „Natürlich. Er hat mir den Weg ja gezeigt. Wege sind kein Problem für mich.“ Sie grinste. „Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie verlaufen!“

Er nickte. „Das stimmt.“

Kim schien beruhigt zu sein. Aber sie schaute Ray erwartungsvoll an.

Er zuckte mit den Schultern. „Kyrie wird sich bestimmt auch freuen.“ Dann seufzte er. „Und sie ist nicht mein Zuckerpüppchen. Hast du den Namen erfunden?“

„Nein, das warst du. Isabella, dritte Klasse, Grundschule. Drei Tage vor der Mathearbeit, bei der du knapp die Hälfte der Punkte hattest. Vielleicht erinnerst du dich ja daran.“

Er dachte zurück. Er konnte sich nicht einmal an eine Isabella erinnern.

„Ihr kennt euch wohl wirklich schon lange“, staunte Kim, „Und ihr seid wirklich kein …?“

Kylie schüttelte sofort den Kopf. „Wie gestern und heute mit den Worten ‚Nein, wirklich nicht. Wir sind nur Freunde. Beste Freunde.’ abgewiesen – erneut: Nein, wirklich nicht. Wir sind nur Freunde. Beste Freunde.“ Sie klang todernst. Plötzlich blitzten ihre Augen amüsiert auf, ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln und Ray wusste, dass gleich ein dummer Kommentar auf ihn warten würde. Sie beugte sich in Kims Richtung und tat so, als würde sie ihr ein Geheimnis anvertrauen, sprach es allerdings in normaler Lautstärke aus: „Auf Kyrie müsst ihr aufpassen. Auf das kleine Zuckerpüppchen hat er es abgesehen, auf die müsst ihr euch konzentrieren.“

Kim schaute ihn an, während sie sichtlich überlegte.

Er seufzte. War Kylie eigentlich hier, um ihn wieder zu sehen oder um ihn fertig zu machen?
 

Kyrie saß ganz alleine auf der Mauer und starrte ihr Mobiltelefon an. Keine Nachrichten. Kein gar nichts. Sie war einfach hier, allein, ohne Ray … Vermisste ihn … Hoffentlich würden ihre Eltern bald kommen. Wenn man so allein war, schien die Zeit ohnehin festzustecken … Vor allem ohne Ray …

Hoffentlich hatte er Spaß mit Kylie. Sie sollte ihm viel von seiner Mutter erzählen, das würde ihm bestimmt Heimweh verursachen, aber fröhlich stimmen. Wenn es seiner Mutter gut ging … Sie seufzte. Wenn sie diese Woche Kylie kennen lernte, dann würde diese Woche auch die letzte Chance sein, in welcher sie zu Maria konnte. Aber wollte sie das überhaupt?

Sie müsste Nathan mitnehmen und … sie wusste nicht, ob sie das wollte. Aber sie wollte keinesfalls ohne ihn gehen. Und ihm war es auch lieber, wenn sie trainierten, anstatt die Zeit verschwendeten … Außerdem … außerdem … Nach dem, was das letzte Mal passiert war … wusste sie gar nicht so genau, ob sie überhaupt noch einmal ins Rote Dorf wollte … Sie wusste ja nicht, von wo aus die anderen ihre Fährte aufgenommen hatten … Und sie wollte auch gar nicht darüber nachdenken.

Sie verschränkte die Arme und erschauderte. Sie war allein. Wenn sie wussten, wer sie war, wenn sie sie umbringen wollten … Hier wäre doch der perfekte Ort. Auch wenn sie ihre Flügel nicht ausbreitete. Sie seufzte frustriert … Warum konnte sie keine schönen Gedanken mehr fassen?

Überall war diese Angst, überall waren Schwerter … Und wenn Ray nicht da war, freute sie sich schon wie wild auf Mittwoch – nur um ihn vorbeigehen zu sehen und auf den nächsten Mittwoch zu warten. Das war traurig. Tragisch … Sie fühlte sich einfach schlecht, als hätte sie etwas falsch gemacht.

„Ray“, wisperte sie gedankenverloren, „Komm … bitte …“

Sie schaute sich um – sie erwartete, dass jeden Moment Xenon, Jeff oder Drake um die Ecke sprangen … Dass Milli über sie lachte … Es war … es war schrecklich … Sie wollte nicht mehr! Sie … sie … Was sollte sie tun? … Was konnte sie tun?

Nichts. Rein gar nichts …

Sie starrte ihr Handy an. … Sie könnte ihm eine Nachricht schreiben. Dann wäre sie abgelenkt. Hätte etwas, auf das sie hoffen konnte … Wenn er antwortete … Aber es war doch unhöflich, ihm zu schreiben, obwohl sie wusste, dass er Besuch hatte. Ein weiteres Seufzen entglitt ihr. Wenn hier jemand herumstand, der sie beobachtete, musste sie wirklich für eine seufzende Persönlichkeit halten …

„Wie geht es dir?“, tippte sie in das Gerät ein. Dann starrte sie die Worte an. Sollte sie die jetzt wirklich abschicken? Sie kannte die Antwort ja. Ihm würde es gut gehen, weil ein Stück Heimat zu ihm zurückgekehrt war. Also löschte sie den Text wieder. „Was machst du gerade?“, lautete ihr nächster Versuch. Das klang mehr danach, als wollte sie ihn gleich treffen, weil sie nichts zu tun hatte.

… Sie konnte ein Foto von der Mauer schicken und schreiben: „Wir vermissen dich!“ … Nein. Nein, das könnte sie niemals tun …

Sie könnte sich darüber informieren, wann er mit Kylie kommen würde. Oder wann sein Geburtstag war. Die drei Wochen waren um. Aber in beiden Fällen hatte er gesagt, er würde sie am Tag zuvor anschreiben. Vielleicht vergaß er das? Nein … Er war wohl nicht so vergesslich … Aber es würde gar nicht so verzweifelt klingen!

Also löschte sie den alten Versuch und probierte es wieder: „Vergiss nicht zu schreiben, wann du kommst und wann du Geburtstag hast. Einen schönen Tag noch!“ Sie las den Satz. Ganz zufrieden war sie noch nicht. Aber es war ein Anfang. Und sie hatte etwas zu tun! Und dann würde sie ihm ein Geschenk besorgen.
 

Sie saßen im Café, in welchem er einst mit Kyrie den Sieben Sünden gelauscht hatte. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Aber es war am Anfang der Ferien gewesen … Also wirklich … Die Zeit verflog!

Diesmal hatten sie sich den Ostblock vorgenommen, sämtliche wichtige Einrichtungen begutachtet und sie waren alle Straßen abgegangen, sodass Kylie die perfekte Orientierung hatte. Wenn sie einen Weg kannte, dann kannte sie einen Weg. Sie war zuverlässiger als eine Landkarte.

„Nächstes Jahr kommen sie scheinbar ins Rote Dorf“, meinte Kylie, „Aber, wie du weißt, halte ich nichts von dieser Band.“

„Ich verstehe es immernoch nicht“, gab Ray zu, „Sie haben doch für jeden Typen Lieder.“

„Ich weiß nicht, aber ich mag ihren Stil nicht – vor allem der Sänger ist mir unsympathisch“, beschwerte sie sich, „Aber wenn du mich einladen würdest, würde ich natürlich mitkommen.“ Sie grinste.

Er verdrehte die Augen. „Wir werden sehen.“ Wie sollte er überhaupt ins Rote Dorf kommen?

Kylie hatte noch dabei geholfen, das Frühstück aufzuräumen, dann waren sie auch gleich losgegangen. Sie hatte sich nicht wirklich zu seinen Vorwürfen, sie hecke etwas aus, was mit ihm und seinem Vater zu tun hatte, geäußert. Aber sie hatte gesagt, dass sie Babys mochte, weshalb sie sich auch für Kim interessierte. Und sie hoffte, dass er zumindest zu Liz nett sein würde. Auch wenn ihm der Gedanke, eine Stiefschwester zu haben und Halbgeschwister zu bekommen, nicht sonderlich gut gefiel. Mal sehen, wie sie sein würde. Aber ein Wunder durften sie sich nicht erwarten. Sie war Kims Brut. Also ein potenzieller Feind, der ignoriert werden sollte. Um es übertrieben dramatisch auszudrücken.

Sein Handy riss ihn aus seinen Gedanken. Es vibrierte und erklang kurz. Eine Nachricht. Was wohl los war? Kylie sagte im Moment sowieso nichts, vielleicht würde ihm die Nachricht neuen Gesprächsstoff liefern.

Er packte das Gerät aus und las: „Hallo! Verrätst du mir dein Geburtsdatum? Und wann du mit Kylie vorbeikommst? Ich freue mich schon darauf!“ … Kyrie. Er schaute auf die Uhr. Sie wären jetzt noch am Mauertreffen, auch wenn es schon ziemlich am Ende wäre. Was es bei ihr wohl zum Essen gab?

„Kyrie?“, mutmaßte Kylie, „Vermisst sie dich so schnell schon?“

Er nickte. „Kyrie.“ Dann las er sich die Nachricht noch einmal durch. Sollte er ihr die Antworten sagen oder eine Überraschung daraus machen? Aber wenn er sich nicht beeilte, würde sie ihn noch versetzen. „Beides am Donnerstag“, schrieb er schnell und schickte ab.

Dann wandte er sich wieder Kylie zu. „Ich erwarte, dass du nett zu ihr sein wirst“, wies er sie hin.

Sie schnaubte entrüstet. „Bin ich nicht immer nett?“

Er sah sie unbeeindruckt an. „Du bist immer schön wie die Sonne, aber dein Charakter ist manchmal hässlicher als die Nacht.“

Sie sah ihn plötzlich beeindruckt an. „Wow, den muss ich mir aufschreiben!“

Er verdrehte die Augen.

„Ach nein, ich merke ihn mir ja schon!“ Sie lachte. Ihr Lachen war ansteckend – er stimmte mit ein. Wie schaffte sie das nur? Aber jetzt sollten sie weitermachen. Es wartete noch ein halber Block auf sie!

Kyrie wirkte heute besonders traurig – aber vor allem war er skeptisch, weil sie sie bat, im Haus zu bleiben. Aber sie war nicht die Einzige, die sich seltsam benahm – Thierry genau so. Jetzt war er nach Wochen endlich mal wieder aufgetaucht, dann war er nervös und angespannt, als würde morgen das Spiel seines Lebens stattfinden. Oder gar heute noch.

Insgesamt herrschte eine ziemlich seltsame Stimmung. Liana war heute nicht da – jetzt war es beinahe so, als sei Joshua derjenige, der noch die beste Laune hatte. Und das wäre echt seltsam.

… Er musste irgendetwas tun. Das war seine heilige Pflicht als Nathan.

Sie saßen alle am Esstisch, aber keiner sagte ein Wort. Kyries Eltern waren fort gefahren, um sie nicht zu stören. Er schaute in die Runde. „Wenn ihr so weiter macht, kommen die Dämonen und fressen euch auf.“

Fast schon genervte Blicke trafen ihn von allen Seiten. Er fühlte sich Fehl am Platz.

„Würdet ihr mir verraten, was mit euch los ist?“, hielt er sie an, ihm zu verraten. Dann deutete er auf Thierry. „Du. Warum bist du heute so mies drauf?“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Ich wäre heute lieber im Himmel.“

„Es gibt Schokoladekuchen!“, entgegnete Nathan geschockt.

Thi sah ihn nur kopfschüttelnd an.

… Irgendetwas lief hier komplett falsch.

„Und was ist mit dir?“ Sein Blick fiel auf Deliora, die schon die ganze Zeit eine Tischkarte mit den Augen auseinander nahm.

„Ich hätte weg bleiben sollen“, murmelte sie vor sich hin, „So viel Arbeit …“

Nathan seufzte. „Du bist nicht die Einzige, die einen Job hat! Frag mal mich und Kyrie. Oder, Kyrie?“

„Wer?“ Sie schaute auf. „Was? Ich? Was?“ Sie schien verwirrt zu sein.

„Hast du zufällig ziemlichen Stress in der Uni?“, wollte er wissen.

Sie zuckte nur mit den Schultern.

Joshua brauchte er gar nicht zu fragen, weshalb er so deprimiert in der Gegend herumhing.

Er verschränkte die Arme. „Wenn ihr nicht gleich gute Laune habt, können wir das heutige Mittwochstreffen gerne absagen.“

Alle sahen auf – und sich gegenseitig an. Stumme Blicke wurden ausgetauscht. Stumme, bejahende Blicke.

„Allen Ernstes?!“, begehrte Nathan auf, „Wir nehmen uns alle extra einen Tag in der Woche Zeit für Spaß und ein Treffen und dann … sagt ihr es ab?!“

Von allen Seiten sah er zustimmendes Nicken.

Kyrie äußerte sich als erste: „Es … tut mir leid …“ Sie seufzte. „Ich … heute … ist nicht mein Tag …“

„Was ist denn passiert?“, wollte Deliora leise wissen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin … einfach nur …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Es ist nichts …“

Deliora nickte. „Solche Tage kennen wir doch alle.“ Das erste Lächeln, das er an diesem Tag sah, zeichnete sich kurz auf ihrem Gesicht ab. Dann erhob sie sich. „Ich glaube, ich muss los … Wer kommt mit?“

„Ich habe eine Idee!“, rief Nathan aus, „Wir gehen alle in den Himmel. Da hebt sich unsere Laune bestimmt auch ohne Schokoladenkuchen!“ Er grinste alle an, in der Hoffnung, Fröhlichkeit verbreiten zu können.

Wieder sahen sich alle gegenseitig an.

Kyrie erhob sich – und sobald sie sich erhob, tat es auch Thi ihr gleich. Und Joshua stand zusammen mit Nathan auf.

„Also!“, meinte Nathan gut gelaunt, „Ab in den Himmel!“ Und schon spazierte er zur Tür. Alle schritten ihm langsam nach. Er hatte einmal einen Film über Zombies gesehen – genau an den erinnerten ihn seine Freunde im Moment. Was echt gruselig war.

Er ließ sich zurückfallen und wartete, bis Kyrie die Tür zugeschlossen hatte. Sie wirkte wirklich fertig. Irgendetwas bereitete ihr Kopfzerbrechen.

Er stieß sie freundschaftlich an. „Hey, was ist los mit dir?“

„Ich …“ Sie ging neben ihm her. „Ich weiß es nicht … Ich fühle mich schon seit einer Weile so … niedergeschlagen …“, gestand sie ihm.

„Weißt du … du kannst deinen Eltern doch die Wahrheit sagen“, meinte er dann. Er vermutete, dass John doch mit ihr gesprochen hatte. Aber dass sie einfach weiterhin an ihrer Verschwiegenheit festhielt.

„Nein“, entgegnete sie hart, „Das würde sie zerstören. Noch mehr als mich.“

„Du musst deine Angst mit jemandem teilen“, riet er ihr, „Mit jemandem, dem du vertrauen kannst.“

„Ich habe meine Angst nie mit jemandem geteilt“, murmelte sie, „In meinem ganzen Leben nicht … Warum sollte ich jetzt damit anfangen?“

„Weil du sonst wieder so wirst wie früher.“ Er trat vor sie und hielt sie an. Die anderen gingen unbehelligt weiter. Er fasste in ihr Gesicht und zog ihre Mundwinkel nach oben. „Wir alle lieben die neue, lächelnde Kyrie.“ Er grinste. „Darum wollen wir sie auch wieder zurück.“

Sobald er sie los ließ, wanderten ihre Mundwinkel wieder nach unten. „Das ist … leider nicht so einfach …“, gestand sie.

„Willst du, dass wir das Schwerttraining für eine Weile aussetzen?“, schlug er ihr vor.

Sie wirkte überrascht. „Was?“

„Sagen wir … Bis zum nächsten Mittwochstreffen?“ Er klopfte ihr auf die Schultern. „Ein bisschen Himmelfrei wird dir dann auch ganz gut tun, denke ich.“ Er lächelte fürsorglich. „Vielleicht beruhigt das deine Nerven auch ein bisschen.“ … Egal, ob er da war oder nicht … Diese Angst konnte er wohl nie vollends vertreiben. Sie brauchte mehr Selbstvertrauen! Und das erlangte sie nur, wenn sie lernte, anderen zu vertrauen. … Leider war sie damit echt spät dran. … Was wohl oder übel teilweise – aber nur teilweise! – auf ihn zurückzuführen war.

„Danke …“, murmelte sie, „Ich … überlege es mir …“ Dann setzte sie ein so falsches Lächeln auf, dass er sich beinahe ihre niedergeschlagenen Mundwinkel zurückwünschte. Aber nur beinahe. „Nach unserem heutigen Himmelausflug.“ Sie ging an ihm vorbei und schloss schnell zu den anderen auf, die doch in einiger Entfernung gewartet hatten.

Er sah ihr nach. Irgendwann würde sie dem Schwert vertrauen. Dann würde sie wieder sicher sein und im Himmel ohne seine Aufsicht umherschwirren können.

Und das würde der Moment sein, in dem sie endlich frei von ihrer Angst wäre. Wünschenswert für sie.

Er ging weiter.
 


 

Nathan … er wusste also, dass Angst hatte? Nach wie vor? Dass das Schwert nicht die erhoffte Wirkung bei ihr erzielte? Aber … warum … Warum strengte er sich dann weiter so sehr für sie an?

„Bis zum nächsten Mal!“ Deliora lächelte vergnügt, ehe sie davon rauschte.

Nathan hatte Recht behalten – im Himmel hatte sich die Laune unerklärlicherweise gleich gebessert. Sie hatte ihren Eltern per Mobiltelefon eine Nachricht geschrieben, dass sie doch in den Himmel zurückgekehrt waren. … Hoffentlich hatten sie das früh genug gelesen.

Sie wanken Deliora nach. Auch sie hatte sich noch amüsiert und über Witze gelacht.

Sie saßen im Café und aßen kuchenförmiges Licht.

„Kyrie“, riss Thi sie plötzlich aus dem Gedanken.

„Ja?“ Sie lächelte ihn an.

„Ich … muss mit dir sprechen.“ Er schaute sich um. „Unter vier Augen. … Wenn es geht.“ Er wirkte ernst. Als würde es um etwas richtig Wichtiges gehen.

Sie starrte Nathan an, der grinste. „Thi ist genau so stark wie ich!“, munterte er sie auf, „Du kannst ihm vertrauen, das weißt du ja.“

Sie blickte zurück zu ihm. „J … Ja … Natürlich …“ Vielleicht klang sie nicht überzeugt. Vielleicht lag das daran, dass Panik in ihr aufstieg. Warum wollte er jetzt plötzlich mit ihr reden? Was … was war denn passiert? Und warum durfte Nathan nicht dabei sein? Nathan … er hatte doch gesagt, dass er sie nicht alleine lassen würde! Natürlich, sie war nicht alleine – Thi war bei ihr. Thi … Thi konnte sie auch beschützen. Er meisterte sehr viele Sportarten und führte das Schwert ausgezeichnet. … Aber Nathan … „Aber …“

Er beäugte sie fragend.

„… du darfst mich nicht alleine lassen“, erinnerte sie ihn daran.

„Oder ihr bleibt hier und wir beide verziehen uns“; schlug Nathan vor, wobei er Joshua unsicher auf die Schulter klopfte, „Nach da hinten, wo uns jeder sehen kann“, fügte er schnell hinzu. Er zwinkerte Kyrie zu, dann flog auch er weg.

Sie starrte Thi an. Er starrte zurück. Schien nach Worten zu suchen.

Nathan konnte sie von ihrem Platz aus gut sehen. Sichere Entfernung. Er … er würde bestimmt schnell genug sein, falls …

„Wie weit bist du beim Schwerttraining?“, fragte er dann.

„… Ich kann … das Schwert rufen“, erklärte sie nervös. Warum? Wollte er wieder gegen sie kämpfen? „Und … ein bisschen fuchteln …“

Er nickte. „Und … kannst du dich verteidigen?“ Er wirkte in etwa so unsicher, wie sie sich fühlte.

Sie nickte. „Etwas“, gab sie mit erstickter Stimme von sich. … Überall … diese Leute konnten überall lauern …

„Es gibt eine Verteidigungsart, die du nicht kennst“, flüsterte er so leise, dass sie ihn nur schwer verstand, „Eine, die nicht einmal Nathan kennt.“ Er schaute sich nervös um. „Eine, die niemand kennen sollte.“

… Das wirkte böse. Warum wirkte er so böse? Er war doch … ihr Freund!

„Ich kann sie dir beibringen“, fuhr er fort, als sie nicht antwortete. „Gula hat mich darum … gebeten.“

Gula?! Sie hielt sich davon ab, den Namen laut auszurufen, sondern entschied sich für ein einfaches: „Was?!“

„Er hat dir gegenüber wohl ein schlechtes Gewissen, weil …“ Er zuckte mit den Schultern. „Weil er von deinen Erlebnissen weiß, dir aber nicht hilft.“

Was? Er … er hatte … Gula erinnerte sich noch an sie? Hatte ein schlechtes Gewissen? Eine Todsünde?! Wegen ihr?! … Wie … wie ging das denn?

„Warum?“, fragte sie gerade heraus, „Warum … ein schlechtes … Es geht einfach nicht und …“ Sie brachte keinen vollständigen Satz heraus. Die Informationen überschlugen sich in ihrem Kopf.

„Ich habe die letzten Wochen damit verbracht, sie einzuüben“, erklärte er mit flüsternder Stimme, „Darum war ich auch nie hier. Jetzt ist es meine Aufgabe, sie an dich weiterzugeben.“ Er verschränkte die Arme und beugte sich weiter zu ihr. „Und weil sie gegen ein Engelsgesetz verstoßt, ist es eine verbotene Technik. Aber eine wirkungsvolle.“

Der letzte Satz ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. „Ver … verboten?“, stieß sie hervor. Verboten war nicht ihr Gebiet! Das war … verboten eben! Sie wollte kein Gesetz überschreiten! Niemals!

„Bitte!“, flehte er sie an, „Ich will das alles so schnell wie möglich hinter mir haben. Ich habe das für dich getan.“ Er seufzte mit einem Hauch von Verzweiflung. „Es … es klingt vielleicht ziemlich egoistisch von mir“, gestand er stirnrunzelnd ein, „Aber … Ich will damit nicht länger etwas zu tun haben als nötig.“ Er schaute ihr direkt in die Augen. „Du hingegen hast das Recht, so etwas zu beherrschen – dir wird Unrecht getan, also verteidige dich auch mit unrechten Mitteln dagegen. Du … hast das Recht dazu.“

Ihr Blick wanderte zum Tisch. Sie starrte ihn an, als wollte sie dadurch ein Loch hineinbohren.

„Wenn sie dich noch einmal angreifen“, fuhr er etwas gefasster fort, „Dann ist das die Möglichkeit, wie du dir dein Überleben sichern kannst.“

Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Das wusste sie. Sie fühlte sich auch plötzlich wieder so seltsam leer, nicht fähig, zu antworten. Was … was sollte sie darauf denn sagen?!

„Mein Teamkollege, an dem ich die Technik geübt habe, ist bereits bei den Todsünden gewesen“, erklärte er ihr leise, „Er hat schon alles vergessen. Ich will … bitte, Kyrie …“

Sie schaute ihn an. Seltsame Traurigkeit, die Enttäuschung nur zu ähnlich war, zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

Sie hatte ihre Hände unter dem Tisch in ihren Rock gegraben. Verkrampft hielten sie das Stück Stoff fest. Was … was sollte sie denn antworten?

„Ich will es dir direkt beibringen“, setzte er erneut an „Wenn ich es vorher noch an Nathan weitergeben …“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich könnte das gar nicht ertragen. Ich will dich nur einführen. Sodass du eine ungefähre Ahnung hast … Okay? Je schneller wir das hinter uns haben, desto besser ist es für uns beide.“ Er hielt ihr die Hand hin. Er zwang ein Lächeln auf seine Lippen, auch wenn man ihm ansah, dass ihm gar nicht nach Lächeln zumute war.

Sie hatte ihren Freund in eine Zwickmühle gebracht. Er … er hatte all die Zeit für sie gegen etwas verstoßen, an das er glaubte, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte. Ohne dass sie es überhaupt in Betracht gezogen hatte. … Schuldete sie es ihm nicht, dass er ihr das beibringen konnte?

Schuldgefühle überlagerten ihre Angst vor dem Unbekannten.

Und darum schlug sie ein.

„Diese Woche fällt mein Schwerttraining mit Nathan aus“, gab sie ihm leise bekannt, „… Da könnten wir …“

Er nickte. „Ich hole dich jeden Tag bei dir zuhause ab, okay?“

Sie nickte.

„Wir üben dann am Hochhaus. Was du auf der Erde kannst, schaffst du im Himmel dreimal.“ Diesmal lächelte er aufrichtig. „Ich hoffe, dass das ein schnelles Ende haben wird. Für uns beide.“

Sie nickte. … Sie war den Tränen nahe. Warum … warum tat er so viel für sie? Weil sie Freunde waren? … Was anderes konnte sie für ihn tun, als dieses Geschenk anzunehmen? Ob sie wirklich wollte … oder nicht.

Das Mittwochstreffen neigte sich also dem Ende zu – Thi verabschiedete sich und machte sich auf den Rückweg. Nathan wollte von ihr wissen, was er ihr mitgeteilt hatte, aber sie schüttelte einfach den Kopf und schwieg eisern. … Etwas Verbotenes … Sie wollte nichts Verbotenes tun. Sie war schon immer davor gewarnt worden, Verbotenes zu tun …

Sie musste gehorchen. Wollte immer im Rechten sein.

Aber … Was war jetzt richtiger? Dem Gesetz konform zu handeln … oder einen Freund zu erlösen? Sie seufzte, was ihr einen fragenden Blick von Nathan und ein Fast-Stirnrunzeln von Joshua einbrachte. Sie kannte die Antwort.

Morgen war Donnerstag. Von da an würde sie gegen das Gesetz verstoßen.

Er hatte sich gedrückt.

Und er hatte die Wahrheit erfahren. Auch wenn Kylie sich noch so bemüht hatte, ihm vorzugaukeln, dass sie von tiefstem Herzen davon überzeugt war, dass er sich mit seinem Vater verstehen müsse – sie hatte versagt. Er hatte alles aus ihr herausbekommen. Wie er immer alles aus ihr herausbekam.

Mark hatte sich neben ihn gesetzt und wollte von ihm wissen, weshalb er die ganze bisherige Woche gefehlt hatte – ob das an seiner neuen Freundin läge. Ray ignorierte seinen Kollegen. Es ging ihn nichts an. Was er dann wohl auch eingesehen hatte – zumindest war es still geworden. Nur der Vorleser sprach.

Eigentlich würde er jetzt mit gebannter Aufmerksamkeit zuhören. Doch … er konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken zum gestrigen Gespräch zurück, das sie geführt hatten, nachdem sie erst nach Mitternacht zuhause angekommen waren.

In der Dunkelheit hatte er nichts gesehen, nur Kylies Stimme gehört. Aber er war es, der zu sprechen begonnen hatte: „Warum lässt du es mir durchgehen?“, hatte er gefragt, wobei er sich darauf bezog, dass sie den gesamten Tag in der Stadt verbracht hatten, ohne dass das Wort „Liz“ auch nur einmal gefallen war. Am Dienstag hätte sie ihn am liebsten noch eigenhändig ins Haus zurückgeschleift, um das Essen mit Kim zu genießen, sodass diese noch etwas über ihre Tochter erzählen hätte können, aber am Mittwoch war ihr plötzlich völlig egal, ob er sich bei seiner zukünftigen Stiefschwester nun vorstellen würde oder nicht. Ein Sinneswandel war das wohl.

Er hatte sich natürlich dazu entschieden, wieder in seine Isolation zurückzukehren. Dorthin, wo er sein und bleiben wollte.
 

„Ich werde Maria wohl einfach sagen müssen, dass ihr Sohn auch nach einem halben Jahr noch immer derselbe Sturkopf ist wie sie selbst“, war die leichtfertige Antwort gekommen, „Ich habe aufgegeben, dich zu etwas bringen zu wollen, was du nicht brauchst.“

„Was du auch nicht brauchst“, schloss er daraus. Das Schulterzucken, das daraufhin kam, konnte er nur erahnen.

„Goldrichtig, mein Lieber“, erklärte sie daraufhin, „Diese Zeug mit der Zwischenmenschlichkeit … du kennst meine Meinung dazu.“

„Wenn nicht, würdest du sie mir jetzt zitieren“, fügte er lächelnd hinzu. Er war froh, dass seine Starrköpfigkeit gesiegt hatte. Dass er wieder alles wie früher werden würde. Auch wenn das seine Mutter vermutlich enttäuschte … Aber in diesem Punkt waren sie sich einfach noch nie einig gewesen. Und egal, welche Armee seine Mutter ihm noch hinterher schicken würde … Sie hätte keine Chance gegen seinen Willen.

„Mir ist es so schnurz egal, wie du Radiant, Kim oder Liz behandelst“, fuhr sie fort, „Oder wie du sonst wen behandelst, der nicht ich ist. Ich will nur, dass du glücklich bist. Und wenn du dafür weder Frühstück noch einen Vater brauchst – so sei es.“

Seit er Kylie kannte, besaß sie diese Einstellung. Diese Einstellung, dass jeder sein Leben durch seinen freien Willen gestalten konnte, ohne auf die anderen zu achten. Dass jeder seinen Weg gehen sollte, egal, welche Hürden er nehmen wollte. Sie akzeptierte einfach alles, glaubte nicht an das Gute in Menschen und hielt so ziemlich jede Lösung für die richtige. Umso mehr hatte es ihn all die Zeit gewundert, dass sie sich Kim gegenüber so nett verhielt und ihn zwingen wollte, Zeit mit seinen Mitbewohnern zu verbringen. Es verstieß doch eindeutig gegen ihre Einstellung.

„Aber … weil Maria mich so nett darum gebeten hat“, murrte sie leise, „Ich wollte es wirklich die ganze Woche lang durchziehen. Aber … nachdem ich keine Fortschritte gemacht habe und es mir auch zu nervig wird, deine Babysitterin zu spielen ...“ Sie seufzte theatralisch. „Da muss ich den Job wohl aufgeben.“

„Du tust mir fast schon leid“, kommentierte er, „Aber nur fast. Du hast mir nämlich ziemlichen Schrecken eingejagt, als du plötzlich sozial sein wolltest.“

„Hey, ich bin Krankenschwester“, fuhr sie dazwischen, „Ich bin aber so was von sozial eingestellt und am Wohl meiner Mitmenschen interessiert.“

„Oberflächlich“, gab er in einem Räuspern bekannt, „Schwindler.“

„Du hast mir die Welt der Kranken näher gebracht, Freundchen“, erinnerte sie ihn, „Deinetwegen bin ich, was ich heute bin! Also sei mir ein bisschen dankbarer.“

„Du weißt doch, dass ich dich liebe“, gab er grinsend hinzu.

„Na klar weiß ich das. Du weißt doch, dass ich das weiß.“ Sie gab einen genervten Laut von sich – eindeutig gespielt. „Manchmal glaube ich, du hältst mich für dumm!“

„Und du verkaufst hier alle für Dumm!“, klagte er sie daraufhin – mit einem kleinen Fünkchen Ernst in der Stimme - an, „Willst du das mit dem Kuchen echt durchziehen?“

„Klar“, meinte sie geradeheraus, „Ich liebe Backen, Kuchen und habe keinerlei Probleme mit der Anwesenheit dieser Menschen.“ Sie hielt kurz inne. „Die Frage ist wohl eher … hast du etwas gegen den Kuchen?“[/i ]
 

Ray saß auf der Mauer. Kyrie war noch nicht da. Aber er war sich sicher, dass sie kommen würde. Immerhin hatte er sich … ihretwegen für den Kuchen entschieden. So betrachtet war es wohl der erste freiwillige Schritt in Richtung seiner Familie. … Dass er Kyrie zu dieser Party einlud, die Kim veranstaltete. Dass sie Kylies Kuchen essen würde ...

Er seufzte.

Er war einfach froh, dass sich Kylie ihre Flausen aus dem Kopf geschlagen hatte. Dass sie ihn in Ruhe lassen würde, was seine Familienprobleme anging. „Eine Kylie mischt sich nicht in Familienangelegenheiten ein“, hatte sie ihn vor vielen Jahren einmal gescholten. Aber er wusste gar nicht mehr, worum genau es ging. Vielleicht hatte er mit Diane gestritten und sie gebeten, das wieder gerade zu biegen.

Auch wenn sie ihm, Diane und seiner Mutter beinahe nichts abschlug, so hatte sie es dieses eine Mal getan. Also musste es etwas ziemlich Dummes gewesen sein … Kylie war einfach eine treue, beste Freundin. Mit ihr war er durch dick und dünn gegangen … Wenn er jetzt daran dachte, dass sie in vier Tagen wieder weg sein würde, dann wollte er am liebsten heulen. Kylie selbst weinte nicht. Sie war stark. Und darum konnte sie ihn auch … beruhigen. Mit einem Lächeln und einem dummen Spruch auf den Lippen, einem lässigen Schulterklopfen … Sie war immer für ihn da gewesen. Seit gut fünfzehn Jahren schon.

Seine beste Freundin auf Lebzeit.

„Ray!“, erklang eine erfreute Stimme. Er schaute Richtung der Universität und entdeckte auch gleich Kyrie, die überglücklich auf ihn zu eilte. Neben ihrer normalen Tasche trug sie auch eine kleinere mit sich herum. Sie steckte in einem warmen Wintermantel, trug einen Schal, Handschuhe und eine Mütze. Eine typische Stadtfrau.

Er lächelte über seinen Gedanken und erhob sich. „Kyrie, du bist da!“

Sie stand vor ihm – plötzlich breitete sie stralend die Arme aus. „Alles, alles Gute zum Geburtstag!“

Und schon hatte sie ihn umarmt. „Bleib mir ja gesund! Auf dass du noch mindestens fünfmal so alt wirst!“

Er erwiderte die Umarmung. „Danke! Ich werde versuchen, mich ranzuhalten.“ Ein Lächeln überzog seine Lippen. Ein breites Lächeln. Er spürte, wie sich ihr warmer Körper an ihn drückte, wie sie ihn fest hielt, ihm Halt gab. Die Wärme durchfuhr ihn. Dieses wunderbare Gefühl … Sein Herz begann, wie wild zu pochen. Die Umarmung hielt an.

Das war doch … schon eine ziemlich lange Umarmung. Für Freunde.

Entgegen seiner eigentlichen Gedanken drückte er sie noch fester an sich, ohne dass sie sich irgendwie wehrte. Stattdessen sah sie lächelnd zu ihm hoch. Und ehe er sich versah, verfing sich sein Blick in ihren dunklen Augen. Er entdeckte Zuneigung in ihnen … Dieselbe Zuneigung, die er für Kyrie empfand? Das wäre schön …

Er fühlte, wie er sich weiter nach unten beugte, wie sich der Abstand zwischen ihrem und seinem Gesicht immer weiter verminderte. Und wie er immer breiter lächelte, je näher er ihr kam. Das breiteste Lächeln, das er in seinem ganzen Leben je gelächelt hatte, schlich sich auf seine Lippen.

Gerade als er dabei war, seine Augen zu schließen, um den unausweichlich näher rückenden, so lange und hart ersehnten – auch wenn er sich dessen nicht hundertprozentig bewusst war, so erkannte er es in diesem Moment – Kuss zu vollenden, erklang ein belustigtes: „Stör ich, mein Schätzchen?“

Als er die Augen aufriss und auf den Boden der Wirklichkeit zurückfiel, lief die komplette Wärme, die seinen Körper Sekunden zuvor noch in Euphorie versetzt hatte, in seine Wangen und ließ diese glühen wie eine reife Tomate.

Kyrie starrte ihn in etwa mit denselben roten Wangen und einem ähnlich geschockten Gesichtsausdruck an – und beide wandten sie den Blick voneinander ab. Er sah zu Kylie, die breit grinsend hinter ihm stand. Sie hatte einen dünnen Mantel angezogen – sonst wies nichts darauf hin, dass um sie herum zehn Zentimeter Schnee lagen.

„Du bist dann sein Zuckerpüppchen, nehme ich an?“, fragte sie spöttisch und stellte sich neben ihm wobei sie ihm eine Hand auf die unverletzte Schulter legte, „Er hat schon so viel von dir erzählt.“ Das kecke Grinsen behielt sie bei.

… Oh Gott, was machte diese Frau da?! Warum hielt sie nicht die Klappe!? Na gut … Also … schlimmer konnte es ja kaum werden! Er wandte sich zu ihr um. „Magst du nicht einfach die Klappe halten, Kylie?“, zischte er.

Sie starrte ihn wie ein Unschuldslämmchen an. „Wer? Ich?“ Sie blinzelte ein paar Mal zu oft. „Was mache ich denn?“

„Benimm dich!“, wies er sie streng an.

Er sah Kyrie an, die seltsam belustigt wirkte. Und dabei unvorstellbar … toll aussah …

Er unterdrückte ein Seufzen.

Und während er so da stand, auf eine Reaktion wartete und derweil seinen Seufz-Reflex unter Kontrolle zu bringen versuchte, ohne dabei den Blick von dem schwarzhaarigen Mädchen vor ihm wenden zu können, sah er etwas ein, was er schon lange hätte einsehen sollen.

Er war verliebt.
 

Kyrie war merklich kleiner als Kylie, was auch ihre Stiefelabsätze nicht verbergen konnten. Sie starrte zu der anderen Frau hinauf, die Ray überragte. Bei ihr lag es wahrscheinlich auch nicht an den Absätzen. Sie bestaunte das beinahe goldene Haar und den schön geflochtenen, viel zu kleinen Zopf, der sich so von den anderen Haaren abhob. Ihre Augen waren blau wie klares Wasser … und sie blitzten gefährlich.

So gefährlich, dass sie sich beinahe eingeschüchtert von dieser Person fühlte. Zurückgedrängt … Was … gab ihr das Recht, bei Ray zu sein … Warum … hatte sie gestört?

Ihr Herz schlug immernoch wie verrückt und sie hoffte, dass keiner es hören konnte. Sie hätte beinahe Ray geküsst. Sie hatte den Kuss schon beinahe fühlen können. Diesen Moment der Wärme und des Glücks … Wie er sie umarmt und fest an sich gedrückt hatte …

Sie fühlte, wie ihre Wangen sich rot färbten.

Unauffällig nahm sie ihren Schal und zog ihn etwas weiter in ihr Gesicht.

Dann räusperte sie sich kurz, um einen Frosch im Hals vorspielen zu können. Wie blöd es wirken musste, dass sie einfach nichts sagte! Sie musste etwas sagen … aber … Zuckerpüppchen? Wovon sprach diese seltsame Frau bloß?

„Ich glaube, ich bin zu weit gegangen“, sah die andere ein, wobei sie mit den Schultern zuckte, „Dann fangen wir wohl besser von vorne an.“ Sie stieß sich von Ray ab, wodurch der einen Schritt zurückstolperte und leise vor sich hin murrte.

Kyrie hätte ihr gerne eine Moralpredigt gehalten, wie unhöflich so ein Verhalten gegenüber einem Freund war, dass er sich dabei hätte verletzen können oder einfach, dass sie mit ihrem Ray nicht so umzuspringen hatte … Aber ihr Mund war eindeutig zu trocken, um auch nur ein Wort herauszubringen. Es waren wenige Schritte, die Kylie zurückzulegen hatte, um ihr die Hand entgegenzustrecken, doch es war mehr als genug, Kyries Misstrauen zu schüren. … Warum durfte Kylie bei Ray sein? Warum durfte sie, was Kyrie verwehrt blieb?

All ihren aufkeimenden Unmut zurückdrängend, nahm sie die Hand entgegen und schüttelte sie hastig. „Ich bin Kyrie“, stellte sie leise sich vor, „Nicht Zuckerpüppchen“, fügte sie dann kleinlaut noch hinzu.

Kylie lächelte. „Ich bin Kylie, die man fast gleich schreibt wie dich“, erklärte sie ihr und schien sich dabei für die Königin der Welt zu halten, „Ich bin seit fünfzehn Jahren mit unserem Chaoten hier befreundet und habe den Kuchen für seine Geburtstagsparty heute gebacken.“ Nein. Sie war die Königin der Welt. So schön, gefährlich und … ehrfurchtserregend. Jemand, zu dem man aufsah … Jemand, mit dem ein einfacher Mensch nichts zu tun hatte. Gegen den man keine Chance hatte … Vor dem man zurückweichen sollte, wenn man klug war … In dieser Hinsicht erinnerte sie sie an Melinda.

Melinda.

Sofort ließ sie ihre Hand los.

Und als sie die Hand los ließ, schien irgendeine Last von Kyrie zu fallen. Als sie sich umwandte, fühlte sie sich beinahe erleichtert. Sie kannte Menschen wie Kylie. Sie waren arrogant und hochnäsig, glaubten, dass alle ihnen zu Füßen lagen. Und … das Schlimmste daran war, dass sie damit Recht behielten. Sie war eine der Personen, die Menschen anstrebten. Die Menschen anzogen. Ihr Selbstbewusstsein strotzte doch über, sodass Kyrie das nach fünf Sekunden bereits bemerkte! Diese Frau war überzeugt von allem, was sie tat, sagte und dachte. Sie war egoistisch.

Kyrie konnte sie nicht leiden.

Ihr Blick fiel auf Ray, der ihr kurz in die Augen schaute und ein traumhaftes Lächeln auf den Lippen trug – doch als er sich dann abwandte, um einen kurzen Wortwechsel mit Kylie zu führen, änderte sich Kyries Sichtweise.

… Wem … galt dieses Lächeln eigentlich? Ihr … oder Kylie?

… Wem galt Rays Zuneigung? Was … wieso …

Kylie kannte ihn doch schon viel länger als sie. Kylie sah noch dazu umwerfend aus und schien kein Kälteempfinden zu haben! Sie war groß, schlank und hatte an den richtigen Stellen dennoch angemessene – wünschenswerte – Fülle. Sie schien … perfekt zu sein …

Wenn er mit ihr befreundet sein konnte … warum würde er sich dann für Kyrie entscheiden? Es traf sie wie ein Schlag: Er würde sich nicht für Kyrie entscheiden.

„Setzen wir uns?“, riss Rays Vorschlag sie aus ihrer Gedankenwelt.

Kyrie nickte und setzte sich neben Ray. Kylie nahm auf der anderen Seite Platz.

Sie fühlte sich, als würden alle von ihr erwarten, den Smalltalk zu beginnen. Aber sie war im Moment nicht fähig, etwas zu sagen. Die ganze Woche lang war sie deprimiert durch die Gegend gelaufen – sie hatte beinahe das Mittwochstreffen abgesagt, bloß weil sie zu traurig über Rays Abwesenheit war! Und heute … heute traf sie ihn endlich wieder … und dann war er bei Kylie, verstand sich so gut mit ihr … Hatte aber beinahe sie geküsst. Er hatte beinahe sie geküsst. Sie!öl

Sie sah überrascht auf. Ray musterte sie nachdenklich, schien gar nicht zu bemerken, dass sie ihn ebenfalls ansah. … Wenn … wenn er sie küsste … empfand er vermutlich etwas für sie. Sonst … hätte er ja schon viel früher … und … aber … Wenn er dasselbe wie sie empfand … dann … Der Drang, wegzulaufen, machte sich in ihr breit.

Dann konnte sie ihn doch nicht weiter belügen! Ihre ganze Existenz war eine Lüge! Alles, was sie ihm sagte …

„Oh, was hast du ihm denn mitgebracht?“, erklang Kylies Stimme plötzlich. Sie deutete auf die Tasche, in der Kyrie das Geschenk für Ray aufbewahrt hatte.

Das schien auch ihn wieder auf die Erde zu bringen.

Kyrie schnappte die Gelegenheit, um zumindest für den Moment aus ihrer Gedankenwelt zu flüchten. Sie nahm die Tasche hoch und legte sie Ray auf den Schoß, der überrascht dreinschaute.

„Danke!“, rief er atemlos aus, „Das … wäre doch nicht …“ Er starrte das Geschenk ehrfürchtig an.

„Hey, so hast du meines aber nicht angestarrt“, beschwerte sich Kylie dann, „Dabei war es so cool.“ Sie klang nicht enttäuscht.

Ray überging Kylies Worte und sah Kyrie tief in die Augen.

Sie lächelte. „Hol es raus!“

Er öffnete die Tasche und schaute hinein.

Sie war schlecht im Einpacken. Und das war eines der Dinge, die ihre Mutter ausnahmsweise nicht hinbekam. Und ihren Vater konnte man da sowieso vergessen. Also hatte sie es einfach offen gelassen.

Er holte es heraus und vor ihm entfaltete sich ein T-Shirt mit dem Logo der Sieben Sünden und einem bekannten Bandbild.

Er starrte es an. „Oh, wow, danke!“ Ein Strahlen überzog sein Gesicht. „Oh, WOW, danke!“

Kylie schien ziemlich amüsiert zu sein.

Aber Kyrie war einfach nur froh, dass sie nicht daneben gegriffen hatte.

Als er das Shirt fein säuberlich zusammenlegte, entdeckte er noch den zweiten Teil ihres Geschenks. Er nahm ein Kuvert hervor, welches er vorsichtig aufmachte. Und schon purzelten eine Karte und zwei Tickets für das Sieben-Sünden-Konzert nächstes Jahr in der Nordstadt heraus. Sie war zum Ticketshop gegangen, um dort nachzufragen. Da hatte sie sie gekauft. Wenn sie Glück hatte, würde er mit ihr hingehen, wenn nicht … würde ihr das wohl einen ziemlichen Stich versetzen.

Er strahlte die Geschenke ungläubig an.

„Viel cooler“, fügte Kylie dann gelangweilt hinzu, „So cool, dass du es nicht so angestarrt hast.“ Sie seufzte erneut theatralisch. „Das erinnert mich an …“ Sie blinzelte verwirrt. „So gestrahlt hast du nicht mehr, seit …“

Ray packte schnell alles in die Tasche und umarmte Kyrie, ehe sie reagieren konnte – nicht, dass sie sich gewehrt hätte ...

„Oh, Kyrie!“, begann er, „Das wäre doch alles überhaupt nicht nötig gewesen!“ Er ging zurück und schaute ihr in die Augen. „Ich habe dir doch noch nicht einmal zum Geburtstag gratuliert!“

Sie lächelte. „Du hast mir das beste Geschenk gemacht, das mir an dem Tag jemand anbieten hätte können“, entgegnete sie leise, „Und ich habe mich noch nie angemessen bedankt …“ Sie wandte ihren Blick den Boden zu. Wie peinlich. Hatte sie das gerade eben wirklich gesagt?

Als sie nach einigen Momenten wieder aufschauen konnte, lächelte Ray sie an. Sie lächelte zurück.

„Ray, wir müssen gehen.“ Kylie schaute todernst drein, als Kyrie sich zu ihr umwandte. Sie hatte sich bereits wieder erhoben. „Ich gehe jetzt jedenfalls. Mir egal, was du tust.“ Ohne ein weiteres Wort stapfte sie davon. Während des Gehens tippte sie auf ihren Schläfen herum.

Ray sah ihr kurz nach. Das Lächeln war ihm vergangen, stattdessen runzelte er besorgt die Stirn. Dann wandte er sich Kyrie zu. „Was … ist los mit ihr?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Kommst du dann gleich mit? Wir gehen zu mir“, lud er sie ein, „Ich schulde dir noch Kuchen.“

Sie lächelte. „Ja, natürlich sehr gern …“ Sie stockte. Etwas in ihrem Gedächtnis meldete sich. Etwas, was sie bis eben total übersehen hatte. Thierry. Heute war die erste Trainingsstunde. Er würde sie zuhause abholen. Sie hatte ihm nicht gesagt, dass sie nicht da war.

Und …

„Kyrie? Alles in Ordnung?“ Er legte seine Hand auf ihre Mütze und blickte sie mit Sorge an – mit mehr Sorge als Kylie.

„Ich …“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Wie konnte sie nur!? Sie hatte Ray doch versprochen, dass sie kommen würde! Kylie hatte eine Torte gebacken, die sie essen sollte! Was würde ihr nur alles entgehen, wenn sie nicht kam? Warum sollte sie auf einen Tag mit Ray verzichten? Auf einen unverzichtbaren Tag mit Ray. Sie wollte so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen! Sie wollte mit! Nichts anderes als Mitkommen …

Aber … der Grund, weshalb sie zu Thierry musste …

Er überwog.

Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, als sie die nächsten Worte aussprach: „Ich … kann nicht …“

Er sah sie überrascht an. „Kommst du später nach? Weißt du, wo ich wohne?“

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. „Es tut mir leid!“, brachte sie hervor, „Ich … ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder Zeit habe …“ Sie sackte in sich zusammen. Er … er hatte doch nur einmal im Jahr Geburtstag! Wie konnte sie das nur übersehen? Vergessen? Sie war eine schlechte Freundin. Eine miserable Freundin.

„Ach so …“, meinte Ray. Dann legte er einen Arm um sie. „Na dann bringe ich dir am Montag einfach ein Stück Kuchen mit.“

Sie schaute erstaunt auf. „Du bist nicht böse?“

„Ich habe es dir einfach zu kurzfristig gesagt.“ Er lächelte und hob die Tasche mit den Geschenken hoch. „Und ich denke, du hast dich entschädigt.“

„Das war keine- …“ Sie wurde unterbrochen, indem er belehrend einen Finger hob.

„Dadurch verpflichtest du dich sogar, am Montag zwei Stück Kuchen mit mir zu essen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Wenn Kylie dann weg …“ Plötzlich verstummte er und schaute dorthin, wo Kylie vorhin noch gewesen war. Sie war weg. Er verzog den Mundwinkel. „Oh.“

Kyrie fühlte sich schrecklich, weil sie ihn versetzt hatte.

Er erhob sich. „Na dann … Bis Montag?“

Sie nickte. „Bis Montag. Und habt … noch eine schöne Woche. Und einen unvergesslichen Geburtstag!“

Als sie Ray hinterher schaute, wusste sie nicht, ob sie Kylie wirklich eine schöne Woche vergönnte. Aber sie wusste, dass sie sich das für Ray wünschte. Dass er einen herrlichen Tag verdiente. Wenn auch … ohne sie … Sie hatte selbst Schuld. Sie hätte einfach „übermorgen“ sagen müssen.

Alle Probleme wären vorüber.

Aber nein … Sie hatte Ray einfach verdrängt gehabt … Angst und Schuldgefühle hatten alles überschattet … Alles …

Als sie alleine an der Mauer stand, verschränkte sie die Arme und starrte auf den Boden, auf dem keine Schneeflocke überlebt hatte. Die Leute, die herumtrampelten, stießen den Schnee einfach fort, bis er nicht mehr da war …

Wenn man sich nicht wehrte, würde man fort gestoßen werden … doch das war kein Grund, andere fort zu stoßen. Warum also … verhielt sie sich Kylie gegenüber so seltsam? Warum fühlte sie … diese brennende Eifersucht? … Würde sie von jetzt an auf jede Frau, die sich in Rays Nähe traute, eifersüchtig sein? Eifersucht war doch falsch … Eine … Todsünde …

Unauffällig starrte sie in die Richtung, in die Ray winkend verschwunden war. … Wer würde überhaupt noch zu seiner Feier kommen?

Als sie in das Auto ihrer Eltern stieg, hatte sie sich bereits Dutzende Schreckensgeschichten zusammengereimt – und die Schrecklichste beinhaltete Melinda.

Als er sie gesichtet hatte, saß sie auf einer Bank, die auf seinem Nachhauseweg lag. Sie wartete mit verschränkten Armen und einem Stirnrunzeln, wobei sie nicht eher vom Boden aufgesehen hatte, bis er sich neben sie gesetzt hatte und einige Momente des Schweigens vergangen waren.

„Kyrie ist nicht da?“, stellte Kylie die eindeutige Realität in Frage, als wollte sie diesen Umstand noch unnötig breittreten, sodass es sich für ihn wie Schläge ins Gesicht anfühlte.

„Ja“, beantwortete er die Frage in der Hoffnung, sich nichts von seinem Unmut ansehen zu lassen.

„Warum?“, hakte die Blondine nach, wobei sie ihn ernst ansah.

„Terminkollision.“ Mehr wollte er dazu nicht sagen.

„Und du bist die zweite Wahl?“ Ein Funken Humor war in ihre Augen zurückgekehrt. „Die würde ich nicht mehr küssen.“

„Egal“, murmelte er, sprach dann aber deutlicher weiter: „Warum bist du eigentlich plötzlich abgehauen?“

Abrupt kehrte der Ernst zu ihr zurück. Sie überlegte eine Weile, ehe sie langsam und vorsichtig antwortete: „Ich … Also … Als ich …“ Sie stockte.

„Warte … was?“ Er sah sie – beinahe schockiert – an. Was … war denn los mit ihr? Was war denn passiert? Eine Kylie stotterte nicht! Und schon gar nicht so! Sie wusste doch immer, was sie sagen wollte, wie sie es sagen sollte und tat es dann auch ohne Rücksicht auf Verluste. Eine Kylie war bestimmt. Und nicht … das! Eine Kylie hatte keine Probleme, über die sie nicht reden konnte!

Er legte einen Arm um sie. Ernst. „Was ist passiert?“ Er konnte sich beim schlechtesten Willen nichts vorstellen, was man ihr antun hätte können, was sie so plötzlich so … fertig machen könnte! Sie!

„Ich wollte etwas sagen …“, erklärte sie, „Aber … plötzlich wusste ich nicht mehr was! Ich wollte sagen, woran es mich erinnerte, aber …“ Sie schüttelte den Kopf, wobei der einzelne Zopf herumpeitschte, „… es war weg. Nicht mehr da. Von einer Sekunde auf die andere.“

Als er die Erklärung hörte, starrte er sie einige Sekunden lang perplex an. Und dann brach er in schallendes Gelächter aus – und mit jedem Lachen schaute Kylie noch finsterer drein. Er klopfte ihr mit seiner Hand auf den Rücken. Und als er sich vom schlimmsten Lachen erholt hatte, brachte er heraus: „Das ist normal. Einfach normal.“ Alle Sorge brach von ihm ab. Er war erleichtert. … Dass er sich deshalb so aufgeregt hatte!

Sie schaute unbeeindruckt drein. „Nein, das ist schrecklich.“

„Sowas hat jeder einmal! Oder öfters! Bei dir wurde es auch einmal Zeit!“ Er grinste, als ihm etwas einfiel. „Vielleicht wirst du ja jetzt auch alt und deine Hirnleistung beginnt zu sinken – wie bei allen anderen.“

Sie schaute ihn schockiert an. „Nein, das ist nicht möglich! Ich will nicht meine Erinnerungen verlieren!“ Sie wirkte ungewohnt panisch. Scheinbar schien sie das wirklich zu beunruhigen – und das war auch der Grund, weshalb Ray sich wieder um Ernst bemühte. Er wollte nicht, dass es ihr schlecht ging. … Aber … dass sie so ein mickriger Umstand dermaßen aus der Fassung brachte?

„War es so schlimm?“, fragte er nach.

Sie nickte. „Es war einfach … als wäre alles blockiert!“ Sie schaute Richtung der Universität. „Da bekommen mich keine zehn Pferde mehr hin.“ Plötzlich schmunzelte sie. „Bestimmt hat der Ort des Wissens mit meinem Königreich des Wissens im Konkurrenzkampf gelegen“, erkannte sie dann, „Das heißt, ich werde den Ort da einfach meiden.“ Sie erhob sich sogleich. Sie wirkte umgehend erleichtert – und entspannt. „Los, wir gehen.“ Nichts von der Unruhe, die sie vor einigen Momenten noch umgeben hatte, war mehr zu spüren.

Er schaute ihr nach, als sie sich wirklich in Bewegung setzte.

… Das war aber schnell gegangen.

„Woran hat es dich also erinnert?“, wollte er wissen. Aus Interesse – und vielleicht auch zur Probe.

Sie wandte sich lächelnd um. „An so etwas solltest sogar du dich noch erinnern. Dritte Klasse, dein Geburtstag.“ Sie ging weiter.

Er stand auf. „Dritte Klasse …?“, murmelte er und dachte zurück. … Warum sollte er das jetzt noch wissen?! Aber egal. „Wohin gehst du jetzt überhaupt?“

„Zu Kim. Da wartet ein Kuchen auf mich.“ Sie blieb stehen und wartete, bis er sie eingeholt hatte.

„War Liz da? Was haben sie gesagt?“, fragte er dann.

Kylie grinste. Die alte Kylie war also wieder komplett regeneriert.

Er unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. Er hatte gar nicht gespürt, wie angespannt er deswegen gewesen war. Jetzt war er einfach nur noch froh. Und Kuchen war vielleicht gar nicht so schlecht. Aber drei Stück mussten übrig bleiben. … Und John und Magdalena konnte er auch noch welchen mitbringen. Ab Montag würde er vielleicht wieder bei Kyrie essen.

… Bei Kyrie … Wie sollte er den Beinahe-Kuss erklären? Wie würde sie reagieren? Was würde sie dazu sagen? … Allein beim Gedanken daran, wie sich ihre Lippen beinahe berührt hätten, schlug sein Herz schneller.

„Ja“, meinte Kylie, „Und sie ist genauso schön wie auf den Bildern. Echt – sie … wow … Du wirst platt sein, wenn du sie triffst, das schwöre ich dir.“ Etwas an Kylies Tonfall gefiel ihm nicht. Aber er wusste nicht genau, was.

„Ach ja?“, prüfte er nach, „Aber ich hoffe, dass du weißt, dass ich mich von dieser Familie ganz besonders fernhalten werde.“

„Natürlich“, beruhigte Kylie ihn, „Aber ich nicht. Wie du weißt.“ Sie grinste durchgehend. „Jedenfalls geht es allen gut und blabla und sie freut sich, dich kennenzulernen und hofft, dass sie gut mit dir auskommen wird.“

„Da hat sie aber leider schweres Pech“, informierte Ray sie sachlich.

„Sie ist an schwere Zeiten gewohnt.“ Wieder war da dieser Tonfall. „Sie wird aber durchhalten.“ Ein amüsiertes Glitzern trat in ihre Augen. „Das wird eine ziemlich fette Überraschung für dich werden.“

„Da bin ich aber froh“, gab er unbegeistert zurück, „Werden sie da sein, wenn wir jetzt kommen?“ Er sah eine Abzweigung. „Ich kenne einen Umweg.“

Plötzlich krallte sie sich in seinem Arm fest – was er durch den Mantel hindurch spürte. „Ich habe einen Kuchen für dich gebacken“, erinnerte sie ihn mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen, „Du hast die Pflicht, den jetzt mit mir zu teilen.“

Er verdrehte die Augen. „Willst du deinen Plan nach wie vor durchführen?“

„Wenn er mit Kuchen verbunden ist, dann schon.“ Und schon zog sie ihn fort.
 


 

Als ihr Vater die Tür aufsperrte, trat Kyrie ein – denn wie ein echter Gentleman ließ er den Damen Vortritt. Die Fahrt war schweigend verlaufen, wie die ganze Woche schon. Immerhin war Ray nicht da, mit dem sie reden konnte … und zu erzählen hatte sie auch nichts …

„Wah!“, rief Magdalena erschrocken aus, was Kyrie sofort aufsehen ließ.

Mitten in der Wohnung stand Thierry.

„Gute- …“, erklang seine höfliche Stimme, doch viel mehr hörte Kyrie nicht, weil ihre Mutter sie sofort nach außen zog und die Tür hinter sich zuschlug, wobei John es noch ins Haus geschafft hatte.

Sie standen im schneebedeckten Garten. Nichts deutete darauf hin, dass hier eine Hobbygärtnerin wohnen könnte – alle Pflanzen waren der weißen Schneemasse gewichen.

Magdalenas Augen waren geweitet.

„Alles … in Ordnung?“, informierte sie sich.

„Kyrie, Liebes …“, begann die Frau, wobei sie noch einen Blick zur Tür wagte, „Ich liebe dein Dasein als Engel. Ich mag deine Engelsfreunde und finde es toll, wenn du sie nach Hause mitbringst.“ Sie atmete tief durch. „Aber … ich würde es sehr schätzen, wenn du sie mitbringen würdest und sie nicht einfach überall wie Blümchen hervor sprießen würden!“ Den letzten Satz betonte sie besonders durch die Lautstärke, mit der sie sprach. „Wenn sie mich überall erwarten! In der Küche, im Wohnzimmer … bevor ich überhaupt das Haus betrete!“

Kyrie zuckte bei dem ungewohnten Ton beinahe zusammen. So hatte sie ihre Mutter ja nur selten erlebt … so … beinahe wütend … Vielleicht war sie auch nur schockiert.

Ja … Kyrie hätte daran denken sollen. Es musste wirklich eine Belastung für ihre Eltern sein, nicht zu wissen, wann und wo plötzlich überall Engel auftauchten …

Sie starrte auf den Boden. … Sie war so dumm.

Aber … was sonst hätte sie tun sollen? Wie sollte sie ihnen erklären, dass sie sich einfach nicht traute, alleine in den Himmel zu gehen? Dass sie um die Eskorte gebeten hatte? Sie brauchte? Wie sollte sie das plötzlich abschaffen? Wie …?

Verzweiflung machte sich in ihr breit. Dieses seltsame Bauchgefühl … Übelkeit stieg in ihr hoch – und damit zusammen das Gefühl, gleich in Tränen ausbrechen zu müssen. Thierry litt wegen ihr … und es würde nie etwas nützen … Nein, sie musste … sie musste sich zusammenreißen …!

„Kyrie, Schatz?“ Magdalena legte sanft die Arme um sie. „Ich … wollte nicht böse sein, es ist nur …“

„Ich verstehe schon“, murmelte sie, „Ich … werde mich nach einer anderen Lösung erkundigen …“ Sie seufzte. „Es ist sowieso zu gefährlich, wenn … Ray wieder kommt …“

Magdalena nickte und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Aber mittwochs, wenn du sie mitbringst und es ankündigst, sind sie natürlich sehr gerne willkommen.“ Ihre Mutter lächelte aufrichtig. „Das nächste Mal gibt es dann das Festmahl, das sie das letzte Mal verpasst haben!“

Kyrie brachte ein Lächeln zustande. „Ja, danke.“

Gleich darauf wandte die Frau sich gleich wieder der Tür zu und trat ein – sie begrüßte Thi sogleich mit einem hocherfreuten: „Guten Tag!“ und bot ihm etwas zu essen an.

John war derweil schon in die Küche gegangen, um etwas herzurichten.

Sie lächelte Thierry an, der sie belustigt anschaute. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie aber, dass er gar nicht wirklich gut drauf war. Das war ein Schauspiel für ihre Eltern. Dasselbe Schauspiel, das auch sie abzog.

„Ich glaube, wir verzichten heute beide auf das Essen, oder?“, schlug Kyrie vor, „Im Himmel gibt es ja genug.“

John wandte sich um – er hatte dieses begeisterte Glitzern in den Augen, das er immer bekam, wenn der Himmel erwähnt wurde. „Na gut, aber esst euch ja satt, hört ihr?“

„Wo ist eigentlich Nathan?“, wandte sich Magdalena dann an sie.

„Heute bin ich einmal Kyries Lehrer“, erklärte Thierry sogleich.

Als er zu sprechen begonnen hatte, hatte ihr Herz für eine Sekunde ausgesetzt. … Wenn er zu viel verriet … Sie mussten schnell weg.

Sofort hakte sie sich bei Thierry unter und lächelte einmal die Runde. „Ich schaue zu, dass ich heute etwas früher heim kann.“

„Wir bewahren dein Abendessen auf“, bot Magdalena ihr an, „Du isst bestimmt zu wenig.“

Kyrie winkte. „Bis später.“

Und damit beeilte sie sich nach draußen.

Als sie die Tür erreicht hatten, ließ sie Thi los.

„Und wo bleibt die Umarmung?“, wollte er von ihr wissen, wobei er die Hände ausbreitete. Und sie umarmte ihn.

„Ist dir nicht kalt?“, wollte Kyrie wissen, „Du bist nicht ordentlich angezogen.“

„Ich bin Sportler“, antwortete er, als würde das alles erklären.

„Und wieso bist du so früh da?“ Sie ließ ihn los, entwickelte den Schal, den sie noch um ihren Hals trug und gab ihn Thierry. „Damit du nicht zu fest auffällst.“

Er lächelte. „Danke!“ Und schon schaute er aus wie jemand, der sich nicht sicher war, welche Jahreszeit sie hatten. Aber durch seinen dunkleren Teint wirkte er sowieso eher wie jemand aus dem Norden – und da war so ein Schneefall ja gar nichts … wie sie bei Kylie festgestellt hatte. „Ich war mir nicht mehr sicher, welche Uhrzeit du festgelegt hattest … da dachte ich mir – lieber früh als spät!“

„Und … seit wann bist du schon da?“, hakte sie nach, während sie sich in Bewegung setzten.

„Erst eine Stunde oder so“, meinte er lässig, „Aber ich habe mich nicht vom Fleck bewegt!“

Sie lächelte.

Es war seltsam, dass Thierry neben ihr herging – und nicht Nathan. Thi war größer und muskulöser – das wären doch zwei Indizien, um sich bei ihm sicherer zu fühlen … aber … er war nicht Nathan … Er hatte ihr nicht versprochen, dass er auf sie aufpassen würde. Natürlich zweifelte sie nicht wirklich daran, dass er es nicht dennoch tun würde, aber … Die Angst nagte an ihren Knochen. Angst davor, dass Xenon dabei sein könnte. Er war ein Assistent. Er war stärker als Thi. Hätte Thi eine Chance gegen ihn? Aber … er war ja hier, um ihr etwas zu zeigen, das ihr half – etwas, das nicht einmal Nathan beherrschte … Er musste also eine Chance haben … oder?

Sie sah in das Gesicht des Engels. Er hatte einen entschlossenen, beinahe grimmigen Gesichtsausdruck aufgelegt. Etwas, das sie an ihm noch nie in diesem Ausmaß gesehen hatte … Ob er sich bereits mental auf die Übungen vorbereitete?

Sie erschauderte bei dem Gedanken daran … Was das wohl werden würde?

Wenn er so nervös war, steckte er sie an … Und sie kamen dem Hochhaus immer näher. Und wenn sie dann ihre Flügel ausbreiteten, würde die Stunde beginnen können …
 

„Nein, wir bleiben hier“, bestand Thierry. Sie standen mit ausgebreiteten Flügeln am Dach des Hochhauses. Das hatte sie mit Nathan doch auch schon hundertmal gemacht. Warum überkam sie dann jetzt diese unsägliche Nervosität? … Weil eben Nathan nicht da war.

Thierry hielt sein Schwert in einer Hand. „Gula hat mit mir die Macht des Blendens geteilt.“ Seine Stimme war leise, kaum hörbar. „Sie gehört zu den verbotenen Techniken, weil man sie nur durch Verletzungen erlernen kann.“ Er schaute sie mit seinen hellen Augen entschlossen an. „Absichtliche Verletzungen.“

Und das war verboten. Einen anderen Engel zu verletzen.

„Es geht dabei um das Opfer. Das Opfer muss das Blenden erlernen. Deshalb muss es angegriffen werden – und das heißt, dass der Täter in dem Moment Macht über das Opfer hat.“ Er sprach stockend, als hätte er Angst vor seinen Worten.

Sie konnte das nachvollziehen. Seine Worte ließen sie ebenfalls erschaudern.

„Es ist eine Verteidigungsmaßnahme, bei der man selbst sich der größten Gefahr aussetzt …“ Er seufzte laut hörbar. Echtes Bedauern ging von ihm aus, seine Schulter hingen beinahe kraftlos herab. Er wirkte fertig. „Ich erkläre dir den Ablauf … vielleicht schaffst du es ja beim ersten Mal, sonst …“ Seine Stimme brach für einen Moment. „Sag mir bitte einfach, wonach ich suchen soll. Such dir irgendetwas aus.“

„Thi …“, murmelte Kyrie. Sein Schmerz bei der ganzen Sache war nur zu deutlich für sie fühlbar, „Du … du musst das nicht tun, ich-…“

Barsch unterbrach er sie: „Gula hat es mir befohlen! Ich bin ihm untergeben – ich tue, was er sagt. Und es ist für dich.“ Sein Mund bildete eine gerade Linie. Nichts von seiner Freundlichkeit war übrig geblieben. „Sage mir etwas in deinen Gedanken, auf das ich mich stürzen soll.“

… Jeff hatte sich auf welche ihrer schlimmsten Erinnerungen gestürzt. Die, die sie von ihren Mitschülern hatte, die sie verstoßen hatten. Er hatte alles heraufgeholt, das sie in das Loch des Vergessens hatte schütten wollen. Thierry wollte scheinbar genau so etwas verhindern. Sie würde ihm also etwas Gutes zeigen. Etwas, das ihn glücklich machte … Aber was? Mittwochstreffen? Aber dabei würde er wohl auf das gestrige stoßen – und das deprimierte. … Ihre ersten Eindrücke vom Himmel? Da würde er wohl unweigerlich auf ihre Angst vor allem stoßen …

„Sieben Sünden“, fiel ihr plötzlich ein. Ray hatte sich so sehr über das Geschenk gefreut. Und das Konzert war so erfüllend gewesen. Das erste Mal, dass sie sich fernab der Mauer getroffen hatten. Der Sänger, der ein Engel war …

Er nickte. „Vielleicht machst du mich ja zum Fan.“ Wenn er gelächelt hätte oder etwas Belustigung in die Stimme gelegt hätte, wäre es vielleicht als Witz aufzufassen gewesen. Aber so … wirkte er einfach nur wie ein Schüler direkt vor der Prüfung. Ein unvorbereiteter Schüler.

„Wie sollte ich blenden?“, fragte sie dann. Sie verschränkte die Arme und versuchte, nicht allzu ängstlich zu wirken. Immerhin konnte immernoch jemand hinter ihr auftauchen, während Thierry gerade das Schwert an ihr testete. Oder … Nein, nein, sie durfte nicht daran denken.

Er sog scharf die Luft ein. „Denke an das Schlimmste, was dir je widerfahren ist. An das Schrecklichste. Oder am besten gleich alles Schreckliche zusammen. Du musst deine ganze Seele erschüttern, alles in dir zum Wanken bringen – und es muss so stark sein, dass der andere keine Auswahl hat. Jede deiner Erinnerungen muss mit diesem Schrecken gefüllt sein.“ Er hielt kurz inne. „Und … der Schrecken muss drohen, auf den anderen überzugehen.“

Kyrie runzelte die Stirn. „Was? Wie … aber …“ Sie wusste nicht genau, was sie damit sagen wollte. Aber alles in ihr zog sich zusammen. Das Schrecklichste … „Aber … Jeff … er hat meine schrecklichen Erinnerungen ausgegraben, um …“

Thierry unterbrach sie. Sänfte lag wieder in seiner Stimme. „Er hat die umgekehrte Methode verwendet. Das, was den Schwertkampf so bedeutend macht. Er kann deine Erinnerungen hervorholen, um sie sich anzusehen – aber auch, um sie dir wieder so vor Augen zu führen, dass du fühlst, was du damals gefühlt hattest.“

Ihre Augen weiteten sich. „Also … muss man diese Waffe gegen den Schwertkämpfer wenden.“

Er nickte.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. … Also musste sie von jetzt an jedes Mal, wenn sie alleine war, voller Angst sein. Sie war jedes Mal voller Angst, wenn sie alleine war – aber diesmal musste sie so viel Angst haben, dass sie die Angst richtig in den anderen hinein pressen konnte. Dass Jeff ihre Angst fühlte, wenn er es noch einmal versuchte, dass … Thi ihre Angst fühlte …

„Ich … kann das nicht …“, murmelte sie, „Ich … kann dir das doch nicht antun …“

Er schüttelte den Kopf und legte ihr seine freie Hand auf die Schulter. „Ich habe Gulas Angst gesehen. Und das ist das Erste, was ich vergessen möchte. Also … je schneller wir das durchziehen, desto schneller sind wir glücklich.“

Sie nickte, auch wenn sie nicht davon überzeugt war. … Wenn sicher zu sein, bedeutete, ewige Angst zu verspüren … war sie dann überhaupt sicher?

„Als Reaktion auf diese plötzlichen Erinnerungen lassen die Gegner dann das Schwert fallen oder sinken“, erklärte Thi weiter, „Und das bedeutet, dass du entweder selbst die Chance zur Notwehr oder aber zur Flucht haben wirst.“ Er fing ihren Blick auf. „Wir müssen das also schaffen. Ich will, dass du eine Chance gegen diese Verbrecher hast. Und Gula will das auch.“

Sie nickte. „… Du darfst … anfangen …“, murmelte sie.

Und der erste Stich folgte.
 


 

Ray hatte schon viele schöne Gesichter gesehen. Eines der schönsten hätte er heute fast geküsst und ein anderes stand grinsend hinter ihm, um ihm den Weg abzuschneiden, sodass er nicht einfach abhauen konnte.

Sein Vater war nicht da, Kim hingegen schon. Und neben ihr stand jemand, der genau dasselbe rabenschwarze Haar hatte, das kunstvoll hochgesteckt worden war. Perlen, Bänder und Blumen verzierten das Haar und gaben durch die silberne Farbe den Eindruck wider, dass das das wertvollste Haar der Welt sein musste. Doch noch dazu umrahmten die dunklen, auffälligen Locken ein Gesicht, welches erst bei genauerem Hinsehen als Maske aus Make-up erkennbar wurde. Doch die Ausstrahlung, die das Gesicht hatte, war mystisch. Die Augen stachen groß hervor, wirkten so wunderschön und dunkel, umrahmt von langen, schwarzen und dichten Wimpern, als entsprängen sie direkt einer Model-Zeitschrift. Auch ihre Lippen waren schön geformt und hatten die unnatürlich natürlichste Farbe, die er je gesehen hatte. Alles in allem war das Gesicht also perfekter als nur perfekt. Trotz ihrer eher rundlichen Wangen, wobei die Wangenknochen mit Make-up perfekt zur Geltung gebracht wurden. Und das fiel ihm auf, obwohl er keine Ahnung davon hatte, was Schönheit ausmachte. Er wusste nur, dass sie schön war.

Zumindest hatte er das gedacht, bis er sich von dem engelsgleichen Anblick ihres Gesichts losreißen konnte, um den … Torso begutachten zu können. Man musste ihr wohl zugute halten, dass sie wusste, welche Stellen sie betonen sollte, um bei einigen Leuten großen Eindruck zu hinterlassen … aber dass das Kleid unter der Brust einfach nur ausladend war, lag sehr wahrscheinlich nicht nur am Stoff. Aber dennoch wirkte sie graziös und eindrucksvoll wie eine Königin. Eine Königin, die schon viel zu oft Kuchen gegessen hatte.

„Ray!“, rief Kim überrascht aus, „Du bist hier!“ Sie lächelte. „Alles Gute!“ Schnell ging sie auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen.

Da stand sie. Mit ausgestreckter Hand. Bereit, ihm ins Gesicht zu schlagen – oder zum Geburtstag zu gratulieren. Aber … plötzlich fiel ihm auf, dass sie und Liz beinahe ein Gesicht hatten. Nur, dass eines breiter geraten war. Sie hätten ja fast gleich alt sein können! Dazu noch dasselbe Haar … Und durch den Bauch, der Kim derzeit etwas rundlich wirken ließ … Zwillinge. Es hätten die schönsten, übergewichtigen Zwillinge sein können, die er je gesehen hatte.

Wie in Trance reichte er ihr einfach die Hand und nickte.

„Man starrt einer Frau nicht so in den Ausschnitt, Ray“, riss Kylies viel zu amüsierte Stimme ihn aus den Gedanken. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Blick wirklich wieder zu Liz’ … Sie hatte sogar mehr zu bieten als Kylie. Ein Rotschimmer überdeckte seine Wangen. Wie peinlich. Sofort wandte er sich um, um die Kücheneinrichtung zu betrachten, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben sehen.

„Vor allem, wenn man sich noch gar nicht vorgestellt hatte“, erklang eine sanfte Stimme. Liz’ Stimme. Die Stimme passte zu ihrem Gesicht. „Und du sollst mein Stiefbruder sein?“

„Ich beneide dich gar nicht“, gab Kylie dazu, „Er kann manchmal echt anstrengend sein.“

Sie lachte. „Das sind alle Männer, meine Liebe.“

„Nein, wirklich“, setzte sie noch einen drauf, „Jeder Mann lernt einmal, mir zu gehorchen – aber er weigert sich einfach ständig, vernünftig zu sein.“ Sie verschränkte die Arme.

Kim lachte leise. „Er hat heute doch Geburtstag, lasst ihn in Ruhe. Wir sollten essen.“

„Sie hat recht“, stimmte er zu. Er hätte nie geglaubt, dass er so etwas sagen würde. Irgendetwas in diese Richtung. Aber als er die große Schokoladentorte am Tisch sah, auf der liebevoll die Zahl 20 geschrieben stand, drum herum Becher, Kaffee, Tassen, Saft und Teller …

Das war seit fünfzehn Jahren der erste Geburtstag, den er nicht im Krankenhaus verbracht hatte. Seine Mutter … Sie würde auch ein Stück der Torte wollen. Er würde sie Kylie mitgeben. Und für Diane natürlich auch.

Plötzlich erschien ein Bild vor seinen Augen.

Das Gesicht seiner Mutter und auch Dianes Lächeln sahen ihm entgegen.

Kylie hielt ihr Handy vor seine Nase. „Das haben wir noch vor meiner Abreise gemacht“, erklärte sie, „Das ist dein Geburtstagsgeschenk von ihnen. Du sollst an sie denken, wenn du den Kuchen isst.“

Langsam und vorsichtig, als wäre das Gerät genauso zerbrechlich wie seine Mutter, nahm er es in die Hand und bestarrte das Bild. Er bemerkte, dass Kim ebenfalls den Bildschirm begutachtete.

… Das Lächeln seiner Mutter … Seit über einem halben Jahr hatte er sie nicht mehr gesehen.

Es musste ihr wirklich eine Zeit lang schlechter gegangen sein. Sie sah so mitgenommen aus. So viel … älter …

Er packte das Handy fester. Er würde sich noch mehr anstrengen müssen. Er würde ein Heilmittel finden.

„Kannst du ihnen Kuchen mitbringen?“, wandte er sich an Kylie.

Sie nickte fest und lächelte. „Natürlich! Aber erst, wenn du ihn vorgekostet und überprüft hast!“

Er lächelte. „Danke.“

„Und alles Gute noch von mir“, mischte sich Liz dann ein. Sie stand plötzlich neben ihm und hielt auch ihre Hand hin. Er schüttelte sie wortlos und setzte sich dann auf den Stuhl.

Diane, Kylie, seine Mutter und er. Kim und Liz hatten den Platz der anderen beiden eingenommen … Aber in ein paar Jahren … würde er wieder mit seiner Mutter feiern. Und diese würde dann ihr Besteck selbst halten können.

Am liebsten wäre er gleich aufgesprungen, um zu lernen. Aber der verführerische Geschmack des Kuchens ließ ihn dort bleiben. … Doch in seinen Gedanken war er schon lange nicht mehr am Geschehen des Tisches beteiligt.

Thierry hatte einen Witz erzählt, woraufhin Nathan einen blöden Spruch dazu gesagt hatte. Alle hatten gelacht. Kyrie war so voller Freude gewesen. So fröhlich und froh – Freunde! Das waren wirklich ihre Freunde geworden! Liana hatte sie angestoßen und sie dann mit ihrer lustigen Art noch mehr zum Lachen gebracht. Ihr Bauch hatte geschmerzt – seit wann hatte sie nicht mehr so gelacht?!
 

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Thierry. Er wirkte noch erschöpfter als zuvor. „Das Zurückziehen dauert immer ein wenig.“ Sooft wie er das bereits wiederholt hatte, wollte er es wohl sich selbst weismachen … Kyrie saß ans Geländer gelehnt da. Mittlerweile hatte sie ihre Flügel eingezogen, weil sie sich dadurch sicherer fühlte. Auch wenn Unsicherheit ihr im Moment wohl gut tun würde, doch … sie fühlte sich jetzt schon panisch genug.

„Du weißt ja nicht, wann diese Kerle zuschlagen werden“, erinnerte Thi sie zum hundertsten Mal, „Also benimm dich natürlich – und schlag dann mit voller Kraft zu.“

… Sie wusste mittlerweile, dass er unerwähnt ließ, dass sie die Angst trotzdem immer bei sich tragen musste. Abrufbereit.

… Aber nahm sie das nicht eigentlich alles auf sich, um keine Angst mehr fühlen zu müssen? Wie … wie sollte sie da denn jemals ihre Angst verlieren? Sich wohl befinden?

Doch zumindest würde sie mit dem Leben davon kommen können … das war es doch wert … Wenn sie zu Ray zurückkehren konnte … Ja, wenn das möglich war, dann … dann würde es doch gehen.

„Alles in Ordnung?“, prüfte Thi nach. Er wirkte geschockt. „Habe ich dich zu sehr verletzt?“

Er hatte nur wenige Schnitte getätigt – immer wieder auf dieselben Stellen. „Machen wir Pause? Gehen wir in den Himmel. Da kannst du dich ausruhen. Oder willst du gleich im Himmel weiterüben?“ Er wirkte richtig besorgt und etwas hilflos. „Da verletzt du dich dann nicht.“

Sie wusste, dass er immer Teile der Ängste gesehen hatte, die sie ihm zeigen wollte. Die Angst vor allem, was mit dem Himmel zu tun hatte. Die Angst davor, wieder verraten zu werden. Die Angst, dass jemandem, den sie liebte, etwas zu stieß … Und vor allem die Angst, dass ihr selbst wieder etwas zustieß.

Denn wenn jemand angestrengt an etwas dachte, dann war es das Erste, was der Schwertschwinger vorfand. Doch wenn es nicht eindringlich und eindrucksvoll genug war, war es kein Blenden. Und damit nutzlos – nur Material, das gegen einen benutzt werden konnte. Und deshalb war Vorsicht geboten: All diese Angst musste immer da sein, doch irgendwo, wo nur sie sofort darauf zugreifen konnte. Wo sie den anderen mit all der Inbrunst ihrer Angst blenden konnte.

Sie streckte die Flügel aus. Sie stießen gegen die Wand, was dazu führte, dass sich ziemlich viele von ihnen lösten. Schwanenfedern - wie Ray sie nennen würde … Ray …

„Thi?“, murmelte sie, „Kann man jemandem vertrauen, der alles für sich behält?“

Er sah sie so überrascht an, wie sie sich fühlte. „Was? Wie meinst du das?“

Warum hatte sie ihn das jetzt so plötzlich gefragt? Sie … wollte das doch gar nicht!

Sie schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. „Ich … ich … Die Menschen auf der Erde … Sie dürfen doch nichts vom Himmel erfahren, um den Frieden zu wahren …“, stotterte sie nervös herum. Was … wollte sie damit bezwecken? Warum gerade jetzt? War sie so fertig, dass sie nicht einmal mehr kontrollieren konnte, was sie sagte?

Aber etwas in ihr drückte gegen sie. Vielleicht hatte Thierry mit seinen Angriffen unbewusst diese Frage hervorgerufen. Und jetzt … brauchte sie eine Antwort … einen Rat …

Er nickte bekräftigend. „Ganz genau. Darum sollten wir jetzt auch gleich dorthin gehen.“ Er hielt ihr die Hand hin.

Sie nahm sie dankend an. Und in dem Moment, in dem sie seine Hand entgegen nahm, wurde ihr klar, dass er sie nicht im Stich lassen würde. Dass er ihr bei ihr bleiben würde, egal, wer da kommen mochte.

Sie waren umhüllt vom goldenen Glanz des Himmels. Sie spürte, wie seine heilende Kraft auf sie einwirkte und die äußerlichen Narben verschwanden – doch die seelischen Kratzer blieben. Sie hatte Details über den Schwertkampf erfahren, die Nathan ausgespart hatte: Dass es wichtig war, die Erinnerungen der anderen löschen zu lassen, weil man ansonsten immer einen Teil der Person in sich trug – und zwar der Persönlichkeit. Es war also so ähnlich wie beim Ruf – nur schlimmer. Denn je mehr Erinnerungen man hatte, desto schlimmer wurde es scheinbar.

Die Technik war geschaffen worden, um die Wahrheit über die Ziele der Dämonen herauszufinden. Diese Erinnerungen hatte man dann weiter- und abgegeben, sodass die bösen Gedanken nicht in einem Engel haften blieben. Und das geschah auch heute noch, wenn ein Engel einen Dämon besiegte. Deshalb war eine gute Vorbereitung so wichtig …

Und sie bereitete sich darauf vor, gegen Engel zu kämpfen – was nicht erlaubt war. Sie fühlte sich elendig, wenn sie daran dachte, was sie eigentlich tat … Was war nur aus ihr geworden?

„Aber … um auf deine Frage zurückzukommen …“, riss Thierry sie aus den Gedanken, „Ich denke schon.“

Sie sah ihn überrascht an.

„Also – das mit dem Vertrauen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich vertraue den Todsünden vollends, obwohl ich ganz genau weiß, dass sie uns sehr viel vorenthalten.“ Dadurch, dass sie seine Hand noch immer hielt, bemerkte sie, dass ein Zittern ihn durchfuhr. „Durch Gulas Erinnerungen …“ Er schüttelte schnell den Kopf. „Nein, das … soll nicht in die Öffentlichkeit …“ Sein Blick war von Trauer durchtränkt. „Aber wir sollten uns im Klaren sein, dass alle Engel Angst haben können.“

Sie sah betroffen auf den Boden. So viele Geheimnisse, die er nicht wollte, trug er in sich … Sie selbst hatte abgelehnt, das Blenden auszuprobieren. … Sie konnte ihn doch nicht verletzen! … Außerdem ... wollte sie seine Ängste nicht kennenlernen. Sie würde es nicht ertragen, sie zu kennen. Sie war nicht stark. Aber ihre Freunde waren es. Die Leute in ihrer Umgebung waren stark. Diejenigen … denen sie vertraute …

Stille umgab sie, bis Kyrie sie durchbrach. „Und … kann man jemanden lieben, der einem nicht alles anvertraut?“ Als sie die Frage stellte, hüpfte ihr Herz eine Stufe höher. Hatte sie das gerade wirklich laut gesagt?

„Ich hoffe, du redest nicht von Nathan, sonst hast du ein Problem.“ Als sie ihn ansah, bemerkte sie, dass er sanft lächelte. „Aber … ja – wenn ich mir Liana oder Joshua so ansehe … Natürlich. Manche Dinge sind einfach nicht für jedes Ohr bestimmt.“

Sie nickte. Die Antwort war … nichts sagend … Das … konnte doch nicht funktionieren … wie man bei Nathan und Joshua sah. Nein – da durfte es nicht funktionieren. „Aber … es muss wirklich schwer sein, sich zu … trennen … als Assistent. Von dem, was man liebt …“

Er nickte. „Wenn man mich vom Spielfeld holen würde – oh, weh, das wäre unschön.“ Er schüttelte den Kopf. „Darum sollten starke Engel am besten sofort weglaufen, wenn sie nicht bereit dazu sind, Verantwortung zu übernehmen.“

Kyrie sah ihn fragend an. „Wie … meinst du das?“

„Als Nathan in Acedia geflogen ist, hatte er keine reale Chance mehr, kein Assistent zu sein.“ Thi ließ ihre Hand los und schaute sich um. Seine Stimme hielt er gesenkt. „Sie brauchen starke Engel – und deshalb werden sie so oder anders irgendwo in die Ränge eingesetzt, wo gerade Platz ist. Die Frage, ob man möchte, geschieht aus reiner Höflichkeit.“ Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe schon oft gehört, dass plötzlich ein riesiger Haufen Ränge vor einem Ablehner gestanden hat, um ihn doch noch zu überreden, einen Job zu machen.“

Ihre Augen weiteten sich. „Was? Nathan ist also … gezwungen worden?“

Thierry nickte. „Und dann noch Todsünde. Er tut es zwar immer als amüsanten Vorfall ab, aber … in Wirklichkeit war das ein Schicksalsschlag … vor allem für ihn und Joshua. Immerhin brauchen die Todsünden scheinbar absolute Gleichgültigkeit – na gut, nicht nur scheinbar.“ Auch er verschränkte die Arme. „Stell dir vor, Nathan wäre schon Acedia und ich stünde dann vor ihm mit der Bitte, mir meine Erinnerungen zu rauben …“

… er würde das nicht tun können. Kyrie wusste zwar nicht, was genau da geschah oder wie es sich anfühlte, aber sie war sich sicher, dass Nathan ablehnen würde. Der Nathan, den sie jetzt kannte. … Wie sich der gleichgültige Nathan entscheiden würde, war allerdings eine andere Frage. Eine, auf die sie Antwort ebenfalls kannte – auf die sie aber keineswegs stolz war … Sie hoffte, dass sie Zeit ihres Lebens den alten Nathan genießen durfte. Egoistisch, aber … es war ihr Wunsch.

„Oder wenn er einen Ausfall hätte, weil Joshua etwas passierte …“ Er schüttelte den Kopf. „So etwas kann man sich in einer hohen Position nicht leisten. Er muss unantastbar sein.“ Erneut erschauderte er. „Darum nimmt mich das mit Gula auch so mit, dass er so … verletzlich …“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Nein, ich muss das schnell vergessen.“

Er schaute flehend zu Kyrie. „Aber hast du das mit dem Blenden jetzt begriffen?“

Sie starrte ihn an. Das mit den Blenden nicht. Aber sie glaubte, jetzt endlich in etwa das Ausmaß seines Leidens zu verstehen. Es ging ihm nicht wirklich darum, etwas Verbotenes zu tun. … Aber mit der Aktion war sein Weltbild zerstört worden.

Sie hatte ihrem Freund das angetan, wovor sie den Rest ihrer Freunde beschützen wollte: Etwas zu zerstören, woran sie glaubten. Dasselbe zu fühlen wie sie, als die Engel sie attackiert hatten. Den Verlust aller Hoffnung …

Ehe sie sich versah, umarmte sie Thierry. „Es tut mir so leid …“

Er erwiderte die Umarmung. „Für dich nehme ich das in Kauf …“ Dann schob er sie von sich. „Aber … machen wir weiter? Geht es mit deinen Erinnerungen?“

Sie nickte. „Wenn es dir mit deinen geht.“

Er brachte ein Lächeln zustande. „Gehen wir zum Schwertübungsplatz.“
 

Thierry und sie erschienen direkt in ihrem Zimmer. Kyrie war froh darum. Sie konnte das Zittern nicht mehr unterdrücken. Ängstlich klammerte sie sich an Thierry, der aber nicht wirklich besser aussah und sie ebenfalls fester hielt, als es sein musste.

„Keine … Sorge“, stieß er leise hervor, „Es geht …“

Sie ließ sich auf ihr Bett sinken und schaute schuldbewusst zu Thi, der die Tür im Auge behielt, als würde er damit rechnen, dass jemand gleich hindurch gehen und ihn umbringen wollen würde.

Er verschränkte die Arme. „Bis Mittwoch muss ich … die Erinnerungen los sein“, murmelte er vor sich hin, „Sonst …“

„Es tut mir so leid …“, gab Kyrie erneut hinzu. Sie hatte sich immer wieder entschuldigt. Je gehetzter Thierry wurde, desto schlimmer fühlte sie sich. Er hatte das Schwert überstrapaziert. Ihr zu viele Erinnerungen gestohlen. Frohe wie auch schreckliche. Weil sie eine Versagerin war. Eine schlimme, ängstliche Versagerin …

Er schüttelte den Kopf. „Ich … komme alleine raus …“

„Sollen wir wirklich nicht Nathan rufen?“, fragte sie kleinlaut, wobei ihr ein Schauer über den Rücken lief. … Dann würde Nathan auch von dieser Aktion erfahren. Wollte sie das wirklich? … In welche Gefahr würde sie ihn bringen … Was für Nachwirkungen das alles nach sich ziehen konnte.

Sie fiel zurück in ihren Polster und umarmte diesen fest. Drückte zu. Wollte, dass das Zittern verschwand.

Ein Blick zur Uhr verriet ihr, dass es bereits Mitternacht war. Also würde sie zur Eingangstür mitkommen müssen. … Nach unten gehen … Wo jeder sie erwarten konnte … Wenn Xenon herausfand, wo sie lebte, konnte er auch ihren Eltern etwas antun, um sie zu verletzen. Jeff … würde das bestimmt tun … Sein Grinsen, der Hass in seinen Augen … Alles lebte vor ihr auf, als würde sie es im Moment erneut erleben. Die Angst. Die schreckliche Angst. Alles schien zu schmerzen, sie konnte sich nicht bewegen, ihre Flügel …

Plötzlich realisierte sie, dass ihre Flügel ausgestreckt waren. … Sie … Sie war in ihrem Zimmer.

Thi schien von dem kurzen Anfall nichts mitbekommen zu haben, sondern mit seinen eigenen Gefühlen Probleme zu haben. „Eine Woche …“, murmelte er, „das … überstehe ich nicht …“

„Morgen“, löste sich ein Versprechen von ihren Lippen, „Morgen … werde ich das Blenden beherrschen.“

Erlösung trat in seine Augen. „Wirklich?“

Sie nickte. „Und … ich werde mich für dich an das Training erinnern … Ich werde dir ewig dankbar sein …“

„Ich danke dir ... auch wenn ich uns beiden wünschen würde, dass das nicht sein müsste …“ Trauer beschlich seine Augen. Er verschränkte die muskulösen Arme und schien sein Zittern vertuschen zu wollen. „Und …“

„Ja?“, hakte Kyrie nach. Sie war nicht neugierig. Mehr nervös. Was würde er sagen? Was von ihr wollen? Was, wenn er plötzlich zu den Bösen … Nein. Er würde ihr nichts tun … Sie … sie musste ihren Freunden vertrauen … Vertrauen … Das … brauchte sie jetzt …

„Darf ich hier bleiben, bis du morgen mit mir das Haus verlässt?“, fragte er schnell – dabei schaute er sich noch einmal kurz panisch um. Es war ihm sichtlich unangenehm, diese Frage zu stellen.

Sie sah ihn überrascht an. Aber insgeheim fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sie … war nicht allein. Sie brauchte nicht zur Tür zu gehen …

Kyrie erhob sich, wobei sie sich am Kasten stützte, um ihren zitternden Knien Halt zu geben. „Du schläfst im Bett“, bot sie ihm an, „Ich … ich … hole mir eine Decke und die Liege …“

„Musst du dafür weit weg?“ Er schaute immernoch vorsichtig hin und her.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein … grad ins Nachbarzimmer …“

Als sie die Tür öffnete, schluckte sie schwer. Sie ließ die Flügel ausgestreckt. Falls Xenon …

Der Flur war leer. Also zwang sie sich, ihre Schwingen einzuziehen. Hier … in ihrem Haus … hier brauchte sie keine Angst zu haben …

„Kyrie, bist du das?“, erklang die Stimme ihres Vaters von unten. Also waren ihre Eltern noch wach und schauten fern. Sie war erleichtert, dass sie nicht nachschauen musste, ob sie noch lebten. Sie lebten … Sie lebten!

„Ja“, rief sie erleichtert, „Gute Nacht!“

Und damit holte sie schnell, was sie brauchte und schlug die Tür zu.
 


 

Das leise Vibrieren seines Handys ließ Ray hochfahren. Er blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und blickte zur Uhr. Halb eins. Wer wollte um die Zeit noch etwas von ihm? Kyrie?

Oder war es Diane? War etwas mit seiner Mutter?

Schnell – und plötzlich hellwach - griff er nach dem Gerät, wobei er immernoch das leise Geräusch vernahm, das Kylie verursachte, wenn sie schlief.

„Es ist schon spät, es tut mir leid. Aber … ich wollte mich noch einmal dafür entschuldigen, dass ich heute nicht gekommen bin. Ich hoffe, dass du einen schönen Tag hattest. Ich bin froh, dass ich dich kennen gelernt habe. Und ich bete, dass wir uns noch oft sehen werden. Schlaf gut.“ Kyrie.

Er las sich die Nachricht noch einmal durch, nur um sicherzugehen, dass er sie auch richtig verstanden hatte. Schnell tippte er noch eine Antwort: „Schlaf jetzt, du Dummerchen. Deshalb brauchst du dich doch nicht so lange wach zu halten! Am Montag sehen wir uns, versprochen. Bis dann. Und danke.“, schrieb er. Er schickte ab, ohne noch einmal drüber zu lesen. Er wusste, dass er noch etwas abgeändert hätte, wenn er das getan hätte.

Aber … es war spät. Da sollte man seinen Gefühlen freien Lauf lassen.

Selbstzufrieden legte er sich wieder zurück.

Aber ja … es war ein erfolgreicher Tag gewesen. Er wusste wieder, was er wirklich wollte. Auch wenn Kyries Nachricht in ihm noch einen anderen Wunsch aufsteigen hatte lassen … sie zu umarmen. Jetzt … Aber … das musste er sich jetzt wohl noch für seine Träume aufsparen.

„Jeder trägt Angst und negative Gefühle mit sich herum“, erklärte Thi ihr, während er auf die Säule starrte, „Auch Leute, die es zu verbergen wissen.“

„L + G“ war in eine Säule aus Licht eingraviert. Doch Säule konnte sie es nur nennen, weil ihr gesagt worden war, dass es eine sein hätte sollen. Sie hätte es wohl als Stein oder Trümmerhaufen abgetan. Aber bei genauerem Hinsehen … hatte es sehr wohl etwas von einer gut konstruierten Säule. Eine, die einst wohl in Gold und Weiß geglänzt hatte und mit vielen kleinen, komplizierten Mustern versehen worden war … Und inmitten standen diese Initialen, die noch immer völlig unversehrt waren – als würde ihr Kraft den letzten Rest noch zusammenhalten.

Kyrie legte den Kopf schief. Sie wusste nicht genau, weshalb Thierry ihr diesen Ort zeigte. Auch wenn sie wohl einfach froh war, diese Abwechslung genießen zu dürfen.

Nachdem sie am Morgen beide zitternd, aber weitgehend beruhigt, aufgestanden waren, hatte Kyrie ihren Eltern erklärt, dass Thi sie gestern Nacht noch nach Hause gebracht hatte, aber für den Rückweg zu geschwächt gewesen war. Und dass sie beide müde waren. Bei Kyrie lag das aber wohl daran, dass sie bestimmt noch eine Stunde lang die Antwort, die Ray ungewöhnlich schnell getippt hatte, durchgelesen hatte. Sie wusste nicht, ob es Euphorie war, dass sie ihn am Montag wieder sehen würde, dass sie dann reden konnten, dass Kylie endlich weg war, oder eher die Angst, was er sagen würde, dass sie bis Montag nicht überlebte oder … was auch immer sie dazu geritten hatte, so eine unglaublich dumme Nachricht zu schreiben. … Aber von dem Nachrichtenaustausch hatte sie nichts erzählt. Vor allem, weil ihre nächste Nachricht nur ein lausiges „Gute Nacht“ gewesen war. Worüber sie sich dann noch mehr Gedanken gemacht hatte, während Thi ruhig neben ihr geschlafen hatte. Für das, dass Engel nicht schlafen mussten, waren sie unglaublich gut darin. Vermutlich beruhigte es einfach …

Aber Thierry hatte sie ja nicht so leicht verheimlichen können wie die Nachrichten. Das Missfallen im Blick ihrer Mutter hatte sie beinahe durchbohrt, während ihr Vater viel unbesorgter wirkte. Beinahe … erfreut. Aber das war ihr in dem Moment egal gewesen. Sie hatten gemeinsam gefrühstückt und dann waren sie ins Auto gestiegen. Zusammen hatten sie sich zum Hochhaus begeben, wo Thierry ausgestiegen und alleine weiter gegangen war. Er hatte ihr versichert, dass er es alleine schaffen würde.

Und nachdem sie alleine auf der Mauer gesessen und zuhause gut gegessen hatte, war er auch quietschfidel wieder aufgetaucht. Zumindest gab er sich unbekümmert, bis sie gemeinsam das Haus verlassen hatten.

Er hatte ihr offen gestanden, dass er es nicht über sich bringen konnte, noch einmal dieselbe Panik zu erleben wie am Vortag. Dass er Pause machen, diese aber auch sinnvoll nutzen wollte. Indem er ihr ein Geheimnis zeigte.

„Du hast mich ja gefragt, was es mit dem Vertrauen auf sich hat“, holte er erneut auf, „Und das hier ist meine Antwort.“

„Wofür steht es?“, wollte Kyrie wissen, wobei sie die Säule weiterhin musterte.

„Der Engel Gabriel hat diese Säule zum Zeichen seiner Liebe erschaffen“, erzählte Thierry, „Das war vor gut zweihundert Jahren“

Sie sah ihn interessiert an. „Was ist mit der Säule passiert?“, hakte sie nach. Zum Zeichen seiner Liebe … Solche Geschichten nahmen kein gutes Ende. Sie sollte sich lieber auf etwas gefasst machen …

„Gabriel ist gestorben. Die Säule hat er aber mit so viel Macht und Gefühl produziert, dass sie auch nach seinem Tod erhalten geblieben ist – und durch den natürlichen Abbauprozess der Magie, bleibt sie bis genau 333 Jahren nach seinem Tod erhalten.“

Kyries Augen weiteten sich vor Überraschung. „Das wusste ich gar nicht.“

„Ist nicht überlebenswichtig für schwache Engel wie uns beide“, meinte Thierry leichtfertig, „So etwas kümmert nur starke Engel.“

„Unsere Magie kann also gar nicht solange erhalten bleiben?“, kombinierte Kyrie – ein wenig betrübt. … Nicht, dass sie ein großes Denkmal errichten wollte … es … war nur schade, dass einfach nichts von ihr hier zurückbleiben würde.

„Nein“, bekräftigte er, „Die Ränge haben so viel Macht, wir nicht.“

„Ich verstehe …“ Sie verschränkte die Arme. „Was hat Gabriel denn so sehr geliebt?“

„Liana“, antwortete er.

Als er das sagte, hielt Kyrie den Atem an. Er konnte doch nicht … ihre Liana meinen! Die fröhliche, gut gelaunte … Nein, ihre Liana konnte doch keinen verloren haben … So darüber hinwegzukommen … funktionierte das?! Ganz ohne Bedauern, voller Freude … Natürlich konnte sie nicht ihr Leben lang trauern – aber dennoch …!

Kyrie hätte darauf geschworen, dass Liana eine jener Personen war, denen noch nie Leid widerfahren war.

„Sie waren keine hundert Jahre lang glücklich miteinander gewesen“, fuhr er fort, „Dann wurde Gabriel zu Superbias ersten Assistenten. Einer der stärksten und ältesten, die es je gegeben hatte … Und doch hatte er Liana umsonst aufzugeben versucht.“

„Hat er es denn wirklich geschafft?“ Ihr Blick auf die Säule, auf das unbeschädigte Herz mit den Buchstaben, verriet ihr die Antwort wohl nur zu genau.

„Nein“, meinte Thierry, „Er hat genauso versagt wie Nathan.“ Und so leise, dass sie es kaum verstehen könnte, fügte er hinzu: „Und wie Gula ...“

Sie sah ihn interessiert an, aber er verneinte.

„Gabriel ist jedenfalls ganz normal gestorben, hat den starken Zauber aber nie aufgelöst“, fasste er zusammen, „Und darum kommt Liana noch sehr oft her, um über vergangene Zeiten nachzudenken.“

Kyrie nickte verstehend. … Liana tat ihr leid. … Zweihundert Jahre … Eine lange Zeit, wenn man jemanden vermissen musste. Wenn man jemanden erst sehen konnte, sobald man selbst tot war … Unerträglich lange. Vor allem, wenn man ihn so sehr mochte … Und in hundert Jahren würde diese Säule nur noch ein Relikt aus ihren Erinnerungen sein … Also war es gut, dass Thierry sie ihr gezeigt hatte. So … konnte Gabriels und Lianas Liebe auch in ihrer Erinnerung weiter existieren.

„Ich wollte dir damit eigentlich nur klar machen, dass du die Zeit mit Leuten, die du magst, gut nutzen musst“, fuhr er fort, „Oder mit Dingen, die du gerne tust – du musst alles Positive solange genießen, wie es geht. … Denn irgendwann wird der Tag kommen, an dem du alles verlieren wirst …“

… Der Tag, an dem sie alles verlieren würde. Der Tag, an dem sie sterben würde.

… War das jener Tag, vor dem sie am meisten Angst hatte?

Mit diesem Gedanken erhob sie sich. „… Gut, dann will ich, dass du wieder zu deinem geliebten Spielfeld zurückkehren kannst.“ Sie suchte seine Augen. „Ohne Bedauern.“

Thierrys Gesichtsausdruck hellte sich für den Bruchteil einer Sekunde auf. „Sind wir beide denn schon bereit dafür?“ Die Frage war ernst gemeint.

Sie spürte das Zittern in ihren Knien. Übelkeit stieg jetzt schon in ihr auf. … Aber sie musste Thierry endlich erlösen. Es war genug, wenn einer von ihnen beiden diese Last mit sich trug. Ohne Bedauern. Sie musste Thi helfen. Er war ihr Freund, er hatte ihre geholfen! Sie … schuldete es ihm.

Sie schritt langsam los. … Ob sie auch irgendwann einmal lernen würde, mit ihrer Trauer so gut umzugehen wie Liana? Oder fehlte ihr dafür die Lebenszeit?

Ein weiterer Schritt. … Sie wusste nicht, was passieren würde … Sie konnte nur hoffen, dass alles irgendwie ein gutes Ende nehmen würde.

Und als sie am Schwerttrainingsplatz standen, glaubte sie, auf ihren Henker zu warten.
 


 

„Kyrie hat sich verändert“, stellte John nüchtern fest. Er stand im Garten und beobachtete den leichten Schneefall. Bald würde es schon wieder vorbei sein mit dem Schnee. Das war hier immer so, wenn es schneite. Vielleicht eine oder zwei Wochen – und dann kamen schon wieder die ersten Regenfälle.

Magdalena begutachtete den Gartentisch. Sie hatten ihn draußen stehen lassen, weil ihnen im Geschäft versichert worden war, dass dem Holz kein Schneefall etwas ausmachen würde. Seine Frau wirkte dennoch unzufrieden mit dem Zustand des Möbelstücks. Oder sie benutzte es als Ausrede, um ihm ihre Grimasse nicht zu zeigen.

Auch wenn sie bis zuletzt an die Richtigkeit geglaubt hatte, die in Kyries Handeln lag, so konnte sie ihre Sorge nicht mehr verbergen.

Natürlich war John besorgt, weil Kyrie sich plötzlich – innerhalb von ein paar Monaten! – mit lauter Fremden herumtrieb, aber er beruhigte sich immer wieder damit, dass es Engel waren. Und je mehr Zeit seine Tochter mit ihnen verbrachte, desto engelsgleicher wurde sie. … Aber desto weiter entfernte sie sich auch von ihnen. Und das war es wohl, was auch Magdalena zu schaffen machte.

„Sie verbringt kaum mehr Zeit mit uns“, gab Magdalena ihm leise Recht und erhob sich, sah ihn aber immernoch nicht an, „Sie … sperrt uns aus …“

„Zumindest bleibt uns noch die Stunde beim Autofahren“, kommentierte John trocken, wobei er sich nicht sicher war, wie ernst er das meinte. Sobald seine Tochter in das Auto stieg, schwebte sie in ihrer Gedankenwelt, zu der sie ebenfalls keinen Zugang besaßen. Und ab Montag würde wohl eine Fahrt wieder von Ray blockiert werden.

… Dieser Ray … John … hatte nichts mehr gegen ihn. Gut, er verachtete Gott, obwohl er mit einem Geschöpf Gottes befreundet war … Das war auch so eine Sache. Wie lange gedachte Kyrie, ihn noch anzulügen? Das war doch genau die Art von Situation, die er ihr ersparen wollte … aber … er konnte ihr dabei auch nicht helfen. Sie hatte ja Engelsfreunde. Warum gab sie sich dann noch mit Menschen ab, die ihr Geheimnis nicht erfahren durften?

Es war für ihn selbst ja auch schwer gewesen, zwanzig Jahre lang mit niemandem darüber zu reden – und für Magdalena war es gleich hart, das wusste er. Und jetzt hatten sie ihren Engel. … Aber einen, der seine Flügel dazu nutzte, davonzufliegen, ohne je eine Karte zu schreiben.

Er spürte sanfte Hände auf seinen Schultern und Magdalenas weiches, schwarzes Haar, das sich gegen seinenRücken drückte. Er lehnte sich ein wenig gegen sie. Sie war diejenige, die ihn immer aufgemuntert hatte, ihn immer vorantrieb. Sie war die Person, an die er glauben konnte. Und den Glauben an Kyrie würde er auch nicht verlieren. Sie fand jetzt ihren eigenen Weg, na gut. Aber sie sollte sich wirklich immer darauf verlassen können, dass ihre Eltern für sie da waren.

Egal, was passierte. John wollte sein Kind beschützen.

„Lassen wir sie weiter draußen stehen?“, wechselte er mit einem Nicken zur Gartenbank das Thema.

Seine Frau lachte kurz auf. „Zum Reinstellen ist es etwas zu spät.“ Sie schwieg kurz. „Aber wir sollten reingehen. Ich koche Tee auf.“

„Soll ich Kuchen holen?“, schlug John vor, „Vielleicht hat Kyrie ja später noch Lust dazu, ein Stück mit uns zu essen!“

„Tolle Idee!“, lobte Magdalena ihn und startete sofort los.

Heute hatten sie beide abends frei. … Hoffentlich würde Kyrie auch endlich Zeit für sie haben. Er unterdrückte ein Seufzen. Er war und blieb einfach ein Vater!
 


 

Dass Kyrie einen Heulanfall erlitten hatte, hatte Thierry als lobenswert empfunden. Erst hatte sie das nicht ganz verstanden, doch als ihre Tränen getrocknet waren, erkannte sie, dass Weinen zur Angst gehörte. Und wenn sie ihren Gegner zum Heulen bringen könnte … Sie erschauderte, als Thierry noch einmal zitternd das Schwert hob. Er wirkte so unsicher, so überhaupt nicht bereit und unwillig – und trotzdem schlug er Mal um Mal wieder zu.

Bruchstücke von negativen Erinnerungen machten immer und immer wieder den guten Gedanken Platz, nach denen Thi dann absichtlich suchte.

Einmal getroffen zu werden, würde ihr Todesurteil sein, wenn sie wieder als Gruppe ankamen. Dann konnte einer sie lähmen, während die anderen kurzen Prozess mit ihr machten. Sie erschauderte bei dem Gedanken, als Thi sie wieder losließ.

Sie atmete tief durch. Wenn sie kamen … wenn sie ihre Schwerter riefen … Wenn Kyrie sich treffen ließ, dann wäre alles umsonst gewesen. All die Zeit, die sie Nathan dazu gezwungen hatte, sein Schwert in die Hand zu nehmen. All die Momente, in denen sie sich an irgendwen geklammert hatte, um dessen Hilfe zu ersuchen, um ihn an die Front zu schicken … Und dennoch würde sie völlig alleine sein, sobald die Halbengelhasser sie aufsuchten. Da würde niemand sein, an den sie sich wenden konnte. … Am wahrscheinlichsten sogar noch Ray oder ihre Eltern … diejenigen, die sich gar nicht wehren konnten. Menschen, die den Schutz der Engel benötigten, weil sie keine Waffen besaßen …

Nein … Sie … sie durfte doch nicht alle, die sie liebte, in Gefahr bringen! Sie hatte endlich das Leben, das sie sich zwanzig Jahre lang erträumt hatte – und dann? Dann ließ sie es sich einfach kaputt schlagen? Von ein paar Hassern? … Ja.

Ja, das war so.

Sie hätte auf den Himmel verzichtet, wenn Nathan sie nicht zurückgeholt hätte. Sie hätte auf alles verzichtet, wenn nicht irgendwo immer wieder ein Licht aufgetaucht wäre, das sie angezogen hätte, das ihr versprochen hätte, bei ihr zu sein, wenn sie es brauchte … Dieses Licht … der Himmel hätte doch voller Licht sein sollen … Sie wollte das Licht, das ihn erleuchtete, wieder finden. Dass er für sie so trüb geworden war … wie hatte sie das nur zulassen können? Aber … sie wollte das ja nicht … Darum hatte sie letzten Endes zur Waffe gegriffen, hatte sich beibringen lassen, wie man zu einem schwertschwingendem Ungetüm wurde, das sich um jede Ecke verteidigen wollte, ohne dass das jemals gelang. All die Stunden, die Nathan für sie geopfert hatte … und dass sie nichts nutzten. Dass sie sogar noch Thierrys Zeit in Anspruch nehmen musste, um sich gegen das Gesetz zu stellen. Alles zur Selbstverteidigung. Alles für die Waffe.

Und doch wusste sie, dass es egal war, ob sie sterben würde oder nicht. Die Zeit, die sie alle in sie steckten, würde vergebens sein. Sie konnte nicht in den Himmel. Nicht alleine. Ohne ihre Freunde … schaffte sie das nicht. Sie wusste, dass sie in ein tiefes Loch stürzen würde, obwohl sie hoch hinaus wollte. Und dieses Loch bereitete ihr Angst.

Sie erschrak, als der nächste Hieb sie am Arm traf. Und als sie sich selbst beim Schwertkämpfen sah, wie sie die Szenen mit Xenons Untergebenen wiedererlebte und nicht zuletzt auch das Erlernen der verbotenen Technik erschien, erkannte sie, dass diesmal alles anders war. Sie war nicht gefangen. Und in dem Moment wich Thi auch mit einem kurzen Schrei zurück und hielt sich die Augen zu. Er stolperte rückwärts und verlor dabei sogar sein Schwert, welches sich natürlich sofort auslöste.

Er wirkte bleich. Tränen standen in seinen Augenwinkeln. „Das war keine Angst“, murmelte er schwer atmend, um sich wieder zu beruhigen. Er wischte sich über die Augen, schaute sie direkt an. „Das war ein Alptraum …“

Kyrie starrte ihn überrascht an. „Was war ein Alptraum?“

Er ging auf sie zu. Als er vor ihr stand, half er ihr auf. „Ich denke, du hast es geschafft … Du hättest nur noch wegfliegen brauchen und Verstärkung rufen …“ Seine Stimme stockte.

„Aber …“, widersprach sie, „Wie …? Ich meine - …“ Sie wusste nicht ganz genau, was sie meinte – außer, dass sie es nicht anders gemacht hatte als die letzten Male.

„Es hat geklappt“ Er schien noch erleichterter zu sein als sie selbst, „Dreimal noch“, schlug er vor, „Morgen, übermorgen und dann noch einmal.“ Er wirkte plötzlich so zuversichtlich, als wäre all seine Angst verschwunden. Als hätte er … neuen Mut gefunden. So motiviert … Wie schaffte er das? Gestern hatte er vor Angst noch gezittert und … jetzt? „Wenn du es immer schaffst, dann kannst du es. Dann bist du sicher.“ Er lächelte. „Vogelfrei! Du kannst dann wieder in den Himmel gehen, wie, wo und wann du willst!“

… In drei Tagen … würde das also geklärt sein. Alles.

Sie bemerkte, dass ihre Wunden schon wieder geheilt waren.

… Sie fürchtete sich vor dem Ergebnis, sah Thi aber lächelnd in die Augen und beteuerte von ganzem Herzen ihren Dank für seine Bemühungen.

Als Ray am Bahnhof stand, fühlte er sich ein halbes Jahr in die Vergangenheit gerückt. Nur, dass es diesmal nicht er war, der in den Zug stieg, sondern sie.

Er umarmte sie weiterhin und sie drückte ihn ebenfalls fest. Der Zug war noch nicht da, sie waren sogar recht früh dran.

„Ich werde den Kuchen gleich nach der Ankunft mit ihnen teilen“, versprach Kylie murmelnd.

„Danke … Ich würde gern mitkommen, wenn ich könnte“, fügte Ray leise hinzu. Der Gedanke, sie nun … ewig nicht mehr sehen zu können, war unerträglich für ihn. Sie hatte ihm gestanden, dass es in nächster Zeit für sie wohl nicht mehr möglich war, Tickets zu organisieren. Dass sie sich wohl wieder auf Nachrichten und Anrufe beschränken mussten … Er hielt sie fester, wollte sie nicht gehen lassen. Sie hatten so viel miteinander durch gestanden. Sooft hatte er daran gedacht, dass er sein ganzes Leben nur wegen Kylie überhaupt überstanden hatte. Sie war ihm nie von der Seite gewichen, war immer bei ihm …

„Tauschen gilt ja nicht“, erinnerte sie ihn daran, „Und du hast hier ja auch eine verzweifelte Seele, der du helfen kannst.“ Er wusste, dass das ein Scherz hätte werden sollen, auch wenn ihre Stimmlage das nicht zu erkennen ließ. Aber er kannte Kylie. Daraus schloss er, dass auch ihr der Abschied schwer fiel. … Er war sich dessen sogar ziemlich sicher. Keiner ließ gerne von seinem besten Freund ab.

„Ich werde dich trotzdem vermissen“, meinte er, „Aber ich beeile mich mit dem Studium. Dann komme ich zu euch zurück.“

Diese Woche … es war … wie früher. Kylie hatte ihn geärgert, er hatte zurückgemault und am Ende des Tages hatten sie sich noch immer prächtig verstanden. Sie hatten so viel gemeinsam erlebt und gesehen … Und … auch wenn er es nicht gerne zugab … ihretwegen hatte er einiges mit seiner „Familie“ unternommen. Zwar hatten sie die letzten beiden Tage wieder mehr auf Ignoranz umgeschalten, aber … so ein kleiner Teil in ihm … dankte ihr für die Moment, die sie ihm dadurch geschenkt hatte. Auch wenn er sich nicht so genau erklären konnte, wie das möglich war. Er wollte sich weiterhin fern von ihnen halten.

… Dahingegen wusste er genau, dass er seine Freundin alsbald wieder sehr vermissen würde. Aber irgendwann würde sie wiederkommen. Wenn nicht umgekehrt.

„Und beim nächsten Mal meldest du mich gefälligst an“, verlangte Kylie dann. Erneut scherzhaft, wobei ihre Stimme diesmal sogar fast danach klang.

„Klar, wenn ich es nicht vergesse“, meinte er schmunzelnd.

„Keine Sorge, ich erinnere dich daran“, gab sie an, „Und schau zu, dass sie die Uni abreißen. Ich will nie wieder dumm dastehen.“

Er lachte leise in ihre Kapuze hinein. „Hat dir aber nicht geschadet.“

„Und du … Ich will, dass du glücklich wirst.“ Zum ersten Mal seit einer Viertelstunde trennten sie sich von einander, weil Kylie ihn von sich weg schob. Ein seltsames Gefühl. Ungewohnt. Er hätte sie noch ewig umarmen können. Ihre Nähe und Wärme genießen … die letzten Moment vor ihrer Abfahrt. „Also nutze diese Chance gefälligst und lasse sie ja nicht verstreichen!“ Es wunderte ihn, dass sie nicht mahnend den Zeigefinger hob.

Aber er nickte. „Ja, Sir.“

Selbstzufrieden grinste sie ihn an. „Schwester heißt das, du Idiot.“

Er salutierte. „Aye, Schwester.“

Sie lachte.

Und als wollte der Zug den Rest eines Gespräches unbedingt unterbinden, ertönte in dem Moment die Ansage durch die Lautsprecher.

„Zug fährt ein“, murmelte Ray. Er betrachtete seine Freundin erneut. Sie hatte den Koffer hinter sich stehen. Liz hatte sie hierher gefahren. Radiant hatte sich gestern Nacht noch bei Kylie verabschiedet, Kim heute Morgen, wobei Kylie angeordnet hatte, dass sie unbedingt ein Foto von dem kleinen Baby haben wollte, sobald es da war.

Liz war im Wagen geblieben und hatte sich von dort aus verabschiedet. Um sie beide „nicht zu stören“, wie sie es ausgedrückt hatte.

„Und halte mich auf dem Laufenden“, forderte Kylie, „Deine Schwester ist mir zu geheimniskrämerisch! Die erzählt mir kaum noch was.“

„Sie hat ja genug eigene Probleme“, sagte Ray leichtfertig. Er sah den Zug. Wie er schnell näher kam. „Aber ja, ich gebe alles weiter, was ich so mitbekomme.“ Ernst legte sich in seine Züge. „Wenn du mir zuverlässig immer antwortest! Ich will nie wieder so eine Panik bekommen!“

Sie grinste. „Wer hat mir die Schwangerschaft vorenthalten?“

„Ich wusste nichts davon“, verteidigte er sich.

Sie hob eine Augenbraue und sah ihn nüchtern an. „Was echt peinlich ist.“

Der Zug blieb stehen. Die Leute drängten sich zu den Türen.

„Gut, dann geh ich jetzt“, meinte sie und wandte sich um.

Schnell sprang er zu ihr und umarmte sie noch einmal richtig. „Danke, dass du gekommen bist. Du hast mir sehr geholfen.“

Sie lächelte ihn sanft an, während sie ihre Arme ebenfalls noch einmal um ihn legte. „Dafür sind Freunde doch da.“

Und als er winkend am Bahnsteig stand, direkt neben dem Fenster, aus dem Kylie ihn ansah und ebenfalls zu wank, während sie Grimassen schnitt, überlegte er sich für einen Moment, ob er es nicht riskieren sollte. Ob er nicht einfach in diesen Zug steigen und sich vor den Kontrolleuren verstecken sollte. Seine Mutter wartete am anderen Ende der Gleise.

Er ging auf die Tür des Wagons zu.

Kylie schaute ihm berechnend nach.

Einige Leute waren noch immer dabei, einzusteigen. … Er würde vielleicht sogar bis ins nächste Dorf kommen, wenn so viel los war. … Jeden Tag eine Station.

Kurz blickte er zu Kylie zurück, die ihn beobachtete. Sie würde ihn nicht aufhalten. Sie würde ihm helfen. Helfen, von hier wegzukommen. Zurück zu seiner Mutter …

Er ließ alle Leute vor sich einsteigen. Und als er der Letzte war, erkannte er, dass Kylie vor den Stufen stand. Sie schaute auf ihn herab wie eine Königin einen Bauern betrachtete. Doch anstatt ihn fortzustoßen, streckte sie ihre Hand aus. „Willst du wirklich alles aufgeben?“, fragte sie leise, „Zurück in die kleine Welt kommen, aus der du stammst?“ Dann lächelte sie. „Ich habe nämlich nur drei Stück Kuchen dabei … Deine drei würden zuhause wohl verrotten.“

Er sah sie erstaunt an. Ein Bild erschien vor seinem geistigen Auge. Richtig, er hatte Kyrie versprochen, mit ihr seinen Geburtstagskuchen zu essen.

„Als würde die Welt aus Kuchen bestehen“, meinte er leichtfertig.

„Du musst zusehen, dass dein Horizont über Kuchen hinausgeht.“ Sie zwinkerte. „Ich freu mich schon auf die Hochzeitstorte.“

In dem Moment schlossen sich die Türen des Zuges und die Außenstehenden wurden darum gebeten, zurückzutreten.

„Was meinst du mit Hochzeitstorte?“, rief er, in der Hoffnung, dass sie das Lippenlesen beherrschte.

„Zug fährt ab“, sprach er mit der Ansage mit, als sich das Gefährt in Bewegung setzte.

Und mit ihm seine beste Freundin, die amüsiert vor sich hin grinste.

… Das Rote Dorf war wirklich klein. So klein, dass man dort kein ordentlicher Mediziner werden konnte. Dass man von dort aus nichts gegen Verbrecher unternehmen konnte. Und dass man auf der Welt nichts ändern konnte.

Hier war das Leben, nach dem er sich sehnte, um das seiner Mutter erträglicher zu machen. … Und dafür brauchte er keinen Gott, egal, was Kyrie ihm einzureden versuchte. Er brauchte nur Wille.

Er wandte sich vom Zug ab.

Und den besaß er. Er musste ihn nur nutzen.
 


 

Am Samstag hatte es nach dem Mittagessen Kuchen gegeben – und weil Thi rechtzeitig gekommen war, hatte er auch ein Stück bekommen. Das Gebäck hatte sie beide beruhigt. Sie hatte sich … besser gefühlt. Thierrys und ihre Anspannung musste ja weit fühlbar gewesen sein. … Beim ersten Mal hatte sie es schaffen müssen. Dann hätten sie gewusst, dass sie am Ziel waren. Dass Thi seine Erinnerungen löschen konnte, seinen Schmerz, die fremden Ängste … Und sie … sie hätte eine einmalige, einzigartige Waffe gehabt.

Und dann hatte sie es tatsächlich geschafft. Sie hatte ihn beim ersten Hieb geblendet. Und das auf dem verlassenen Hochhaus. Sie waren gemeinsam in den Himmel aufgestiegen, um ihre Verletzung verschwinden zu lassen. Und dabei waren sie überglücklich gewesen. So glücklich, dass Thi ihr versprochen hatte, dass sie das nur noch einmal durchziehen mussten. Heute. Gleich nach der Kirche!

Dass sie am Mittwoch bereits beide befreite Menschen sein würden. … Dass sie dann wieder glücklich sein konnten vor ihren Freunden. Kyrie hatte seinem Wortschwall der Fröhlichkeit zugestimmt, auch wenn sie tief in ihrem Inneren wusste, dass das bei ihr an einem anderen Grund liegen würde. Ray.

Ab morgen konnten sie wieder zusammen sein. Zusammen reden, essen und lernen. Er konnte ihr dann mehr über Kylie erzählen und … sie konnten das Thema aufgreifen … Oder es auch ignorieren … Erneut stieg ihr deshalb Röte ins Gesicht.

„Alles in Ordnung, mein Schatz?“, fragte ihre Mutter, die sie scheinbar schon eine Zeit lang besorgt musterte, „Du wirkst so … abgelenkt.“

Kyrie lächelte sie beruhigend an. „Nein, alles super!“ Und das war so. Es war … eigentlich alles – bis auf das Ding mit der Angst und den Halbengelhassern und dem Gefühl, dass heute noch irgendetwas schief gehen musste – alles toll. Dass sie Ray wieder haben würde war toll. … Sie war so peinlich.

„… Dann … bin ich ja beruhigt“, gab Magdalena unsicher zu.

„So, Schatz“, erklärte John, während er das Auto stoppte, „Wir sind da.“ Er sah seine Frau an und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Bis später.“

„Bis dann, Mutter“, verabschiedete sich Kyrie.

Magdalena stieg aus und winkte ihnen dabei zu. Als sie in der Tür des Restaurants verschwand, wandte sich John seiner Tochter zu.

„Setz dich vorne hin“, schlug er ihr vor.

Kyrie nickte und tat, wie ihr geheißen wurde. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und dann fuhr ihr Vater auch schon los. Sie waren wie üblich früh dran – und schon wieder unterwegs zum Süden, da die Kirchentür noch nicht repariert worden war. Weshalb auch immer …

Heute war sie aber gar nicht ganz so müde, obwohl sie früher aufstehen hatte müssen. Sie war sich sicher, dass andere Leute noch viel müder waren. Gestern war sie nur ganz kurz im Himmel gewesen. Danach hatte sie die Zeit zum Lernen genutzt. Bald standen schon wieder Prüfungen an … Wobei sie ja immer mitlernte und das meiste doch schon wusste – aber sie wollte kein Risiko eingehen. Und … wenn sie mit Ray zusammen war … wer wusste schon, wie abgelenkt sie dann sein würde?

Sie hatte keine Ahnung, was genau sie dazu trieb, so zu denken. Ja, sie war davon überzeugt, dass sie sich ungünstigerweise in ihn verliebt hatte. Zu viel für ihn empfand. Aber Thi hatte völlig recht: Sie musste ihre Zeit mit ihm gut nutzen. Vor allem die Zeit, die er nicht mit Kylie verbrachte. … Auch wenn sie es schade für ihn fand, dass diese heute schon wieder nach Hause musste. Ob er wohl noch schlief?

„Du wirkst wirklich sehr abgelenkt“, bemerkte John.

Sie schaute ertappt auf ihre Füße. „Ach ja?“

„Liegt dir etwas auf dem Herzen, mein Kind?“, hakte er ruhig nach, „Ich bin Prediger – es ist meine Arbeit, dir bei deinem Seelenheil zu helfen.“

Ein Lächeln schlich sich auf Kyries Lippen. Ausrede. Er wollte nur als Vater wissen, was in ihr vorging. Er würde heute wohl noch von anderen Leuten genug zu hören bekommen. Aber … sie konnte es ihm nach wie vor nicht sagen … „Nein, es ist wirklich nichts“, beteuerte sie, „Nur ein paar … Gedanken eines Schulmädchens.“

„Ah“, machte er übertrieben lange, „Du bist aber Studentin.“

„Am Papier“, meinte sie dann. Irgendwie war sie wirklich wieder gut gelaunt. Die gedämpfte Stimmung, die sie schon die ganze Woche lang eingehüllt hatte, war … wie weggezaubert. Oder munterte ihr Vater sie nur auf? Oder die Gedanken an Ray? Oder dass sie Thi heute vielleicht von seinem Leid erlösen konnte? „Ich glaube einfach, dass heute ein schöner Tag ist.“

„Ja, die Sonne scheint heute scheinbar fünf Stunden lang“, entgegnete ihr Vater.

Und dann brachen sie beide in Gelächter aus.
 


 

Ray schlenderte nach draußen. Er sah das Auto, mit dem Liz gefahren war – Kims Wagen. Kim war zuhause geblieben, während Radiant zur Kirche gefahren war. Erst hatten sie vorgeschlagen, dass er mit Radiant zusammen fahren solle, da diese heute wieder im Südblock stattfand, aber er hatte abgelehnt. Und ehe er noch zu einem „Ich rufe einfach ein Taxi“ gekommen war, hatten sich Liz und Kylie gegen ihn verschworen gehabt und so war es gekommen, dass er am Rücksitz des Fahrzeugs gesessen hatte, während die beiden Damen sich vorne ausgetauscht hatten.

Liz war fünfundzwanzig und hatte entsprechend schon eine Fahrberechtigung. Und mit der konnte sie wohl auch ganz gut alleine nach Hause fahren. … Er kannte sich in der Südstadt zwar nicht ganz so gut aus, aber heim finden würde er … oder mit etwas Glück konnte er auch die Kirche finden, in der sich vermutlich John befinden würde. … Und dann sah er vielleicht auch Kyrie.

Irgendwie fühlte er sich schlecht dabei, die Gedanken an Kylie und den langen Abschied einfach so zur Seite zu werfen, um sich Kyrie zu widmen, aber … Kylie wäre damit einverstanden. Sie hatte es ihm selbst gesagt.

… Wenn er den Kuchen dabei hätte, würde er es wohl glatt tun. Aber Kyrie würde sich wohl auch ohne Kuchen über ihn freuen, oder? … Er musste ziemlich planlos wirken, wie er einfach so vor dem Gebäude stand und darüber nachdachte, ob er es tun sollte oder nicht.

Er warf einen Blick zum Auto. Liz saß darin und beobachtete ihn, winkte ihm sogar kurz zu, als glaubte sie, er würde den Wagen nicht erkennen.

Er wandte sich um und ging in die andere Richtung. Er wollte jetzt Zeit mit Kyrie verbringen, nicht mit irgendeiner halbschwindlig erklärten Stiefschwester. Er brauchte keinen Kontakt zu ihr.

Ray eilte den Gehsteig entlang, wollte so schnell weg kommen wie nur irgendwie möglich. Aber da erklang schon das Motorengeräusch und der dunkelblaue Wagen verfolgte ihn im Schritttempo. Die Scheibe der Beifahrertür wurde runtergelassen und Liz forderte: „Steig ein, kleiner Bruder.“

„Fahr nach Hause, ich habe zu tun“, meinte er, ohne sie anzusehen.

„Du hast nicht ausreichend gefrühstückt“, keifte sie und hielt mit dem Wagen mit ihm schritt. Gehupe ertönte hinter ihr. Das schien sie kalt zu lassen.

„Das geht dich nichts an“, fauchte er. Und er hatte gefrühstückt.

„Komm jetzt, sei nicht so stur“, maulte sie weiter, „Meine Aufgabe lautet, dich wieder sicher nach Hause zu bringen.“

„Ich bin zwanzig und nicht zwei“, entgegnete er genervt.

„So ein widerspenstiger Rüpel“, knurrte sie leise – er hatte es dennoch gehört, „Dass sich meine Mutter wirklich um so ein ungezogenes Kind wie dich bemüht …“ Plötzlich schloss sie das Fenster und fuhr vor.

Triumph erklomm seine Gefühle. Er hatte sie weggeätzt! Hoffentlich würde sie es aufgeben, nett sein zu wollen. Er brauchte keine andere Schwester als Diane.

Er schlenderte nun wieder. Jetzt, wo sie weg war, hatte er es nicht mehr eilig. Immerhin würde die Kirche noch andauern – und er hatte keine Lust, sich in das Gebäude zu begeben. … Ob Kyrie sich wohl freuen würde, ihn einfach so unvermittelt zu sehen? Er hoffte es inständig. Immerhin … musste er sie noch etwas fragen … und sich ordentlich für das Geschenk bedanken. Und sich für die Woche entschuldigen – auch wenn er besonders viel Spaß mit Kylie gehabt hatte … er fühlte sich schlecht, weil er Kyrie daran nicht hatte teilhaben lassen.

Als er um eine Gebäudeecke bog, erkannte er, dass er die Kirche bereits erreicht hatte. Die war ja wirklich nah. Es wäre also durchaus Verschwendung gewesen, mit Radiant mitzufahren. Gerade, als er einen Schritt nach vorne gehen wollte, packte ihn etwas von hinten. Eine wuchtige Masse drückte sich an ihn, hielt seine Hände fest, sodass er sie nicht befreien konnte. Er spannte all seine Muskeln an, wollte sich losreißen – doch es funktionierte nicht. Panik stieg in ihm auf. Kim! Was hatte sie vor!? Entführung? Was wollten sie seinem Vater antun? War Liz die Komplizin?

„Lasst mich los!“, rief er verzweifelt.

Schwarzes Haar peitschte ihm ins Gesicht, als er einfach über die Schulter geworfen wurde, nicht in der Lage, sich zu rühren. Da bemerkte er, dass es wirklich Liz war. „Willst du mich umbringen!?“, fuhr er sie an, „Lass mich sofort runter!“

Sie ignorierte ihn.

„Meine Schulter!“, beschwerte er sich übertrieben laut. Es tat nicht weh. Aber er hatte keine Ahnung, was er sonst sagen sollte! Sie … sie hatte ihn einfach hochgehoben, als wäre er ein kleines Nichts! Ein … Kind …! Wie Midas … der ihn auch einfach hochgehoben hatte … nicht auf ihn achtend … ihn vernichten wollend …

Plötzlich fand er sich am Beifahrersitz des Wagens wieder. Liz war die Fahrerin und hatte die Kindersicherung eingeschaltet, was er feststellte, nachdem er sofort zu fliehen versucht hatte. „Willst du mich entführen?“, blaffte er ungelaunt, „Für mich bekommst du kein Lösegeld.“

„Ich will einfach mit dir reden“, erklärte sie lächelnd, „Während der Fahrt. Ich weiß ja nichts über dich.“

„Du hast mich entführt“, stellte er kalt fest, „Ich zeig dich an.“

„Wo?“, fragte sie spöttelnd, „In der Kirche?“

Er starrte stur geradeaus. Was bildete sie sich eigentlich ein? Glaubte sie, seine beste Freundin werden zu müssen?! Er hatte sein Leben auch ganz gut ohne sie hinbekommen – er brauchte sie auch jetzt nicht.

„Ignorierst du mich jetzt?“, hakte sie nach. Sie klang höchst amüsiert.

Er versuchte einfach, sie auszublenden und beobachtete dabei den Straßenrand, der an ihm vorbeizischte. … Sobald sie stehen blieb, würde er rausspringen. Und … wem genau sollte er dann erzählen, dass er sich von einer Frau hatte überwältigen lassen?

„Ich will dir nichts tun“, setzte sie erneut an, „Ich will nur mehr über dich erfahren.“

„Leute zu entführen, ist dafür aber eine recht ungünstige Methode“, gab er zurück. Das konnte er sich nicht verkneifen.

„Ja“, akzeptierte sie seine Behauptung, „Aber es ist auch nicht richtig, Familienmitglieder zu ignorieren, ohne ihnen eine Chance zu geben.“

„Läuft das jetzt auf ein ‚Wir haben beide Fehler gemacht, lass uns jetzt noch einmal von vorne anfangen!’-Gespräch hinaus?“ Er seufzte genervt. „Nein, danke.“

„Aber du gibst zu, dass deine Methode auch ungünstig ist“ Sie wollte sich also unbedingt einen Punkt holen, ja?

Den konnte sie kriegen. „Und bei einigen Leuten auch berechtigt.“ Er schaute sie an, obwohl sie ihren Blick auf die Straße geheftet hielt. Sie war wirklich schön. Und was sie sich immer mit ihren Haaren antat – aber egal! „Ich wollte da raus. Ich wollte jemanden treffen.“

„Bestimmt das Zuckerpüppchen.“

Der Kommentar ließ ihn erschaudern. Also hatte Kylie ausgepackt? Sie war eine Verräterin. … Aber ihr verzieh er einfach. Weil sie Kylie war. Sie war eben so. Und genau das – na gut, vielleicht nicht ganz genau, aber so ziemlich genau – mochte er an ihr.

Wieder schaute er hinaus – diesmal durch den Rückspiegel. Die Kirche war noch ganz klein hinten zu sehen. „Sie hatte wahrscheinlich sowieso noch keine Zeit“, gestand er sich leise ein.

„Na ja, wenn sie so viel Zeit auf Gott verwendet, ist sie vermutlich die Falsche für dich“, kommentierte Liz.

Diesmal wandte er sich überrascht zu ihr um. Und auch irgendwie erbost. „Was redest du da? Du hast dich nicht einzumischen“, fuhr er sie an. Er wusste nicht, woher diese plötzliche, aufsteigende Wut kam. Aber … er wollte sie nicht unterdrücken. Er wollte seiner so genannten Schwester einfach zeigen, wo der Hammer hing!

Sie allerdings lachte nur laut los. „Oh, so verliebt.“

„Das geht dich nichts an“, knurrte er und beobachtete dabei wieder das Schloss. Noch immer zu.

„Ich bin deine ältere Schwester. Natürlich kümmere ich mich darum“, meinte sie selbstverständlich, „Diane weiß das bestimmt auch.“

„Kylie kommt erst morgen an“, wies er sie schlecht gelaunt hin. Diese Petze! Hoffentlich fiel sie in ihren Kuchen. „Hat sie dich zu der Aktion angestiftet?“, forderte er zu wissen, „Sollst du jetzt die Aufgabe weiterführen?“ Ein „gerade du!“ unterdrückte er, um auch eine Antwort zu bekommen. Wer wusste schon, was sie in ihrer Verzweiflung alles anrichten würde.

Liz kicherte. „Nein, sie hat mir nichts übermittelt. Ich wollte nur höflich sein.“

Plötzlich hielt sie an und entsicherte die Tür.

„Und jetzt aussteigen. Wir sehen uns heute.“

Er starrte sie perplex an.

„Ich bin nicht wie meine Mutter.“ Liz zwinkerte. „Mir entkommst du nicht so leicht.“

Ray erhob sich schnell und sprang aus dem Auto – erst dann realisierte er, dass er wieder bei der Kirche stand. Sie hatte ihn zurückgebracht. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht ganz nachvollziehen konnte, hielt er die Tür offen und schlug sie nicht einfach zu, um davonzurennen.

„Mein Name ist Liz Peratan“, erklärte sie ihm lächelnd, „Ich bin 25, die Tochter von Kim und Dave Peratan und die Enkelin der Peratan und der Miraton. Alle meine Großeltern sind noch am Leben und ich arbeite in der Südlichen Hauptstadt als Kosmetikerin.“

Mit jedem Wort, das sie gesprochen hatte, verzog sich Rays Miene mehr zu einem großen Fragezeichen. Was wollte sie mit diesem Informationsschwall bezwecken? Antworten? Also bitte.

„Danke, dass du Kylie hierher gebracht hast“, meinte er emotionslos, „Man sieht sich.“

Und bevor er die Tür zuschlug und damit das Gespräch unterbrach, bat Liz ihn: „Stell mir aber deine kleine Freundin einmal vor.“

Er wandte sich um und schaute zur Kirche.

Als Kyrie auf einer der rot gepolsterten Bänke seitlich des Altars saß, um auf ihren Vater zu warten, der noch immer dort stand und auf die verschiedenen Probleme der Leute einging, beobachtete sie den Mann, der wirklich wie ein gealterter Ray wirkte. Er konnte die Verwandtschaft nicht einmal leugnen, wenn er es versuchen würde. Radiant war gerade an der Reihe, mit ihrem Vater zu sprechen. Er tat das wohl wirklich jedes Mal - was er wohl so Wichtiges zu besprechen hatte?

Sie musste zugeben, dass sie sich für diesen Mann erst richtig interessierte, seit sie wusste, dass er Rays Vater war. Aber … ihr Vater erzählte ihr nichts von diesen Gesprächen. Das musste geheim bleiben – das verstand sie auch. Immerhin vertrauten die Menschen ihm da ihre wichtigsten Geheimnisse an. Ihre innersten Gefühle. … All das, was Engel in Sekundenbruchteilen zu stehlen vermochten … oder für immer zu löschen. Hierher kamen die Menschen, um Rat zu suchen, um ihre Probleme selbst zu überwinden … Aber Probleme von Grund auf auszuradieren … war das nicht viel praktischer? Und weniger anstrengend. Und weniger enttäuschend, weil man nicht scheitern konnte.

Sie konzentrierte sich auf Radiant, der eher sachlich wirkte als gekränkt. Tat ihm sein Herz wirklich jedes Mal so sehr weh, dass er zum Prediger gehen musste? Oder steckte etwas anderes dahinter? … Vielleicht schmerzte es ihn ja so sehr, dass Ray nichts mit ihm zu tun haben wollte.

Mitleid stieg in ihr auf. Ein Vater, der nichts für sein Kind tun konnte, obwohl er es so sehr wollte … Ein Schauer durchfuhr sie, als sie kurz zu ihrem Vater blickte. Ob er wohl gleich fühlte? Bloß, dass er mit niemandem darüber reden konnte? … Ihre Eltern spürten, dass etwas nicht mit ihr in Ordnung war … und sie konnte es ihnen einfach nicht verraten …

Plötzliche Trauer überkam sie erneut. Ein Ignorant und eine Lügnerin …

Sich selbst würde sie nicht helfen können – aber sie wollte Ray helfen. Noch immer.

Ob sie das Ganze verschlimmerte, wenn sie mit Radiant sprach? Aber … sie musste etwas tun!

Es war schon solange her, dass Maria ihr den Auftrag erteilt hatte – und was hatte sie bisher erreicht? Nichts. Sie war nur in Selbstmitleid zerflossen, hatte sich von ihrer Angst in die Enge treiben lassen! Dabei hätte sie daran denken sollen, dass sie ein Engel war. Und sie wollte ein Engel sein. Ein Schutzengel für Ray. Sie wollte ihn auf den richtigen Pfad bringen. Sie konnte nicht jedem helfen. Aber sie wollte zumindest versuchen, einer Person das Leben zu verschönern, die ihr etwas bedeutete.

… Und ab heute würde sie das tun, was sie schon längst hätte tun sollen.

Sie erhob sich, als Radiant sich zum Gehen umwandte. Dabei fiel ihr auf, dass Kim schon wieder nicht dabei war. Doch das ignorierte sie nun, um ihm hinterher zu eilen. Sie ließ die Kirchenbänke, auf denen noch immer ein paar betende Gläubige saßen, schnell hinter sich und hielt ihn vor der Tür auf.

„Herr Sonicson?“, erregte sie seine Aufmerksamkeit.

Er fuhr überrascht herum – und er wandelte seinen Ausdruck zu einem Lächeln um, als er sie erkannte. „Kyrie, guten Morgen“, begrüßte er sie.

Sie starrte ihn an. Er war so groß, riesig beinahe. Nicht so wie Ray, der vielleicht einen Kopf oder zwei größer war als sie … Radiant war ein Riese!

Sie versuchte, sich zusammenzureißen. Was genau wollte sie ihm eigentlich sagen? … Wie genau sollte sie das beginnen? Sie … sie konnte doch nicht einfach so …!

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, hakte er nach. Dabei warf er kurz einen Blick auf seine Armbanduhr.

Also hatte er keine Zeit. Sie musste sich beeilen, sich konzentrieren! „A- Also …“, startete sie verlegen, „Ich … möchte Sie nicht lange aufhalten“, begann sie. Ihr Herz pumpte viel zu schnell. Sie wollte nicht zu neugierig wirken. Aber sie musste doch etwas tun!

„Ja?“, half er ihr auf die Sprünge.

„Aber mir ist aufgefallen, dass Sie sehr oft mit meinem Vater sprechen …“, brachte sie ungeschickt hervor.

Die Antwort war ein überraschtes Hochzucken der Augenbrauen. „Und weiter?“

„… Lastet Ihnen etwas schwer auf dem Herzen?“, wollte sie besorgt wissen.

Ein liebevolles Lächeln beschlich seine Lippen. Es erinnerte sie an Rays Lächeln. „Willst du in die Fußstapfen deines Vaters treten?“, wollte er wissen, „Das ist schön – aber nein. Mir geht es eigentlich sehr gut.“

Jetzt fühlte sie sich blöd, was sich durch die Röte auf ihren Wangen auch zeigte. „Oh …“

„Wir reden hier eigentlich mehr über geschäftliche Angelegenheiten“, klarte er sie auf, „Meine Firma spendet der Kirche immer etwas Geld, sodass sie ausbauen können und auch in anderen Dörfern bessere Dienste leisten können“, erklärte er ihr, „Und das bespreche ich täglich mit einem der Prediger, sodass ich weiß, dass das Geld auch sicher angelegt ist.“

Kyries Augen weiteten sich. „Oh“, machte sie, „Sie … haben eine Firma?“

„Ray hat dir das nicht erzählt?“ Er schüttelte den Kopf. „Was soll ich mit dem Jungen nur anfangen …?“

„Ähm“, mischte sie sich ein, „Er … braucht bestimmt nur Zeit.“

Ein unbeeindruckter Blick traf sie. „Das bezweifle ich. Frag ihn einfach nach der Woche mit Kylie.“ Er seufzte. „Dann weißt du, was ich meine.“

… Was … wollte er ihr damit sagen? Was hatte Ray gemacht?

„Jedenfalls bin ich Betreiber der Stromversorgung der Stadt“, fuhr er mit seiner Rede fort, „Und entsprechend spenden wir das überschüssige Geld. Wir investieren zum Beispiel auch in die Medizin“, meinte Radiant, „Da habe ich zumindest eine Sache mit meinem Sohn gemeinsam.“

In die Medizin … eine Firma … Moment. Diese riesige Firma gehörte Rays Vater?! Als Maria ihr von einer Firma erzählt hatte, hatte sie sich mehr einen kleinen Paketdienst vorgestellt, als dieses … Imperium! Und noch dazu wollte seine Frau das Geld nicht annehmen. Also … investierte er in die Medizin, um ihr auf diese Weise zu helfen.

Respekt für diesen Mann erfüllte ihr Herz. Er hatte so viel erlitten, so viel durchgemacht … und dennoch stand er so aufrecht da, dachte an seine Mitmenschen und half, wo er nur konnte. … Ein wahrer Engel …

Wie konnte Ray so etwas nur übersehen? Ignorieren? Das war doch … Sie musste mit ihm sprechen. Wenn sie es schon zuvor tun hatte müssen, dann musste sie es jetzt ganz dringend.

Entschlossenheit durchfuhr sie. Sie musste Ray den Radiant zeigen, den sie heute kennen gelernt hatte!

„Ja … Sie haben wohl beide dasselbe Ziel“, kombinierte Kyrie, „Ich … finde das großartig!“

„Danke sehr“, reagierte er ehrlich, „Wenn andere Leute das nur auch sehen könnten.“

„Ich …“, begann sie zögerlich, „Ich … werde mit Ray reden. Morgen.“

„Apropos, heute wäre er eh in der Südstadt gewesen“, warf Radiant nachdenklich ein, „Aber vermutlich hat er sich bereits aus dem Staub gemacht.“

„Hat er Kylie zum Zug gebracht?“, wollte sie wissen.

„Genau.“ Er warf einen weiteren Blick auf seine Uhr. „Aber ich muss mich jetzt leider verabschieden“, entgegnete er, „Du könntest aber ruhig einmal bei uns vorbeikommen, nachdem ihr Ray jetzt so gut aufgenommen habt.“ Er lächelte.

„Ich … denke darüber nach!“, sagte sie schnell, dann wank sie ihm zu. „Und danke für das Gespräch.“

„Ich hoffe, ich konnte helfen.“ Und damit verschwand er durch die große Tür.

Sie wandte sich um und stellte erleichtert fest, dass ihr Vater nur noch zwei Leute zu betreuen hatte.

… Und dann würde die letzte Einheit starten. Dann … würde sie Thierry ein letztes Mal gequält haben. Und er konnte endlich alles vergessen …

Nervosität beschlich sie. Hoffentlich bekam sie es hin. … Sie wusste immernoch nicht so recht, wie sie das Blenden hervorrief, aber … es hatte funktioniert. Also … musste es weiterhin funktionieren, oder?

Sie verkrampfte die Hände. Es musste klappen …
 


 

Ray saß auf einer Bank vor der Kirche. Von hier aus konnte er sowohl das Auto der Kingstons, als auch das seines Vaters beobachten – und er sah, wer die Kirche verließ. Doch er hoffte, selbst nicht so leicht gesehen zu werden. Sonst würde sein Vater womöglich noch mit ihm sprechen wollen – und darauf hatte er jetzt erst recht keine Lust.

Die Einzige, mit der er reden wollte, war Kyrie.

Falls sie Zeit hatte. … Hoffentlich hatte sie Zeit. Es war Sonntag. Die Kirche war aus. Weshalb sollte sie keine Zeit haben?

Sein Vater stand in Tür. Ray wollte sich gerade wegducken, als ihm die kleine Gestalt hinter dem hünenhaften Mann – der selbst Ray überragte – ins Auge fiel. Kyrie. Sie sagte etwas. Zu seinem Vater. Warum sprach sein Vater mit ihr?

Unzufriedenheit stieg in ihm auf. Was hatte er zu ihr gesagt? Hatte er ihn angeschwärzt? Ihr erzählt, was für ein ignoranter Sohn er war? Sie damit voll gejammert, wie schlimm er war? Aber … das würde Kyrie doch einfach so hinnehmen, oder?

Er beobachtete Radiant dabei, wie er die Tür schloss und zum Auto schlenderte. Er schien nachdenklich zu sein. Was ihn wohl so zum Nachdenken brachte?

Doch als der Mann ins Auto stieg und wegfuhr, strich Ray ihn aus seinen Gedanken. Er hatte weder in seinen Gedanken noch in seinem Leben etwas zu suchen. Also sollte er auch draußen bleiben.

Er lehnte sich derweil etwas zurück und beobachtete die Umgebung. Hier fuhren recht viele Autos vorbei, was wohl am Bahnhof lag. Aber keiner kam vorbei, den er kannte. … Er hatte auch nur Ted als Bekannten hier, der ein Auto besaß. Und der war bekanntlich nicht da. Ob es ihm gut ging? Hoffentlich entspannte er sich.

Die Tür öffnete und schloss sich zweimal schnell hintereinander und Leute kamen heraus. Irgendwelche erschüttert aussehende Leute, die hier waren, um sich Gottes Segen zu holen. … Wie konnten sie nur nicht einsehen, dass Gott ihnen nicht helfen würde? Dass Beten nichts brachte? Sie mussten selbst etwas gegen ihre Misere unternehmen. Wenn sie es nicht taten, tat es niemand.

John trat durch die Tür, woraufhin sich Ray sofort erhob. Seine Tochter erschien direkt hinter ihm. Die beiden schwiegen sich an.

… Sollte er sich jetzt zeigen?

Er wurde schlagartig nervös. Was würde Kyrie sagen, wenn er hier einfach aufkreuzte? Ob sie sich dann verfolgt fühlte? Oder … ob sie sich freute.

Er sah ihnen dabei nach, wie sie in Richtung des kleinen, schwarzen Autos gingen, welches mittlerweile das einzige Fahrzeug war, das noch hier stand.

„Kyrie“, brachte er hervor.

Sofort schaute sie auf und blickte in seine Richtung. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Aber danach zögerte sie keine Sekunde mehr, um zu ihm zu laufen.

„Ray!“, rief sie laut aus und mit enormer Geschwindigkeit stand sie plötzlich bei ihm – und umarmte ihn. Sofort legte er seine Arme um sie.

„Hey, lange nicht mehr gesehen“, begrüßte er sie.

Sie schaute zu ihm auf und lächelte. „Ja! Hast du Kylie hergebracht? Bist du dann extra gekommen?“

Er nickte. „Es war ja kein Umweg.“

Ihr Lächeln wurde breiter.

„Hallo, Ray“, begrüßte ihn John, der plötzlich neben Kyrie stand. … Wenn er Kyrie ansah, blendete er die Umwelt aus. Er musste dringend etwas dagegen unternehmen.

„Guten Morgen, John.“ Ray lächelte den Mann an.

Der wandte sich aber sofort zu Kyrie. „Du musst los“, erinnerte er sie.

„Oh, dann komme ich wohl ungelegen“, erkannte Ray. Schlagartig erschauderte er. … Sie hatte tatsächlich keine Zeit. Er hatte umsonst gehofft … Aber zumindest hatte er sie gesehen … Sie umarmen können.

Kyrie starrte ihn geschockt an. Der Zwiespalt ihrer Gedanken war auf ihrem Gesicht merklich zu sehen. Sollte sie bei Ray bleiben oder … was-auch-immer tun …

Einerseits machte ihn die Entscheidung, die er ihr auferlegt hatte, nervös, aber andererseits freute er sich insgeheim darüber. Immerhin bedeutete das … dass Kyrie wirklich mit dem Gedanken spielte, das andere seinetwegen abzusagen! Hoffnung keimte wieder in ihm auf.

Als ein betrübter Ausdruck ihre so verzweifelte Miene ersetzte, tat ihm seine Freude sofort leid. … Er hatte sie wirklich vor einen Zwiespalt gestellt. Und sie würde sich gegen ihn entscheiden … Aber wer hätte sich in dem Fall nicht gegen ihn entschieden?

Wenn sie Pflichten hatte, musste sie diese erfüllen.

„Dann … reden wir morgen weiter“, schlug Ray sofort vor, bevor Kyrie zu Wort kam, „Ich habe dich gesehen, weiß, dass es dir gut geht …“ Er setzte ein schiefes Grinsen auf. „Und den Kuchen habe ich sowieso nicht dabei!“

„Du hast den Kuchen aufbewahrt?“, stieß seine Freundin überrascht hervor.

„Natürlich!“ Er tätschelte ihre Kappe. „Versprochen ist versprochen.“

Sie lächelte dankbar. „Ja, wir sehen uns morgen …“ Sie drückte ihn noch einmal fest. „Und tut mir leid, dass ich dich schon wieder versetze.“

„Keine Panik, mir fällt schon was anderes ein“, beruhigte er sie, „Die Stadt ist groß und der Tag lang.“

„Na gut …“ Sie ließ ihn los, wobei ihr Widerwille zu spüren war. … Was ihn freute. Sein Herz höher schlagen ließ. … Sie mussten morgen dringend unter vier Augen miteinander sprechen.

Aus Reflex nahm er noch ihre Hand und lächelte sie an. „Viel Spaß heute noch.“

Sie starrte die Hand an. Und ein Zittern durchfuhr sie. … Vielleicht hatte sie ja einen Zahnarzttermin. Dann wäre es tatsächlich kein Spaß. „Du packst das“, beruhigte er sie noch, „Erzähl mir morgen darüber.“

„Danke!“ Sofort ließ sie seine Hand los und wandte sich um. … Die Röte, die ihr Gesicht überkommen war, konnte sie aber nicht verbergen. Er lächelte stumm in sich hinein. „Bye, bis morgen!“

„Kommst du dann ab morgen wieder bei uns zum Essen?“, fragte John ihn, der die ganze Zeit wohl unbeteiligt daneben gestanden hatte. Er sah Ray zwar nicht feindselig an, aber durchaus unzufrieden.

Er nickte. „Wenn ihr nichts dagegen habt, dann würde ich gerne kommen.“

„Natürlich, du bist herzlich eingeladen.“ Der Mann lächelte. Die Unzufriedenheit verschwand aus seiner Miene. Aber in seinen Augen … blitzte sie noch immer vor sich hin.

Ray lächelte zurück. Ernsthaft fröhlich.

„Dann … tschau.“ Und Kyrie lächelte. Und das Lächeln brannte sich in sein Gedächtnis.
 


 

Während der gesamten Fahrt, hatte sie sich zusammenreißen müssen, um keinen Anfall zu bekommen. Sie hatte sich einfach im Sitz festgekrallt und gehofft, dass ihr Herzschlag sich irgendwann wieder von selbst beruhigen würde. Aber … das hatte er nicht. Und als sie zuhause vor dem Spiegel stand, erkannte sie, dass ihr Gesicht immernoch viel zu warm und rot war. … Und es war kein Fieber.

… Aber sie sollte dieses Gefühl noch genießen. Zumindest für eine Weile. Dann würde wieder die Angst zurückkommen …

Kyrie seufzte.

… Aber nur noch heute. Nur noch heute brauchte sie sich so zu quälen … Dann … war sie frei … Theoretisch.

Sie stand im Badezimmer und kämmte sich das Haar, welches unter einer Mütze immer unerträglich aussah. Hoffentlich hatte ihr Vater nichts bemerkt. Hoffentlich hatte er ihren Herzschlag nicht gehört. Hoffentlich hatte er sich keine Gedanken gemacht! Wie viele Gerüchte über sie und ihre Beziehungen ihre Eltern sich wohl schon zusammendichteten? Mit wem sie wohl schon was gemacht hatte, ohne es ihnen zu verraten?

Die Gedanken an den Fast-Kuss kamen zurück und damit war sie vollkommen verloren. Sie … sie konnte doch nicht … mit Ray … Plötzlich hatte sie Bilder von ihm und ihr, Hand in Hand in der Einkaufsstraße … Ein richtiger Kuss im Café … Wenn sie zusammen hingingen und sich glücklich anlächelten …

„Nein, nein, nein!“, schalt sie sich selbst und schüttelte heftig den Kopf. Nein. Das durfte nicht sein! Durfte nicht … Ray anzulügen, war eine Sache! Ray vorzugaukeln, ihm komplett zu vertrauen, eine komplett andere! Sie …

Plötzlich wurde die Badezimmertür einen Spalt geöffnet – und ehe sie sich umwenden hätte können, erkannte sie ein goldenes Schwert, das auf sie zufuhr. Und sie konnte nichts anderes tun, als zu starren.

Schwert.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, Eiseskälte umgab sie. Wehrlos. Machtlos. Hilflos … Nathan … Thierry … Jeff hatte sie gefunden. Sein Schwert. Es sauste auf sie herab. Ihr Henker. Und nachdem er sie niedermetzelte, würde er auf ihre Eltern losgehen. Auf alle, die ihre wahre Art kannten. Ray … Er würde …

Erst, als sie sich zitternd am Boden wieder fand, erkannte sie, dass das Schwert steif in der Luft hing. Ihre Chance!

Sie öffnete panisch die Badezimmertür, setzte zum Sprint nach unten an, um ihre Eltern zu warnen – fand jedoch einen völlig verängstigten Thierry vor sich, der sich mit einer Hand den Kopf hielt, mit der anderen das Schwert, völlig versteinert vor Angst.

Kyries Panikschub ging vorüber, als sie erkannte, dass er den Überraschungsangriff geübt hatte … und … und dass sie es geschafft hatte! Die Euphorie überkam sie, erst dann bemerkte sie, dass sie einen Kratzer am Handrücken hatte. Er hatte sie mit dem Schwert getroffen. Doch ihre Angst hatte sie … so unter Kontrolle, dass sie das gar nicht wahrgenommen hatte. Andererseits … hatte sie allerdings auch Thi gelähmt!

Sofort umarmte sie den Engel, dessen Flügel noch immer ausgestreckt waren. „Danke, Thi, danke …“ Sie hatte die Angst davor verloren, dass Thi ihr mit dem Schwert etwas antun könnte. Sie … vertraute ihm. Sie würde mit ihm durch den Himmel ziehen können, ohne Probleme, ohne Zögern.

Langsam löste er sich aus der Starre. Er zitterte. Aber sein Schwert ließ er sogleich verschwinden und umarmte auch sie. „Wir … wir haben es geschafft“, brachte er erstickt hervor, „Wir … sind durch …“

Sie drückte ihn fester. „Wir sind erlöst!“

Er nickte. „Ich bin erlöst …“ Erleichterung sprach aus seiner Stimme. „Völlig … frei …“

„Danke für alles …“, erklärte sie, „Ich schulde dir so viel …“

„Hoffentlich nützt es auch etwas …“, meinte er, „Ich hoffe, du kannst wieder in den Himmel.“

Sie ersparte sich eine Antwort, weil in dem Moment ihr Telefon zu läuten begann. „Einen Moment, bitte!“ Es war ihre Mutter. Was wohl los war? Sonst rief sie doch nie an … Sofort ging sie ran – innerlich dankbar für den unerwarteten Anruf.

„Unten ist niemand rangegangen“, begann ihre Mutter, „Ich wollte nur sagen, dass ich euch heute Mittagessen mitbringe.“

„Ja, danke! Bringst du für Thierry bitte auch etwas zu essen mit?“, fragte sie.

„Danke für die Einladung, Kyrie“, sagte ihr Engelsfreund sofort, „Aber ich habe ehrlich genug von der Erde. Komm mit mir in den Himmel, dann …“

Sie schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein, heute nicht.“

„Aber ich …“, fuhr er fort.

Sie unterbrach ihn aber kopfschüttelnd. „Nein, heute muss ich hier bleiben.“ Sie würde den Himmel betreten. … Mittwochs. Wenn Nathan sie abholte.

„Na gut … Aber … ich gehe los …“, meinte er, „Also … bis Mittwoch dann, oder?“

„Du brauchst für ihn doch nichts mitzunehmen“, wandte sich Kyrie wieder an ihre Mutter, „Bye.“ Und damit legte sie auf. „Ich danke dir trotzdem. Aber ich muss mich hinlegen.“ Sie lächelte ihn an.

„Na gut, ruh dich aus. Und … tut mir leid wegen den Verletzungen.“ Er sah wirklich schuldbewusst aus.

„Mir tut es noch weitaus mehr leid“, versicherte sie ihm ernst, „Alles.“

„Freunde.“ Er hielt ihr die Hand hin.

Sie nickte. „Freunde.“

„Ich komme heute alleine zurück. … Das Praktische beim Blenden ist, dass es nur so kurz andauert.“ Er lächelte. „Ich hoffe, dass die Todsünden mich bald behandeln“, murmelte er dann.

„Ich auch“, bestätigte sie, „Ich auch …“

Acedia hatte wirklich Nerven. Er hatte ihr gefühlte tausend Male erklärt, dass er wirklich keine weitere Spur mehr finden konnte. Dass die Suche nach Luxuria mittlerweile im Sand verlief. Dass man auch von ihrem Mörder nichts finden konnte! Dass er jeder Spur nachgegangen war – dass er sogar Lianas Informationen herangezogen hatte. Dass es nichts gebracht hatte. Rein gar nichts.

… Eigentlich konnten sie nur noch auf weitere Opfer hoffen. Hoffen, dass sich irgendwelche Gemeinsamkeiten ergaben. Aber … nach Luxuria hatte sich der Killer wohl zur Ruhe begeben! Kein einziger Engel war seither verschwunden. … Also war ein persönliches Motiv wohl noch immer am wahrscheinlichsten. Oder viel mehr: zu viele persönliche Motive!

… Und Nathan konnte wohl schlecht aussprechen, dass er weitere Verbrechen herbeisehnte.

Er seufzte, als er im Bürostuhl saß und die Akte aufschlug, in der stand, wessen Erinnerungen als nächstes dran waren.

Gerade hatte Acedia wieder die Aufgabe, Erinnerungen zu nehmen. Wenn sie damit für heute fertig waren, würde sie herkommen. … Dann konnte er mit ihr Klartext sprechen. … Er konnte ja behaupten, dass er erwartete, dass der Täter in nächster Zeit zuschlagen werde. Ja, das klang besser, als wenn er es als Wunsch aussprach.

Genauso wie er verheimlichte, dass er es besser finden würde, weniger Zeit mit Kyrie verbringen zu müssen. Eine Woche Freizeit war zwar wirklich nicht lang, aber er hatte ziemlich viel weiter gebracht. Zum Beispiel hatte er eine komplette Akte über den Fall Luxuria zusammengestellt – in Zusammenarbeit mit Xenon und dem anderen Assistenten. Noch dazu hatte er die Liste der Engel, die eine Erinnerung gelöscht haben wollten – seit es eine Acedia gab, jeder Engel, bei dem eine Acedia dabei war – nach Jahr geordnet. Er wusste selbst nicht so genau, weshalb diese Informationen aufbewahrt wurden. Das war vielleicht eines der Todsünden-Geheimnisse, die nicht einmal ihre Assistenten erfahren durften. Er hatte keine Ahnung. Vielleicht war es auch nur ein Wettbewerb zwischen den einzelnen Personen, wer die meisten Erinnerungen in einer Ära löschen konnte …

Noch dazu hatte er alle Sitzungsprotokolle analysiert und nach Datum geordnet – wobei er die unterschiedlichen Schriften der Todsünden einfach nur bewundern fand … und bei einigen anstrengend zu entziffern - und dabei war ihm aufgefallen, dass sich Sin in letzter Zeit überhaupt nicht mehr blicken hatte lassen … Eigentlich war das nicht seine Angelegenheit, aber … es besorgte ihn schon.

Ob er etwas zum Fall Luxuria wusste?

Nathan hatte die Kraft, bis zu Sin hochzukommen. Mit ihm zu sprechen. Aber er hatte nicht die Erlaubnis. Das war ein Privileg für vollwertige Todsünden. Also … musste er hoffen, dass Acedia ihm alles verriet, war er zum Lösen des Falls wissen musste. Aber sie würde ihn nicht sabotieren. Das wäre ja widersinnig.

Als hätte sie seine Gedanken gehört, öffnete sie die Tür und trat mit großen Schritten ein, wobei ihr Umhang bei jedem Schritt zurückgeworfen wurde und sie dadurch einfach mächtig wirken ließ. Genauso wie mit dem roten Haar, das heute ausnahmsweise wild durch die Gegend peitschte, statt gezähmt hinter einer Schleife zu liegen.

„Waren wieder aufwühlende Erinnerungen dabei?“, mutmaßte Nathan mitleidsvoll, „Du sollst sie doch sofort löschen.“

„Ich habe mich getäuscht“, gab sie offen zu und ließ sich dann fertig auf ihren Stuhl sinken. Sie wirkte nachdenklich. „Ich … habe geglaubt, es hätte etwas mit Luxuria zu tun gehabt …“ Sie schüttelte den Kopf. „Langsam werde ich paranoid.“

„Solange du keine Geister siehst.“ Er grinste. „Aber ich muss mit dir noch einmal reden.“

Sofort richtete sie sich auf. „Ja?“ Ein Stirnrunzeln zierte ihr Gesicht. „Hast du etwas herausfinden können?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Nur … habe ich eine Vermutung.“

„Ach ja?“ Sie wirkte angespannt. Sprungbereit. Sie hoffte auf einen Tipp. Etwas, das sie verfolgen konnten … Er würde sie wohl enttäuschen müssen.

„Er wird wieder zuschlagen“, erklärte er, „Ich denke, wieder weiter oben. Er will uns irgendetwas sagen. Und das macht er wohl dadurch, dass er sich immer weiter nach oben arbeitet.“ Er zuckte mit den Schultern. „Gehen wir davon aus, dass er zuerst nur Siebte, dann auch Sechste, als nächsten Schritt Fünfte, Jahrzehnte später Vierte und nun auch Dritte verschwinden hat lassen.“ Er spannte sich dann an. „Nehmen wir an, es war immer derselbe Täter – er muss alt sein. Er muss uns etwas aufzeigen wollen. Und vor allem ist er all die Jahre ignoriert worden …“ Er lehnte sich dann wieder zurück. „Er ist wütend.“

„Wütend?“, wiederholte Acedia leise, „Wütend … Auf die Ränge? Auf die Todsünden? Oder auf Luxuria?“

„Soweit bin ich noch nicht“, gab Nathan leise zu, „Wir müssen seinen nächsten Schritt abwarten. Erst dann können wir Näheres herausfinden …“

Sie nickte. „Und du behauptest, er würde in nächster Zeit wieder zuschlagen?“

„Er lässt immer unterschiedlich lange Abstände zwischen den Entführungen“, erklärte er, „Also … kann es auch erst in zehn Jahren oder so passieren.“

„Interessant … ein Engel, der mehr als tausend Jahre alt ist …“ Sie verschränkte die Arme und musterte ihre Füße. „Oder eine Aufgabe, die weitergegeben wird.“

„Um ein Zeichen zu setzen“, stimmte Nathan ihr zu, „Doch wofür?“

Acedias Mundwinkel ging merklich nach unten. „Wofür …“ Sie seufzte. „Das wäre des Rätsels Lösung, was?“
 


 

Als Ray auf der Steinmauer saß, pochte sein Herz schrecklich. Kyrie war noch nicht da. Und sie hatten nicht ewig Zeit. Sie mussten das doch durchgesprochen haben, ehe ihre Eltern kamen. … Zumindest er würde sich weigern, so etwas vor anderen Leuten zu besprechen. Ihr Vater war so schon unzufrieden mit ihm … Was … was wenn er herausfand, dass er mehr in seiner Tochter sah, als eine gute Freundin? Wenn er sie … noch mehr beanspruchen wollte?

Bei solchen Gedanken überkam ihn der Scham und ließ ihn zu Boden sehen. „Oh weh …“, murmelte er vor sich, „Das wird hart.“

„Was wird hart?“, erkundigte sich Kyrie, die plötzlich neben ihm stand.

Heute schneite es nicht. Die Sonne stand am Himmel, der Schnee war schon wieder am Wegschmelzen. Deshalb hatte er auch nur eine normale Jacke an. Kyrie hingegen war noch voll im Winterstil gekleidet. Inklusive Schal und Mütze.

„Du … bist hier“, erkannte er. Am liebsten hätte er sich an die Brust gegriffen und sein Herz zum Stillstand bewegt. … Was war nur los mit ihm? Sie war nicht das erste Mädchen, das er mochte. Natürlich war er nicht wie Ted, der jede Woche eine andere hatte, aber … dennoch … Wie hatte sie es geschafft, ihn so aus der Fassung zu bringen? Was war anders an ihr?

Sie nickte. „Bin ich …“ Sie setzte sich neben ihn und hielt die Arme verschränkt.

Schweigen tat sich zwischen ihnen auf.

Das war nicht richtig! Sie … sie sollten doch sprechen … Aber er bekam kein Wort heraus.

„Danke, dass du gestern gekommen bist“, sagte sie plötzlich.

Genau, weshalb war er nicht von selbst auf das Thema gekommen? … Was war nur los mit ihm?!

„Kein Ding“, wehrte er locker ab, „Dich besuche ich doch gerne überall.“

Sie lächelte erfreut. „Tut mir … aber dennoch Leid, dass ich nicht bei dir bleiben konnte.“

„Ich habe dich überrascht“, erklärte er, „Das ist das Risiko an Überraschungen.“

„Ja …“, gab sie ihm recht, „Sie sind sooft … überraschend.“

„Wie … am Donnerstag“, lenkte er das Thema auf den richtigen Pfad.

Er bemerkte, dass sie plötzlich den Atem anhielt.

„Da … waren wir ja kurz davor …“, murmelte er, wobei seine Stimme immer leiser und undeutlicher wurde. … Es zu tun, war eine Sache. Darüber zu reden, eine komplett andere.

Sie nickte. „Ja“, gab sie zu, „Ich … habe auch darüber nachgedacht.“

„Was … heißt das jetzt?“, hakte er leise nach.

Er sah sie nicht an.

„Ich … wollte dasselbe fragen“, gab sie zu.

In dem Moment schaute er zu ihr. Sie starrte in den Boden hinein. Ihre behandschuhten Finger hielten ihre Arme fest. Sie wirkte, als wolle sie sich selbst gleich erdrücken.

Sie wirkte so klein und zierlich … und so nett eingepackt in alle ihre weiße Winterkleidung, umgeben vom goldenen Glanz des Himmels …

„Aber“, fügte sie erstickt hinzu, „Ich … mag nichts ändern …“

… Sie … wollte nichts ändern …

Er bemerkte, dass sie zu ihm aufschaute.

Er hoffte, dass sie ihm seine Bestürztheit nicht ansah. Dass … er sie verbergen konnte. Dieser Schmerz in seinem Herzen … Dass er … abgelehnt wurde.

„Ich will, dass es so bleibt wie jetzt …“, murmelte sie. Plötzlich lagerte ihre Hand auf seiner. Der Handschuh fühlte sich so warm an. „… Bist du … enttäuscht?“

Dreimal setzte er zu einer Antwort an, auch wenn er nicht genau wusste, was er antworten sollte. Zurückgewiesen. Sie hatte … ihn abgelehnt … Konnte es dann überhaupt so bleiben wie früher? Wenn sie jetzt wusste, dass er sich in sie verliebt hatte … und sie seine Gefühle nicht erwiderte …?

In dem Moment wurde ihm klar, dass er erwartet hatte, dass sie zusagte. … Dass er und sie von heute an ihre Hände haltend durch die Straße gehen würden. Dass sie von heute an beide Kingstons sein würden. Dass sie … mehr sein würden als bloß Freunde.

„Ich kann nicht sagen“, murmelte er vor sich hin, „dass ich … nicht enttäuscht bin …“ Er holte tief Luft. „Aber ich bin erleichtert, dass es so bleibt, wie es ist …“ Er sah sie kurz an. Ihre Blicke kreuzten sich. „Damit bin ich genauso zufrieden.“ Schnell wandte sie sich ab. „Gut, das …“

… Sein Herz stimmte mit seiner Aussage leider nicht überein. Am liebsten hätte er sich zurückgelegt und sich im Schnee eingegraben. … Warum sie ihn wohl ablehnte? … Warum … konnte sie ihn nicht einfach auch …

Sie umarmte ihn plötzlich und vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke. „Ich wollte dir keine falschen Hoffnungen machen“, verstand er, obwohl ihre Stimme durch den Stoff stark gedämpft war. „Es tut mir leid.“

Er hielt weiterhin ihre Hand, strich sanft über den Handschuh. „Mir tut es leid, dass ich es falsch verstanden habe.“

Kyrie zuckte bei den Worten stark zusammen.

Besorgt sah er zu ihr. „Kyrie …?“

„… Ich … fühlte mich heute nicht so gut …“, brachte sie hervor, „Ich … sollte mich daheim lieber ausruhen …“

… Sie wollte heute nicht mit ihm lernen. Nicht bei ihm sein … Er verstand es. Er konnte es nachvollziehen … So … war es wohl besser … So hatten sie Zeit zum Nachdenken … Ihre Gefühle zu ordnen … zu vergessen …

„Erhole dich gut“, murmelte er. Er konnte nicht umhin, sich zu ihr hinunter zu beugen, sie in seine Arme zu nehmen und seinen Kopf auf ihrem ruhen zu lassen … Nur dieses eine, letzte Mal wollte er noch …

Sie umarmte ihn weiter.

Und bis das schwarze Auto kam, verbrachten sie ihre Zeit auf der Mauer schweigend in dieser Pose.
 

Sie sah ihn noch winkend vor sich, die Enttäuschung in seinem Gesicht, die Trauer auf seinem Gesicht. Gebrochen. Sie hatte ihm das Herz gebrochen.

Falsch. Es war einfach alles falsch!

Als sie hinten eingestiegen war, hatte sie sich an die Fensterscheibe gelehnt. Stumme Tränen waren ihr Gesicht nach unten geronnen. Doch sie beantwortete nicht eine einzige Frage ihrer Eltern, sagte kein einziges Wort, entschuldigte nicht einmal Rays Abwesenheit.

Sie hatte einfach all ihre Gefühle nach draußen geweint, wie sie geglaubt hatte.

Doch als sie ausgestiegen war, wurde ihr das Gegenteil bewiesen. Als sie in das besorgte Gesicht ihrer Mutter blickte, ihre Frage hörte, ob alles in Ordnung wäre, überkam es sie erneut. Das Schluchzen und Heulen einer Person, die einen riesigen Fehler gemacht hatte, weil es das einzig Richtige war. Ein Mädchen, das sich selbst das Herz gebrochen hatte, um sich selbst treu zu bleiben, die andere Person zu beschützen.

Und so durfte sie sich an der Brust ihrer Mutter ausweinen.

Und als sie im Wohnzimmer waren, hatten sie sich auf das Sofa gesetzt, wo Magdalena Kyrie sanft streichelte. Doch sie hörte nicht auf zu weinen. Es ging nicht. Rays Gesicht. Seine Augen. Sie bohrten sich in ihre Seele, zerdrückten sie innerlich … Sie wollte ihn doch nicht verletzen, sie wollte nicht …

Er würde am nächsten Tag doch wiederkommen, oder? Er würde … Immerhin … war er doch … Es würde alles so sein wie früher, oder? … Aber … seine Enttäuschung …

Sie konnte den Tränenschwall nicht aufhalten.

Nicht einmal, als es ihr Lieblingsessen gab.
 


 

Obwohl sie jeden Tag gemeinsam Konferenzen hielten, begegnete Ira den anderen Todsünden selten am Gang. Jeder ging seinem eigenen Geschäft nach, nachdem sie die gemeinsamen Aufgaben erledigt hatten. Umso seltsamer fand er, dass Acedia im Gang stand und aus dem Fenster starrte.

Langsam ging er zu ihr. „Wenn man einen Assistenten hat, hat man wohl zu viel Freizeit.“

Überrascht wandte sie sich zu ihm um. „Ira.“ Sie lächelte ihn feixend an. „Ohne wohl auch. Oder mischt du dich immernoch in fremde Angelegenheiten ein?“

Er hielt gebührenden Abstand. „Was tust du hier?“

„Ich beobachte meinen Assistenten, wie er sich auf zur Informationsbeschaffung macht“, erklärte sie ihm. Er kannte sie schon zu lange, um nicht zu erkennen, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Und genau deswegen wusste er, dass sie es ihm nicht mitteilen würde, wenn er danach fragte. Sie redete nur, wenn sie es wollte. Das war wohl etwas, was sie mit Luxuria gemeinsam hatte.

Damals … als sie ihm mehr bedeutet hatte, als alles andere …

Nein, das war nicht er. Er war Ira. Er war eine Todsünde.

Er blickte Acedia in die Augen. Seit sie ihn davon überzeugt hatte, dass Luxuria etwas zugestoßen sein musste, hatten sie nicht mehr unter vier Augen geredet. Sie waren beide sehr beschäftigte Engel. „Hast du noch immer kein schlagkräftiges Argument gefunden?“, prüfte er nach, obwohl er die Antwort sehr gut kannte. So etwas hätte sie ja sofort mitgeteilt.

„Mein Assistent behauptet, der Täter würde erneut zuschlagen …“, murmelte sie, „Wir sollten also vorsichtig sein.“

„Gewarnten Todsünden kann er nichts anhaben“, stimmte Ira ihr zu. Also musste er noch mehr aufpassen … Und die anderen wohl auch. „Er hat kein bestimmtes Muster, oder?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das macht es schwieriger.“ Sie runzelte die Stirn und wirkte mehr als nur unglücklich.

Er schritt auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Sorge dich nicht zu sehr, Acedia.“ Er lächelte sie aufmunternd an.

Aber sie lächelte nicht zurück. „Das ist einfacher gesagt, als getan“, murmelte sie ernst.

Heute ging es ihr wohl wirklich schlecht. Sie war weder temperamentvoll, noch aufbrausend. Einfach nur ernst und niedergeschlagen … Sie musste Luxuria wirklich noch sehr gerne gehabt haben …

Umso schlimmer fühlte er selbst sich, weil es ihn lange nicht so sehr mitnahm wie seine Freundin. Immerhin … waren sie doch alle Freunde gewesen.

Er wich einen Schritt zurück. „Bis dann“, murmelte er und ging.

Was war nur aus ihm geworden?

Es war seltsam so neben ihm zu sitzen. Zu wissen, was er für sie empfand. Dasselbe für ihn zu empfinden … und es dennoch abzulehnen … Kyrie fühlte sich schrecklich. Und daran lag es wohl, dass sie einfach schweigend nebeneinander saßen. Nichts zueinander sagten. … Aber heute würde er wieder mitkommen sollen. Es … es musste wieder alles wie früher werden … Also … durfte sie sich nicht durch diese negativen Gefühle aufhalten lassen. Sie mussten wieder gemeinsam lachen … Immerhin … war es dieses Glücksgefühl, das sie miteinander verband … Und … er brauchte heute auch nicht frühzeitig nach Hause. Nathan würde nicht kommen, genauso wenig wie Thi … Sie konnten also gemeinsam lernen …

„Bald sind die Abschlussprüfungen für dieses Semester“, brachte Kyrie leise hervor. Um sie herum herrschte Lärm, doch für sie durchbrach sie eine elendige Stille.

Er sah sie an. „Ja, da sollten wir uns dreifach beim Lernen anstrengen.“ Er wirke ernst.

Sie nickte. „Ich hoffe, dass wir durchkommen“, meinte sie, „Dann können wir weitermachen. Unsere Träume verwirklichen.“

Ray betrachtete sie jetzt nachdenklich. Aber er antwortete: „Genau. Wir können … Dinge ändern, die uns nicht gefallen.“

War das jetzt ihre Chance? … Sie hatte weder gestern noch vorgestern etwas dazu beigetragen, ihr Versprechen an Maria einzulösen – vielleicht sollte sie heute damit anfangen. Das würde sie! „Ja“, stimmte sie ihm zu, „Je mehr man besitzt, desto mehr kann man teilen.“

Plötzlich huschte ein Lächeln über seine Lippen. „War das jetzt ein weiser Heiligenspruch?“

„Ein Grundsatz“, erklärte sie, „Auf dem basieren zum Beispiel Spenden.“

Er nickte. „Spenden sind etwas für die Leute, die helfen wollen, aber nicht in der Lage sind, wirklich zu helfen.“ Er schloss die Augen. „Sie sind Entschädigung für Machtlosigkeit.“

Kyrie starrte ihn perplex an. … Er schaffte es aber auch, alles negativ zu sehen! „Dein Vater spendet an die Kirche“, warf sie ruhig ein. … Wobei ihr nicht ganz klar war, ob das jetzt gut oder schlecht enden würde.

„Habe ich mir fast gedacht“, murmelte er, „Diejenigen mit der größten Schuld sind auch diejenigen mit der größten Tasche.“

„Du denkst also, dass er nur spendet, weil er ein schlechtes Gewissen hat?“, fasste Kyrie seine Worte ungläubig zusammen. Wie … wie konnte er nur so darüber denken? Radiant wirkte so ehrlich und aufopferungsvoll! Er wollte wirklich, dass es Maria wieder gut ging – dabei war sich Kyrie sicher! Warum versperrte Ray sich dann vor diesem Wissen?

„Ganz genau.“ Er sah sie an. „Und deshalb will ich mich nicht nur mit Spenden zufrieden geben. Ich will aktiv etwas tun.“

Sie rang mit sich. Wenn er dieses Argument brachte, dann nützte es wahrscheinlich überhaupt nichts, wenn sie ihm verriet, dass er auch in die Medizin hineinzahlte, um den Fortschritt zu garantieren. Er würde Radiant doch nur als faul und feige bezeichnen …

Sie kniff die Lippen zusammen.

„Dir liegt was auf der Zunge“, stellte Ray lächelnd fest, „Raus damit.“

Sie beobachtete ihn nachdenklich. Doch dann nahm sie all ihren Mut zusammen und atmete tief durch. Schnell sagte sie: „Er spendet auch an die Medizin.“

Ray hob seine Augenbrauen. „Und weiter?“

„Er ist daran interessiert, dass es deiner Mutter gut geht!“, klärte sie ihn auf, „Dass man sie …“

Er unterbrach sie barsch: „Fang du mir bitte nicht auch wieder damit an.“

Sie runzelte die Stirn. „Was?“

Er erhob sich und stellte sich vor sie. „Kylie hat das letzte Woche versucht. Liz will damit weitermachen – und jetzt auch noch du?“

Wer war Liz!? „Womit denn?“, wollte Kyrie stirnrunzelnd wissen. Wollten sie ihn alle davon überzeugen, dass Radiant ein netter Mann war? … Wenn das so war, dann hätte Ray einen guten Grund, es zu glauben.

„Meinen Vater schön zu reden“, antwortete er bissig.

Kyrie zuckte bei seinem Wortlaut zusammen – und sofort schlich sich ein entschuldigender Ausdruck auf sein Gesicht. Aber er sagte nichts.

„Tut mir leid …“, murmelte Kyrie, „Es ist nur-…“ Sie stockte. Beinahe hätte sie ihm erzählt, dass seine Mutter ihr das aufgetragen hatte. Dass sie die komplette Geschichte kannte. … Aber das hätte unweigerlich zu Fragen geführt. Wohl auch zu der Frage, weshalb sie erst jetzt damit kam.

Er legte den Kopf schief. „Ja?“

„Er sieht immer so traurig aus“, improvisierte sie, „Ich denke … er mag dich.“

Ray starrte auf den Boden. „Ach ja?“

„Und es quält ihn, dass du ihn hasst“, fuhr sie sanft fort.

„Dann hätte er sich einfach mehr um seine Frau und seine Kinder kümmern sollen“, zischte er leise in den Boden hinein, „Und sich nicht einfach eine neue Familie gründen brauchen!“ Er stampfte auf und wandte sich schnell um. Sie hörte, wie er tief durchatmete.

… Vermutlich sprach er von Kim …

„Wer ist Liz?“, wollte Kyrie wissen.

„Meine Stiefschwester“, antwortete er, „Kims erste Tochter. Und das zweite Kind wird auch bald kommen.“

Kyrie sah ihn überrascht an. „Deshalb ist sie nicht mehr zur Kirche gekommen?“

„Keine Ahnung“, knurrte er, „Mir egal. Themawechsel.“

Kyrie sank in sich zusammen. … Das war dann wohl ihr erster Fehlschlag … Sie sah zu Ray. Wie er dastand, wie er sich zusammenreißen musste … Der Drang, ihn zu umarmen, stieg in ihr auf. Aber … würde ihm das nicht wieder falsche Hoffnungen machen? … Hoffnung, die sie ihm nicht antun wollte … Und sich selbst auch nicht.

Sie wandte sich ab. … Wie sollte sie nur so weitermachen?
 


 

Sie hatten gestern wirklich gelernt. Sie hatten sich kaum ablenken lassen, kaum miteinander gesprochen … Sie waren wirklich in ihrem Zimmer gewesen und hatten sich auf die Bücher konzentriert. Bis zum Abendessen. Sie wusste nicht, ob es der Hunger gewesen war, der Ray und sie hatte schweigen lassen – aber auf alle Fälle hatten sie wieder angefangen, miteinander zu sprechen. Zu lachen. Scherze zu machen.

Sogar so sehr, dass ihre Eltern sie beide seltsam angeschaut hatten. Anders seltsam. … Im Auto – wo sie beinahe schweigend nebeneinander ausgeharrt hatten – hatten sich die beiden noch Sorgen gemacht, dass etwas nicht mit ihnen stimmte. Dann allerdings … hatten sie ein Brettspiel ausgepackt und bis in die Nacht hinein gespielt! Und plötzlich hatte Ray ziemlich viel Kuchen ausgepackt. Seinen Geburtstagskuchen. … Sie hatten ihm alles Gute gewünscht, gesungen … seinen Geburtstag sozusagen nachgefeiert! Und der Kuchen war köstlich gewesen. Auch wenn er von Kylie war. Aber sie hatte ein gutes Händchen.

Sogar ihre Mutter, die eigentlich immer als erste müde wurde, hatte mitgegessen und mitgespielt.

John hatte diesmal allerdings darauf bestanden, dass er Ray nach Hause brachte, weil er um diese Zeit keinen alleine vor die Tür lassen wollte. Schon gar niemanden, der so guten Kuchen mitbrachte. Also waren sie noch eine nächtliche Runde gefahren – und das war das erste Mal, dass Kyrie die riesige Villa begutachten durfte, in der Ray lebte. … Radiant hatte also wirklich die Wahrheit gesagt. Er hatte nicht damit übertrieben, dass er eine riesige Firma leitete. … Man sah, dass er das tat.

Sie ließen Ray aussteigen. Und sie winkten einander zu. Keine Umarmung, kein Gar-Nichts. Nur Winken. Ödes Winken und Lächeln. Und wie sie ihn hatte davonziehen sehen, hatte sie ihn schon vermisst … Wie ihr Herz geschmerzt hatte, als er hinter der Tür verschwunden war …

John hatte danach das Auto gestartet, war davon gefahren … und bevor sie um die Kurve bogen, sah sie im ersten Stock ein Licht angehen und eine Gestalt am Fenster stehen … Und sie hatte weiter gewunken.

Hoffentlich würde es heute so weitergehen wie gestern. Freundlich. Freundschaftlich.

Sie schaute die Straße entlang und machte den braunhaarigen Jungen sofort aus. Er winkte ihr zu, eilte weiter zu ihr.

„Guten Tag“, begrüßte er sie lächelnd.

„Hallo“, grüßte sie zurück und deutete auf den Platz neben sich.

„Ah, ist heute ausnahmsweise einmal Platz neben dir“, stellte er amüsiert fest, wobei er sich neben sie fallen ließ. „Und damit ist die Schneesaison wohl auch schon vorbei.“

Er sprach wohl von der Sonne, die bereits wieder die Welt wärmte. Sie brauchten keinen Schal, keine Handschuhe und keine Mütze mehr. In der Nördlichen gab es immer nur ein bis zwei Wochen, in denen man diese Kleidungsstücke benötigte. Danach brach schon wieder Frühling von der Stange. Und wenn der vorbei war, kam der lange, schöne Sommer.

„Ja“, stimmte sie zu, „Vermisst du den Schnee?“

„Ich habe mich eigentlich an das Grün mittlerweile gewöhnt“, erklärte er lächelnd, „Es … gefällt mir sogar richtig gut.“

„Aber hier wird man leider nur sehr selten Schneemänner bauen können“, bemerkte Kyrie.

„Das stimmt wohl“, meinte er, „Aber das bringt mich auf eine Idee: Im nächsten Winter bauen wir zusammen einen Schneemann!“

Kyrie schaute ihn mit großen Augen an. „Das wäre bestimmt toll!“ Aber ihr wurde schnell etwas klar. „Falls es dafür genug Schnee gibt.“

„Ich kann Kylie sonst welchen importieren lassen“, scherzte er, bevor er zu lachen anfing.

Sie stimmte in das Lachen mit ein. „Viel Spaß dabei.“

„Es wird schon schneien“, vermutete er, „Immerhin … hat es heuer kaum geschneit! Das wäre sonst ja unfair.“

„Das Leben ist nicht immer fair“, ermahnte Kyrie ihn, „Haben wir gerade heute gelernt.“

„Wir hatten das schon letzte Woche durch“, erklärte er zwinkernd.

Und sie lachten weiter.

… Kyrie bedauerte, dass sie heute so früh schon getrennte Wege gehen mussten. Immerhin … wollte sie die Zeit mit ihm nutzen.
 


 

Als Nathan in Kyries Zimmer erschien, schreckte diese von ihrem Bett auf.

„Du bist du schon hier?“, rief sie überrascht. Dann wanderte ihr Blick zur Uhr.

„Ich denke, du hast verschlafen“, stellte Nathan belustigt fest, „Wir müssen mit unserem Training wohl doch fortfahren“, verkündete er, „Sonst wirst du ja noch zum Müßiggänger!“

Kyrie sah ihn an. „Darüber … wollte ich mit dir reden …“ Plötzlich wurde sie wieder so ernst. Eine Mischung aus Ernst und Traurigkeit überkam sie. Was sie wohl … bedrückte?

„Was ist denn los?“, fragte er, wobei er seine Flügel einzog. Er ließ sich auf den Schreibtischsessel fallen und rollte damit vor Kyrie, sodass ihr ins Gesicht sehen konnte.

„Ich … denke, wir können das Schwerttraining sein lassen …“, murmelte sie, wobei sie auf den Boden blickte.

„Du … willst das einfach lassen?“, prüfte er nach, „Warum? Fühlst du dich sicher?“

Eine lange Pause erstreckte sich zwischen ihnen.

Nathan wartete einfach geduldig, bis sie zu einer Antwort ansetzte. Warum entschied sie sich plötzlich so? Sie brauchte das Training doch! Wie sollte sie sich sonst jemals wehren können? Natürlich könnte sie ihn auch einfach immer rufen, um in den Himmel zu gehen, aber … Er war sich einfach nicht sicher, ob er wirklich ewig Zeit für sie haben würde. Diese Woche hatte ihm aufgezeigt, wie viel er eigentlich zu tun hatte. Aber für seine Freunde musste man sich immer Zeit nehmen!

„Ja“, murmelte sie, „Es … wird schon gehen …“ Sie klang alles andere als sicher.

Er fasste an ihren Kopf und legte seine Hand sanft darauf ab. „Du Dummerchen“, erklärte er sanft, „Du störst mich nicht. Das weißt du doch, oder?“

Plötzlich blickte sie auf. Betrübtheit stand in ihrem Blick. „Ich will nicht mit dem Schwert kämpfen“, brachte sie leise heraus, „Ich will gar nicht kämpfen …“

„Aber … wenn die Halbengelhasser …“, begann er.

Als sie wieder wegschaute, sah er etwas ein: Er zwang sie wirklich in etwas hinein, was sie nicht war. Sie war keine große Kriegerin. Sie wollte kein Schwert. Genauso wenig wie er. Es war auch für ihn eine Möglichkeit, wieder zu seinem waffenlosen Leben zurückzukehren. Dann würde sie ihn einfach jedes Mal rufen, wenn sie zur Erde wollte. Er würde schon kommen, sobald er Zeit hatte. Und genau das schlug er ihr jetzt vor: „Okay. Sobald du in den Himmel willst, sendest du einen Ruf aus“, meinte er lächelnd, „Dann hole ich dich und wir können zusammen die Zeit totschlagen.“

Sie schaute ihn mit großen Augen an. Dankbarkeit war auf ihrem Gesicht zu lesen. „Danke …“, murmelte sie danach, „Danke, dass du mich verstehst …“ Sie lächelte breit – und plötzlich erhob sie sich und umarmte ihn. Er legte seine Arme um sie. „Aber du darfst mich nicht erdrücken!“

Sie ließ ihn los. „Gehen … wir dann in den Himmel? Jetzt?“

Nathan stand auf. „Na dann, los!“
 

Während des Weges hatte er sich bei Kyrie informiert, was sie in der Woche, in der sie sich nicht gesehen hatten, gemacht hatte. Sie war also mit Lernen beschäftigt gewesen, wie sie ihm erklärte. Bald wären die Abschlussprüfungen.

„Aber ich denke, ich werde keine Mittwochstreffen ausfallen lassen“, beendete Kyrie ihre Rede lächelnd. Sie war plötzlich so gut drauf. Scheinbar war ihr wirklich ein Stein vom Herzen gefallen, als er sie von den Trainingseinheiten erlöst hatte. … Hatte es ihr wirklich immer so weh getan? … Oder hatte sie diese Woche einfach so genossen wie er selbst? Nur ohne harte Büroarbeit.

„Gut, ich habe mir auch für jeden Mittwoch frei genommen“, verkündete er feierlich. Dann deutete er auf die drei Gestalten, die vorne bei einer Treppe saßen, „Und die da drüben scheinbar auch.“ … Fünf. Es waren endlich einmal wieder alle zusammen! Das war schön!

„Gruppenkuscheln!“, rief Nathan, als er zu seinen Freunden flog und die Arme ausbreitete.

Liana kam ihm allerdings zuvor: „Kyrie!“, schrie sie überglücklich, ignorierte ihn glatt und umarmte das schwarzhaarige Mädchen.

„Liana, du bist auch wieder da!“, rief diese erfreut aus.

„Ja!“, kreischte die andere zurück, „Das bin ich!“

„Uh, da freuen sich aber zwei“, bemerkte Thierry amüsiert. Er lächelte. Aber es war ein seltsames Lächeln. Nathan hatte ihn ja schon oft lächeln sehen, aber diesmal … es wirkte so … geheimnisvoll. Als könnte Nathan den Grund dafür nie verstehen …

Oder er hatte das Lächeln seines Freundes einfach vermisst!

Joshua stand neben Thi, sagte aber nichts. Deliora musterte Nathan nachdenklich.

… Scheinbar schien noch immer irgendetwas im Gange zu sein.

„Also gut“, rief er für sie alle hörbar, „Heute ist ein Mittwochstreffen.“

„Was du nicht sagst“, spöttelte Deliora.

„Und das bedeutet, dass wir heute Spaß haben!“, fuhr er unbeirrt fort, „Und an nichts Ernstes, Wichtiges, Trauriges oder … Ernstes denken!“

„Du hast zweimal Ernstes gesagt“, bemerkte Thi, „Du brauchst ein anderes Wort.“

„Deprimierendes“, schlug Liana sofort vor, „Schlimmes, Angsteinflößendes, Entsetzliches …“

„Okay, wir haben es verstanden“, unterband Deliora Lianas Wortschwall.

Plötzlich ertönte Kyries Lachen.

Alle Blicke wanderten zu ihr.

„Ihr seid so …“ Sie starrte von einem zum anderen, schien angestrengt nach einem Wort zu suchen.

Da konnte er natürlich nachhelfen: „Göttlich?“

„Lächerlich!“, schlug Deliora vor.

„Dämlich?“, wunderte sich Thierry.

„Atemberaubend“, meinte Liana überzeugt.

„… toll“, fand sie endlich das gesuchte Wort.

„Der war lahm“, schloss Nathan.

Und ein fröhliches Mittwochstreffen begann.

„Und der Nächste“, wies Avaritia an. Heute bildete Ira das Team mit Avaritia und Gula. Man brauchte drei Todsünden, um die Erinnerung eines Engels gut, sicher und vor allem risikolos zu löschen. Mit zwei Todsünden wäre es zwar noch immer möglich – und einige würden das wohl auch alleine schaffen -, aber dabei konnte es zu Nebenwirkungen kommen. Je mehr Magie im Spiel war, desto reibungsloser gestaltete es sich.

Wenn sie zu siebt waren, dann hatten sie die Gruppen immer in wichtigere und weniger wichtige Erinnerungen eingeteilt – dafür brauchten sie auch die Beschreibungen der Erinnerungen bevor sie sie löschten. Sie mussten wissen, wonach sie suchen mussten. Die Gruppe mit den vier Mitgliedern hatte sich dann immer die ganz schwierigen Fälle rausgesucht. Aber jetzt … mit einer fehlenden Person … und so vielen beunruhigten Engeln.

Ira schaute auf die Liste, als ein jung wirkender Engel vortrat. Als er das Alter las, bemerkte er, dass es auch ein relativ junger Engel war. Gerade, als er die Seite mit den Problemen des Engels aufschlagen wollte, nahm Gula ihm die Liste sanft aus der Hand. „Sportverletzungen“, sagte er, als würde das sein Handeln erklären.

Aber der andere hatte schon recht – wenn es um so etwas ging, sollte Gula die Führung übernehmen. Er hatte beim Schwertkampf mehr Ahnung, nach was genau sie suchen mussten.

Also lehnte Ira sich zurück, bis Gula soweit war.

Sie saßen auf ihren erhöhten Sesseln, sahen auf ihren Klienten herab und konzentrierten sich im nächsten Moment auf ihn.

Thierry öffnete seinen Geist für sie – und alle drei drangen gleichzeitig in ihn ein. Ihr Licht schwebte in ihn hinein, durchforstete seine Gedankenwelt – und Gula führte sie an. Avaritia und Ira folgten ihm einfach zu der Erinnerung, zu der sie wollten. Sie ignorierten einfach alle Gedanken und Gefühle, die auf sie einprasselten. Daran waren sie schon gewöhnt, das bedeutete ihnen nichts mehr. Sie waren auf ihr Ziel fixiert – und fanden es.

Thierry stand vor einem Mädchen, zückte sein Schwert – und plötzlich startete Gula damit, diese Erinnerungen herauszulösen. Alles, was damit verbunden war, jeder Gedanke, der mit dem Thema zu tun hatte, flog hinauf, bildete eine Kugel. Ira ignorierte einfach, was darin war. Es ging ihn nichts an – und wenn er es sehen würde, müsste er es danach sowieso löschen lassen, wenn er nicht selbst wahnsinnig werden wollte. Also steuerte er sein Licht in Gula hinein, sodass dieser genug Kraft aufweisen konnte, um alles ordentlich zu entfernen. Es war ein gefährliches Spiel im Kopf eines anderen herumzuzaubern – aber es musste sein.

Die Kugel aus Licht und Bildern wurde größer und größer – also hatte der Mann diese Erinnerungen schon länger mit sich herumgeschleppt.

Als die Kugel aufhörte zu wachsen und einige Sekunden lang gleich blieb, erwartete Ira den Befehl zum Löschen der Erinnerungen. Er bereitete sich schon darauf vor, mit seinem Licht die Erinnerungen zu sprengen, sodass sie in tausend kleine Teile zersprangen – aber der Befehl kam nicht. Stattdessen wurde etwas zur Kugel gezogen, etwas das sich unterschied – aber es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde an, zu wenig lange, als dass Ira es überhaupt zu verstehen beginnen konnte. Aber ihm schien es, als seien dort andere Erinnerungen. … Die Erinnerungen anderer Personen. Einer anderen Person. … Was tat Gula da? Plötzlich wurde ihm das Löschen befohlen.

Und die Erinnerungen waren gesprengt.

Ira saß auf seinem Stuhl. Er beobachtete, wie der Engel ging. Er erinnerte sich nicht einmal mehr an seinen Namen. Also hatte Gula die Erinnerungen für so schrecklich befunden, dass er auch gleich ihre Erinnerungen seit Eintreffen in den Geist des Mannes gelöscht hatte. … Das war aber ein gefährliches Spiel, wenn sie nur zu dritt waren. Die vierte Person fehlte eindeutig. … Ob das Avaritia vielleicht überzeugte, ihrer Fraktion beizutreten?

„Das nächste Opfer, bitte“, erklang Avaritias Stimme.

… Wann sie wohl endlich etwas wegen Luxuria unternehmen konnten?
 

„Und Engel steigen herab, um die Menschen zu segnen“, las sie lautlos.

Kyrie schaute zu Ray, der auf ihrem Bett lag und in seinem Politik-Buch las. Er wirkte gelangweilt. Langsam hatte sie den Eindruck, als würde ihn dieses Fach am wenigsten interessieren. Am häufigsten sprach er von der gesetzlichen Lage, wenn sie die religiösen Vorschriften erörterte – und dann kam er hin und wieder auf die Medizin zurück. Aber von Politik war kaum etwas zu hören. … Was nicht verwunderlich war. Die Politiker machten ihre Sache auch sehr gut, es gab keinen Krieg und gegen die Sache mit der Bahn konnten sie nichts unternehmen, weil die Bahngesellschaft wohl zu mächtig war und weitere Bauten die Umwelt schädigen konnten … Manchmal musste man zurückstecken.

Mitleid keimte in ihr auf. … Wenn es Straßen gäbe, die über Städte hinaus gingen … wenn es mehrere Gleise gäbe … dann könnte Ray seine Familie öfter sehen. Könnte zu Kylie zurück. Das Mitleid verwandelte sich in die stechende Eifersucht, die sie unterdrücken wollte.

Aber es funktionierte nur schlecht.

Als wolle das Schicksal ihr einen Schlag ins Gesicht verpassen, um ihr wieder einen klaren Kopf zu geben, fiel ihr ihr Buch auf den Boden. Sie beugte sich unter den Schreibtisch und hob es hoch. Seite 77: Die sieben Todsünden. Sofort bemerkte sie die große Überschrift „Eifersucht“. Sie errötete, in der Hoffnung, dass Ray es nicht bemerkte, schloss das Buch und legte es beiseite.

„Bist du schon fertig?“, fragte er gelangweilt, wobei er gerade umblätterte.

„So … in etwa“, antwortete sie kleinlaut. … Sie sollte sich unter Kontrolle haben!

„Was hattest du eigentlich immer für Termine?“, fügte er dann neugierig hinzu.

„Termine?“, wiederholte sie geschockt über seine Frage. „Was für Termine denn?“

„Ab 18 Uhr musstest du ja immer weg … und jetzt schon eine Zeit lang nicht mehr“, erkannte er, „… Du musst es mir natürlich nicht sagen.“ Er klappte sein Buch zu. „Es geht mich ja nichts an.“

„Nein, nein“, hörte sie sich selbst sagen, „Ich … weißt du …“ Sie stockte. Starrte auf den Schreibtisch, spürte seinen Blick auf ihrem Rücken und hielt sich davon ab, sich im Stuhl zusammenzukauern. Kein Schwerttraining mehr. Kein erzwungener Aufenthalt im Himmel mehr. Wenn sie in den Himmel wollte, musste sie Nathan rufen. Aber … sie wollte ihn irgendwie nicht rufen. Er war so vielbeschäftigt, sie hatten die Mittwochstreffen … Die anderen kannten ihn ja so viel länger als sie selbst – und sie hatte ihn zwanzig Jahre durchgehend … fast bei sich. … Warum sollte sie ihn so überbeanspruchen?

Wenn alles seinen normalen Lauf genommen hätte, würden sie sich wirklich nur mittwochs sehen. Er würde sie nicht an der Hand nehmen müssen. … Sie wäre nicht von der Angst geplagt … Und auch wenn sie ihre Angst jetzt für sich benutzen konnte - sie schaute langsam auf, Richtung ihrer Decke - störte es sie nicht, sie nicht fühlen zu müssen. Hier zu bleiben. Bei Ray. Wo ihr Herz aus Zuneigung und Betrübtheit viel zu schnell schlug, wo sie anderes empfinden konnte als diese Angst … Und mittwochs würden die anderen zu ihr kommen. Sie würde die Mittwochstreffen einfach alle hierher verlegen! Dann … dann brauchte sie nicht mehr in den Himmel. Nicht mehr für die nächsten fünfundzwanzig Jahre. Dann konnte sie den Himmel wieder fühlen. Ihre Angst wäre vielleicht verschwunden … Oder er schien dann wieder heller für sie zu sein. Einladender … Vielleicht auch schon früher … Sie wusste doch nicht, was die Zukunft ihr einbrachte!

Zwei Hände, die sanft auf ihren Schultern platziert wurden, rissen sie aus den Gedanken.

„Hey, alles in Ordnung?“, wollte Ray besorgt wissen, „… Du kannst mit mir über alles reden.“ Er pausierte kurz. „Ich hoffe, das weißt du.“

Instinktiv schüttelte sie den Kopf. „Nein …“, murmelte sie, „Es gibt Dinge … von denen du nichts weißt …“

„Was?“, hakte er nach.

Sie schüttelte weiter den Kopf. „Vergiss es, bitte.“ Dann lächelte sie ihn an.

Und obwohl sie die Sorge in seinen Augen noch wahrnehmen konnte, hörte er auf sie. Und sie fühlte sich schlecht. Einfach nur, weil sie keinem das geben konnte, was er verdiente: eine ehrliche Freundin.
 


 

Umstapeln! So etwas hatte er auch noch nie gehört.

„Nimm das ganze Zeug und schaff es weg“, äffte Nathan leise den Befehl von Acedia nach. Er hielt einen riesigen Stapel an frisch geordneten Ordern, Akten, Zetteln, Heften und Büchern in der Hand. Allesamt Aufzeichnungen über gelöschte Erinnerungen und Einsätze bei Halbengeln, geordnet in jene, die angenommen hatten und die abgelehnt hatten und der Assistenten, die geschickt worden waren! Und die er allesamt in die Regale eingeordnet hatte, sodass man alles gut lesen konnte und das gewünschte Stück sofort fand! … Was hatte Acedia bloß damit vor?!

In ihrem Büro waren jetzt nur noch die Aufzeichnungen für den Fall der verschwundenen Ränge. … Und ein bisschen kleiner Krimskrams sowie die nächsten Aufgaben für sie selbst.

… Hoffentlich fühlte sie sich jetzt einsam in ihrem zettellosen Büro.

Die Zettel waren zwar nicht ganz so schwer, wie sie aussahen, aber es waren dennoch so viele, dass sie ihm teilweise die Sicht versperrten. Aber mehrfach zu gehen, war nicht möglich, wenn man eine ungehaltene Vorgesetzte hatte.

Also flog er den Gang entlang, in der Hoffnung, dass die anderen Leute die Augen offen hielten und er einfach seinen Weg fliegen konnte. Sein Ziel war der Lagerraum für Akten. Scheinbar machten das die Todsünden alle hundert Jahre einmal – so eine Art Jahrhundertsputz … Aber das tat nichts zur Sache, immerhin hätte sie ihm das ja sagen können, bevor er eine Woche mit Ordnen verbracht hatte!

Plötzlich krachte etwas gegen ihn, was ihn zurückwarf – und den Zettelhaufen in der Gegend verteilte.

Bestürzt landete Nathan auf seinen Beinen, die Zettel segelten zu Boden. … Alle … einzeln … Alle … durcheinander … Aber er hatte sie doch extra nach Datum geordnet!

Schnell schaute er, was ihm da im Weg gestanden hatte – und als er erkannte, dass auf der anderen Seite der hünenhafte Gula stand, schluckte er die nicht begonnene Schimpftirade herunter.

„Das tut mir leid“, erklang die harte Stimme der Todsünde.

Nathan machte eine wegwischende Handbewegung. „Halb so schlimm. Ich habe ja Zeit!“

„Ich bin mir-…“, begann der große Mann mit dem rabenschwarzen Haar, stockte dann aber. Nathan folgte seinem Blick zu einem Zettel, der vor ihm gelandet war. Als er sah, dass die Todsünde, die Hand danach ausstrecken wollte, schnellte er vor und hob den Zettel vorher auf.

Das war reine Höflichkeit. Einer Persönlichkeit wie Gula konnte man doch nicht zumuten, sich um ein Blatt Papier zu bemühen.

„Thierry“, sichtete er, als er den Zettel kurz überflog, bevor Gula ihn – einen Dank murmelnd – entgegen nahm.

Thierry. … Nathan kannte nur einen Thierry. Er hatte es noch nie erlebt, dass es im Himmel einen Namen doppelt gab. So etwas gab es einfach nicht. Also … musste damit wohl … Thi gemeint sein. Aber wann? Und noch viel interessanter: Warum?

„Warum interessiert Ihr Euch dafür?“, fragte Nathan nach.

Gula warf ihm einen abschätzenden Blick zu.

„Thierry ist mein Freund“, klärte er ihn auf.

Erkennen trat in Gulas Augen. „Dann bist du der Assistent …“, murmelte er und wandte sich um. „Vergiss das einfach.“ Und damit stob er davon.

Und hinterließ einen total verwirrten Nathan inmitten eines chaotischen Zettelhaufens.

„Was … war das jetzt?“, fragte er sich selbst. Und er würde bis zum nächsten Mittwochstreffen warten müssen, was Thi dazu sagte. Falls er überhaupt noch etwas dazu sagen konnte. Einige ließen sich die Erinnerungen ja soweit löschen, dass sie nicht einmal mehr wussten, dass sie dort waren. … Hatte Thi etwa jemandem beim Schwerttraining verletzt? Aber er war doch kein Anfänger mehr. Er konnte so fechten, dass er niemandem schadete! … Aber … Fehler passierten wohl auch Engeln.

Er würde ihn fragen. Fragen, was los war.
 

Der Blick, mit dem Thierry sie heute bedachte, unterschied sich von dem beim letzten Mittwochstreffen. All die Trauer war verschwunden, auf seinem Gesicht zeichnete sich nicht mehr der Wunsch des Vergessens ab. Also hatte er es getan. Er hatte seine Erinnerungen an das Blenden verschwinden lassen.

Auf der einen Seite fühlte sie sich erleichtert, dass es ihm nun wieder gut gehen konnte. Dass er fröhlich sein konnte, dass er es nicht mehr spielen musste. Dass all das Leid von ihm abgefallen war … doch andererseits … erfüllte es sie mit Schmerz, dass er all ihre gemeinsamen Stunden einfach beiseite geschoben hatte. Natürlich – sie waren beide nicht glücklich gewesen, doch … sie waren prägend. Sie hatten Seiten voneinander kennen gelernt, die sie zuvor nicht einmal erahnten … Es hatte sie verbunden … Aber als gute Freundin sollte sie sich wohl für ihn freuen. Für seine neu gewonnene Freiheit.

… Und sie sollte wohl endlich den Vorschlag für ihren Plan aussprechen. Sollte ihnen verkünden, dass von nun an alle Mittwochstreffen hier stattfinden würden … Falls sie damit einverstanden waren.

Nathan stand gerade in einer Ecke und sprach leise mit Deliora. Joshua, Liana, Thierry und sie saßen im Wohnzimmer am Sofa. Vor ihnen stand Knabberzeug, auf das die Engel erfreut reagierten und es nahezu verschlangen. Sie redeten, erzählten von neuen Ereignissen – natürlich nur unwichtiger Natur, keine weltbewegenden Neuigkeiten – und aßen.

So stellte man sich wohl einen normalen Abend – oder Nachmittag – mit seinen Freunden vor, wenn die Sonne gerade von Wolken verdeckt wurde. Oder die Freunde bei strahlendem Sonnenschein einfach das Haus nicht verlassen wollten. Eigentlich sollte sie die Zeit vollends genießen. Dieser Tag war einmalig. Es gab ihn nur einmal in der Woche … der einzige Tag, an dem sie ihr Engels-Wesen nicht verbergen musste … der einzige Tag, an dem sie Ray nur für weniger als eine Stunde genießen konnte.

„Und dann“, durchbrach Lianas laute Stimme ihre Gedanken, „hat er seine Magie brechen lassen …“ Sie seufzte verträumt. „Und die Farben und Formen, die daraus entstanden waren, waren einfach magisch.“

„Und wo befindet sich der?“, wollte Thi wissen, „Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, wäre das perfekt für ein Finale!“

„Ja“, stimmte Liana zu, „Du hast recht! Wenn die Sieger unter diesem magischen Regen stehen …!“ In ihren Augen wurde ein Glitzern sichtbar. „Wir müssen unbedingt mit ihm sprechen!“

„In ein paar Wochen ist wieder ein großes Spiel!“, verriet Thierry, wobei er zwischen den Sitzenden hin und her schaute, „Ihr seid alle eingeladen.“

„Wird Gula auch dort sein?“, hörte Kyrie sich selbst fragen. … Ob er sich wohl noch an das Blenden erinnerte? … Oder war Kyrie wirklich der einzige Engel, der diese verbotene Technik beherrschte?

„Keine Ahnung“, gestand er nachdenklich, „So etwas gibt er nicht preis. Ich kann nur vermuten-…“

„Leute“, unterbrach Nathan sie.

Alle schauten auf. Er und Deliora standen hinter ihm. Beide wirkten ernst. Sehr ernst. „Wir müssen leider beide los. Bis nächste Woche.“

„Moment, was ist denn los?“, wollte Liana wissen und sprang hektisch auf.

Doch die beiden hetzten bereits zur Tür, ohne ihr eine Antwort zu geben. Liana schaute zu ihren Freunden am Sofa. „Tut mir leid, aber … ich rieche Übles.“ Und damit verschwand auch sie in Richtung Ausgang.

Kyrie schaute ihr nach.

„… Was wohl los ist?“, wunderte sich Thi. Er legte den Kopf schief.

„… Vermutlich etwas Schlimmes“, wandte Joshua ruhig ein, „Sonst wäre Nathan nicht sofort losgeeilt.“

„Hoffentlich hat es nichts mit Luxurias Verschwinden zu tun“, murmelte Thierry, „Ich bin so was von nicht auf ein Ergebnis gespannt.“

„Es sei denn, sie wäre zurückgekehrt, oder?“, warf Kyrie unsicher ein, „Immerhin … würde das …“

Thi zuckte mit den Schultern. „Das ist nicht unsere Sache, bis es richtig offiziell wird.“

Joshua nickte.

„Was … soll das heißen?“, fragte Kyrie nach.

Thierry musterte sie kurz eingehend. Dann schüttelte er den Kopf. „Nicht so wichtig“, wiegelte er ab.

Sie starrte auf den Boden. … Jetzt hatte sie es nicht gesagt. Sie würde Nathan nächste Woche also rufen müssen … Außer sie würde es den beiden jetzt mitteilen …

„Sei doch nicht traurig“, beruhigte Thi sie sogleich, „Bitte …“

„Bleibt ihr … hier?“, wollte Kyrie unsicher wissen.

„Wenn du nichts dagegen hast“, meinte Thi lächelnd, „Und wenn du wieder fröhlich bist.“

… Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Schauen wir einen Film an?“

„Film?“, informierte sich Thi unsicher.

Sie kicherte kurz. „Einen Moment, ich weihe euch ein.“

Und damit suchte sie sich einen ihrer Lieblinge aus, schob ihn ein – und beobachtete die Reaktion der Engel.

„Nach einem Tag?“, begehrte Nathan fassungslos auf, „Du bestellt mich an einem Mittwoch hierher, nur weil Gula nicht zur Konferenz erschienen ist?“

Acedias Augenbraue zuckte gefährlich, sie wirkte ziemlich verärgert, weil er sie in Frage stellte. „Seit Luxuria verschwunden ist, seit wir uns solche Sorgen um sie machen, hat keine Todsünde mehr gefehlt!“, schnauzte sie ihn an, „Und jetzt fehlt er plötzlich?“

„Vielleicht ist ja ein wichtiges Spiel oder …“, mutmaßte Nathan.

Ihre durchdringende Stimme unterbrach ihn aber forsch: „Denkst du etwa, das hätten wir nicht bereits untersucht?“, keifte sie, „Er war gestern nicht bei der Konferenz und heute auch nicht.“

„Und darum rufst du mich, als wäre die Welt untergegangen“, gab er trocken hinzu, „Gula ist ein erwachsener Mann, er kann auf sich aufpassen.“

„Wir sind derzeit nur fünf Todsünden“, erklärte Acedia aufgebracht, „Die gegnerische Seite überwiegt! Und Gulas Verschwinden überzeugt sie auch nicht davon, dass etwas Schlimmes im Gange ist.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Was muss noch passieren, dass sie es endlich einsehen?“ Sie seufzte. „Eine Engelsversammlung und unsere Probleme lösten sich in Luft auf!“

„Aber zumindest hatte ich recht“, versuchte Nathan einen Lichtblick durchzubringen, „Falls Gula wirklich dasselbe passiert wäre wie Luxuria, dann hatte ich mit meiner Vermutung recht.“

Sie starrte ihn unbeeindruckt an. „Und weiter?“

„Jetzt habe ich einen neuen Namen auf der Liste der Verschollenen…“ Er hielt kurz inne. „Oder eher zwei.“ … Falls man das als positives Extra bezeichnen konnte.

„Zwei?“ Sie hob überrascht eine Augenbraue.

„Im siebten Rang ist ein Buchhersteller abgängig. Seine Assistentin hat mich heute darüber informiert.“

Acedia schaute verwirrt drein.

„Ganz recht“, stimmte Nathan ihr zu, „Was will uns derjenige damit sagen, dass er einen aus dem dritten Rang und einen aus dem siebten nimmt?“ Er verschränkte die Arme. „Wie wählt er seine Opfer aus?“

Sie schürzte die Lippen. „Und was ist sein Motiv?“

„Falls Gula bis in ein paar Tage nicht auftaucht, können wir davon ausgehen, dass er dort ist, wo Luxuria sich befindet“, drückte Nathan seine Vermutung wage aus, „Und nur Gott weiß, wo das ist.“

„Und Sin hat sich immer noch nicht zu Wort gemeldet“, bedauerte Acedia, „Wortwörtlich.“

Das bedeutete also, dass er da war, aber nichts sagte. Oder kein Wort herausbrachte.

Das brachte ihn auf eine Idee.

… „Kann es sein …“, begann Nathan langsam, seine Worte mit Bedacht wählend, „Dass derjenige versucht, Sin zu schwächen?“

Acedia legte den Kopf schief. „Wie meinst du das?“

„Seit Luxuria weg ist, hat er ja nichts mehr gesagt“, erinnerte Nathan sie, „Was, wenn Sin schwächer wird, je weniger Engel leben? Je mehr starke Engel fehlen. Oder vor allem: Wenn die Ränge unterbesetzt sind.“

Acedia wirkte für einen Moment geschockt, fand aber gleich zu ihrer Gleichgültigkeit zurück, die sie immer an den Tag legen sollte. „Das bezweifle ich. Er ist ein Engel.“

„Warum sagt er dann nichts?“, wollte Nathan wissen, „Vielleicht hat er ja ähnliche Grenzen wie Gott. Je stärker der Glaube, desto …“

„Nein“; unterbrach sie ihn barsch, „Überlege dir etwas anderes. Und schau, welche Engel sonst noch fehlen. Ich unterrichte dich über weitere Versammlungen.“

Nathan nickte.

Acedia erhob sich und stob aus dem Büro, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. … Wie gut kannten sie Sin überhaupt? Wie konnten sie sagen, woher er seine Macht bezog? Er war theoretisch so alt wie Gott. … Was, wenn er eine Teilmacht Gottes …

Nein, nein. Soweit sollte er nicht denken. Sin war sein Vorgesetzter. Er würde schon seine Gründe haben. Genauso wie Acedia … Wie konnte sie sich nach einem Tag des Verschwindens schon so viele Gedanken machen? Vielleicht hatte er ja eine Spur zu Luxuria gefunden und war persönlich ausgerückt. Oder er brauchte Abstand von dem Stress hier. … Seit Luxuria nicht mehr da war, arbeiteten die Todsünden ja praktisch durch.

Er setzte sich hin. … Also hatte er für heute einen Auftrag. Hoffentlich konnten Kyrie und die anderen ihm das verzeihen …

Deliora hatte ihm leicht aufgebracht erzählt, dass ihr Vorgesetzter bereits seit vier Tagen nicht mehr zu seiner Arbeit erschien, dass sie mittlerweile alleine alle Bücher herstellen musste. … Aber wieso sollte der Täter plötzlich wieder in den unteren Rängen zuschlagen, wenn er seit Luxuria sonst keinem etwas angetan hatte? … Und Deliora konnte nicht genau sagen, ob er nicht einfach gegangen war. … Warum kannte Deliora einen Mann, mit dem sie seit vielen Jahrzehnten Tag für Tag Hand in Hand arbeitete weniger gut, als Acedia eine Todsünde, die sie jeden Tag nur für ein paar Stunden sah, um neue Ereignisse auszutauschen oder Halbengel zu konvertieren …?

Apropos. Heute wäre wieder einer auf die Welt gekommen. Vielleicht teilten ihr das andere mit. … Fünf Todsünden. Wenn die Eltern vergessen wollten, bekamen sie wirklich langsam ein Problem. … Wenn einer sich einmal frei nehmen wollte, würde es wahrscheinlich noch gehen. Bei zwei wäre es tatsächlich problematisch.

… Außer Gula würde zurückkehren. … Er konnte Gula nicht einschätzen. Er wusste nur, dass der Mann sehr verschwiegen war. Mehr nicht. Und dass er Thierrys Daten eingesteckt hatte. … Warum auch immer. Thi. … Vielleicht wusste er etwas dazu!

Sofort materialisierte sich Nathan wieder in Kyries Haus hinein. Er wollte sowieso noch mit dem Sportler reden – warum dann nicht gleich?

Und schon stand er mitten in Kyries Wohnzimmer, seine Schwingen ausgebreitet.

Joshua wandte sich sofort zu ihm um, als hätte er einen Sensor eingebaut, während die anderen beiden weiterhin in den Fernseher starrten. … Fernsehen. Das hatte Nathan immer an Zeige-Magie erinnert. Bloß lustiger und mit mehr Fantasie.

„Nathan“, stellte Joshua fest.

Dadurch drehten sich Kyrie und Thi zu ihm um.

„Willst du dich dazusetzen?“, fragte Thierry amüsiert, „Das ist wie Zeige-Magie - nur lustiger und mit mehr Fantasie!“

„Ich weiß, Thierry“, sagte Nathan, „Ich will aber eigentlich mit dir reden. Komm her.“ Er deutete nach oben.

„In den Himmel?“, fragte Thierry, „Ich habe …“

„Nein“, unterbrach Nathan ihn, „In Kyries Zimmer.“

„Ja, frage mich ja nicht, ob du in mein Zimmer darfst. Das gehört ja nicht mir“, mischte sich Kyrie ungewohnt belustigt ein.

Erst jetzt erkannte er ihren Punkt. … Das war peinlich. Er grinste sie entschuldigend an. „Tut mir leid. Dürfen wir? Nur ganz kurz?“ Und so schnell wurde man gute Gewohnheiten wieder los!

„Wenn du mich so fragst …“, meinte sie langsam, „… Warum nicht?“

„Du bist ein Schatz!“ Er winkte Thi nach oben.

Dieser erhob sich langsam und unsicher. Scheinbar wusste er wirklich nicht, weshalb Nathan mit ihm reden wollte. Während er auf ihn zukam, bemerkte er, dass Joshua Kyrie einen eifersüchtigen Blick zuwarf – während diese aber auf eine nachdenklich-nervöse Weise den Boden hinter dem Sofa absuchte, als würde er sie beruhigen. Was er aber sichtlich nicht tat. … Hatte sie etwas zu verbergen? … Nein … Sie würde ja nicht alleine in den Himmel gehen. Und Gula würde wohl kaum zu ihr kommen, um sie mit irgendwelchen geheimen Kräften auszustatten, die ihr im Kampf gegen das Böse helfen würden. … Nein. Da steckte etwas anderes dahinter. … Aber erst musste er mit Thi reden.

Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, Thierry folgte ihm genauso schnell. Und als er die Tür zu Kyries Zimmer zuschlug, sich an diese lehnte und Thi lässig musterte, war noch immer diese Unwissenheit auf dessen Gesicht zu sehen. … Dass er wirklich nicht wusste, weshalb er hier sein könnte.

„Brauchst du etwas von mir?“, durchbrach der andere die Stille, „Ich bin eigentlich schon gespannt, wie die Kakerlaken die Katze …“

„Schaut Kyrie so etwas immernoch?“, wunderte sich Nathan, „Aber das ist jetzt egal!“, unterbrach er sich selbst, bevor er noch näher über den Umstand nachdachte, „Gula. Es geht hier um Gula!“

„Gula?“, wiederholte Thi und verschränkte nachdenklich die Arme, „Das nächste Spiel, zu dem er beinahe hundertprozentig kommen wird, ist …“

„Er wird ziemlich sicher nicht kommen“, fuhr Nathan ihm dazwischen, „Er ist nämlich verschwunden.“ … Dass das nur eine Vermutung von Acedia und Ira war, ignorierte er im Moment einfach. Panik machte Engel gesprächig.

Thi zog lediglich die Stirn kraus. „Wie Luxuria?“, fragte er nach, „Warum unternehmt ihr nichts dagegen?“

„Das tun wir“, klärte Nathan seinen Freund auf, während er sich von der Tür abstieß, um näher zu Thierry zu kommen. Währenddessen erst zog er seine Flügel ein. Die Federn würde er später schon entfernen. „Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du etwas damit zu tun hast.“

„Ich?“ Jetzt schaute er, als habe Nathan nicht alle Tassen im Schrank. „Du weißt, dass Gula eine Todsünde ist und ich schwach bin?“

„Nein“, widersprach Nathan ihm, „Du bist ein perfekter Schwertkämpfer. Du verfehlst nie dein Ziel.“

„Ja“, gab er zu, „Das stimmt wohl, aber ich rede eigentlich vom Licht.“

„Wen also hast du getroffen? Wie konnte das geschehen?“ Er holte tief Luft. „Und vor allem: Warum interessiert Gula sich dafür?“

„… Wenn du mir hier irgendetwas vorwerfen willst“, begann Thi leicht verärgert, „dann legst du dich mit dem Falschen an. Ich war Gott, Sin, den Todsünden und den Gesetzen ständig treu! Allen Rängen!“

Er konnte sich also wirklich nicht daran erinnern. Aber seine Erinnerung war definitiv gelöscht worden. Und Gula hatte den Zettel mitgenommen. Also war es Gula, der etwas mit Thi angestellt hatte und es verbergen wollte. … Aber was? „Wann hast du Gula das letzte Mal getroffen?“

Der Ärger verschwand langsam aus Thierrys Augen und wich Nachdenklichkeit. „Das war einmal beim Training. Er wollte den Siegern des letzten großen Spiels noch einmal gratulieren“, erinnerte er sich, „Und dann …“ Er stockte kurz. „Dann wird er schon irgendwann gegangen sein.“

Nathan nickte. Plötzlich ereilte ihn ein Geistesblitz: Thi wollte doch in der vergangenen Woche mit Kyrie reden. Und heute war sie nervös. „Hatte Kyrie dabei irgendetwas mit Gula zu tun?“

„Kyrie?“ Jetzt starrte er ihn wirklich an, als befände sich ein Irrer vor ihm. „Du weißt doch, dass sie nicht in den Himmel geht ohne dich!“

„Wohl wahr“, stimmte Nathan zu, „Aber … mit dir und Gula vielleicht schon.“

„Denkst du?“, hakte Thi nach, „Ich glaube nicht … Sie wird uns nie genug dafür vertrauen.“

Nathan schüttelte den Kopf. „Na gut, danke für deine Antworten. Jetzt kommt Kyrie an die Reihe.“
 


 

„Verheimlichst du etwas?“, wollte Joshua von ihr wissen, als Nathan und Thi die Treppen nach oben stiegen.

„N- Nein“, gab sie im Versuch, hart und ehrlich zu klingen, zurück, „Warum?“ Sein Blick auf ihre vor Nervosität zitternden Finger, die sich ängstlich ins Sofa krallten, ersparte beiden die Antwort. Aber sie musste sich beruhigen! Das war keine Angst. Das war pure Nervosität mit einem Hauch von Schrecken in der Voraussicht des Lügens!

Nathan würde doch sofort merken, dass Thierrys Erinnerungen fehlten, dann würde er das mit ihrem Verhalten kombinieren – und am Ende würde er sie befragen. Und egal wie sehr sie jetzt noch eine Antwort einübte, sie würde ihn nicht so direkt anlügen können. Dafür waren doch die Wunden noch zu frisch! Alles so weit oben, die Angst … und … mit irgendwem musste sie doch darüber reden. Sie … konnte doch nicht einfach …

Sie hörte, wie ihre Zimmertür sich wieder öffnete. Ihr Herz pumperte vor sich hin – sie war davon überzeugt, dass Nathan das schon längst wahrgenommen hatte, dass er sie längst schon überführt hatte! Sie, die Gesetzesbrecherin …

Die Schritte kamen näher und näher. Leise Schritte. Gefährliche Schritte. Aufgeregte Schritte.

Sie versank weiter im Sofa, vergrub sich darin, wünschte sich, zu versinken. Warum gerade sie? Warum konnte sie nicht auch einfach vergessen? Alles vergessen …

„Kyrie!“, unterbrach Nathans Ruf die Stille.

Und in dem Moment wurde die Tür aufgerissen. Kyrie starrte in den Eingangsbereich und erkannte darin ihre Mutter, voll bepackt mit Einkaufstüten. Sofort sprang sie auf.

„Mama!“, rief sie und lief zur Tür, „Du hast uns Essen mitgebracht?“ Schnell nahm sie der Frau eine Tüte ab. „Hast du noch mehr? Ich helfe dir!“ Sie wandte sich schnell zu ihren Freunden um. Nathan und Thi standen wie versteinert auf der Treppe, während Joshua noch immer ausdruckslos am Sofa saß. „Heute gibt es ein lang andauerndes Festmahl!“

„Hurra!“, rief Thierry aus und entkam seiner Starre, wonach er sofort die Treppen runter raste, um ihrer Familie ebenfalls unter die Arme zu greifen.

Und als Kyrie sich an Magdalenas Seite in die Küche aufmachte, spürte sie einen kalkulierenden Blick auf ihrem Rücken, der ihr einen weiteren Schrecken einjagte. Er war so … gleichgültig.
 

„Es gibt Dinge …“, murmelte er leise, „von denen ich nichts weiß?“ Er verschränkte seine Arme, während er seinen Weg fortsetzte. „Natürlich gibt es die.“ Aber er wollte etwas daran ändern. An seiner Unwissenheit. An seiner Unerfahrenheit. Und das würde er.

Als er um die Ecke bog, erkannte er, wie sooft, dass Kims Auto da stand. Kim blieb einfach von der Arbeit zuhause, Liz fuhr ebenfalls nicht weg … Nur sein Vater arbeitete. Die beiden taten überhaupt nichts, während Radiant sie versorgte! So lebten sie also? Die Schmarotzer.

Seit Liz im Haus war, war es wesentlich schwieriger geworden, alleine zu sein. So schwierig sogar, dass er nicht mehr vor dreiundzwanzig Uhr nach Hause kam. Nicht einmal mittwochs. Wenn er nicht zu Kyrie ging, besuchte er einfach Marc. Marc hatte zwar auch noch kein Auto, aber er lebte zumindest relativ in der Nähe. Aber Marc dachte so ziemlich nie ans Lernen. Wenn es dann wirklich Zeit wurde, tagein, tagaus für die Prüfungen zu pauken, würde er sich wohl an Ken wenden, der das nicht so auf die leichte Schulter nahm. Allerdings bestand bei ihm das Maggie-Problem.

… Und an den restlichen Tagen würde er bei Kyrie bleiben.

Radiant war selten vor dreiundzwanzig Uhr zuhause. Aber meistens kam er kurz nach Ray. Das war dann wohl auch der Grund, weshalb Kim und Liz solange wach blieben. Aber zu so später Stunde waren sie zumindest nicht mehr bemüht, ihn zu nerven.

Also trat er durch den Garten, der im Dunkeln einfach schwarz wirkte, und sperrte leise die Tür auf. Zumindest versuchte er es. Er drehte den Schlüssel um. … Nichts. Er probierte noch die andere Seite. Nichts. In allen Lagen und mit sämtlichen Drehungen, die ihm einfielen, versuchte er, den Schlüssel im Schloss herumzubekommen – aber nichts funktionierte.

Gerade, als er einfach umdrehen und zu Marc zurückkehren wollte, erhielt er eine Nachricht. Er zückte sein Telefon und las leise: „Lege dich nicht mit deiner großen Schwester an.“ Sein Herz schlug höher: Diane! Gerade, als er sich umdrehen und erfreut den Namen seiner Schwester rufen wollte, erkannte er in der obersten Zeile am Bildschirm, dass die Nummer, die das gesendet hatte, Liz gehörte.

… Seit wann hatte er Liz im Handy eingespeichert? … Ohne zu fragen, war ihm die Antwort geläufig: Kylie. Sie musste irgendwann sein Handy genommen und die Nummer eingespeichert haben. Und sie hatte Liz die seine verraten.

… Sollte er sie jetzt wechseln? Nein. Nein, das wäre … kindisch.

Er stellte sich festen Schrittes vor die Tür und forderte: „Lass mich rein.“

„Hast du schon gegessen?“, ertönte Liz’ Stimme hinter der Tür.

„Lass mich rein“, wiederholte er ungehalten.

„Isst du jetzt mit mir?“, wollte sie wissen.

„Lass mich rein“, meinte er. Und ehe er ihre nächste Frage vernehmen konnte, machte er auf dem Absatz kehrt. Er musste nicht hier schlafen. Er konnte auch bei Marc bleiben.

Als Kyrie ihren Engelsfreunden beim Gehen zugesehen hatte, war sie mehr als nur erleichtert gewesen. Das Angebot, mit in den Himmel zu kommen, hatte sie unter Halbwahrheiten vehement abgelehnt. Und so hatte sie es geschafft, nie mit Nathan alleine zu sein, den ganzen restlichen Tag lang nicht … Mal sehen, wie lange sie ihm entkommen könnte.

Aber zumindest wusste sie, dass er Verdacht schöpfte. … Also konnte sie sich darauf vorbereiten … Theoretisch … Weil sie sich auf so etwas nicht einstellen konnte. Sie war ein ehrlicher Mensch. Ehrliche Menschen logen nicht. Und schon gar nicht, wenn ihre Freunde Fragen stellten!

Das Geräusch eines zuklappenden Buches riss sie aus ihren Gedanken. In letzter Zeit war sie so verschlafen – so geistesabwesend … Hoffentlich würde das nicht irgendwann negative Auswirkungen haben.

„Hast du noch Wasser übrig?“, fragte Ray sie, wobei er auf das leere Glas neben sich deutete. Diesmal saß er unter dem Fenster auf einem Sitzkissen. Er hatte ihr erzählt, dass er den perfekten Platz noch nicht gefunden habe – aber er würde ihn schon noch finden.

Sie begutachtete den Wasserkrug, der gähnende Leere aufwies. „Ich hole dir welches“, bot sie ihm sofort an und erhob sich vom Sessel.

Doch noch schneller stand auch er von seinem Platz auf und entgegnete: „Nein, nein, mach dir keine Umstände!“ Er lächelte. „Jetzt bin ich einmal dran.“

„Aber …“, erwiderte sie, um etwas erwidert zu haben.

„Keine Widerrede“, wies Ray sie an. Er schritt an ihr vorbei und klopfte ihr sanft auf die Schulter. „Sonst roste ich ja noch ein!“

„Der Gast ist König!“, fiel ihr ein, „Also lass mich …“ Sie ging einige Schritte von ihrem Platz weg. Ray stand mittlerweile schon bei der Tür.

„Und wer zuerst kommt, mahlt zuerst“, schloss er die Rede und riss die Tür auf, um hindurch zu gehen.

„Moment!“, rief sie ihm nach.

Er blieb stehen und lugte durch die Tür.

Kyrie ging zum Platz und hob den Krug hoch. „Den brauchst du vielleicht noch.“

„Ist das ein Trick?“, hakte Ray nach, „Wie willst du mich überrumpeln?“

„Das ist kein Trick.“ Sie zog einen Schmollmund. Dann legte sie den Abstand zur Tür zurück und reichte ihm den leeren Behälter. „Eiskaltes Wasser, bitte“, bestellte sie, „Und wenn es geht, nicht allzu nass.“

Er grinste. „Euer Wunsch ist mir Befehl!“ Damit nahm er den Krug entgegen, wobei sich ihre Hände berührten. Dort, wo seine Finger die ihren angestupst hatten, breitete sich eine angenehme Wärme aus, die verschwand, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte. –Nur ihr schrecklich wild klopfendes Herz blieb zurück. Kyrie lehnte sich gegen die Tür – und in dem Moment, in dem sie sich seufzend abstoßen wollte, materialisierte sich etwas vor ihr.

Vor Schock blieb ihr beinahe das Herz stehen. Sie beobachtete, wie das goldene Licht des Himmels sich vor ihr aufbaute, die Flügel nachzeichnete. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz dröhnte in ihren Ohren, sie hörte das Blut rauschen. Oh Gott … Hatten sie sie letztendlich gefunden? Warum kamen sie?! Jeff?! Oder gar Xenon oder … Nathan?

Schlussendlich stand sich ein Nathan in voller Farbenpracht und Engelsmontur vor ihr.

Nachdem der erste Schockfrost vorüber war, stieg Ärger in ihr hoch. Was fiel Nathan bitte ein, einfach so zu kommen? In ihr Zimmer?! Wie konnte er so unverantwortlich … und … War das die Strafe dafür, dass sie ihm gestern aus dem Weg gegangen war!? Er hatte sie beinahe umgebracht vor Angst! Und Ray! Wenn er jetzt nicht zum Wasserholen gegangen wäre! … Ray! Er war hier! Und Nathan und …

„Guten Tag“, begrüßte er sie lässig.

„Guten Tag?“, wiederholte sie ungläubig. Beim Versuch, auf die Tür zu zeigen, stieß sie sich den Arm an, was ein kurzes Brennen verursachte – was aber sofort wieder abflaute. „Du kommst hier rein? Sagst ‚Guten Tag’?“

„Was sollte ich sonst sagen?“, wollte er amüsiert wissen, verlor den Humor aber sofort wieder und wurde schlagartig ernst: „Wie du wohl weißt, muss ich mit dir reden.“

„Ja!“, fuhr sie immernoch fassungslos verärgert fort, „Tu das – aber nicht hier!“

Er zog die Stirn kraus. „Was?“

„Ich habe hier und jetzt keine Zeit! Am Sonntag darfst du gerne vorbeikommen, sooft du willst, wann du willst und wie du willst!“, zischte sie unfreundlich, „Aber nicht während der Woche, ich habe …“

Schnelle Schritte ertönten draußen. Kyries Augen weiteten sich. Sie spürte, wie ihr all die Farbe aus dem Gesicht wich. „Flügel weg!“, forderte sie ihn leise und schnell auf, „Versteck dich!“

Nathan wirkte noch immer verwirrt – aber ihre Panik schien ihn anzustecken: Zumindest folgte er ihrem Befehl, zog sofort seine Flügel ein und sprang hinter die Tür.

Und in dem Moment, in dem er das geschafft hatte, wurde die Klinke nach unten gedrückt und Ray öffnete die Tür einen Spalt. „Deine Mutter hat Mini-Kuchen mitgebracht“, erklärte er ihr, „Welche Geschmacks … Alles in Ordnung?“

Sie war ein wenig von der Tür zurückgewichen, in die entgegengesetzte Richtung, in der Nathan sich befand. Vermutlich wirkte sie, als habe sie einen Geist gesehen.

Er setzte einen Fuß nach vorne, um den Raum zu betreten, streckte die Hand nach ihr aus. „Soll ich-…?“, begann er besorgt, sie aber schnitt ihm das Wort ab.

„Nein!“, sagte sie viel zu hastig, „Schokolade“, antwortete sie, „Bitte. Ganz viel. Lass dir Zeit.“ Sie lächelte gezwungen. „Danke!“ Damit schob sie ihn zurück und warf die Tür vor seiner Nase zu.
 

Als die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, war Ray erleichtert, dass er seine Hand schnell genug zurückgezogen hatte. Die wäre sonst einfach abgefallen. Aber viel mehr als seine heile Hand beschäftigte ihn Kyries Verhalten. Irgendetwas war doch im Busch. Und es hatte sich in den zwei Minuten, die er nicht da war, verschlimmert. Sie war schon die ganze Zeit nervös und zuckte zu schnell zusammen, aber das hier … das war … einfach komisch. Als hätte sie einen Nebenbuhler im Kleiderschrank versteckt. … Falls man es so ausdrücken konnte. Und weil er es bezweifelte. Der Kleiderschrank war immerhin der erste Ort, an dem man nachschauen würde. Und wie hätte jemand unbemerkt rein kommen können? Von der Küche aus hatte man den Eingangsbereich sehr gut im Blick – was in ihrem Haus weitaus angenehmer war als in dem seines Vaters.

… Sollte er jetzt nach unten gehen und den Kuchen holen, schnell zurückkommen und hoffen, dass er mitbekam, was sich da drinnen abspielte … oder sollte er bleiben, nur für den Fall der Fälle. Falls sie ihn brauchte … Er hörte drinnen überhaupt nichts. Auf diesem Boden erklangen Schritte eigentlich recht laut – aber er hatte gar nichts vernommen.

… Er sollte ihr vertrauen. Wenn es etwas war, bei dem er helfen konnte, würde sie sich doch an ihn wenden, oder? Würde sie ihm ihr Leiden anvertrauen … Oder sie vertraute ihm nicht mehr. Wollte ihn nicht mehr so stark in ihr Leben lassen … Aber sie verbrachten so viele Stunden in der Woche miteinander … Das würde sie doch nicht …

Die Tür ging auf und Kyrie schaute ihn an. Sie hatte wieder halbwegs akzeptable Gesichtsfarbe, wirkte aber immernoch zum Bersten gespannt.

„Ich habe die Geschmacksrichtung vergessen“, log er, „Wie war die?“

„Schokolade, bitte“, antwortete sie ruhig. Ihre Finger krallten sich an die Türkante. „Ich habe dir doch nicht wehgetan, oder?“ Sie legte einen entschuldigenden, besorgten Blick auf. … Hatte sie sich tatsächlich Sorgen um ihn gemacht? Und er hatte sie des Misstrauens beschuldigt!

Schnell schüttelte er den Kopf. „Nein, nichts passiert. Bis gleich.“ Er lächelte sie an und machte kehrt. … Solange er in ihrer Nähe bleiben durfte, war er schon zufrieden. Nicht hundertprozentig glücklich … aber es erfüllte ihn. Und damit sprang er die Stufen zur Küche hinunter und half Magdalena beim Auspacken und Anrichten der Lebensmittel.
 


 

Nathan hatte eine eindeutige Männerstimme vernommen. Eine, die ihn doch glatt neugierig werden ließ. Was machte ein Mann in Kyries Zimmer? Er sprach leise und ruhig, sodass er ihn kaum verstehen konnte, aber er quetschte sich auch an die Wand, sodass er im Fall der Fälle ungesehen blieb.

… Er hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass sie Besuch haben könnte. Er hatte ernsthaft geglaubt, Kyrie würde nur mit ihren Engelsfreunden abhängen, nachdem Melinda sie enttäuscht hatte. … Aber da lag er wohl falsch. … Um darüber zu diskutieren, war er aber auch nicht hier. Er musste sie zum Reden bringen!

Die Tür schloss sich und Kyrie drückte noch einmal fester zu, sodass sie auch wirklich zu blieb. Ihre Hand lagerte weiterhin auf dem Stück Holz, sodass sie nicht unvermittelt aufgehen würde. Schritte ertönten, die davon sprachen, dass der Mann endlich fort gegangen war.

„Ich beeile mich“, versprach er, „Dann können du und dein Herzass ungestört weitermachen.“

Sie sah aus, als wolle sie irgendetwas erwidern, verkniff es sich aber. „Was willst du?“ So genervt hatte er sie selten einmal erlebt. Sie war immer ruhig und eher gleichgültig, wenn nicht sogar bedauernswert traurig gewesen, aber nie so … aufbrausend beinahe.

„Du weißt doch bestimmt etwas über Thi“, fing er unverfroren an, „Darüber, dass seine Erinnerungen gelöscht werden mussten.“

Sofort fiel ihr Blick auf den Boden. Sie öffnete den Mund ein paar Mal, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder, ohne ein Wort herausgebracht zu haben.

„Sag es mir“, drängte er sie, wobei er einen Schritt auf sie zumachte, „Es ist wichtig.“

Sie schlang die Arme um ihren Körper und lehnte sich dann gegen die Tür, ihr Blick richtete sich auf ihre Füße. „Warum?“, wollte sie leise wissen.

„Gula ist verschwunden“, läutete er ein, „Und eine Spur führt zu Thierry. Der kann mir aber überhaupt nichts mehr dazu sagen.“

„Wie … wie kommst du darauf, dass ich etwas …“ Sie stockte. „… etwas wissen könnte?“

„Dein Verhalten“, erklärte er, „Du hast dich so auffällig verhalten, dass es wohl jedem klar sein musste, dass du etwas zu verbergen hast.“

Sie spannte sich sichtlich an. „Ich darf nichts sagen“, murmelte sie.

„Also weißt du wirklich etwas“, schloss er daraus. Er verringerte den Abstand zwischen ihm und ihr, bis er ihr eine Hand auf die Schulter legen konnte. „Du kannst mir vertrauen, ehrlich.“

Sie schaute zu ihm auf. Ihre Blicke kreuzten sich. Und ihre dunklen Augen wirkten, als wäre sie kurz vor einem Weinkrampf. Und hielt ihn mit aller Kraft zurück. „Du verstehst das nicht“, brachte sie hervor. Ihre Stimme schien kurz vor dem Brechen zu sein. „Und du musst hier raus …“

„Nein“, entgegnete er streng. Er stellte sich vor sie, hielt ihre Schultern mit beiden Armen fest und hielt sie mit seinem Blick gefangen. Sie sank ein wenig in sich zusammen. „Mir egal, wenn er was sieht. Löschen wir eben seine Erinnerung“, erklärte er knapp, „Ich muss hier eine Verbrechensserie aufklären – und du hast die Pflicht, mich dabei zu unterstützen.“ Engel mussten bestrebt sein, den Todsünden nicht im Weg zu stehen. Sie sollte sprechen!

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Es geht nicht … Es … es hat bestimmt nichts mit Gulas …“ Ihre Stimme brach endgültig. Die ersten Tränen sickerten aus ihren Augenwinkeln.

Sofort breitete sich ein schlechtes Gewissen in ihm aus. Er hatte sie zum Weinen gebracht! Das wollte er noch nicht … Schnell wischte er ihr die Träne aus dem Gesicht. „Bitte, weine jetzt nicht …“, flehte er leise, „Das …“

„Nein“, unterbrach sie ihn, hob eine Hand und fuhr sich selbst über die Wangen, die vor Feuchtigkeit im Licht glänzten, „Tut mir leid …“

„Aber sag es mir doch …“, bat er sie, „Vielleicht bringt es mich weiter …“

Von weiter weg erklangen Schritte. Der Mann kam wieder die Stufen hinauf. Alarmiert begab sich Nathan von Kyrie fort. „Lenk ihn ab“, meinte er, „Geh ins Bad mit ihm.“

Sie nickte.

„Ich verstecke mich, bis ihr die Tür schließt - und dann haue ich ab“, erklärte er ihr den Plan.

Erneut nickte sie. Sie wirkte benommen.

„Und … das nächste Mal komme ich zur Tür rein“, versprach er noch schnell. Dann stellte er sich wieder an seinen Stammplatz hinter der Tür und wartete darauf, dass Kyrie den Plan umsetzte. Er fand es jammerschade, dass sie ihm nichts sagen konnte. Aber es gab ja noch mehr Gelegenheiten, sie dazu auszuquetschen … Irgendwann würde sie einfach reden müssen! Es brannte ihn in den Fingern, herauszufinden, welches Geheimnis die Drei vor ihm hüteten … Vielleicht wäre das letztendlich auch des Rätsels Lösung. Wobei … so optimistisch wollte er jetzt auch wieder nicht sein.

Und als Kyrie die Tür öffnete, würdigte sie ihn keines Blickes, murmelte nicht einmal ein Wort des Abschieds … Ein flaues Gefühl breitete sich in ihm aus. … Hoffentlich hatte er sie nicht verletzt … Und im nächsten Moment wurde ihm klar, dass er nicht für einen Posten als Todsünde geeignet war, wenn ihm so etwas schon Bauchschmerzen bereitete.
 

Ray erschrak beinahe, als die Tür plötzlich aufflog und Kyrie hinaus kam. Auch wenn sie ein Lächeln aufgesetzt hatte, sah er dennoch frische Tränenspuren – ein Zeichen, dass sie geweint hatte.

Er hatte die Mini-Kuchen – sogar extra zwei Schokoladekuchen, um Kyrie vielleicht zu beruhigen - auf einem Tablett neben dem Wasserkrug, also hatte er eine Hand noch frei. … Und bei ihrem Anblick schnürte es ihm das Herz zu. Er wollte sie tröstend umarmen, ihr sagen, dass alles in Ordnung kommen würde … Aber sie erzählte ihm ja nicht einmal, was falsch war. … Weil er es scheinbar nicht verstehen würde!

… Irgendwie hinterließ das eine salzige Spur in seinem Vertrauen … Aber diese kleine Gestalt … was nur musste sie alles mit sich tragen, woran sie keinen teilhaben lassen konnte?

„Ich …“, begann sie leise, brach dann aber ab. Ihrer Stimme hörte man an, dass sie kurz zuvor geweint hatte. Sie murmelte etwas vor sich hin. „… kurz ins Bad“, endete das Murmeln – und das war das Einzige, was er verstand.

Er sah ihr nach, als sie zu der anderen Tür ging, unsicher, auf wackeligen Beinen. „Warte!“, hielt er sie an. Sie schaute zu ihm. Schnell stellte er das Tablett ab und ging zu ihr. „Geht es dir?“ Vorsichtshalber umfasste er ihre Schultern, um ihr etwaigen Halt zu geben.

Sie sah ihn an. Ihre Augen waren leicht gerötet.

Was wohl los gewesen war?

Langsam gingen sie ins Bad, welches nicht wirklich weit von ihrem Zimmer entfernt lag. Es war recht groß und in Weiß gehalten – und dafür umso sauberer. Er schloss die Tür hinter sich. Kyrie bewegte sich zum Waschbecken und begann damit, sich das Gesicht zu waschen.

Er beobachtete sie dabei, doch mit jeder Sekunde fühlte er sich unbehaglicher, hier zu sein. Ihr dabei zu zusehen, ohne zu helfen … Ein stiller Beobachter … Er erschauderte, als er sich vorstellte, dass ihn jemand dabei so intensiv anschauen würde. Deshalb wandte er den Blick ab. Am besten verließ er das Bad. „Ich warte draußen“, kündigte er an und drückte die Klinke.
 


 

Als sie seine Worte vernahm, erlitt Kyrie einen halben Herzinfarkt – und ihr Körper handelte schneller als ihr Geist. Sie sprang zu ihm, legte die Arme um Ray und drückte ihn mit ihrem Körpergewicht gegen die Tür. „Nein“, hörte sie sich selbst sagen.

Ray wirkte, als wisse er sich selbst nicht mehr zu helfen. Als sie zu ihm hoch schaute, starrte er sie einfach nur perplex an. Seine Hand lag noch immer auf der Klinke, die andere war zu einer Faust geballt.

Sie drückte sich an ihn, genoss die Wärme, die von ihm ausging und fühlte sich im selben Moment schon wieder schlecht, weil das wohl die Übelste aller Hoffnungen war, die sie ihm je gemacht hatte. Sie war abscheulich.

„Kyrie …“, sagte er leicht verwirrt, „Ich …“

„Es tut mir leid“, murmelte sie leise. Sie musste leise sein, um zu hören, ob Nathan die Tür bereits geöffnet hatte.

Die Türklinke schnallte nach oben, als Ray sie los ließ und sanft seine Arme um sie schlang. … So … angenehm …

„Es muss dir nichts leid tun“, versicherte er ihr ruhig, „Wirklich nicht …“

„Ich kann dir nicht die Wahrheit sagen“, erklärte sie mit gedämpfter Stimme weiter, „Es geht nicht …“

Er drückte sie fester. „Irgendwann wirst du es mir sagen können“, versprach er, „Und ich werde zuhören.“

Und das war der Moment, in dem Schritte am Gang ertönten.

„Gula ist nunmehr seit einer Woche verschwunden“, leitete Acedia das Thema betont ein, „Denkt ihr nicht, es wäre langsam an der Zeit, meinem Vorschlag Folge zu leisten?“ Ihre Augen blitzten wütend, sie schaute eindringlich von einem zum anderen, in ihre Stimme klang unterdrückte Ungeduld. Sie hatte es wohl langsam wirklich satt.

„Eine Woche“, wiederholte Invidia. Sie winkte ab. „Das ist wohl wirklich kein Zeitraum, um die Antigöttin hereinzubitten.“ Sie lächelte. „Oder beneidest du ihn um seine Freizeit?“

„Nein“, erwiderte Acedia kurz angebunden, „Aber vielleicht, um etwas zu unternehmen, bevor wir alle drauf gehen.“

„Luxuria ist immerhin schon seit vier Monaten fort“, setzte Ira nach.

Acedia nickte. „Und wer weiß, was derjenige, der dafür verantwortlich ist, vor hat?“ Sie ballte die Hände zur Faust und erhob sich. „Ich will, dass eine Engelsversammlung eingeleitet wird!“

„Es steht drei zu zwei“, klärte Superbia sie auf. Ein Grinsen zierte sein Gesicht. „Deine Seite ist ziemlich angeschlagen.“

„Ja.“ Acedia presste die Lippen aufeinander. „Gula war mein Verbündeter. Aber er hat nie eine etwaige Abwesenheit angedeutet. Sollte das nicht vielleicht Sorge in euch erwecken?“

Avaritia zuckte mit den Schultern. „Er ist ein ausgewachsener Engel und einer der stärksten noch dazu. Ich sorge mich nicht.“

„Warum sollte jemand Todsünden angreifen?“, hakte Invidia kopfschüttelnd nach, „Das wäre sinnlos.“

„Die Anti-Todsünden-Fraktion-…“, begann Acedia, wurde aber von Superbias leisem Lachen unterbrochen. Sie sah unbeeindruckt zu ihm. „Habe ich einen Witz verpasst?“

„Die werden Tag für Tag bewacht“, erinnerte er sie schmunzelnd, „Seit Luxuria nicht mehr auftaucht, sogar noch besser. Die haben nichts damit zu tun. Es gibt keine Angriffe auf Todsünden.“

… Ira fragte sich, wie die drei es schafften, sich so gegen die Realität zu wehren. Zwei ihrer assistentenlosen Kollegen waren verschwunden. Es gab keinen ausgebildeten Nachfolger. Wie konnten sie ihre Sorge nur so gut verbergen? Acedias Vorschlag, eine Engelsversammlung einzuberufen, war mehr als nur berechtigt. Wenn nicht sogar tatsächlich nötig. Ira hätte sich eigentlich auch nicht sofort auf ihre Seite geschlagen – wenn das erste Opfer nicht Luxuria gewesen wäre, zu der diese lange Abwesenheit nicht passte. Und auch Gula war sehr zuverlässig. … Wie konnten sie beweisen, dass etwas nicht stimmte …? Wenn sie sich so gegen Maßnahmen wehrten … Sie konnten doch zumindest einen Kompromiss eingehen. Aber welchen?

„Wir brauchen eine Engelsversammlung“, wies Acedia sie an, „Ohne die …“

„Du brauchst eine Engelsversammlung“, verbesserte Superbia sie barsch, „Warum willst du dir den Aufwand antun?“

„Weil sie auf keine Rufe reagieren?“, fuhr sie ihn an, „Weil sie nicht mehr auftauchen? Weil kein Engel sie mehr gesehen hat?“

„Du siehst das zu eng“, wiegelte er ab, „Wie soll man sie bitte töten? Hier sind nur Engel – und Engel töten keine Engel. Hätten nicht einmal die Möglichkeit.“ Er lächelte sanft, beinahe väterlich. „Und eine Todsünde kann nur von ebenbürtiger Stärke festgehalten werden“, erinnerte er sie, „Das würde dann den Verdacht nahe legen, dass es einer von uns gewesen sein müsste.“ Die Anklage in seiner Stimme war nicht zu überhören: Verdächtigst du uns?

Acedia ließ sich kraftlos auf den Stuhl zurückfallen.

… Sie mussten etwas tun. Etwas, das den anderen die Augen öffnete … Etwas, das ein Verbrechen nachweisen könnte …

„Anwesenheitspflicht“, fiel ihm ein, „Wir verhängen über uns selbst eine Anwesenheitspflicht.“ Fragende Blicke trafen ihn.

„Was willst du damit sagen?“, informierte sich Avaritia mit einem untypischen Stirnrunzeln.

„Wir vereinbaren eine Uhrzeit, zu welcher wir von jetzt an jeden Tag hier erscheinen, um die Konferenzen zu tätigen. Und jeder muss kommen. Wir machen das nicht mehr per Ruf – sondern per Fakten.“

Superbias Mundwinkel zog sich nach unten. „Dann muss ich jeden Tag kommen? Pünktlich?“

Er nickte. „Ja. Und wir sollten uns hiermit schwören lassen, dass wir immer kommen, egal, was uns geschieht, egal, was uns aufhält, egal, was wir tun wollen. Das hier ist ab jetzt unsere oberste Pflicht.“

„Ich habe einen Ruf an Sin ausgesendet“, erklärte Avaritia. Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Wir werden den Schwur an ihn richten, sodass er ewig währt, ungebrochen.“

Invidia nickte. „Ja, die Idee finde ich fabelhaft.“

… Also hatte er mit seiner Vermutung richtig gelegen – auch der anderen Fraktion war die Gefahr bewusst … nur wollten sie sie nicht wahr haben.

Er fühlte, dass jemand ihn anstarrte. Er erwiderte Acedias Blick. In ihrem Gesicht standen so viele Emotionen, wie er sie schon lange nicht mehr gesehen hatte … Etwas wie Dankbarkeit, aber auch Unsicherheit lag darin … aber auch anderes … etwas Berechnendes … etwas … Bedrohliches. … Warum sollte sie gegen den Schwur sein? … Oder hatte sie bloß Angst, dass ihre Zeitplanung und Unpünktlichkeit dadurch über den Haufen geworfen wurde? Sie würde es schaffen. Es stand in ihrem Interesse. So würden sie die Engelsversammlung vielleicht beschwören können – somal noch einer von ihnen verschwand.

„Ja“, stimmte sie zu und wandte den Blick ab, „Tun wir das.“

„Dann werden wir ja sehen, wer Recht hat“, gab Superbia hinzu. Hochmütig grinste er sie an. „Der Bessere gewinnt.“

Und damit materialisierte sich Sin. Und als Ira ihn sah, erschrak er.
 

Nathan hatte sogar das Mittwochstreffen verpasst. Deshalb quälte ihn noch immer ein schlechtes Gewissen. Aber er konnte nichts dafür – auch wenn die Assistenten die Arbeit, die auf Gulas Schreibtisch liegen blieb, untereinander aufteilten, so kam doch relativ viel mehr zusammen. Und das machte mehr Stunden, mehr Stress … aber noch schlimmer war es für Acedia.

Jeden Tag nach dem Erinnerungslöschen kam sie total fertig ins Büro. Sie war stark, sie eine Todsünde – und der Himmel heilte sie. Aber ohne die dritte Todsünde an ihrer Seite, brauchte sie zu viel Energie beim Sprengen der Erinnerungen. … Und das wiederum führte dazu, dass er sie zu kaum etwas gebrauchen konnte.

Aber trotz dessen, dass sie immer wieder in ihrem Stuhl zusammensank, informierte sie sich über seinen Fortschritt im Fall Gula. Und schon seit einer Woche musste er darauf verweisen, dass er nichts hatte finden können, weil er einfach keine Zeit zum Suchen hatte.

… Und weil Kyrie ihm nichts sagen wollte … Aber das hielt er vor ihr zurück.

Die Tür wurde aufgerissen und Acedia kam herein geflogen. Zum ersten Mal seit Gulas Verschwinden wirkte sie halbwegs energiegeladen. Zumindest setzte sie sich voller Schwung auf den Stuhl, schlug ihre Beine übereinander und sah ihn selbstgefällig an. „Wie weit bist du mit dem Fall Gula?“

„Soweit wie gestern und vorgestern“, sagte er trocken, wobei er ihr die nächsten Aufgaben herlegte, sodass sie sich durchschauen konnte, „Und was ist heute mit dir los?“

„Wir haben sie einen Schritt näher bringen können, uns zu glauben“, erklärte sie lächelnd und ließ sich in den Stuhl zurücksinken, „Bald könnte alles vorbei sein …“

„Wieso, was habt ihr gemacht?“, wollte er wissen. Nachdem sie so lange gegen Wände gelaufen waren, musste das ja etwas sehr Schwerwiegendes gewesen sein.

„Es gibt Anwesenheitspflicht in den Konferenzen. Das bedeutet, dass – falls der Täter noch einmal zuschlagen sollte – das ein Beweis dafür wäre, eine Engelsversammlung einzuberufen.“

„Und was würdet ihr dann tun?“, fragte Nathan konkret. Ihre Planung schien bei der Engelsversammlung zu enden. Aber das war es vermutlich, was Superbia und die anderen so abschreckte: Was sagten sie den Engeln? Wie reagierten sie auf Verluste? Gar auf einen Täter?

„Natürlich würden wir euch Assistenten zu den neuen Todsünden ausrufen“, erklärte sie mit einem Ton, der die Selbstverständlichkeit der Sache nicht anzweifeln ließ. Bei ihren Worten unterdrückte er einen Schauer. … Sie würden ihn zu einer Todsünde machen. Er war schon nicht bereit, als Assistent eine Freundin zu vernehmen – was sollte er da als Todsünde anfangen?! Sie konnten ihn doch nicht einfach so losschicken und … und irgendjemandes Arbeit machen lassen! Er hatte sich doch so auf einen Platz auf Acedia eingestellt – in hundert oder zweihundert Jahren: oder besser noch viel weiter weg! „Und dann würden wir sehen, was der Täter als nächstes macht.“

… Er musste sich beruhigen. Der Täter. … Er fühlte, dass sich ihre Gespräche wie beinahe jeden Tag im Kreis drehten. „Falls es nur einen Täter gibt“, entgegnete Nathan, „Und falls er nicht einfach weitermacht. Ihr braucht dringend noch eine Assistenten-Pflicht, sodass jeder vorbereitet ist.“

Sie nickte energisch. „Gute Idee.“

„Vielleicht löst das dann sogar euer ganzes Problem“, fuhr Nathan nachdenklich fort, „Bisher sind zwei Engel ohne Assistenz verschwunden …“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht möchte der Täter wirklich nur darauf hinweisen, dass es unklug ist, ohne Assistent herumzuschwirren, falls es zu solchen Unfällen kommt.“

„Sag das bitte meinen Kollegen“, meinte sie dann schnippisch, „Ich muss mich an die Arbeit machen.“

Nathan nickte. Er würde es ihnen nicht sagen. Und sie genauso wenig. Das war eine Zukunftsregelung, die im Moment keine Bedeutung haben würde. „Und ich mache einfach weiter …“, kündigte er leichtfertig an. Doch dann fiel ihm etwas ein – wenn jemand sein Kyrie-Dilemma aufklären konnte, so wäre es Acedia! Sie war gut darin, eine Todsünde zu sein. Also musste sie auf sein Problem doch eine Lösung haben. „Aber eine Frage habe ich noch!“

Sie schaute auf. „Und die wäre?“

„Wenn man einen Engel befragen möchte, der sich aber zu antworten weigert, einem sogar aus dem Weg geht …“ Er hielt kurz inne. „Was macht man da?“

Sie antwortete gelassen: „Man ruft ihn.“
 


 

Ira saß in seinem Büro. Die Erinnerung an Sins Erscheinung ließ ihn immer noch eiskalt erschaudern. Er sah … noch immer aus wie Sin, aber etwas hatte sich geändert. Er wirkte … zerschlagen. Als wäre er dabei, eine Dämonenhorde alleine zu bekämpfen. Und als würde er diesen Kampf verlieren.

Und dennoch hatte er all ihre Angebote, ihm zu helfen, ihm Licht zu spenden, abgelehnt – kopfschüttelnd, wortlos. Er hatte ihnen mit einer Geste bedeutet, fortzufahren, wie sie wollten. Und so hatten sie auf Sin geschworen, dass sie von nun an alle antreten würden zu diesen Konferenzen. Jeden Tag. Immer zur selben Zeit. Ohne Ausnahme.

Ein Schwur auf Sin würde halten. Wenn ihn jemand brach, würde Sin das merken. … Und der Schwur hatte Sin scheinbar ein bisschen mehr Kraft verliehen. Als … hätte der Glaube daran, dass Sin ihre Erwartungen erfüllen würde, ihn schon stärker gemacht … Nein. Wo dachte er nur hin?

Ein Klopfen unterbrach ihn.

Im nächsten Moment stand ein Assistent in seiner Tür. Invidias Assistent.

„Ein Halbengel ist geboren worden“, erklärte er, „Die Todsünden haben sich darauf geeinigt, sofort loszuziehen. Der höchste Turm im Grellen Dorf ist der Treffpunkt.“

… Dann würde das ihren Schwur wohl gleich auf die Probe stellen.

„Vielen Dank“, sagte er und erhob sich.

Der Assistent verbeugte sich und ließ die Tür hinter sich zu fallen.

Ira erhob sich. Es war ein Schwur. Also musste er ihn erfüllen.

Sofort materialisierte er sich am höchsten Turm des Grellen Dorfs – und tatsächlich warteten die anderen bereits dort. Alle hatten sich die typischen Umhänge und Mäntel umgelegt, um im Dunkeln nicht so aufzufallen. Schnell baute er sich mit Hilfe seines Lichts ebenfalls so einen Mantel – und ließ daraufhin seine Flügel verschwinden.

„Damit sind wir vollzählig“, eröffnete Avaritia das Offensichtliche.

„Traurigerweise“, fügte Acedia gereizt hinzu, „Was wir mit einer Engelsversammlung aber ändern können.“

„Ja“, stimmte Superbia plötzlich zu, „Es klänge auch äußerst amüsant, wenn wir zu fünft hineinspazieren und uns unter ‚Sieben Todsünden’ vorstellten!“

Invidia lachte. „Das haben wir ja auch noch nie gemacht.“ Der Sarkasmus triefte nur so aus ihrer Stimme.

„Ihr segnet unseren Untergang“, murrte Acedia, „Los jetzt.“

Ira ging zu ihr.

Und so schritten die Todsünden die Treppen nach unten, um für eine weitere Nacht die Vermittler zwischen Leben und Tod zu spielen. Hoffentlich würden die Eltern sich für ein Ja entscheiden – das wäre weit weniger Magieaufwand, auch wenn sie dann einen weiteren Assistenten verlieren würden. Doch solange die anderen keiner Engelsversammlung zustimmten, würde das ohnehin keinen Unterschied machen.
 

Als Kyrie sich erhob, schubste sie mit der schnellen Bewegung den Stuhl um, auf dem sie gesessen hatte. Schmerzen fuhren ihr durch Mark und Bein – sie taumelte zurück und fiel über den Stuhl. Sie schlug mit dem Kopf am Boden auf, hatte keine Chance, ihr Gleichgewicht zu halten. Ein Schwindel durchfuhr ihren Körper.

Nathan. … Im Himmel.

War … war das etwa ein Magnet?!

Plötzlich wurde sie aufgerichtet. Nein … sie richtete sich auf!

„… los?!“, verstand sie. Ray saß hinter ihr, stützte sie auf. „Ist dir schwindlig? Bleib lieber liegen!“, riet er ihr besorgt.

Die Tür wurde stürmisch geöffnet. Magdalena stand keuchend darin.

„Kyrie!“, rief sie erschrocken aus, „Mädchen, was ist los?“

… Der Schmerz war noch da. Tief drinnen bohrte er sich weiter in ihr Bewusstsein. Er schien „Beeile dich! Komm zu mir!“ zu schreien. Und sie spürte die Frage, um ihre Geheimnistuerei darin. … Nathan stieß sie tatsächlich so herum? Er respektierte ihre Geheimhaltung nicht? War er nicht ihr gutes Recht, so etwas für sich zu behalten? Ihr wäre auch lieber, wenn sie darüber reden könnte – aber sie hatte es indirekt Gula als auch Thi versprochen! … Und keiner der beiden würde es bezeugen können … Und sie hatte ja nichts mit Gulas Verschwinden zu tun!

„Nein, eigentlich hat sie so etwas sonst nicht …“, meinte Magdalena. Mittlerweile schien sie ihre Stütze zu sein, während Ray ihre Hand hielt … Ray hielt ihre Hand … Wie schön …

„Es könnte zu niedriger Blutdruck sein“, murmelte er, „Habt ihr ein Blutdruckmessgerät im Haus?“ Der Ernst in seiner Stimme drang an ihr Ohr. Und die Profession.

Der Ruf schien noch immer durch ihren Körper zu springen. Zuckte sie immer zusammen, wenn er das tat? Spürten sie ihn denn nicht … wie er nach ihr schrie … Sie sollte los. Sie sollte sofort los …

„… Krankenwagen rufen?“ Irgendwo in der Ferne war ihre Mutter zu hören. … War sie jetzt schon losgelaufen?

„Bleib wach!“, durchschnitt Rays Befehl ihr Bewusstsein.

Plötzlich wurde alles wieder hell. Alles schien wieder wirklich zu sein.

Der zuckende Schmerz in ihrem Inneren war nach wie vor vorhanden – aber er fraß ihr Bewusstsein nicht mehr auf. Nathan würde warten müssen!

Sie wollte sich erheben – doch Ray drückte ihre Schultern nach unten.

„Nein, bleib so“, meinte er, „Steh jetzt nicht auf.“

„Ruft keinen Krankenwagen!“, sagte sie schnell – aber sie gehorchte ihm. Er war der Arzt. Und sie war doch mit dem Kopf aufgeschlagen … Als hätte sie die Schmerzen damit geweckt, begann der zu pochen. Sie fuhr sich an den Kopf und rieb ein bisschen daran. … Er blutete nicht. Das war doch gut …

„Was ist passiert?“, wollte Magdalena wissen. Der Schreck stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben.

Sofort breitete sich ein schlechtes Gewissen in ihr aus. Wie hatte sie ihre Mutter nur so erschrecken können? Aber … sie konnte doch nichts dafür …! Nathan … Sie musste ihm sagen, dass er das lassen sollte. Das … das konnte so doch nicht weitergehen, oder? Und … und vor allem würde sie nicht in den Himmel kommen.

Er konnte es ja noch einmal durch die Tür versuchen. Aber nicht so …! Das war unfair …

„Mir geht es wirklich wieder besser“, beruhigte sie die beiden, „Es war nur kurz … ein Schock …“, redete sie um die Wahrheit herum, „Nichts weiter …“

Sie schaute Ray ins Gesicht. Er wirkte alles andere als überzeugt. „Du bleibst genauso sitzen“, befahl er, „Und wir lassen das untersuchen.“

„Nein, wirklich!“, entgegnete sie, „Gut – vielleicht bin ich in letzter Zeit etwas gestresst! So viel zu lernen und … Schlafmangel!“ Sie lächelte ihn an. „Schlafmangel … genau …“

„Schlafmangel“, wiederholte er, „Und diese nervösen Zuckungen? Das macht dann der Stress.“ Irgendwie klangen seine Worte nicht so, als würde er ihr glauben.

Sie sank in sich zusammen. … Sie wollte doch nicht weiter lügen … Immerhin … war Lügen schlecht. Aber … was sollte sie ihm sonst auftischen? Unterzucker? Er würde ihr doch gleich Traubenzucker in den Mund werfen.

Sie schaute zurück zu Magdalena. Sie erschien ihr leicht hilflos. Mit dem festen Willen, ihr helfen zu wollen – ohne zu wissen, wie sie das anstellen sollte … Warum musste sie ihrer Mutter so etwas antun … Warum musste Nathan ihr so etwas antun? Sie konnte doch nicht darüber reden … Das würde für Gula, Thierry und sie selbst bedeuten, dass sie das Gesetz gebrochen hatten … und noch schlimmer: Wenn Nathan zu solchen Mitteln griff … wie würde er sich dem Verbrechen gegenüber verhalten? Würde … würde er …

Moment. Ray … Er studierte doch Recht. …

Sie schaute ihn an. „Wenn jemand ein eindeutiges Gesetz bricht“, begann sie, „Wie würdest du über denjenigen richten, wenn er dein Freund wäre?“

Ray blinzelte verdutzt. „Überlegst du dir so etwas während du bewusstlos bist oder kommt das erst danach?“

„Danach“, gab sie leise zu. Und todernst.

Er schüttelte den Kopf. „Gut, da oben scheint soweit noch alles in Ordnung zu sein.“ Er ließ ihre Hand los.

Das Fehlen hinterließ eine unangenehme Kälte auf ihrer Hand.

„Aber wenn dir wieder schwindlig wird, legst du dich sofort hin“, trug er ihr auf, während er ihre Frage überging, „Und wenn es nicht besser wird, gehst du doch ins Krankenhaus.“ Sein Ton war scharf und herrisch. … Machte das der Arzt in ihm … oder sprach die Sorge? „… Kopfverletzungen sind zu gefährlich, um sie einfach zu übergehen.“

Sie lächelte ihn an. „Danke.“

Magdalena ächzte hinter ihr, als sie sich erhob. Doch ihre Hände ließ sie immernoch bei Kyrie. „Geht es dir wirklich gut?“, fragte sie noch einmal mit Nachdruck.

Kyrie schaute zu ihr hoch und nickte. Sie erhob sich geräuschlos, wobei sich ihr Kopf aber ein bisschen drehte. Aber … das war nicht so schlimm … hoffte sie – und sie war erleichtert, als es sogleich wieder verschwand. Der Ruf drückte noch immer in der Hoffnung gegen sie, sie zum Nachgeben zu zwingen. Aber das würde sie nicht. Man konnte sich an jeden Schmerz gewöhnen.

Auch an diesen.

„Ja“, meinte sie sicher und wollte sich zum Stuhl beugen – doch Ray kam ihr zuvor. Und als er ihn aufrichtete, bemerkte sie, dass sein verletzter Arm ihn dazu zwang, das auf eine andere Art zu tun, als jeder andere es getan hätte … Ja … man konnte sich wohl an jede Verletzung gewöhnen … Sie spürte den Drang, ihn zu umarmen, ihm alles zu beichten … Doch das war nicht möglich. „Mir geht es super.“

Auch Magdalena erhob sich, wirkte bereit, sie jederzeit wieder aufzufangen, auch wenn sie nickte und: „Dann bin ich erleichtert …“, sagte. Sie spürte ihren Blick auf sich ruhen – die Frage, ob sie ihr etwas verheimlichte. Ob sie wusste, woher sie es hatte …

Aber Kyrie würde schweigen.

„Ich hole dir schnell etwas zu essen“, meinte Magdalena – und ehe Kyrie sich wehren konnte, war die Frau schon verschwunden. Vermutlich würde sie auch gleich ihren Vater benachrichtigen … Hoffentlich sorgten sie sich nicht zu viel …

Sie verschränkte die Arme, stand neben Ray und hoffte, dass auch er sich nicht zu viele Gedanken über den Vorfall machen würde.

„Es würde vermutlich das Härteste sein, was ich in meinem Leben entscheiden müsste“, antwortete er leise, „Vielleicht würde ich nicht einmal ein Urteil fällen können. Es einem anderen überlassen …“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber wahrscheinlich wäre ich genauso enttäuscht darüber, dass er so etwas getan hat, wie auch zwiegespalten, wie ich verfahren soll.“ Er musterte sie.

Und sein Blick ließ etwas in ihr gefrieren. … Er fragte sich, ob sie etwas getan hatte. Wie sie auf die Frage kam … Sie wollte sich weiter zusammen ziehen, wollte sich verstecken und abhauen … Nathan würde enttäuscht sein … Was, wenn er Xenon auf sie ansetzte?

Nein – so weit würde er nicht gehen … Würde er doch nicht … oder? Immerhin … waren sie Freunde … auch wenn sie nicht wusste, wer von ihnen beiden sich weniger wie einer verhielt.

„Aber als ersten Schritt“, fuhr Ray plötzlich fort, „würde ich das Warum hinterfragen.“

Kyrie war also tatsächlich nicht gekommen. Sie hatte weder auf seine Rufe reagiert, noch war sie zum Mittwochstreffen erschienen. … Was hatte sie nur!? Seit sie mit dem Schwerttraining aufgehört hatten, verhielt sie sich so seltsam! Er verstand sie nicht mehr! Hatte sie plötzlich Angst vor ihm?

Nathan unterdrückte ein Seufzen. Joshua saß schweigend neben ihm, während sie beide Thi und Liana bei einer Diskussion über Lichtexplosionen zuhörten – die eine war für eine Eröffnung mit ihnen, der andere für die Siegesfeier.

Er hatte ihnen mitgeteilt, dass Deliora keine Assistentin mehr war, sondern in den Siebten Rang gehoben wurde. Das geschah ohne großen Aufruhr. Für so kleine Ränge brauchte man keine Engelsversammlung. Die war erst später nötig. … Bei ihm würde eine nötig sein. Falls Acedia ihre Worte wirklich wahr machen würde … Doch Nathan konnte seinen Freunden darüber nichts sagen. Immerhin konnte es ja noch Jahre dauern, bis eine weitere Todsünde verschwand … Hoffentlich noch Jahrhunderte. … Und wieder sorgte er sich nur um sein eigenes Wohl, anstatt Deliora zu bemitleiden – der Aufstieg hatte fatale Folgen für das Privatleben: bis Deliora einen vertrauenswürdigen Assistenten fand, würde sie keinem Mittwochstreffen mehr beiwohnen können.

Und Kyrie schien wohl keinem Mittwochstreffen mehr beiwohnen zu wollen. Sonst würde sie sich nicht mit irgendwelchen Männern vergnügen, anstatt unter Woche zu lernen – und den Mittwoch für ihre Freunde freizuhalten. … Aber es überraschte ihn nach wie vor, dass sie jetzt wirklich Freunde auf der Erde hatte … Vielleicht sollte er sich tatsächlich noch einmal für sein damaliges Verhalten bei ihr entschuldigen.

Aber erst, wenn sie dieses kindische Versteckspiel beendete und den Himmel betrat! … Oder ihn zur Tür herein bat. Auch wenn es für ihn ein ziemlicher Aufwand wäre, auf die Erde zu kommen – zum einen würde er wieder Tarnung brauchen und dann vom höchsten Punkt zu ihrem Haus gehen müssen, wobei er zu hoffen hatte, dass Kyrie anwesend sein würde. … Natürlich könnte er auch einfach erscheinen – und falls der Kerl da war, würde er seine Erinnerungen einfach löschen lassen. So schwer war das ja nicht. … Aber solange die Todsünden so stark unterbesetzt waren, würde das wohl eher zu unangenehmen Fragen führen. Und er wollte die weitaus unangenehmeren Fragen immerhin beantworten! Was war es nur, was Kyrie zu verbergen hatte? Sie konnte mit ihm doch über alles reden!

„Was hältst du davon, Nathan?“, riss Liana ihn aus seinen Gedanken. Sie wirkte leicht ungehalten. Vermutlich war Thi bei der Diskussion am Gewinnen.

„Ich bin natürlich auf deiner Seite“, meinte er. Er hatte zwar keine Ahnung, in welche Richtung ihr Gespräch mittlerweile verlaufen war … aber zu falsch würde das schon nicht sein.

Er spürte Joshuas Blick auf sich ruhen.

„Ha!“, machte Liana triumphierend, „Ich wusste doch, dass Nathan Stil hat!“

„Ich glaube eher, er hat nicht zugehört“, warf Thierry tadelnd ein, „Sonst hätte er das ja nie gesagt!“

„Natürlich hätte er das!“, entgegnete sie empört, sah dann aber sofort mit leicht gerunzelter Stirn zu ihm. Und auch Thi folgte ihrem Beispiel.

„Noch immer wegen Gula?“, wollte Thi wissen, ohne weiter auf das eigentliche Thema einzugehen. Beinahe sprach Mitleid aus seiner Stimme.

Oh je, jetzt verdarb er die Stimmung. Das konnte er nicht zulassen! „Es macht mir Sorgen, ja“, gab er zu, „Aber ihr verschafft mir ja genügend Ablenkung.“ Er schenkte ihnen ein schiefes Grinsen.

„Du nimmst sie aber ziemlich schlecht an“, bemerkte Thi. Er sah zu Liana. „Wir machen unsere Arbeit schlecht.“

Sie beugte sich verschwörerisch zu ihm herüber. „Furchtbar schlecht sogar. Wir brauchen ein neues Thema.“

„Kuchen“, kam es plötzlich von Joshua.

Nathan starrte ihn an. „Was?“

„Wir könnten Kuchen essen“, schlug er vor.

„Wir können Kyrie nicht schon wieder stören, obwohl sie keine Zeit hat“, meinte Thi und verschränkte die Arme, „Sie hat auch Privatsphäre.“

„Und vermutlich einen ziemlich überfüllten Kalender“, gab Liana dazu, „Sonst wäre sie ja gekommen!“

Joshua schaute zu Nathan. Irgendetwas in seinem Blick störte ihn. … War das eine Anklage? Gab er ihm etwa die Schuld dafür, dass Kyrie nicht da war?! … Oder spiegelten seine Augen nur sein schlechtes Gewissen wider? Aber er brauchte doch gar kein schlechtes Gewissen zu haben! Kyrie – sie sollte eines haben. Er hatte mittlerweile drei Rufe abgesendet – und sie hatte alle drei ignoriert! Langsam müsste das Licht in ihr doch zu kochen beginnen. Die unerträglichen Schmerzen müssten sie doch zu ihm führen! … Warum kam sie dann nicht?

… Ihr war wohl hoffentlich nicht wieder etwas passiert?

Etwas in ihm verkrampfte sich. … Er musste nachsehen. Ganz dringend. Er hatte sie schon einmal zu lange im Stich gelassen. Was, wenn ihr dieses Mal etwas noch Schlimmeres widerfahren war? Wenn … wenn sein Ruf sie sogar noch mehr schwächte?!

Er erhob sich. „Gehen wir“, bestimmte er, „Ich will Kuchen.“

„Ist Kuchen jetzt ein Synonym für Kyrie?“ Liana klang belustigt. Aber sie schaute dennoch besorgt drein. … Er wollte sie mit seiner Sorge nicht anstecken, aber …

Thierry und Joshua erhoben sich ohne Widerrede.

„Es ändert zwar nichts daran, dass es total unhöflich ist“, gestand Thi ein, „Aber irgendetwas ist da doch faul.“

„Und du hasst Faulheit“, beendete Nathan Thierrys Gedanken mit einem Schmunzeln, „Das wissen wir doch!“

Und so materialisierten sie sich zum Hochhaus im Westblock.
 


 

Gerade als er gehen wollte, hatte Kyrie gestern noch so einen Anfall wie am Tag zuvor gehabt, der sie in die Knie gezwungen hatte. Doch es war nicht so schlimm wie beim ersten Mal gewesen … Und doch trieben seine Arztinstinkte ihn dazu, ihr das Krankenhaus vorzuschlagen. Solche Schmerzanfälle waren nicht normal.

Ray schaute ihr nach, als sie zum kleinen, schwarzen Wagen ging, in dem ihre Eltern besorgt zu ihr sahen. Vermutlich in etwa gleich besorgt wie er.

Kyrie mimte die Starke – doch ihre Verkleidung bröckelte. Die Art, wie sie ihre Beine bewegte, sprach davon, dass sie zu schwer waren. Die Weise, wie sie den Rücken nicht locker aufrichten konnte, erzählte von Schmerzen, die sie zusammensinken lassen wollten … Und trotzdem beharrte sie darauf, nicht zu leiden. Dass es ihr gut ginge. Als würde sie den Grund kennen, ihn aber vor ihnen allen geheim halten wollen … Er wollte diesen aber erfahren! Was quälte sie nur so? Und warum durfte sie ihn davon nichts wissen lassen? Sie waren doch Freunde! Warum … vertraute sie ihm dann nicht?

Nein. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihm noch nichts sagen durfte. … Doch wer oder was hielt sie davon ab? Wo war sie hineingeraten? Und diese Frage, die sie ihm vor zwei Tagen gestellt hatte … Sie ließ ihn nicht kalt. Was hatte sie nur getan?

Am liebsten wäre er ihr nachgehechtet, um sie nicht alleine zu lassen. Aber sie hatte ihm mitgeteilt, dass sie sich heute ausruhen würde, weshalb er nicht zwangsläufig mitzukommen brauchte … Natürlich hatte er die Bitte, heute nicht da zu sein, verstanden, allerdings war es einfacher gesagt, als getan, seine Gedanken von ihr loszulassen.

Er wollte sie beschützen.

Aber wie konnte er sie beschützen, wenn sie sich nicht beschützen ließ? Wenn sie ihn nicht einweihte?

… Das Auto verschwand an der nächsten Kreuzung. Und trotzdem sah er durch das Fenster, dass Kyrie ihm zuwinkte. Er erwiderte die Geste. … Wie konnte sie nur alleine so stark bleiben? Er wollte ihr Halt bieten.

Langsam schlenderte er los.

Das würde also bedeuten, dass er wieder bei sich zu Hause bleiben würde. Dass dort wieder seine Familie sein würde. Dass sie ihn wieder bedrängen würden … Wieso wollten alle etwas von ihm – nur nicht die eine Person, von der er es sich wünschen würde? Das war ziemlich ungerecht.

Er zückte sein Handy und erkannte, dass da eine Nachricht von Kylie war.

„Alles im grünen Bereich“, beruhigte sie ihn, „Es geht allen sehr gut. Hast du vom Kuchen auch so zugenommen?“

Er schmunzelte. „Nach drei Wochen kannst du daran dem Kuchen keine Schuld mehr geben!“, tadelte er sie, „Danke für die Meldung. Schönen Tag noch.“

Plötzlich schoss eine Nachricht von Diane herein. Es war seit Wochen die erste. War etwas passiert? Kylies Nachricht war immerhin schon einige Stunden alt und - …

„Ich bin enttäuscht von dir“, stand dort nur.

Mehr nicht. Keine Begründung. Rein gar nichts.

Er verzog den Mund. Sie war nicht die Einzige! Warum schrieb sie ihm das gerade jetzt? Die einzige Freundin, die er hatte, quälte sich mit unsichtbaren Schmerzen – und er konnte als werdender Arzt nichts dagegen ausrichten!

Sie informierte sich über Gerechtigkeit und seine Antworten schienen ihr Angst einzuflößen – natürlich würde er auch einem Freund das volle Strafausmaß aufbürden müssen, wenn er es verdient hatte! Verbrechen war Verbrechen. Egal, wer es ausführte. Und warum. Auch wenn er es ihr nicht sagen konnte, wenn sie ihn anschaute – wenn er sie auf der Anklagebank vorfinden würde, brächte er es nicht mehr übers Herz. Er würde den Fall weitergeben müssen … und sich selbst davon abhalten, Unrecht zu tun, indem er sie beschützen wollte … Er war so ein verknallter Narr …

Er steckte sein Handy beleidigt ein. Und Diane geschah es auch nur recht, dass er diese Nachricht ignorieren würde. Was hatte sie jetzt schon wieder aufgeschnappt, das sie ihm vorwerfen konnte? Als würde er sich selbst nicht genug fertig machen! Als wäre er ein selbstzufriedener Vollidiot … Er war, ehrlich gesagt, überhaupt nicht zufrieden mit sich.

Schneller als gedacht, kam er bei seinem Haus an. Hatte er seine Schritte vor Wut beschleunigt? Das sollte er sich dringend abgewöhnen.

Seltsamerweise stand kein Wagen vor der Tür. Waren alle weg? Das musste er ausnutzen.

Schnell huschte er durch den Garten und ins Haus hinein.

Stille umgab ihn, als er die Eingangshalle durchschritt und in die Küche einbog.

Töpfe, Kellen und andere Utensilien lagen herum, als hätte jemand hastig den Raum verlassen.

Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Das war doch nicht üblich für Kim und Liz. Die beiden beendeten ihre Arbeit nicht grundlos vorzeitig. … Er ertappte sich dabei, wie er sich Gedanken über unterschiedliche Verbrechen machte, die einen zuhause ereilen konnten.

Und auf dem ersten Platz standen Haushaltsunfälle – und gleich darauf folgten eskalierte Streitgespräche.

Widerstrebend begutachtete er den Boden. … und fühlte die Erleichterung, als er dort kein Blut sah. … Er betrat die Küche – und sofort fiel ihm ein Zettel ins Auge, der an der Stelle lag, an der sonst immer sein Essen aufbewahrt wurde.

Sofort eilte er zur Mikrowelle – und stellte fest, dass seine Hand zitterte, als er den Zettel hochhob. Schnell führte er eine kleine Beruhigungsübung durch, ehe er sich dem Text zuwandte.

„Hallo Ray! Bestell dir bitte etwas zu essen, wir sind im Krankenhaus“, las er. Sein Herz schlug fest. Im Krankenhaus? War etwas passiert? War Radiant verletzt? „Liebe Grüße, Liz.“

Sofort zückte er sein Handy.

Niemand hatte ihn angerufen oder ihm eine Nachricht geschrieben. … Vermutlich waren sie davon ausgegangen, dass er es sowieso ignorieren würde. Plötzlich sah er, wie er die Nummer seines Vaters wählte. Dass er sie noch immer auswendig kannte, überraschte ihn selbst – doch etwas, das man als Kind einübte, schien wohl für immer zu bleiben …

Ein Piepton erklang.

Und noch einer.

… Was war nur vorgefallen?

„Ray?“, erklang die Stimme seines Vaters. Er wirkte überrascht. „Ist etwas passiert?“ … Und so überrascht wie Radiant, war wohl auch er selbst – nämlich darüber, wie sorglos und unverletzt sein Vater klang. Die letzte Anspannung verflog allerdings noch nicht.

„Warum seid ihr im Krankenhaus?“, wollte er wissen.

„Kim hatte beunruhigende Schmerzen im Bauchbereich“, erklärte er leise, „Zur Sicherheit sind wir hergekommen. Liz hat sie gefahren.“

„Ach so“, sagte er. Eigentlich wollte er auflegen. Aber irgendetwas in ihm drängte ihn dazu ein lautes „Danke, viel Glück“ vor einem „Bis dann“ hinzuzufügen. Und dann legte er auf. Und lehnte sich gegen die Mikrowelle. … Kein eskaliertes Streitgespräch … gut … Und die Schmerzen waren gar nicht so unnatürlich … Das kam öfter vor … Sie brauchten sich vermutlich keine Sorgen zu machen …

Plötzlich hatte er das Bedürfnis zu lachen. Warum war er so besorgt? Mochte er sie jetzt doch? Natürlich mochte er sie. Aber sie musste es nicht wissen … Aber vielleicht waren das auch einfach Zugeständnisse eines hungrigen Mannes, der gleich zum Imbiss gehen würde.
 

Kyrie lag in ihrem Bett. Sie hatte nicht geschwindelt. Sie wollte sich ausruhen. Vielleicht … würde dieser Schmerz nachlassen … Nathan hatte ihr jeden Tag einen Ruf gesendet. Drei Schmerzwellen, die sie hatten zusammenbrechen lassen … Aber das waren keine Magnete. Magnete würden noch viel schlimmer sein. Sie würden sie zwingen, so schnell wie möglich in den Himmel zu kommen … Einen Magnet konnte man vielleicht nicht aufhalten …

Zum Glück sendete er ihr keinen … Warum sendete er aber keinen …? Konnte er das nicht? Er hatte ihr das nie so genau erklärt …

Sie zuckte zusammen.

Drei Bälle schienen in ihrem Körper herum zu hüpfen und dabei sämtliche Innereien zu beschädigen. Sobald der Schmerz aus ihren Beinen verschwand, fraß er sich durch den Arm – und mittlerweile hatten sich auch Kopfschmerzen dazugesellt … Wie lange würde sie das noch durchstehen?

… Warum konnte Nathan nicht einfach kommen? Sie wollte nicht in den Himmel. Sie konnte nicht. Auch wenn es sie wohl sehr von dieser Pein befreien würde … wenn alles schnell ein Ende haben könnte … Ihre Flügel auszustrecken und davonzufliegen – wie schön das wäre … Befreit zu sein … Sie war kurz davor, ihre Schwingen testweise auszustrecken, um zu überprüfen, ob diese Freiheit ihr wirklich hätte behilflich sein können – doch plötzlich spürte sie etwas.

Nathan. Das musste Nathan sein! Kam er?

… Einerseits machte sich die Euphorie in ihr breit – das würde ihr die Schmerzen nehmen! … Andererseits stellte sie beunruhigt fest, dass sie ihm wohl nicht mehr entkommen konnte.

Wenn sie ihn bloß sah … dann würden die Schmerzen verschwinden … Sie musste nicht mit ihm reden …

Angestrengt kämpfte sie sich vom Bett auf. Ihre Wirbelsäule wehrte sich dagegen und sandte Schmerzwellen durch ihren Körper, die sie vom Aufstehen abhalten sollten … aber sie konnte nicht auf ihren Körper hören … Sie musste … zum Fenster … Wenn sie Nathan sah …

Sie zwang ihre Beine, aufrecht zu stehen und sie zu tragen. … Ihr Körper war unbeschädigt. Es war nur der Ruf, der ihr das Gefühl verlieh, völlig verletzt zu sein. Kraftlos zu sein. In den Himmel zu müssen …

Schritt für Schritt machte sie sich zum Fenster auf. Und sie würde hinabschauen, bis sie Nathan sah. Er näherte sich noch immer … Eigentlich sollte sie das ohne Flügel doch gar nicht spüren können, oder? … Vielleicht war die Kraft dreier Rufe sogar so stark, dass sie darüber hinwegsahen. Immerhin wurde auch der Schmerz mit jedem Ruf unerträglicher.

Sie lehnte sich ans Fenster. Er würde kommen.

… Hoffentlich beeilte er sich …

Sie linste durch das Glas. Und da kam er – mit Joshua, Thi und Liana im Schlepptau. ... Sie kamen … Warum hielten sie sich nicht an ihre Gebräuche? Warum … Ihr Magen zog sich zusammen. Und das lag nicht am Ruf. Ein schlechtes Gewissen schien sie nach unten zu kämpfen … Sie hätte zu ihnen kommen müssen … Ihre Treffen … waren sie ihr mittlerweile so egal, dass sie das einfach ignorierte? Nein. Sie liebte die Mittwochstreffen noch immer. Aber diese Angst … alleine in den Himmel zu gehen … Dort oben zu sein, wo man sie finden konnte, wo sie in Gefahr war … wo sie sie nicht haben wollten …

Sie schaute nach oben … Warum konnte weder Nathan noch der Himmel ihr jetzt Heilung spenden? … Konnte sie je wieder vollends glücklich sein …? Sie wollte es doch so sehr … Doch ihre Angst hatte zu viele Gesichter … und eines davon ähnelte Nathan zu sehr.

Als John die Tür öffnete und Nathan mit den anderen Engeln sah, war er überrascht. Aber auch erleichtert. Sie würden Kyrie bestimmt helfen! Seit Tagen schien es ihr Sekunde für Sekunde schlechter zu gehen. Sie bewegte sich so krank und schwach – so … hilflos. Irgendetwas musste sie sich eingefangen haben. Oder etwas war passiert … etwas, was sie ihm und Magdalena nicht mitteilen wollte, was sie in sich hineinfraß … Und sie schien davon überzeugt zu sein, dass der Himmel ihr nicht helfen würde … Aber Nathan würde ihr da bestimmt das Gegenteil beweisen! Er musste einfach …

„Guten Tag!“, begrüßte Nathan ihn, „Ist Kyrie zuhause?“

Die Kleidung der Engel war zwar nicht hundertprozentig auf das Wetter ausgerichtet, doch allzu fest fielen sie nicht auf. Aber … das wäre ihm jetzt auch noch egal. Hauptsache, sie halfen seiner Tochter …

„Guten Tag!“ Er nickte eifrig. „Sie liegt krank in ihrem Bett. Seid ihr hier, um sie …“

„Krank!?“, rief der Engel namens Liana besorgt aus, womit sie ihm das Wort abschnitt, „Aber … sie kann doch nicht krank sein!“ Und ehe er sich versah, hatte die zierliche Frau sich an ihm vorbeigedrängt und stürmte durchs Haus.

Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus … Was sollten ihre Worte bedeuten?! Was … was war schon wieder mit Kyrie …? Er drückte sich gegen den Türrahmen, um ein Zittern zu unterdrücken. Nathan würde ihr helfen. Er musste.

„Sie hat noch nicht viel von den Verhaltensregeln gelernt …“, erklärte Nathan. Er grinste.

Wie konnte er in so einem Moment nur fröhlich sein? … Er war ein Engel. Er sollte ihn vermutlich aufmuntern – also unterdrückte John seinen Unmut, so weit es ging. „Helft ihr Kyrie?“, fragte er offen nach, wobei er Nathans Kommentar einfach überging. Sie waren Engel. Sie mussten ihr helfen können. Wenn nicht sie … wer dann?

„Wir tun unser Bestes!“, meinte Nathan leichtfertig, „Dürfen wir reinkommen?“

Er machte ihnen Platz. „Selbstverständlich.“ Sie schritten an ihm vorbei. … „Und bedient euch dann ruhig in der Küche …“, bot er ihnen noch leise an. Sie würden es verdient haben. Nachdem sie seine Tochter gerettet hatten.

„Nathan, das ist ernst …“, erklang die Stimme von Thierry. Scheinbar hatte Nathan jetzt ja wieder Zeit für Kyrie, sodass Thierry sich nicht selbst um Kyrie kümmern musste. „Krank? Ein Engel …?“

„Sie ist ja nur ein halber“, beruhigte er ihn, „Mach dir keine Sorgen. Mein Gesicht wirkt manchmal Wunder!“

Sie traten an ihm vorbei ein. Er schloss die Tür.

… Gut, dass sie da waren. … Sie würden ihr helfen.

Er glaubte daran. Engel konnten alle Wunden heilen.
 


 

Es hatte nicht gewirkt. Sie hatte ihn durchs Fenster hindurch gesehen … und die Schmerzen waren nicht verschwunden. Und sie spürte, wie er sich näherte. Wie er alles von ihr erfahren wollen würde … Sie zog ihren Kopf unter die Decke. Auch wenn sie bezweifelte, dass er sie übersehen würde …

Die Tür wurde aufgerissen.

„Kyrie!“, kreischte eine vertraute Stimme.

Liana! Sie war da! … Vor ihr würde Nathan sie doch nicht ausquetschen, oder?

Sie stülpte die Decke zurück.

„Du lebst!“, erkannte die Frau und lief zu ihr ans Bett, „Hey, alles klar? Du bist krank?“

„Wo ist Nathan?“, fragte sie, wobei sie Lianas Frage nicht beantworten wollte. … Sie konnte ihn ja auch nicht anschwärzen, dass er sie gerufen hatte … aber dafür zu lügen … Nein. Das war es nicht mehr wert!

„Er kommt gleich hoch“, meinte sie sanft, „Keine Bange. Wir bringen dich in den Himmel. Da wirst du sofort wieder gesund, versprochen!“

Sie schüttelte den Kopf, was ihr unangenehme Nackenschmerzen einbrachte. „Nein … Macht euch nur keine Umstände …“

Durch die offene Tür traten die Gestalten der drei Männer. Sie schaute nicht zu ihnen. … Und der Schmerz blieb! Warum war er noch da? Sollte er nicht verschwinden, sobald sie und Nathan sich im selben Raum befanden!? Was … was hatte er gemacht? Panisch schaute sie zu ihm – und fühlte sich erleichtert. Sie fühlte, wie die Magie ihren Körper verließ und zu Nathan zurückkehrte.

Der Schmerz mochte verschwunden sein, doch die Angst war noch immer da. Was würde er jetzt mit ihr machen? Sie hatte seinen Befehl verweigert, in den Himmel zu kommen. Sie verheimlichte etwas vor ihm, was ihm – theoretisch, zumindest laut ihm – helfen könnte … Sie log und betrog …

„Dir scheint es ja wieder besser zu gehen“, erklang seine Stimme und er schritt zu ihrem Bett, „Das war bestimmt der Nathanentzug.“ Er grinste sie keck an. Geschah ihr das etwa recht? Führte er da gerade eine Racheaktion aus?!

Thierry schaltete das Licht ein. „Draußen ist helllichter Tag!“, meinte er, „Warum ist es hier so dunkel?“

„Ich habe geschlafen“, erklärte sie, „Jetzt geht es mir wirklich wieder super …“

„Dann ist es ja gut, dass wir gekommen sind!“, rief Liana motiviert aus, „Jetzt können wir das Mittwochstreffen mit dir halten!“

Sie besah sich der Leute. Thierry wirkte zufrieden … also war keine Erinnerung zurückgekommen. Joshua schaute sich im Raum um … und Liana wirkte fröhlich. Während Nathan … kalkulierte. Er wollte sie heute bekommen. … Wie sollte sie nur fliehen?

„Ja“, meinte sie leise, aber durchaus bestimmt, „Danke, dass ihr hergekommen seid …!“

„Wir hatten einfach im Gefühl, dass etwas nicht stimmt.“ Liana zwinkerte. „Du hast uns sozusagen gerufen!“

„Oder viel mehr …“, mischte sich Thi ein, „… ist dieses Treffen ein Schwur unter uns – eine Zeit, die oberste Priorität hat! Du entkommst uns nicht.“ Er grinste.

Sie lächelte. „Danke, wirklich …“ Und hoffentlich blieben sie bei ihr, bis Nathan ebenfalls gehen musste. … „Aber wo ist Deliora? Wenn ich euch nicht entkomme … gleiches Recht für alle?“

Plötzlich sank die Stimmung auf Null. Der Raum schien sofort dunkler zu werden.

„Deliora wird in nächster Zeit nicht mehr kommen“, klärte Nathan sie behutsam auf, „Sie ist jetzt ein Engel des Siebten Rangs – bis sie alles unter Kontrolle hat, hat sie keine Freizeit mehr.“

Kyrie schluckte schwer. In nächster Zeit? … Was bedeutete so etwas denn für einen Engel …? … Deliora … Hoffentlich machte sie es gut … „Können wir sie nicht besuchen?“, schlug sie leise vor.

„Sie ist immernoch ein Engel“, entgegnete Nathan, „Da werden keine Ausnahmen von der Norm gemacht.“

„Aber bei mir schon?“, begehrte Kyrie auf. Sie wusste, dass das einen bestimmten Grund hatte. Dass er dem nicht zugestimmt hätte, wenn es nicht in seinem eigenen Interesse gewesen wäre. Sie bezweifelte, dass er sich wirklich um sie gesorgt hatte …

Sie erhielt keine Antwort mehr. „Mach dich jetzt fertig, wir treffen uns dann unten!“, beschloss Nathan und marschierte davon.

… Also würde er sich das bis zum Ende aufsparen … Sie schaute ihren Freunden nach, wie sie einer nach dem anderen das Zimmer verließen. … Zumindest würden sie jetzt ihre Eltern beruhigen. Würden ihren Glauben in die Macht der Engel stärken … Nur würde ihnen vorenthalten werden, dass ein Engel dafür verantwortlich war.

Langsam baute sie ihnen eine Scheinwelt auf … eine, die zu schön war, um wahr zu sein … was sie zur größten Lüge machte.
 


 

Das war es, was er an einem Dasein als Todsünde hassen würde: das Richten über jene, die einem etwas bedeuteten.

„Danke für den tollen Tag!“ Liana stürmte zu Kyrie und umarmte sie. „Bis nächste Woche!“

„Ich liebe Kuchen einfach“, sagte Thi, der direkt neben Kyrie stand. … Wenn er sich noch erinnern könnte, müsste er mit ihm gleich verfahren. … Wie hatten es die beiden bloß geschafft, soweit ins Verdächtigenfeld vorzurücken? „Also essen wir das nächste Mal wirklich einen mit Orangengeschmack?“

„Du weißt doch nicht einmal, was Orangen sind“, stellte Liana belustigt fest..

„Natürlich essen wir einen!“, versprach Kyrie, „Also treffen wir uns wieder auf der Erde?“

„Wir treffen uns dort, wo wir dem Kuchen am nächsten sind!“, beschloss Thierry, „Also hier!“

Liana lachte. „Gut, gut!“ Sie umarmte Kyrie noch einmal. „Dann mach es gut – und die Prüfungen gehen bestimmt locker vorüber!“ Sie zwinkerte ihr zu.

„Ich hoffe es“, murmelte sie, „Nächste Woche das Mittwochstreffen wird noch gehen, aber …“

„Dann wird es eben in drei Wochen sein!“, meinte Thi leichtfertig, „Aber das machen wir einfach spontan.“

„Kyrie, du beeinflusst uns hier negativ!“, tadelte Liana sie unernst, „Wir machen uns Gedanken über das nächste Treffen …“ Sie lachte. „Wir wollen doch flexibel bleiben!“

Thi stimmte in das Lachen mit ein und Kyrie rang sich ein Lachen ab. Sichtlich. Wenn man wusste, wonach man suchen musste.

„Na dann, gehen wir, oder?“, fragte Thierry.

Liana nickte. „Bye, Kyrie! Bis zum nächsten Mal.“

„Bye!“ Thierry umarmte sie auch noch. „Und dann reden wir nächste Woche auch über mein nächstes Spiel, bei dem ich dich dabei haben will!“

„Natürlich!“, versicherte sie sofort – wirkte aber mehr gezwungen als überzeugt. Sie war nervös. Wegen ihm vermutlich. Sie wusste, was kommen würde. Und er bereitete sich auch darauf vor. Es musste sein.

„Nathan, Joshua, kommt“, rief Thierry sie zusammen, „Dann- …“

Nathan unterbrach ihn: „Ich bleibe noch kurz hier“, entschuldigte er sich, „Ich muss mit meiner Schülerin noch ein Wörtchen reden.“ Er winkte sie fort. „Wartet nicht auf mich.“

Thierry zog die Stirn kraus. „Ach ja?“ Er schaute zu Kyrie zurück.

Und auch Liana beobachtete deren Reaktion.

… Sogar die beiden hatten bemerkt, dass etwas in der Luft lag. … Kyrie sollte sich nicht so dumm anstellen!

Sie starrte nur mit weit geöffneten Augen in der Gegend herum, als hoffte sie, dass irgendein Wunder ihr helfen könnte – und nach einer Weile schien sie einzusehen, dass das nicht der Fall war. Dass sie sich irgendwann dem stellen musste, vor dem sie weggelaufen war.

„Schaut so aus“, gab sie sich geschlagen. Sie seufzte. „Ihr habt es so schön ohne Lehrmeister.“

Thi grinste – die Sorge war völlig verschwunden. „Übe fleißig weiter, dann brauchst du auch gar keinen mehr!“

Liana nickte. „Du überstehst das.“

Kyrie lächelte ihnen zu. „Dann … bis zum nächsten Mal?“

Und die beiden flogen ab, nachdem sie sich noch einmal verabschiedet hatten – und auch Joshua folgte ihrem Beispiel, nachdem Nathan zustimmend genickt hatte. „Viel Glück“, waren seine letzten Worte an Kyrie gewesen … Hatte er jetzt etwa die andere Partei ergriffen?

Kyrie schaute sich verstohlen um. „Meine Eltern werden bald zurück sein“, prophezeite sie.

„Dann sollten wir es uns wohl besser schnell hinter uns bringen“, meinte Nathan leichthin, „Es liegt an dir.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du weißt ja, worum es geht.“

Sie blickte ihn unsicher an, ihre ganze Gestik sprach von Zögern und Nervosität. … Sie so zu quälen … Aber es war nötig! Vielleicht … vielleicht half es ihm ja wirklich weiter. Und wenn nicht ihm, dann zumindest ihr. Irgendetwas belastete sie doch!

„Ich darf es dir nicht sagen“, beharrte sie nach wie vor, „Ich … habe es versprochen …“

„Egal“, meinte er. Er ging einen Schritt auf sie zu. Wie sie verlassen im Eingangsbereich ihres Hauses stand, so als ob man sie völlig alleine zurückgelassen und einem Monster zum Fraß vorgeworfen hätte … Aber das konnte sie doch nicht wirklich so meinen, oder? Sie … konnte ihn doch nicht fürchten. Nicht vor ihm! Hatte er ihr je Anlass dazu gegeben? „Ich befreie dich von deinem Schwur.“

Sie runzelte die Stirn. „So etwas kannst du nicht!“, beharrte sie, „Was würde ein Schwur zählen, wenn du es könntest?“

Er schüttelte langsam den Kopf und blieb in angemessenem Abstand eines Prüfers zur Befragten stehen. „Keinen, da hast du recht“, gab er zu und zuckte mit den Schultern, „Aber manchmal muss man darüber hinwegsehen. Das Allgemeinwohl …“

„… hängt ganz bestimmt nicht von mir ab!“, unterbrach sie ihn leise, „Glaube mir doch …“

„Was verschweigst du mir?“, fragte er sie direkt.

Und sie starrte zu Boden. Ohne ihm eine Antwort zu geben.

„… Kyrie …“, sprach er leise, „Du musst doch wissen, dass du mir vertrauen kannst. Ich … würde dir doch nie etwas tun!“, versuchte er, sie zu beruhigen. Während er sprach, ging er langsam auf sie zu, vorsichtig, um sie nicht zu verschrecken. Sie bewegte sich keinen Schritt. „Nichts, was du anstellst, könnte schlimm genug sein …“

„Darum geht es gar nicht“, fuhr sie dazwischen, „Du verstehst es nicht – ich … sie … wir haben das Gesetz gebrochen – meinetwegen …“

… Das Gesetz gebrochen. Was konnte sie damit meinen? … Sie hatte keine Rache an Xenon genommen, oder? Einen Feldzug gegen Jeff und seinesgleichen geplant? Das – das konnte nicht sein! Und was hätte das mit Gula zu tun gehabt? Eine vernünftige Todsünde hätte sie abgehalten!

„Was habt ihr getan?“, wollte er sanft wissen – und dennoch sprang die Nervosität auf ihn über. … Wie genau sollte er reagieren, wenn sie wirklich etwas Schwerwiegendes angestellt hätte? Er konnte doch nicht einfach …

„Ich kann es nicht sagen“, beharrte sie weiterhin fest. Sie spannte sich an. Er musste doch irgendwie zu ihr durchdringen können!

„Kyrie“, wiederholte er - diesmal strenger. Gut, wenn die sanfte Tour nichts nützte, dann … Er erschrak förmlich obgleich seiner Gedanken. … Harte Tour? Was für eine harte Tour? Er konnte ihr nichts tun! Er konnte sie doch nicht einfach bedrohen! Sie waren doch Freunde … und sie hatte ohnehin schon Angst … „Freunde vertrauen einander.“

Sie schaute auf. Schaute ihm direkt in die Augen. Und in ihren Augen erkannte er einen Schmerz, der ihm verriet, dass ihr das von Anfang an klar gewesen war. Dass … sie ihn ins Vertrauen ziehen wollte, beichten wollte – es aber nicht konnte.

„Manchmal …“, murmelte sie, „ist es besser, etwas zurückzuhalten, um die Menschen, die einem wichtig sind, zu beschützen …“

„Ich kann nicht nachgeben“, legte er die Tatsachen aus. Sie wollte ihn davor bewahren, damit belastet zu werden? Erkannte sie denn nicht, dass das in seiner Position nicht möglich war? „Ich werde immer wieder kommen …“

„Wenn du wieder einfach so reinplatzt, wirst du irgendwann auf Ray treffen“, warnte sie ihn, „Du … solltest einfach Ruhe geben … und es vergessen …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist ohnehin nicht wichtig …“

„Woher willst du wissen, was für mich wichtig ist?“, fragte er sie. Ray – das war bestimmt der Mann, der bei ihr gewesen war. … Konnte er da ansetzen? Einen Zwang daraus schnüren?

„Ich bin mir sicher“, beschied sie erneut und zog sich weiter zusammen, umklammerte ihren Körper, „Was sollte mein Geheimnis dir schon nützen?“

„Manchmal ist es die kleine Brise, die den Baum umreißt“, entgegnete Nathan metaphorisch, „Und manchmal muss man Opfer bringen, um zum Ziel zu gelangen.“

Sie sah ihn mit großen Augen an. Verständnislos. Ungläubig.

Er atmete tief durch, etwas in ihm zog sich zusammen. Er schloss die Augen. Und jedes Wort, das er danach ausstieß, brannte auf seinen Lippen: „Wenn ich Ray begegnen sollte, lösche ich seine Erinnerungen, wenn ich sonst jemandem begegne, lösche ich dessen Erlebnisse – und wenn ich das bei allen Menschen auf der Welt tun muss, so soll es geschehen.“ Langsam öffnete er sie wieder und blickte in Kyries erbleichtes Gesicht, die ungläubig aufgerissenen Augen und den Mund, der etwas sagen wollte, aber kein Wort herausbrachte – und stattdessen unermüdlich zitterte … Sie tat ihm leid. War er zu brutal vorgegangen? Natürlich war er das. Er hatte eine offene Drohung ausgesprochen … sie … sie würde das doch verstehen, oder? Dass er das tun musste … Dass das seine Pflicht war … dass er nicht umhin konnte … Doch hoffentlich nahm sie es ernst genug, um zu beichten. … Natürlich könnte er niemals alleine alle Erinnerungen löschen – das wäre doch zu gefährlich … aber er könnte das andererseits umsetzen lassen.

„Erinnerungen zu löschen“, flüsterte Kyrie, „… kann nicht alles ungeschehen machen …“ Sie wandte sich um und rannte los – zu der Treppe.

Wollte sie auf ihr Zimmer fliehen?

Er setzte ihr nach.
 


 

Nathans Worte hallten in ihren Ohren wider. Rays Erinnerungen beeinflussen … Rays Erlebnisse löschen … Wie konnten Engel nur glauben, dass das Löschen von Erinnerungen alles wieder gut machen würde? Dass es helfen würde? Sie zerstörten damit persönliche Eindrücke! Was Ray in diesem Moment empfunden hätte … Das konnte doch nicht sein Ernst sein!

Sie stürmte schnellstmöglich in ihr Zimmer, versuchte, die Tür zuzudrücken.

Wie konnte Nathan ihr das nur antun wollen? … Sie … sie konnte es doch nicht sagen! Warum verstand er das nicht? Warum glaubt er ihr nicht?

Eigentlich wollte sie sich wieder unter ihrer Decke verstecken, aber sie kam nicht weit. Nathan war direkt hinter ihr und stieß die Tür auf.

Kyrie ließ sich widerstandslos auf den Boden sinken. … Wie sollte sie ihn abschütteln?

„Aber es ist echt erstaunlich, dass du dem Ruf so lange standgehalten hast“, meinte Nathan entspannt. … Versuchte er jetzt, das Thema zu wechseln? Alles aufzulockern …?

Sie zog die Knie an sich heran und legte den Kopf darauf, um in Dunkelheit zu versinken. Sie wollte nichts hören, nichts sagen und nichts sehen. … Wenn man sich verschloss, konnte man alles über sich ergehen lassen. … Das war es, was sie zwanzig Jahre lang gelernt hatte … durch ihn …

Sie hörte, dass er auf sie zu kam, spürte, dass er eine Hand beruhigend auf ihre Schulter legte. „… Es tut mir leid, was ich gesagt habe“, entschuldigte er sich plötzlich.

Die nette Tour? Sie wollte weiterhin wütend sein. Enttäuscht … Aber seine Stimme ließ sie aufhorchen … Er klang aufrichtig … Von seiner Todsündenpersönlichkeit war nichts mehr übrig. Sie schaute auf. Sah in seine blauen Augen, bemerkte, wie sein Mund verspannt war … Er hätte sich vorher überlegen müssen, wie weit er gehen wollte … Aber wie weit würde sie selbst gehen? Wenn er seine Drohung doch wahr machen würde …? Sie konnte das doch nicht verantworten! Sie … sie musste ihm nachgeben – aber andererseits … hatte sie es versprochen …

„Ich habe es nicht genau so gemeint“, ergänzte er, „Ich … war nur so … enttäuscht …“ Er wählte seine Worte offensichtlich mit Bedacht. „Dass du mir nicht vertraust …“

Sofort legte sie ihren Kopf wieder nieder. „Es geht nicht“, wiederholte sie. Und es würde ihm nicht helfen … Er vertraute doch ihr nicht. Sonst brächte er sie nicht in diese Zwickmühle. Hätte ihr nicht gedroht.

„Ich bin mir sicher, dass es nicht so schlimm sein kann, wie du glaubst“, meinte er, „Du … siehst das zu eng oder …“

„Nein“, entgegnete sie und versuchte, gefasst zu klingen, „Ich weiß, was ich getan habe …“

„… Okay“, stimmte Nathan ihr plötzlich zu, „Dann stelle dich deiner Strafe.“

Seine Worte trafen sie wie ein Blitz, ließen sie innerhalb eines Moments hochfahren. „Aber …“ Sie starrte auf Nathan herab, ungläubig.

„Ein guter Engel gesteht sich ein, dass er etwas falsch gemacht hat“, erläuterte er seine bereits ausgesprochenen Gedanken, „… und stellt sich dem Richter.“

Sie starrte auf ihn herab. Wollte erwägen, ob er das wirklich ernst meinte … fühlte sich, als würde das Haus über ihr zusammenbrechen. … All die Zeit hatte sie sich immer damit beruhigt, gut zu sein. Nichts Böses zu tun … und plötzlich saß sie auf der Anklagebank? Müsste ein Verbrechen gestehen? Müsste sich selbst als kriminell sehen … Der Schock schien sie von innen zu zerfressen, jede Faser ihres Körpers fühlte sich, als würde sie zerbrechen. Als würde das, was sie ausmachte, aufhören zu existieren.

Tränen stiegen in ihre Augen. Sie wollte doch nicht mehr weinen … Sie wollte doch ein hübsches Mädchen sein, das nicht mehr weinte … Die Tränen liefen ihre Wange hinab. Aber sie wollte das doch gar nicht … Sie wollte Thi und Gula von ihrer Schuld befreien, wollte ihnen danken für das, was sie für sie auf sich genommen hatten … und jetzt stellte sie sich nicht … Sie war ein Feigling … ein Lügner … der größte Versager.

Nathan umarmte sie plötzlich. „Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen …“

Zum Weinen … Sie war zwanzig, stand da und ließ sich trösten … weil sie herumheulte wie ein kleines Kind … Sie verkrampfte sich in Nathans Hemd, drückte sich an seine Brust. … Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Warum gab er ihr stattdessen Halt, obwohl er sie bedrängte? Obwohl er sie zu dem machte, was sie hasste?

„Ich werde dich nicht dafür belangen“, flüsterte er, „weder dich, noch Thi – noch sonst wen, der damit zu hat …“

„Das ist falsch“, entfuhr es ihr mit erstickter Stimme. … Er musste doch richten – über alle gleich herrschen, sonst verschuldete nur er sich und … dann würde er wie Thi enden. Würde sich Erinnerungen nehmen lassen … würde Kyrie vergessen …

„Oder es gibt einfach zwei Versionen vom richtigen Weg“, beruhigte Nathan sie, „Und wir beide nehmen die richtige.“

… Seine Aufgabe war es, Gulas Verschwinden zu klären. Zwar war er ein Richter, doch im Moment agierte er als Ermittler … Und ihre Aussage konnten von beiden verwertet werden … Der Richter, der sie bestrafen würde … und der Ermittler, der ihr danken würde … Aber … war das nicht nur eine Ausrede, die er sich zurecht gelegt hatte, um sein Gewissen rein zu halten? Eine Lüge … Sie hatte doch so genug vom Lügen! Und jetzt ließ sie andere für sich weiter lügen … verheimlichte weiter …

„Rede es dir von der Seele“, schlug Nathan ihr vor, „Sieh dich an – und sag mir, dass es schlimmer kommen könnte.“

„Wenn dir etwas passieren würde“, antwortete sie in einem Schluchzen, „… das wäre schlimmer …“

„Aber mir passiert nichts“, beruhigte er sie, „Ich bin mein eigener Herr, was ich weiß, weiß kein anderer – und ich werde mich bestimmt nicht selbst bestrafen.“ Er klang ruhig. Ganz anders als vorhin …

Gula und Thi hatten ihre Erinnerungen gelöscht, um sich von der Strafe freizusprechen … Nathan würde soweit nicht gehen – wie ihr plötzlich klar wurde. Er würde es einfach mit sich herum tragen – und es wäre ihm egal. … Er … er wollte einfach … nur die Wahrheit wissen. Was diese nach sich zog, interessierte ihn doch gar nicht … Wie konnte er nur so leichtfertig sein? So unehrlich? Er war doch ein Engel …!

Und sie auch … Und sie war mindestens genauso unehrlich. Nur auf eine andere Weise. … Und wenn sie etwas daran ändern wollte, musste sie sich stellen. Sie würde Gulas und Thierrys Schuld auf sich nehmen … und Nathan sollte ihr Richter sein.

Und so erzählte sie ihm davon, dass Gula Thierry das Blenden beigebracht hatte – und dass sie es nun auch beherrschte. Und dass die Angst nur größer geworden war.
 

„Doch … ich kann es nicht … Der Gedanke, alleine im Himmel zu sein, lähmt mich. Die Vorstellung, das Schwert gegen jemanden zu benutzen – jemanden zu verletzen … oder wieder verletzt zu werden, ob es mich schmerzt oder nicht …“ Kyrie zitterte, als sie sich gegen Stuhl lehnte und scheinbar versuchte, vor ihren Erinnerungen zu fliehen.

Nathan hatte sich vor sie auf den Boden gesetzt, sah ihr erwartungsvoll in die Augen und ließ sie durch ständiges Nicken fortfahren. … Und das Wissen, das er bisher erlangt hatte, löste beständig Schauer in ihm aus. … Gula hatte für sie das Gesetz gebrochen. … Für Halbengel allgemein? Wofür hatte er selbst das Blenden gebraucht? An wem hatte er es getestet – oder viel mehr: Wer hatte es an ihm getestet? Gab es weitere Tests? Weitere Übungen, die Verbote übertraten? Und inwiefern waren die anderen Todsünden darüber informiert?

Er musterte Kyrie, als sie nichts mehr sagte. Sie hatte geendet und wirkte erleichtert. Als hätte … sie sich alles von der Seele geredet. Wie er es gesagt hatte …

„Danke für deine Aufrichtigkeit“, meinte er ehrlich.

Sie schaute ihn überrascht an, nickte dann leicht. Sie schien nicht viel mehr sagen zu wollen.

… Und er musste nachdenken. … Aber er konnte diese Geschichte doch nicht an Acedia weiterleiten. Thi hatte gegen das Gesetz verstoßen – Gula hin oder her. Nur erinnerte er sich nicht. Und da war der Haken: Warum hatte keine der Todsünden darauf reagiert?

Es sei denn, Gula hatte dafür gesorgt, dass sie nichts darüber wissen würden. Das mit Thierrys Namen – ja. Das musste der Grund sein, weshalb er seinen Zettel eingesteckt hatte. Dass er sich um den Fall Thierry kümmern konnte. Und alles vertuschen konnte.

… Für wen also hatte er das Blenden gelernt? Für sich selbst? Für Halbengel in Nöten?

„Bist du enttäuscht?“, fragte Kyrie leise.

Er sah überrascht zu ihr auf. „Enttäuscht?“, wiederholte er verblüfft, „Warum sollte ich das sein?“

„Dass ich es zugelassen habe, dass Thierry diesen Schritt für mich geht“, erklärte sie leise, „Dass … sie gegen die Regeln verstoßen, um …“

Er schnitt ihr das Wort ab: „Gib dir nicht immer am Lauf der Dinge die Schuld. Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen.“ Er lächelte sie an. „Und du hast auch gut darin getan, es mir zu berichten.“

Sie nickte.

„Also … wenn du nach wie vor Angst davor hast, in den Himmel zu gehen …“, holte er den Faden auf, „… hole ich dich einfach wieder nach wie vor ab!“

Jetzt starrte sie ihn überrascht an. „Aber du hast doch so wenig Zeit – und der Aufwand und …“

Er erhob sich und beugte sich dann grinsend zu ihr herunter. „Für eine Freundin wie dich würde ich mir alle Zeit der Welt nehmen.“

Sie lächelte ihn dankbar an.

Und er war froh, dass er sie beruhigen konnte. Und er meinte es ernst: Sollte sie ihn rufen, wenn sie ihn brauchte – er würde da sein. „Ich hole dich einfach immer ab, wenn du willst“, bot er an, „Ruf mich einfach, ich komme – und wir verbringen einen tollen Tag im Himmel!“

„Hauptsächlich mittwochs“, meinte sie, „An anderen Tage habe ich vermutlich auch keine Zeit mehr …“

„Die Prüfungen …“ Er nickte. „Viel Glück dabei.“

Sie stieß erleichtert den Atem aus. „Ich kann meine Freunde also wieder sehen …“, murmelte sie kaum verständlich, „… Nathan wird mir beistehen!“

Er grinste. Ob ihr klar war, dass sie das eben laut gesagt hatte?

Aber egal! Sie wusste jetzt ja, dass auf ihn Verlass war.

Und er wollte ihr da nicht das Gegenteil beweisen.

Ray beugte sich über das Buch. Mittwochs lernte er nach wie vor alleine, weil Kyrie ihre Termine hatte. Und da die nächsten Prüfungen bereits in der nächsten Woche am Start waren, konnte er sich keine Verzögerungen leisten – also musste er im Haus bleiben, anstatt wie üblich rechtzeitig zu fliehen. Wobei das auch sehr viel schwerer war als gedacht, nachdem Liz und Kim den ganzen Tag zuhause verbrachten. Und ihn immer sahen.

Und dass Liz einfach hartnäckig immer wieder an seine Zimmertür klopfte, um ihn dazu zu bewegen, sich beim Essen zu ihnen zu gesellen.

Doch er lehnte ab. Er war zwar ungemein erleichtert, dass Kim doch in keine Risikogruppe bei Schwangerschaften gerutscht war, doch das bedeutete nicht, dass er sich auch weiter für sie interessieren musste.

… Es interessierte ihn viel mehr, dass es sowohl seiner eigenen Familie als auch Kyrie gut ging. Sie schien … weitaus befreiter zu sein. Seit einigen Wochen. Auch wenn da noch immer etwas an ihr war, das ihm verriet, dass sie sich nie ganz wohl fühlte. Und es musste irgendwie damit zusammenhängen, dass sie ein medizinisches Wunder war. … Natürlich glaubte er ihr, wenn sie ihm sagte, dass die Medizin, die sie nahm, scheinbar tolle Wirkungen auf sie hatte … aber … von so etwas hatte noch nie gehört. … Und sie wirkte nach solchen Aktionen immer so … verändert. In eine gute Richtung, aber trotzdem … was war mit den Problemen passiert, die sie gehabt hatte? Warum wollte sie ihm nicht einmal davon erzählen, wenn sie schon gelöst waren? Womit hing das nur alles zusammen? Er verstand es einfach nicht … Und doch hoffte er inständig, dass das nichts mit seiner Persönlichkeit zu tun hatte. … Aber das könnte sie ihm doch sagen – wenn er der Verursacher ihres Unmuts wäre. Wenn er etwas getan hätte, was ihr Vertrauen beeinträchtigte … Er würde etwas daran ändern wollen. Immerhin … wollte er, dass es ihr gut ging. Dass sie bei ihm blieb … Nichts weiter.

Ein Klopfen ließ ihn kurz zusammenzucken.

„Abendessen ist bereit“, erklärte Liz ihm durch die Tür hindurch, „Ich habe gekocht.“

„Nein, danke“, gab er unbewegt zurück.

„Du isst zu wenig“, belehrte sie ihm, „Du kannst nicht denken, wenn du nicht isst.“

„Ich bin klug genug“, erwiderte er, wobei er zur Tür schaute. Natürlich sah er nichts außer der Tür, aber … es gab ihm Sicherheit, dass sie diesen Raum nicht einfach betreten konnte.

„Du bewegst dich zu wenig“, meinte sie, „Davon wirst du irgendwann Probleme bekommen.“

„Studierst du jetzt Medizin?“, fragte er leicht gereizt, „Lass mich in Ruhe. Ich esse später.“

Sie lachte kurz auf. „Und du hast eindeutig zu wenig Sozialkontakt.“

„Ich bin zweimal die Woche zuhause“, verteidigte er sich barsch.

„Das Essen wartet trotzdem“, fügte Liz hinzu – und dann hörte er, wie sie weg ging.

… Wie hatte sie es nur geschafft, dass er ihr immer mehr und mehr Informationen zur Verfügung stellte? Immer, wenn sie kam, redete sie mit ihm. Solange, bis er es nicht mehr ignorieren konnte. Wieso war sie nur so hartnäckig? Ihr dürfte an ihm doch gar nichts liegen! Warum wollte sie nur so auf ihn zugehen?

Er seufzte leise.

Dann holte er sein Handy heraus. Er wollte Kyrie eine Nachricht schreiben. Er sehnte sich danach, etwas von ihr zu hören. Und zwar jetzt.

Also tippte er darauf los. Er hatte ja nicht direkt eine Ahnung, was er schreiben wollte. Er wollte sich nur erkunden, ob es ihr auch nach wie vor gut ginge. Ob alles klar war – wie es ihr genau ging … Vermutlich machte er sich zu viele Sorgen. Er wusste ja, dass sie es ihm nicht sagen würde. Aber dadurch würde sie ihn nicht loswerden.

Er würde an ihrer Seite bleiben. Bis zum Schluss.
 

Die Pünktlichkeit, mit der die Todsünden den neuen Schwur wahrnahmen, überraschte ihn tatsächlich – seit sie ihn gesprochen hatten, hatten sie jeden Tag ihre Pflichten erfüllt. Jeder zur richtigen Zeit. Und allein diese Tatsache unterstrich den Ernst der Angelegenheit: Dass sich jeder daran hielt, war der Beweis, dass jeder Angst davor hatte, dass sich jemand nicht daran halten konnte. Und doch gab keiner der stärkeren Partei nach.

„Diese Halbengelgeburten werden immer häufiger“, fuhr Invidia besorgt fort, „Was kann das bedeuten?“ Sie rieb sich die Schläfen.

„Solche Jahre gibt es öfter“, beruhigte Superbia sie, „Sie kommen, sie gehen.“

„Das sagst du so – aber so häufig wie jetzt …?“ Sie hielt sich den Kopf weiterhin – und Ira wäre ihrer Geste am liebsten gefolgt. Die Blockade meldete sich wieder. In letzter Zeit immer häufiger. … Sie würde bald brechen. Er musste mit jemandem darüber reden.

„Auch dieses Problem ließe sich in einer Engelsversammlung lösen“, meinte Acedia, „Wenn wir nämlich neue Todsünden hätten …“

Superbia unterbrach sie barsch: „… würde das rein gar nichts daran ändern.“

… Weil es keine neuen Todsünden geben konnte – nicht, solange die alten nicht tot waren. Und das durften sie nicht sein.

Acedia erhob sich. „Dann sind wir für heute wohl fertig“, beschloss sie, „Es sei denn, jemand von euch kommt endlich zur Vernunft?“

„Oder ihr kommt von eurer Paranoia weg“, schlug Avaritia vor, „Die passt nämlich wirklich nicht zu euch.“

„Wir werden ja sehen, wohin eure Haltung uns führt“, gab Acedia zurück, „Und sagt dann nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.“

„Du fürchtest dich vor einer Luftgestalt“, stieß Invidia hervor, „Nichts weiter! Gula hat bestimmt eine Spur zu Luxuria gefunden – und die ist bestimmt irgendwo auf Urlaub.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ihr seid verrückt – es ist noch nicht einmal ein Jahr vergangen.“

… Und nur aufgrund des zu kurzen Zeitraums würden sie es nicht ernst nehmen. Würden sie gar nichts ernst nehmen. Immerhin konnten sie eintausend Jahre lang leben. Was war da ein halbes Jahr schon wert? Oder ein Jahr. Oder zwanzig Jahre?

Und plötzlich krachte die Blockade wieder gegen ihn. … Er sollte es Acedia sagen. Wenn er es den anderen verriet, würden sie ihn nur für noch verrückter halten als ohnehin schon. Aber sie würde ihm glauben.

„Stimmen wir ab“, fuhr Superbia dazwischen, „Engelsverhandlung aufgrund von Gulas und Luxurias kurzzeitigem Verschwinden?“

Acedia und Ira erhoben sich.

„Erfüllen unserer Pflicht als Bewahrer der Ruhe und Ordnung, durch die wir die Engel nicht weiter aufwühlen, als sie ohnehin schon durch sämtliche Gerüchte sind?“

Ira setzte sich im selben Moment, als die anderen drei aufstanden. Acedia platzierte sich ebenfalls langsam, wobei sie weiterhin den Kopf schüttelte. „Wie könnt ihr nur so stur sein?“, murmelte sie leise.

„Wir sind Engel“, stellte Superbia sachlich fest, „Wir vertrauen einander.“ Sein Blick richtete sich auf Ira. „Wir beschuldigen unsereins nicht des Mordes.“

Acedia schnaubte wortlos.

… Und Ira fragte sich, wie wahr seine Worte waren. Dass sie alle Angst hatten, war doch verständlich. Doch auch Superbias Worte waren nachvollziehbar – wer sollte ihnen etwas getan haben? Und noch schlimmer: Warum? Doch Ira war sich so sicher, wie er sein konnte: Luxuria war nicht einfach so verschwunden. Sie musste einen triftigen Grund haben. Und den würden sie ohne Engelsversammlung nicht herausfinden können.

„Das Ergebnis ist wohl wieder eindeutig“, stellte Invidia fest, „Dann können wir ja gehen.“ Und schon machte sie ihre Worte wahr – und der Rest folgte ihrem Beispiel. Doch ehe Acedia den Raum verlassen konnte, hielt er sie an der Hand fest. Er wollte nicht unbedingt, dass die anderen bemerkten, dass sie sofort wieder tuschelten – obwohl es eigentlich bedeutungslos wäre.

„Warte kurz“, bat er sie leise, als sie alleine im Raum waren.

Acedia wirkte überrascht. Sie beließ ihre Hand in seiner. „Ja?“

… Wie lange war es her, seit er diese Hand halten konnte, sobald er das wollte?

„Ich muss mit dir sprechen“, flüsterte er ihr zu, „Es ist dringend.“

„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich, „Aber ich habe gerade etwas vor.“ Sie schlug die Augen nieder und entwendete sich aus seinem Griff. „Treffen wir uns morgen nach der Konferenz?“, schlug sie vor.

„Wir sollten ungestört reden können“, fügte er noch hinzu, „Oben am Dach der Todsünden vielleicht?“

Ihre Lippen verkrampften sich, als wollte sie noch etwas sagen – doch stattdessen nickte sie, wandte sie sich einfach um und flog davon.

Er blieb alleine im Raum zurück. … Hoffentlich würde sie ihn nicht für einen Verrückten erklären.
 

„Du brauchst keine Angst zu haben“, beruhigte er sie mit einem zuverlässigen Lächeln, „Du musst den Himmel nie wieder ohne mich betreten. Ich werde immer bei dir sein. Du brauchst mich nur zu rufen.“ Und damit materialisierten sie sich wieder auf der Erde.

… Das würde Kyrie wieder Möglichkeiten geben – sie könnte wieder ihre Oma besuchen, diesmal aber zur richtigen Zeit … Sie könnte Nathan Kylie ablenken lassen, während sie selbst Maria besuchte … Sie könnte die Welt sehen.

Und doch stand sie am Anfang. Unfrei, unselbstständig und völlig von Nathan abhängig … Nur durch seine Anwesenheit konnte sie die Angst in ihr soweit unterdrücken, dass sie sich traute, einen Fuß in den Himmel zu setzen.

Sie seufzte.

„Was ist los?“, fragte Nathan besorgt, „Ist wieder etwas passiert?“

„Noch immer das alte Übel“, beschwerte Kyrie sich, während sie ihre Arme verschränkte, „Dass du all deine Zeit für mich aufwendest …“ Sie überblickte die Nordstadt. Der Winter hatte sich bereits wieder verabschiedet, der Frühling stand in voller Blüte vor der Tür. Die Blumen blühten und der Himmel sonderte zum Licht auch wieder diese angenehme Wärme ab … Und solange Nathan da war, vermochte sie das Licht auch zu genießen.

„Ist doch gar nicht wahr!“, beruhigte er sie grinsend, „So viel wie du für deine Prüfungen lernst, verbringen wir ja nicht einmal Zeit miteinander!“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich danke dir dafür … wirklich.“ Sie schaute ihm in die Augen.

„Mach dir keine Sorgen“, beruhigte er sie, „Es ist sogar erleichternd, dass du mich durch die Rufe zwingst, aufzustehen.“ Er deutete auf sich. „Ich bin ja bekanntlich die Faulheit in Person!“

Sie lächelte. … Sie wusste, dass er keine Zeit hatte. Dass er bei der Sache mit Gula noch am Anfang stand, weil ihre Informationen ihm wirklich nichts genützt hatten – dass er sich den Mittwoch frei kämpfte … und dass er sich trotzdem Zeit für seine Freunde nahm.

Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, dass sie wirklich Angst vor ihm gehabt hatte … Das musste ihr Gewissen gewesen sein. Die Last, die sie nach unten gedrückt hatte, sodass alles um sie herum riesig und einschüchternd erschien … Sie wollte so etwas nicht mehr erleben … Sie wollte einfach ihr Dasein fristen, Spaß mit ihren Freunden haben …

… Ihre Freunde … Deliora war wirklich nicht mehr gekommen. Sie hatte sie nicht mehr gesehen – genauso wenig wie die anderen. Sie war scheinbar andauernd bei der Arbeit … und keiner wollte sie stören … Wie schafften es die Engel, sie nicht zu vermissen? Es einfach so als gegeben hinzunehmen, dass sie nicht mehr kommen würde? … Es fiel ihr schwer. Aber sie musste sich wohl anpassen … Vielleicht würde sie ja auch bald zurückkommen … Das wäre doch dann eine äußerst positive Überraschung – wie auch die Einladung zum Spiel, die Thierry ihr zukommen hatte lassen. Sie hatte dann mit Nathan gesprochen, ob er sie zu dem Spiel begleiten wolle. Nächsten Donnerstag war es angesetzt, weshalb Thi bereits angemerkt hatte, dass er am nächsten Mittwoch keine Zeit haben würde, am Treffen teilzunehmen … Und es schien ihn auch nicht im Geringsten zu stören, dass Nathan sie wieder begleiten musste. … So sauber verlief das Löschen von Erinnerungen also … Es war eine rückstandslose Entfernung … Und auch wenn es sich auf sie positiv auswirkte – dass die Engel das wirklich aktiv benutzten, ließ sie erschaudern … Die Art, wie sie es einsetzten – wie sie die Macht benutzten, um alles zu ihrem Besten zu gestalten … dass ihnen nicht auffiel, wie grausam das war. Oder wie sie zumindest den Blick davor versperrten. … Genauso wie sie.

„Ich bringe dich dann nach Hause!“, beschloss Nathan und marschierte auch schon los, „Das mit dem Rufen gelingt dir mittlerweile übrigens echt gut“, lobte er sie, „Gar keine negativen Schmerzwellen kommen mehr mit! Ich bin ein gesunder Mann!“ Er grinste breit.

Sie lächelte. „Ich hatte ja Zeit zum Üben“, wiegelte sie ab. … Und ihr wäre es nach wie vor lieber, wenn es nicht nötig wäre. Aber … sie konnte nicht alles haben. Musste sich entscheiden … Wie sie sich dazu entschieden hatte, erleichtert darüber zu sein, dass Nathan sie wirklich nicht wegen eines Gesetzesbruchs geklagt hatte – er hatte es für sich behalten … und ließ sich nicht anmerken, ob oder dass es ihn belastete … Was ihr wiederum Sorgen bereitete. Auch wenn es nach wie vor einfach falsch war … Sie war ein Verbrecher. Sie sollte bestraft werden. … Wenn sie nicht nur so viel Angst vor der Strafe hätte …

„Und das beste Versuchsobjekt!“, gab er noch hinzu.

Sie lachte leise. … Leider war sie nicht so entspannt, wie sie sich gerne gegeben hätte. Es war jetzt seit weiterhin gut drei Wochen nichts vorgefallen, was auf Xenons Aktivitäten hingewiesen hätte – aber trotzdem fühlte sie sich nach wie vor unwohl, wenn sie an die Gefahr dachte, die sie ihre Freunde durch ihr Erscheinen im Himmel aussetzen konnte … und nicht zuletzt sich selbst.

„Sind deine Eltern eigentlich heute zuhause?“, wollte er plötzlich wissen.

„Ja“, meinte sie, „Eigentlich sollten sie da sein.“

„Gut!“, freute er sich, „Dann kann ich mir bestimmt ein Stück Kuchen holen!“

Sie lächelte. „Du darfst dich doch immer bedienen.“ … Vor allem, seit er sie „geheilt“ hatte, waren John und Magdalena noch versessener auf ihn. Dass er ihnen Glück brachte … und sie konnte nicht einmal etwas dagegen sagen – weil es ja tatsächlich so war. Jetzt. Wieder. Warum war es so kompliziert …? Aber sie wollte ihn nach wie vor nicht verpetzen. Weil er sich gebessert hatte … weil er wieder so war wie vorher … Hoffentlich würde er jetzt immer so bleiben.

„Danke“, meinte er leichtfertig, „Damit habe ich sogar gerechnet!“

Sie schüttelte einfach lächelnd den Kopf. … Nathan war schon eine Sache für sich.

Sie fuhr in die Tasche ihres frühlingshaften Mantels, der in einem leichten Blau schimmerte, und holte ihr Handy hervor. „Ich sage ihnen, dass sie etwas vorbereiten sollen“, erklärte sie sich bereit. Und am Display leuchtete eine Nachricht auf. … Als sie Rays nahmen las, setzte ihr Herz eine Sekunde aus. War er etwa bei ihr zuhause und hatte sie nicht angetroffen? … Nein … Er wusste ja, dass sie nicht da war. Er würde nicht kommen. Aber warum schrieb er dann? Sie war erst vor zehn Minuten geschickt worden. … Wenn sie ihr Handy nicht ständig noch von der Universität her auf Lautlos hätte, hätte sie es sogar mitbekommen … Sie öffnete die Meldung.

„Hey, wie geht es bei dir mit Lernen voran? Deine letzte Prüfung wird nächste Woche sein, oder? … Was machen wir dann eigentlich in den Sommerferien, wenn wir nichts mehr zum Lernen haben?“ Sie las die Nachricht noch einmal. Sie spürte, wie ihr Herz einen Salto schlug – und dann noch einen. Er machte sich jetzt schon Gedanken um die Sommerferien! Sie hatten nicht darüber geredet – aber … es freute sie ungemein!

Und plötzlich klang die Freude wieder ab. Flaute ab von einer Sekunde zur nächsten, nur weil sich vor ihrem inneren Auge der Himmel abgebildet hatte. Und dieser strafte all ihre Freude Lügen. Sie würde diese Prüfungen hinter sich haben. Doch … diese Sommerferien hatten nicht den erlösenden Charakter, den sie sonst hatten. Sie waren genauso einengend wie die Zeit hier. … Sie … würden sie nicht befreien … So viel Zeit mit Ray, ohne komplett bei ihm zu sein – wie sie seine Nähe genießen konnte, ohne wirklich ihm zu gehören …

„Du ziehst eine Grimasse, als hätte deine Mutter dir erst geschrieben, dass eure Katze sechs Junge bekommen hat und sie super süß waren … und dann alle sieben überfahren worden wären“, kommentierte Nathan, „Von einem Truck. Wenn ihr eine Katze hättet, würde das bestimmt da stehen.“

„Haha“, macht Kyrie keineswegs belustigt. Sie drückte die Nachricht weg, als sie bemerkte, dass Nathan zu spicken versuchte. „Der Kuchen ist alle“, erzählte sie ihm ernst.

Nathan schaute sie entgeistert an. „Was? Das kann nicht sein!“

„Also lass mich kurz anrufen“, forderte sie und blieb stehen. Sie versuchte, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. … Sie konnten es wie in den Winterferien machen … Sich einfach irgendwo treffen … Zeit miteinander verbringen … und dabei immer klarer vor Augen zu sehen, wie falsch das war, was sie abzog …

Sie wählte die Nummer – und nach dem zweiten Klingeln hob ihr Vater ab: „Kingston?!“

„Ich bin es“, begrüßte sie ihn, „Kyrie … Nathan würde vorbei kommen. Passt das?“

„Ray darf doch immer kommen … Moment.“ John hielt kurz inne. „Nathan?“

„Der Engel in Person, du weißt doch …“, beschrieb sie ihn in lockerem Ton. Sie setzte sich wieder in Bewegung.

„Natürlich! Nathan braucht doch nicht zu fragen!“, meinte er, „Dann bis gleich? Ist alles in Ordnung?“

„Natürlich“, antwortete sie sofort, „Bis dann.“ Und sie legte auf, woraufhin sie ihr Handy wieder wegsteckte.

„Ich mag es, als Engel beschrieben zu werden“, sinnierte Nathan grinsend.

„Du bist ein Engel“, entgegnete sie mit gedämpfter Stimme.

„Und ich bin echt gut darin!“, lobte er sich selbst.

Kyrie schüttelte kurz den Kopf. … Am liebsten hätte sie Ray sofort irgendwie geantwortet … Aber das würde sie erst tun, wenn sie wieder alleine war … Wenn … wenn sie sich besser konzentrieren konnte. … Die Sommerferien … wie sie näher rückten. Dann war der erste Teil ihres Studiums schon um. … Wie schnell die Zeit verstrich …

„Vermisst du das Studium eigentlich?“, wollte Kyrie wissen, „Und die Erde allgemein …“

Er lachte kurz auf. „Ich bin sooft hier – ich käme nicht einmal dazu, sie zu vermissen.“ Er grinste. „Aber ja, das Studium war zwar hier oben …“ Er deutete auf seinen Kopf. „… anstrengender, aber insgesamt weitaus angenehmer als das Assistent-Sein!“

„Ich glaube, die anderen sind jetzt über dich hinweg“, fügte Kyrie hinzu, weil es ihr gerade in den Sinn kam – die Nathan-Gruppe hatte sich in letzter Zeit ziemlich aufgelöst. … Aber sie hörte auch nicht mehr so auf das Getratsche nach den Vorlesungen. …

Er grinste. „Eigentlich dauert das länger. Da habe ich wohl zu wenig Eindruck hinterlassen!“ Er hob seine Sonnenbrille nach oben. „Soll ich ihnen einen Besuch abstatten?“

Kyrie schüttelte erneut den Kopf. „Das wäre doch bloß ein Unweg.“

„Du hast Recht – Kuchen vor Spaß!“ Und die letzten Meter zu ihrem Haus rannte er, ohne auf sie zu warten.

Am liebsten wäre sie ihm hinterher gerannt. Warum konnte er nicht einfach warten? Sie umklammerte ihr Handy, als könnte ihr das nützen, falls Xenon kommen würde und Nathan nicht da war … Nein, sie durfte nicht schon wieder damit anfangen … Damit, an ihm zu zweifeln. Zu glauben, dass er nicht hier wäre, wenn sie ihn brauchte … Freunde waren füreinander da, hatte er gesagt. Und sie sollte ihn beim Wort nehmen. Sie sollte ihm nicht nachlaufen. Und doch sah sie, wie er immer weiter weg lief. Er war nicht weit, aber … weit genug …

Damit ließ sie ihr Handy los.

Und rannte.

Ira lehnte am Geländer und überblickte den Himmel. Die Wolken lagen tief - am Boden des riesigen Turms. Hier oben brauchte es bloß den Turm, oben auf der obersten Stufe des Himmels. Keine gewöhnlichen Engel konnten so hoch steigen. So hoch in die Nähe von Gott. So hoch in die Nähe der Dämonen. Wie man es betrachtete.

Die Konferenz war vorbei, das Erinnerungenlöschen war erst später dran. Aber sie hatten beschlossen, dass sie sich nach der Konferenz treffen würden – also würde sich Acedia wohl hoffentlich daran halten. Er musste mit ihr einfach darüber reden. Sonst würde er wirklich noch wahnsinnig werden. Er wollte wissen, was das zu bedeuten hatte. Ob er alleine litt …

Er schüttelte den Kopf. Aber eigentlich sollte er sich auf Wichtigeres konzentrieren. Die Konferenzen hatten kaum mehr Sinn und Zweck. Es war zwar gut, dass sie jeden Tag erschienen – aber sie kamen zu nichts. Mittlerweile dienten die Treffen nur noch dazu, sich zu versichern, dass noch alle am Leben waren.

Die Erinnerungen der Engel würden erst später gelöscht werden – aber sie wollten nicht überrascht werden, wenn plötzlich doch einer fehlte. Immerhin zählte der Schwur auf alles, was die Todsünden unternahmen. Keiner würde sich eine Ausrede erlauben können. Dafür hatte Sin gesorgt …

Sin … Wenn er ihm bloß helfen könnte. Sin würde bestimmt wissen, was es mit der Blockade auf sich hatte. Wenn er sich früher gerührt hätte, hätte er vielleicht noch mit ihm reden können … Aber das hatte er wohl zu lange aufgeschoben. Doch wer würde erwarten, dass sich innerhalb so kurzer Zeit alles veränderte? Wer konnte nur dahinter stecken?

„Oh“, erklang eine Stimme hinter ihm – Invidia.

Er drehte sich nicht zu ihr um.

„Dich habe hier oben nicht erwartet“, erklärte sie.

„Ich dich ebenso wenig“, meinte er. Damit hätte er dann Acedias Wunsch nicht entsprochen. Invidia sollte wieder gehen.

„Denkst du nach?“, wollte Invidia wissen.

Ira wandte sich ihr zu, besah sich der silbernen Haare, die ihr Gesicht einrahmten, nahm das freundliche Lächeln auf ihrem Gesicht wahr. „Ich warte auf jemanden“, korrigierte er ihre Annahme.

Sie nickte. „Dann sollte ich wohl nicht zu lange stören …“, sinnierte sie, „Aber andererseits bin ich zum Nachdenken hergekommen.“ Sie schloss den Abstand zu ihm und lehnte sich gegen das Geländer.

„Alleine denkt es sich besser nach“, befand Ira.

Sie grinste ihn an. „Willst du so dringend, dass ich gehe?“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid, aber … wenn du schon hier bist …“

Er runzelte die Stirn. „Was?“

„Wir haben schon lange kein ordentliches Gespräch mehr geführt“, tadelte sie ihn, „Als Kollegen sollten wir das ändern.“

Er verdrehte die Augen genervt. „Wir sehen uns jeden Tag.“

„Aber nicht alleine“, fügte sie an, „Du weißt ja, wie schrecklich neidisch ich werde, wenn ich merke, dass du dich hier mit wem alleine triffst, mit mir aber keine Extrazeit verbringst.“

Er schnaubte kurz empört. „Also bitte.“

„Mit wem triffst du dich?“, fragte sie.

„Wenn du so weitermachst, werde ich wütend“, warnte er sie amüsiert vor. Es ging sie nichts an. Sonst würde sie noch darauf bestehen, zuzuhören, weil sie es für eine Partei-Besprechung halten würde.

Sie lächelte. Und das Lächeln wurde dann breiter, bis sie lachend den Kopf schüttelte. „Oh je.“

Er hob eine Augenbraue. „Was?“

Sie ließ sich weiter gegen das Geländer sinken. „Wir sind echt einsam. Wenn wir uns mit solchen Witzen die Zeit vertreiben …“

Er zuckte mit den Schultern. „Man gewöhnt sich an alles.“

„An dieses Dasein“, stimmte sie ihm zu, „Der Anfang war doch das Schlimmste.“

Er nickte. „Aber ich erinnere mich kaum noch.“

„Geht mir genauso …“ Sie seufzte. „Manchmal frage ich mich, ob der andere nicht der bessere Weg gewesen wäre …“

… Der andere Weg … Keine Todsünde zu werden. Das hatte er sich am Anfang manchmal gefragt. Aber nach dem Schwur hatte es sowieso kein Entkommen mehr gegeben. Und jemand musste den Platz besetzen … Doch mit der Zeit, mit der die Gleichgültigkeit kam, kam auch das Vergessen der Wünsche der Vergangenheit.

„Dieser Posten macht mit der Zeit aus jedem dieselbe Person“, fuhr Invidia leise fort, „Siebenmal dieselbe, mit kleinen Unterschieden … aber im Herzen …“

„Ja“, stimmte er leise zu, „Im Herzen ist uns doch wirklich alles egal …“

„Und genau deshalb frage ich mich …“, begann Invidia, stockte dann aber kurz, wohl um nach den rechten Worten zu suchen, „… wie Acedia und du weiterkämpfen können. Warum seid ihr gegen uns?“ Sie schaute auf. „Es ist spannend, also will ich nichts dagegen sagen, aber … langsam muss es euch doch egal werden, oder?“

„Vielleicht liegt es daran, dass wir alle jünger sind“, mutmaßte Ira, „Weniger lange Todsünden … oder dass wir beide Luxuria gekannt haben, bevor wir erhoben worden sind. Dass … da doch noch etwas von der Person zurückgeblieben ist, die wir einmal waren.“

„Deren Namen ihr nicht einmal mehr kennt.“ Sie lächelte. „Ich würde deinen Namen wirklich gerne erfahren. Dann könnte ich dir meinen Respekt zollen, Ira.“

„Ich auch“, gab er murmelnd zu, „Dann … würde ich mich auch wieder an ihren erinnern …“, fügte er leise hinzu.

Das entlockte Invidia ein weiteres Lachen. „Damals, als ihr erhoben worden seid – ich habe es bemerkenswert gefunden, dass ihr euch wirklich alle drei gekannt habt. Dass wirklich alle drei Todsünden fast zur selben Zeit gestorben sind …“

„Fast“, meinte Ira nachdrücklich, „Es waren etliche Jahre dazwischen. Ihr habt euch nur so viel Zeit gelassen.“

„Siehst du?“ Sie zwinkerte. „Warum dann eine Engelsversammlung nach bloß einem halben Jahr einberufen?“

„Weil Luxuria und Gula zu jung zum Sterben waren“, beantwortete er die Frage, „Ganz einfach.“

„Niemand sagt, dass sie tot sind.“ Sie schüttelte den Kopf. „Die Blamage, wenn wir neue Todsünden wählen wollten, es aber nicht funktioniert, weil die alten noch leben. Der Ärger, der auf uns zukäme, wenn wir herausfänden, dass zu junge Todsünden sterben …“

„Du verschließt die Augen vor den Problemen - in der Hoffnung, dass sie nicht existieren, bloß weil du sie nicht siehst“, klagte er sie an, „Denke darüber nach.“

„Du irrst dich …“, entgegnete sie ruhig, „Aber … mittlerweile ist es mir wohl einfach nur noch egal.“

Er sah sie stirnrunzelnd an. „Was?“

Sie suchte seinen Blick. „Die Probleme …“ Sie schweifte ab, schien durch ihn hindurch zu blicken. „Als Engel glaubt man, seine Welt sei perfekt. Man hat kaum Probleme, nur Lappalien lassen einen manchmal fallen und wieder aufstehen, nichts Großes … und doch hat einem alles einst irgendwie etwas bedeutet … Und wenn man dann zum Assistent wird, verpflichtet man sich, das Bedeutendste einfach aufzugeben, egal, was es war, egal, wie schwer es ist. Es muss weg. Mit dem Versprechen, dass man es als Todsünde wieder bekommt …“

Dieselben Gedanken hatte er auch gehabt. Bereits als Assistent war es ihm klar geworden … Aber es hatte damals schon kein Zurück mehr gegeben. … Doch tief drinnen … war es auch heute noch vergraben. Diese liebevolle Zuneigung …

„… doch mit der Zeit versteht man, dass einem als Todsünde gar nichts mehr etwas bedeuten konnte. Man kann nicht wirklich lieben, weil man Angst davor hat, dass, was auch immer man liebt, irgendwann zu Fehlern führen kann. Und damit zu einem Urteil … Die Angst, verlassen zu werden, für das, was man ist, was man tut … Die Angst, irgendwann alleine zu sein, weil man keine Zeit hat.“

„Lieber stößt man alle von sich, um nicht verletzt zu werden“, beendete er ihren Gedankengang leise, „… und endet damit, dass einem alles und jeder egal wird …“

„Gula habe ich immer beneidet“, erklärte sie, „So beneidet, dass ich fast wieder das Gefühl hatte, ein Gefühl zu haben … Dass er noch immer zu den Spielen flog …“

„Vermutlich hat er es getan, um die Gefühle, die er früher gehabt hatte, wieder zu erleben. Er war die jüngste Todsünde. Er war noch nicht so gleichgültig. Damit wollte er sich bestimmt davor schützen …“, vermutete er ruhig, „Gula hat das Spiel geliebt … Irgendetwas davon muss noch übrig gewesen sein und er wollte es nicht verlieren.“ … Wenn er sich vor so langer Zeit mehr angestrengt hätte – wäre es ihm auch gelungen? Wäre ihm alles weniger gleichgültig? Wollte er das überhaupt? Mitzufühlen, wenn jemand ein Verbrechen begangen hatte; jemanden zu bemitleiden, der bestraft wurde …

Die Blockade rührte sich.

Er hielt sich den Kopf. Was steckte nur dahinter? Risse … Er fühlte, dass dort Risse waren … Wurde sie schwächer?

Invidia stieß sich vom Geländer ab. „Gelernt habe ich nichts Neues“, beklagte sie sich. Aber sie lächelte ihn an. „Ich denke, ich werde jetzt wieder gehen. Wir sehen uns.“

„Warte“, hielt er sie ab. … Sollte er mit ihr darüber reden? Sie waren doch gegeneinander – aber sie hatte ihm auch gerade gesagt, dass es ihr einfach egal war, wer in dem „Spiel“ gewann. Für sie hatten weder Luxuria noch Gula eine Bedeutung gehabt … Nicht verwunderlich, wenn man mit einbezog, dass sie schon mindestens vier Kollegen hatte sterben sehen.

„Was?“ Sie lächelte weiter.

„Ich habe … seltsame Kopfschmerzen“, erklärte er. Engel fühlten eigentlich keine Schmerzen – außer vielleicht einmal Kummer oder anderes Herzeleid. Aber keine … körperlichen Schmerzen, wenn sie nicht zu lange ohne Licht waren. Oder verletzt wurden.

Sie kniff die Augen zusammen. „Was?“

„Da ist eine Blockade“, erklärte er ruhig, „Sie bricht. Hast du sie …?“

Sie schüttelte den Kopf, ihre langen Haare wippten dabei mit. „Nein … Das ist seltsam …“

„Gula hat sie ebenfalls gespürt“, meinte er, „Denkst du, das könnte etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben?“

Plötzlich grinste sie ihn an. „Wir werden es wissen, wenn du es uns sagst.“

Er rollte genervt mit den Augen. „Keine Panik, ich verschwinde dann nicht einfach so.“

„Versprich nichts, was du nicht halten kannst.“ Sie zwinkerte ihm zu, „Ich muss jetzt aber wirklich los. Ich brauche noch Freizeit, bevor die Arbeit weitergeht.“

„Bis später“, verabschiedete er sich monoton, „und du solltest weniger nachdenken.“ Das hatte jetzt nicht so geholfen, wie er es gehofft hätte. … Vielleicht würde Acedia es auch haben. Auch … wenn es seltsam zu wissen war, dass nicht alle Todsünden diese Blockade inne hatten … Warum?

Invidia grinste, winkte kurz und stürzte sich den Balkon hinunter. Er schaute ihr nach, wie sie auf der Wolkendecke landete und zur nächsten Treppe ging. … Was sie wohl machte?

… Aber eigentlich spielte das keine Rolle …
 


 

„Immernoch nichts“, wiederholte Acedia und rollte genervt mit den Augen, „Wofür habe ich dich überhaupt?“

„Zum Papiersortieren und Ordnerstapeln“, antwortete er flach, „Das weißt du doch.“

Sie schnaubte kurz. „Okay. Dann mach weiter damit. Und finde endlich mehr heraus! Ich will, dass der Täter überführt wird.“ Sie erhob sich so schnell, dass der Stuhl vom Schwung umfiel. Sie starrte ihn an, als wäre er der Übeltäter gewesen. Dann schritt sie anmutig an ihm vorbei, die lange Schleppe zog sie hinter sich her. „Ich habe einen Termin. Schau zu, dass du neue Informationen erhältst.“

Er nickte. „Natürlich, schon dabei.“

Sie schlug die Tür hinter sich zu.

Heute hatte sie wohl ganz üble Laune. Vermutlich hatten sie sie bei der Konferenz wieder fertig gemacht.

Nathan schüttelte den Kopf. Aber was konnte er dafür? Und was sollte er mehr tun, als Engel zu verhören? Natürlich hatte er ihr die Sache mit Kyrie verschwiegen – aber sie war auch nicht wichtig genug, um erwähnt zu werden. Als könnte Kyrie irgendetwas damit zu tun haben … Wie war er nur auf den Gedanken gekommen?

Hatte er irgendwie einen Todsünden-Instinkt, der ihn dazu trieb, überall Verbrecher zu sehen? Aber wie sollte er auch anders, wenn Acedia so fest davon überzeugt schien, dass er in der Lage sein würde, diesen Irren – oder diese Gruppe Irrer – zu fassen? Am liebsten wäre es ihm immernoch, wenn Xenon der Gesuchte wäre. Dann hätte er genug Gründe, um ihn zu fassen …

Er wandte sich dem Stuhl zu und hob ihn wieder auf.

Es war schon seltsam, dass Gula Kyrie das Blenden beigebracht hatte – aber … wenn er wirklich so viel Mitgefühl für sie aufgebracht hatte … wieso konnte er dann nicht einfach über Xenons Rang hinwegsehen? Wäre das denn nicht Gerechtigkeit?

Aber vielleicht machte er das auch öfters. So eine geheime Gula-Sache. Dass er jedem, dem er nicht die wahre Gerechtigkeit anbieten konnte, einfach eine Ersatz-Schwertkunst-Magie beibrachte … Es war bloß schade, dass es Kyrie nicht geholfen hatte. Es sie sogar noch mehr verängstigt hatte!

Was sollte er mit ihr bloß machen? Außer sie ständig zu beschützen natürlich … Er hatte sich jetzt einfach damit abgefunden. Und Acedia musste akzeptieren, dass er den Mittwoch mit seinen Freunden verbringen wollte. So war das einfach. Und was Kyrie betraf – für sie zählte nur noch das Mittwochstreffen. Mehr hatte sie im Himmel scheinbar nicht mehr zu tun. … Und das machte den Zeitaufwand eigentlich wett … Auch wenn sie mit dem Einwand, dass der Schwertkampfunterricht dadurch umsonst geworden war, recht hatte. Wenn er da war, brauchte sie nie wieder ihre Waffe zur Hand zu nehmen.

Er hingegen sollte jetzt irgendetwas zur Hand nehmen. Acedia schaffte es einfach immer wieder, seine Ordnung in totales Chaos zu verwandeln! Welchen Stapel hatte sie dieses Mal schon wieder vertauscht?
 


 

Das Gespräch mit Invidia beschäftigte ihn nach wie vor. Sie hatte seine Frage beantwortet. Nur leider nicht auf diese Weise, wie Ira das gerne gehabt hätte – aber es war ein Anhaltspunkt. Er sollte die Blockade also wohl doch vorbringen. Es war die einzige Blockade, die er bisher gehabt hatte – ein heftiges Ziehen durchfuhr seinen Kopf, er stützte ihn - … aber Superbia hatte bestimmt schon einmal eine gehabt, falls er auch keiner derjenigen war, die sie hatten … Er würde sicher wissen, was zu tun war. Ihm vielleicht sogar raten, zu Sin vorzutreten. … Oder ihn beruhigen, ihm zu erklären, dass er einfach an Gott glauben und das Öffnen der Blockade abwarten musste … Letzteres würde er ja bevorzugen, wenn diese seltsamen Schmerzwellen nicht immer …

Er keuchte erschrocken auf, als das Schwert ihn durchbohrte.

Ira starrte die Schwertspitze an, die in seiner Vorderseite herausragte, sogar durch den Balkon zu sehen war … und blutrot im goldenen Licht schimmerte.

Erinnerungen funkelten um ihn herum auf. Ein junger Mann, der zur Todsünde gewählt wurde. Ira, wie er Acedia nachschaute, wie alles in ihm sie vermisste, nichts weiter wollte, als sie zu umarmen – wie sie ihn abwies. Und er sie im nächsten Bild zurückwies … Erinnerungen an drei alte Engel, die sich schworen, ewig Freunde zu bleiben.

„Es tut mir leid“, durchbrach Acedias Stimme die Schatten der Vergangenheit. Sie war so nah. „So unendlich leid …“, flüsterte sie weiter.

Er schaffte es nicht, sich zu bewegen. Das Schwert steckte weiter in ihm … aber wieso befanden sie sich nicht in der Vergangenheit? Ein Engelsschwert …

Ein Engelsschwert durchbohrte ihn. Ließ ihn bluten … Acedias Schwert …

Acedia hatte ihn erstochen.

Plötzlich konnte er sich aus dem Schock befreien. Das Schwert blieb an Ort und Stelle. ... Wieso kamen keine Erinnerungen? Er sah sie an. Schaute in ihr schönes Gesicht, betrachtete ihr feuerrotes Haar, bemerkte die Kleidung, die sie bei der Konferenz auch schon getragen hatte … Bei der Konferenz – sie waren doch auf derselben Seite gestanden … Wieso …?

„Ein Engelsschwert mit einer Dämonenklaue versetzt“, erklärte Acedia leise, „Sie schwächen des anderen Wirkung, teilen sich aber den Platz …“

„Du kannst mich töten“, schloss Ira daraus. Ein Engelsschwert konnte im Himmel keinen Engel töten. Eine Dämonenklaue könnte es – doch die sollte nicht in den Himmel gelangen können.

„Ich töte dich“, verbesserte sie ihn leise. Schmerz sprach aus ihrem Blick. „Wie Luxuria und Gula vor dir …“

Ein Schauer überlief seinen Rücken. Er würde sterben. Er konnte sich bewegen, aber nicht entkommen. Er konnte mit ihr reden, war aber gefangen … Er streckte schnell die Hand aus. Er musste! Aber sein Schwert erschien nicht. Warum erschien es nicht?! … Er brauchte Hilfe! Er konzentrierte sich, wollte einen Ruf aussenden, seinetwegen einen Magneten – aber es ging nicht. Seine Magie blieb bei ihm. … Nein … Moment.

Was geschah mit ihm?

Er starrte seine Flügel an. Die hinteren Federn fingen an, abzufallen. Und noch im Flug verschwanden sie im Nichts. Seine Augen weiteten sich. „Nein …“, hauchte er.

„Doch, Ira …“, entgegnete sie.

„Ich kann das nicht glauben!“, rief er ihr entgegen. Warum konnte er sich nicht ganz umdrehen? Er wollte sie … er wollte … Was wollte er? Warum … warum konnte er das so gut hinnehmen? Acedia tötete ihn gerade! Wo war seine Wut? Seine Enttäuschung?

Aber nichts war dort … Gar nichts. Nur Unglaube. Das konnte doch unmöglich gerade geschehen! Bei der Konferenz waren sie Seite an Seite gesessen, hatten für dasselbe Ziel gestimmt, hatten … dasselbe Ziel.

„Du tötest mich, dass die Engelsversammlung einberufen wird“, wurde ihm plötzlich klar. Als sie nickte, fror er fest. „Du hast Gula und Luxuria umgebracht … und jetzt bringst du mich um.“

Sie bejahte erneut. „Schwer zu fassen, oder?“

„Unglaublich“, hauchte er, „Warum, Acedia? Wie kannst du das nur …“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Geschichte würde länger dauern als der Rest deines Lebens …“, murmelte sie.

Er wusste einfach nicht, wie er darauf reagieren sollte. Acedia tötete ihn. Acedia, der Engel, den er geliebt hatte. Seine beste Freundin. Die Person, mit der er aufgewachsen war. Die ihn immer begleitet hatte. Mit der er letztendlich zur Todsünde gemacht wurde. Wieso tötete ihn Acedia? Das war doch … unmöglich. Unglaublich. Unlogisch. Er konnte das nicht akzeptieren … Vor allem, weil kein Schmerz ihn durchzuckte. Der Himmel hielt den Schmerz ab … Er stand dort, erstochen, sein Licht, seine Magie, seine Seele, sein Dasein, seine Erinnerungen wurden ihm langsam herausgezogen – und er fühlte es nicht einmal! Wie sollte er es da glauben? Und dann noch so plötzlich und … von ihr …

„Luxuria und Gula haben mich auch so angesehen …“, erzählte sie leise, „So überrascht … nicht einmal enttäuscht … beinahe, als ob sie es erwartet hätten …“ Sie schüttelte den Kopf. „Luxuria hat es für einen Racheakt gehalten – für dich … für früher … Gula hingegen hat sofort darauf geschlossen, dass ich auch Luxuria umgebracht haben musste …“

Luxuria war tot. Gula war tot. … All die Zeit hatte er für genau den Fakt gekämpft – und doch ging es ihn durch Mark und Bein, das zu hören. Er hatte daran glauben wollen, dass es nicht so war. Dass sie vielleicht doch noch auftauchten. Aber … er bezweifelte es jetzt wirklich.

„Hast du ihre Erinnerungen angesehen?“, knurrte er. Ein Knurren. Konnte er jetzt doch Wut aufbringen? Er musste … Er war doch Ira. Wenn nicht er wütend auf sie war – wer dann?

„Ich habe sie behalten“, beantwortete Acedia die Frage kaum hörbar, „Aber … wenn die Engelsversammlung …“

„Lösch sie!“, rief er ihr entgegen. Das war keine Wut. Es war Sorge. Warum sorgte er sich um seine Mörderin? Was war los mit ihm?! „Lösch sie sofort! Du drehst völlig durch, wenn …“

Ein freudloses Lachen ließ ihn innehalten. „Völlig durchdrehen?“, wiederholte sie ungläubig, „Ich töte dich gerade, Ira!“ Ihre Stimme wurde lauter. „Ich habe meine Verbündeten getötet, töte meine Freunde … Ich töte dich“ Ihr Mund war geöffnet. „Wie könnte ich noch mehr durchdrehen?“

„Deine Ziele, Acedia – wieso …?“ Er sank auf die Knie. Die Kraft hatte ihn verlassen. Wenn er es zumindest spüren könnte, wie er schwächer wurde! So könnte er wissen, wie viel Zeit ihm noch blieb! Aber auf diese Weise … Wo war der Schmerz? Die Warnung …? Seine Flügel verloren mehr und mehr Federn.

„Ich muss die Erde zerstören, Ira“, eröffnete sie ihm.

Plötzlich fühlte er sich, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Fühlte, dass er sich übergeben musste. „Was redest du da?!“ Er wollte sie schütteln, bis sie zur Vernunft kam. Aber seine Arme sackten bereits herab. Das Schwert stützte ihn.

„Die Menschen schwächen Gott …“ Sie redete wieder leise, „Wenn sie alle sterben … kommt sein Licht zu ihm zurück. Er kann die Engel schützen. Kann gegen die Dämonen siegen …“

„Hältst du dich für Gottes Leibwache?“, fuhr er ihr sie an – soweit das noch möglich war.

„Er wird sterben, Ira“, meinte sie, „Bemerkst du nicht, wie viele Dämonen plötzlich auf der Erde weilen? Wie schwach Sin ist? Wie viele Halbengel geboren werden?“

Seine Blockade meldete sich wieder. Dieser Schmerz durchzuckte ihn wie ein Blitz. Wie ironisch, dass er das Offensichtliche nicht wahrnahm, ein Hirngespinst ihm aber Schmerzwellen durch den Körper jagte …

„Das ist falsch“, entgegnete er mit zusammengebissenen Zähnen. Er wollte seinen Kopf halten. Er fühlte sich plötzlich so schwer an. Als würde er damit jeden Moment auf den Boden aufschlagen.

„Das sagt ihr“, murmelte Acedia, „Aber … wir werden sehen. Die Engelsversammlung wird mein Schlüssel zum Sieg sein.“

Er suchte ihren Blick. „Tu das nicht, Acedia … Gott wird …“

Sie schüttelte den Kopf. „Er hat mich bisher nicht aufgehalten.“

Ein weiterer Schauer durchfuhr seinen Rücken. Sie hielt sich wirklich für Gottes Auserwählte. Was nur war mit ihr geschehen? Wie hatte das so weit kommen können? Warum hatte er nichts von ihrer Veränderung bemerkt?

„Seit … wann …“, stieß er angestrengt hervor.

„Über 400 Jahre“, antwortete sie. Dann nickte sie ihm zu. „Schau, du löst dich auf …“

Er folgte ihrem Blick. Seine Flügel waren beinahe komplett aufgelöst. Mittlerweile starteten auch seine Hände damit. Seine Arme verschwanden. Seine Beine … Und er konnte nur zusehen.

Die Schwertspitze leuchtete noch immer im selben Rot wie ihr Haar.

„Verzeihe mir, bitte …“, murmelte sie, „Aber … es ist für einen höheren Zweck. Das Wohl aller …“

„Der Zweck …“, entgegnete er, wobei er sich nicht sicher war, ob sein Mund überhaupt noch existierte, „… heiligt nicht die Mittel.“

Das Schwert wurde zurückgezogen.

Er kippte nach vorne, gegen das Geländer.

Sein Kopf kam am Boden auf. Er schaute zu Acedia. Sie starrte ihn an. Wischte sich kurz übers Gesicht. „Verzeihe mir …“, wiederholte sie. Und dann löste sie sich in Licht auf.

Er … er musste etwas tun … Er musste jemanden warnen … Das konnte doch nicht ihr Ernst sein … Sie konnte doch nicht … die Erde … nicht … sie … Acedia … die immer so voller Liebe war … Seine geliebte Acedia ...

Ira war tot.

Ira. Das war nicht immer sein Name gewesen. Aber es war der einzige, an den er sich erinnerte. Wann würde er wieder zu seinem alten Ich finden? Und wann würde er sich an die Namen seiner Freunde erinnern können? Warum konnte er nicht endlich sterben? Wie lange wollte man ihn noch leiden lassen? Er war tot! Tot genug. Unfähig sich zu bewegen, nur noch in Erinnerungen schwelgend, ohne dass er sich überhaupt an sein altes Ich erinnern konnte … Wann nur hatte er angefangen, alles falsch zu machen?
 

Acedia und Luxuria waren einst ebenfalls einfache, kleine Engelchen gewesen. Sie hatten sich beim Schwertkampfkurs getroffen. Sie waren alle erst zehn Jahre alt gewesen. Stark für ihr Alter, wohl wahr, aber ungeübt genauso.

Und so hatte ihr gemeinsamer Kampf begonnen. Der Kampf dreier Freunde, deren Weg ein gemeinsames Schicksal bereithielt.
 

Die kleine Blondine, deren Lächeln ihn von Anfang an bezaubert hatte, schwang ihr Schwert mit einer Anmut, die beinahe Neid erweckte. Es war kein Kampf, es war ein Tanz. Und ihr langes Haar schien ihr nachzuschweben wie ein drittes Flügelpaar.

Währenddessen tat die engagierte Rothaarige ihr Bestes, um ihrer Freundin eine gute Rivalin zu sein. Sie übte, hart mit dem Schwert zuzustoßen, auch wenn ihre Taktik fehlerhaft und ihre Bewegung noch lange nicht so graziös war, wie die der anderen. Aber sie hatte keinen Skrupel, den entscheidenden Stich zu setzen, was die andere nicht über sich brachte.

Ira selbst war ebenfalls ein mittelmäßiger Schwertkämpfer. Wenn er die anderen um ihn herum betrachtete, fühlte er sich ziemlich unterlegen, aber keiner der anderen forderte ihn zum Kampf auf. Nur die beiden, mit denen er zufällig in eine Gruppe gesteckt worden war.

„Dämonen legen keinen Wert auf Fairness“, betonte ihr Meister, „Dämonen nutzen jeden Vorteil. Der Einzelkämpfer der Dreiergruppe ist der Engel.“ Dann gab er das Signal. „Kämpft!“
 

Luxuria und er hatten gegen Acedia gekämpft und gesiegt. Acedia und er hatten es geschafft, Luxuria zu besiegen – und er wurde von den beiden ebenfalls fertig gemacht. Allerdings nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mit Worten und lässigen Sprüchen. Wie sie zusammenhielten – beste Freunde, die einander unterstützten und ergänzten.

Er wusste nicht mehr, was er damals über Acedia gedacht hatte. Vermutlich hatte er sich von ihr einfach freundschaftlich angezogen gefühlt. Und so verbrachten sie auch außerhalb des Unterrichts Zeit miteinander. Alle drei. Sogar noch, als sie alt und grau waren.

„Ta~daaa!“, rief Acedia lang gezogen und stolz aus, während sie das Stück Licht-Kuchen vor sich mit einem überlegenen Lächeln bedachte, „Alles Gute zum Geburtstag!“

„Ich habe aber nicht Geburtstag“; entgegnete Ira belustigt.

„Aber den Kuchen nimmst du doch“, bekräftigte Acedia und schob ihm das Stück zu, „Sonst hätte ich ihn ja umsonst gezaubert.“

„Das hat dich ja so viel Mühe gekostet“, spottete Luxuria amüsiert und griff nach dem Kuchen.

„Hey“, begehrte sie unernst auf, „Das ist ein Meisterwerk!“ Sie grinste schief und zog den Kuchen weg. „Und für Ira!“

„Ich verstehe schon“, meinte Luxuria grinsend, „Dann lass ihn dir schmecken, Ira.“ Sie zwinkerte ihm zu, was auf ihrem Gesicht noch viel mehr Falten auftat.

Mittlerweile kannten sie sich seit siebzig Jahren. Sie verbrachten die ganze Zeit miteinander. Sie hatten sonst nichts zu tun. Sie hatten keine Pflichten, keine Aufgaben … und doch hatten sie Spaß. Ihr Leben war nicht langweilig – sie genossen den Zyklus in vollen Zügen, besaßen keine Geheimnisse voreinander und sie traten auf wie ein und dieselbe Person. Und dennoch begann er irgendwann damit, Unterschiede zwischen Luxuria und Acedia zu entdecken.

„Ich wette“, sagte Acedia dann frei heraus, „Dass ihr keinen so detailreichen und konsistenten Kuchen erschaffen könnt.“

Er riss sich von ihrem Gesicht los und starrte den Kuchen weiter an. Er war wirklich detailliert ausgearbeitet. Er war verziert und geschmückt und sogar die Stellen, an denen er eingeschnitten werden konnte, waren zu sehen. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen.

„Ich lege auf Genauigkeit ja ziemlich viel wert“; fügte sie noch triumphierend hinzu.

„Dann sieh dir einmal das an“, meinte Luxuria, „Ich habe geübt.“ Und schon entstand vor ihr ein Spiegel – genauso voller Schnörkel und anderem Krimskrams wie Acedias Kuchen, nur dass er auch funktionierte. Ira konnte sich darin betrachten.

Er sah den Buckel, den er hatte, die runzlige Haut, die ihn uralt erscheinen ließ und betrachtete seine Haare, die zum Glück noch immer dieselbe Farbe hatten wie früher.

Anders als das seiner beiden Freundinnen – das Haar der einen war von silbernem Glanz, während das der anderen schon komplett weiß erstrahlte, als wäre sämtliches Leben aus ihm ausgehaucht. Noch zwanzig Jahre, dann wären sie hundert. Und dann würde es nur noch besser werden. Aber auch wenn das Alter schmerzhaft aussah, so bereitete es ihnen keine Nachteile. Es ging nur ums Äußere, das sich veränderte. Und um die Bewegung, die etwas eingeschränkt wurde. Der Zyklus war schon etwas Besonderes.

„Tu den Spiegel weg“, forderte Acedia sie betroffen aus, „Das lässt mich so alt aussehen.“

„Du bist alt“, betonte Luxuria, „Genauso wie wir beide.“ Sie schaute zu ihm. „Findest du mich alt?“

„Alt, aber hübsch“, antwortete er aufrichtig, was ihm ein Lächeln von ihr einbrachte. Ihre Haare waren zu einem langen Zopf geflochten.

„Ich bin hübscher, oder?“, kam es sogleich von Acedia, „Ich meine – schau dir diese Falte an.“ Sie deutete auf ihre Wange. „Die muss dein Herz doch höher schlagen lassen!“

Luxuria lachte glockenhell. „Natürlich, meine Liebe.“ Und sie sagte ihren Namen. Aber der war aus seiner Erinnerung gestrichen worden. Wie aus der Erinnerung aller anderen Engel. „Natürlich …“
 

Die Jahre zogen weiter ins Land und aus den Alten wurden wieder Kinder. Und noch immer verstanden sie sich prächtig – sie liebten einander wie beste Freunde. Sie vertrauten einander. Und sie rivalisierten untereinander. Es war keinen der drei entgangen, dass sie stark waren. Stärker als andere. Stärker, als sie sein wollten.

„Langsam macht es mir Angst“, gestand Luxuria mit zitternder Stimme, „Ich meine … seht euch nur an, wo wir uns befinden!“

Sie hatte Recht. Es war gefährlich, als starker Engel in die Nähe des Turms der Ränge zu gehen. Aber sie mussten sich selbst beweisen, dass sie es schaffen konnten.

„Es ist vermutlich wirklich töricht“, stellte die kleine Acedia fest, die wieder beinahe genauso ausschaute wie vor zweihundert Jahren. Zweihundert Jahre tiefer Freundschaft. … Warum schlug Iras Herz dann so fest, wenn er sie ansah? „Aber ich muss es wissen.“ Warum wollte er sie im Arm halten und war unzufrieden damit, sie nur aus der Ferne zu betrachten?

„Warum muss eure Rivalität so ausarten?“, fragte Ira und fühlte sich wie die letzte Stimme der Vernunft. Hatten sie völlig den Verstand verloren? Auch wenn er nicht besser war. Er machte immerhin mit.

„Wer den höchsten Punkt erreicht“, legte Acedia fest, „… der ist der stärkste Engel!“

„Und wenn uns ein Rang erwischt?“, warf Ira ein, „Ich habe echt keine Lust, als Assistent zu arbeiten, während ich noch nicht einmal aus meinem Zyklus draußen bin.“

„Spielverderber“, gab Acedia zurück und zeigte ihm die Zunge.

Er schaute beleidigt weg. Aber nur, um zu kaschieren, dass er errötete. Warum reagierte er so peinlich? So … kindisch?

„Keine Panik“, beschwichtigte Luxuria ihn langsam und veralbernd, „Die fressen einen schon nicht auf! Und so stark werden wir wohl auch nicht sein.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Er seufzte.

„Machst du also mit?“, fragte Acedia, „Derjenige, der am weitesten hoch kommt, bekommt eine megagroße Lichttorte von den Verlierern!“

„Dann fangt schon einmal an zu backen!“, riet Luxuria ihnen und startete nach weiter oben los.

Er hatte einfach schon von Anfang an das Gefühl gehabt, dass es eine schlechte Idee gewesen war, das zu tun. Und dennoch war auch er nach oben geflogen.

Und Acedia hatte gesiegt.


 


 

Heilloser Schmerz ließ Nathan aufschrecken. Sein Körper fühlte sich an, als würde er explodieren, gleichzeitig in alle Richtungen zerfallen. Als würde die Magie platzen, seine Hülle aufbrechen, sich selbst total versengen. Er starrte auf seine Hände, die zitterten, die er dadurch kaum wahrnehmen konnte, wobei es ihn dennoch überraschte, sie nicht rot aufglühen zu sehen. So heiß … diese Hitze … Und nur ein Name loderte in ihm auf: Acedia.

Was war mit ihr? Was geschah mit ihr?

Er stand in Acedias Büro, war gerade damit fertig geworden, alles aufzuräumen – und plötzlich realisierte er, dass er am Boden lag, dass er sich krümmte, alles aneinander drückte. Er musste weg. Er musste zu ihr. Sofort zu ihr. Acedia.

Wenn er jetzt nicht ging, würde er verglühen! Sein Kopf würde platzen, der Schmerz darin war kaum aushaltbar – Acedia rief jede Schmerzwelle, rief jeder Partikel seines Körpers. Wo war sie? Links? Rechts? Oben?

Oben. Ja, oben … hoch … zu ihr …

Er konnte sich nicht einmal genug koordinieren, um ein Oben feststellen zu können. Er musste sich teleportieren. Zu ihr. Jetzt.

Und als er sich auflöste, brannte noch immer alles in ihm. Erst, als er direkt vor ihr stand, hörte es auf – und als er so viele Engel sah, wie er schon lange nicht mehr gesehen hatte, konnte er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen: eine Engelsversammlung.

„Der Magnet“, hauchte er. Wie lange hatte er gebraucht, um zu reagieren? Bestimmt keine fünf Sekunden. Und doch hatte sich dieser Schmerz ewig angefühlt. Wenn er länger gewartet hätte, hätte dieser ihm bestimmt noch das Bewusstsein geraubt.

Sofort blickte er zu Acedia, versuchte zu realisieren, was gerade vor sich ging.

Er schien auf einer riesigen Bühne zu stehen, Unmengen an Engel wanderten an ihm vorbei – und sie wirkten alle in etwa so erleichtert wie er selbst. So erleichtert, dass sie die quälenden Schmerzen losgeworden waren.

Acedia stand dort am Abgang – natürlich. Sie hatte den Magneten abgesendet, alle würden zu ihr wollen. Und von dort konnten sie hinab geleitet werden auf den großen Platz vor dem Turm der Ränge. Auf diesem stand auch eine Erhöhung, vermutlich von den Todsünden oder vom Siebten Rang gefertigt und spontan aufgestellt. Und es kamen immer mehr Engel.

Er zog seinen imaginären Hut vor jenen, die erst jetzt – oder sogar noch später – kamen. Der Magnet hatte auf jeden Engel dieselbe Auswirkung. Also musste jeder durch dieses Höllenfeuer gelaufen sein, ehe er sich entschieden hatte, hierher zu kommen. Er warf einen kurzen Blick ins Publikum, um zu überprüfen, ob einige seiner Freunde bereits da waren. Aber er konnte in dem Gewirr keinen erkennen. Und vermutlich wurden sie dazu angehalten, unten zu bleiben, um Ordnung zu bewahren.

„Auch schon da, Schlafmütze?“, neckte ihn Xenon sogleich. Was sprach er ihn jetzt plötzlich an, als wären sie Verbündete?

Nathan drehte sich zum Assistenten um. „Was ist passiert?“, wollte er kühl wissen.

„Ira ist nicht erschienen“, erklärte er, „Trotz des Schwurs an Sin.“

Nathan spürte, wie seine Augen sich weiteten. Ira war weg. Sie nahmen es als Beweis, dass Luxuria und Gula ebenfalls nicht wiederkommen würden – Acedias Gruppierung hatte gewonnen. … Nein. Acedia hatte gewonnen. Ihre Gruppierung existierte nicht mehr. Jemand hatte sie alle ausgelöscht. Er schaute zu der Todsünde, die vor all den Engeln stand. Sie wäre im Moment ungeschützt! Was auch immer das Ziel des Täters war – die Wahrscheinlichkeit, dass auch sie auf seiner Abschussliste stand, schien ihm zum Greifen nahe.

„Wir müssen Acedia beschützen!“, wies er Xenon erschrocken an, „Jemand wollte diese Engelsversammlung verhindern. Wenn Acedia sie jetzt einberufen hat, ist sie in Gefahr!“

„Das haben die anderen Todsünden schon festgestellt, Schlaumeier“, bemerkte er, „Und sie haben festgelegt, dass es in diesem Fall Nachfolger geben soll.“

Nathans Herz machte einen Satz – und schien danach stehen zu bleiben. Nachfolger. Nein. Er konnte das nicht ernst meinen. Er konnte das doch jetzt nicht wirklich ernst meinen! Plötzlich verlor es gewaltig an Bedeutung, dass Acedia ihr Leben verlieren könnte. Er kapierte nun, worauf das hinaus laufen würde.

„Sie waren nicht nur in der Fraktion für die Engelsversammlung“, erklärte Xenon gelassen, „Sie hatten auch alle keine Assistenten zur Hand.“

„Ich kann keine Todsünde werden“, mischte sich plötzlich jemand ein.

Nathan schaute zur Sprecherin – er hatte sie schon manchmal gesehen. Sie war auch eine Assistentin. Sie hatte rabenschwarzes Haar und leuchtende grüne Augen, außerdem wirkte sie ziemlich jung.

„Ich muss noch auf mein Halbengelchen aufpassen“, fuhr sie fort, „Auch wenn ich mehr Erfahrung hätte als ihr beide zusammen.“ Ihre Worte ließen ihn zusammenzucken. Halbengel. Kyrie. Verflucht! Er hatte total auf sie vergessen! Der Magnet. Kyrie würde es doch alleine hoch geschafft haben, oder?! Xenon war hier. Er konnte ihn für sie im Auge behalten. Sie brauchte keine Angst zu haben. Kurz überblickte er das Publikum, aber er nahm nicht wirklich etwas war. Kyrie … Er könnte zu einem Nachfolger werden. Er würde zu einem Nachfolger werden. Alles in ihm schien zu blockieren – er fühlte sich taub und stumm und hilflos. Herumgeschubst und klein.

Dabei fiel sein Blick auf Xenon, der bei der Bemerkung der anderen Assistentin die Augen kurz zusammenkniff. „Ich finde, das ist ein guter Grund, um doch Todsünde zu werden. Dann würdest du deine Zeit nicht mit einem nutzlosen Halbengel verschwenden.“

„Sie ist nicht nutzlos!“, fuhr die Assistentin ihn an, „Und ich bin froh, weiterhin Assistentin bleiben …“

„Nathan!“, erklang Acedias fordernde Stimme. Die Stimme durchbrach seine innere Taubheit nicht. … Nachfolger.

Er warf noch schnell einen Blick ins Publikum, nahm aber immernoch nicht wirklich etwas wahr. Kyrie würde keinem Magneten widerstehen können. Das ging doch gar nicht. Sie war hier. Hoffentlich passten die anderen auf sie auf, bis das alles vorbei war … nein. Nein, das würde nie wieder enden, wenn er heute zur Todsünde ernannt würde. Er würde keinen seiner Freunde in nächster Zeit begegnen. Sie mussten einen Todsünden-Mörder finden. Sie mussten eine Massen-Panik vermeiden. Er würde einer der mächtigsten Engel werden. Und mit Macht kam Verantwortung. Eine, die er nicht tragen konnte.

Er flog zu Acedia, ohne ein weiteres Wort, ohne sich sonderlich zu beeilen. Er würde sich irgendwann aber die Zeit nehmen, sie zu besuchen. Ihnen zu erklären, dass er das alles nicht wollte. Dass er es immernoch nicht wirklich glauben konnte. So schnell könnte sich sein Leben doch nicht einfach verändern? So ohne Vorwarnung. Von einer Sekunde zur nächsten.

Er stand vor ihr. Neben ihr standen die Engel vom vierten Rang, die die ankommenden Engel anwiesen, weiterzugehen.

„Ich bin nicht bereit, eine Todsünde zu werden!“, erklärte er ihr sofort, ruhiger, als er geglaubt hatte, „Ich kann nicht …“

„Ihr drei seid die einzige Möglichkeit, dass wir eine Chance haben“, keifte sie ihn an, „Du tust also gefälligst, was ich sage.“

„Wo sind die anderen Todsünden?“, wollte er wissen.

Sie nickte in eine Richtung. „Ich habe ihre Magie für den Magneten benötigt“, erklärte sie ihm, „Sie ruhen sich gerade aus, bis ihre Kräfte zurückkehren.“ Sie wirkte ungehalten. „Aber noch fehlen mir ziemlich viele Magiereste. Was hält diese ganzen Engel so lange auf?“

„Keine Ahnung“, sagte er, „Aber … ich … Du kannst mich doch nicht jetzt ernsthaft zu irgendeiner Todsünde ernennen!“

„Und ob ich das kann“, gab sie zurück, „Ihr werdet brav da vorne stehen. Sobald genug Engel da sind, um den anderen ihre Magie zurückzugeben, wird die Versammlung beginnen.“

„Und dann?“, fragte er, „Was soll aus mir werden?!“

„Werde doch einfach zu Ira“, fuhr sie ihn an, „Das passt dann gut.“

„Danke für den Tipp“, maulte er, „Aber ich bin echt nicht darauf vorbereitet und …“

„Was hast du erwartet?“, forderte sie genervt zu wissen, „Dass wir herausfinden, dass die Todsünden sterben und darauf warten, dass sie sich auf Null reduzieren? Wofür, glaubst du, hast du all die Zeit gekämpft?“

„Die Wahrheit!“, entgegnete er aufgebracht. Plötzlich stieg Wut in ihm auf. Wie konnte sie ihm das antun?! Sie wusste doch selbst, dass er das nicht schaffen würde! Dass er das mit dem Assistent-Sein noch immer nicht ganz drauf hatte! Dass er seine emotionalen Bindungen nicht lösen konnte, dass er noch zu gut war – das ganze würde ihn zerstören! „Dafür, dass allen Engeln mitgeteilt wird, was vor sich geht und …“

„Und doch hast du dir keine Lösung überlegt“, kritisierte sie ihn, „Also sei mit meiner einverstanden.“ Plötzlich wirkte sie erleichtert. „Es sind fast alle da … Wir können anfangen.“

„Was ist mit den Fehlenden?“, wollte Sonntag wissen. Er warf sein orange-rotes Haar zurück, das ihm dann über die Schulter fiel und musterte Acedia aus seinen silbernen Augen kritisch.

„Exekution“, antwortete sie, „Sobald sie da sind. Sie sind zu spät.“ Und damit schritt sie los. Nathan folgte ihr sofort.

„Warte, du kannst das nicht ernsthaft …“ Er fühlte sich wie in einem schlechten Film. Er konnte doch nicht so einfach zur Todsünde ernannt werden! Er wäre doch ein Acedia geworden. Er wäre jetzt noch Assistent geblieben. Er wollte jetzt keine Todsünde werden! Er hatte doch nicht das Zeug dazu! Alleine die Sache mit Kyrie bewies das! Der Umstand, dass Ira vermutlich irgendwie gestorben war, obwohl er mitten in den Ermittlungen stand …

Acedia stellte sich auf die Bühne. Wenn es vorher bereits still gewesen war, so schien es jetzt totenstill. Niemand wagte es mehr, sich zu rühren. Ihn mit eingeschlossen. Nathan stand knapp hinter ihr, badete in ihrer Autorität, die seine Gedanken scheinbar verstummen ließ. Eine Engelsversammlung …

Xenon und die anderen beiden Assistenten befanden sich neben ihm.

… Dann … dann würde sein Leben jetzt also für immer anders werden.

Sein Blick ging durchs Publikum. Dann wollte er als Nathan Joshua zumindest noch einmal sehen. Nathan … Sein Name war Nathan. Irgendwie hing er daran. Er hätte ihn sich irgendwann einmal aufschreiben sollen. Vielleicht hätte er sich dann noch daran erinnern können.

Aber es war ohnehin zu spät, noch irgendetwas auszurichten. Acedia würde sprechen, die Engel würden folgen.

„Engel“, begann Acedia ihre Rede. Wie sie alleine dort stand …

Er schaute sich um. Die drei verbliebenen Todsünden hatten sich jetzt nach hinten geschleppt. Das Publikum konnte sie in dieser geschwächten Form hoffentlich nicht sehen, sonst würde das sofort eine Panik auslösen.

Der vierte, fünfte und sechste Rang stand bei den Todsünden, schien sie schützen zu wollen. An den Seiten standen auch einige von ihnen, vermutlich, um bei einem Anschlag auf Acedia einschreiten zu können.

… Ob Sin wohl erscheinen würde, um diesen Tag mit ihnen zu verbringen?

Eher nicht. Sin war auch bei der letzten Engelsversammlung, damals, als Gula ernannt worden war, nicht erschienen. So, als ginge es ihn nichts an …

Nathan fühlte sich von der Welt im Stich gelassen. Warum durften sie einfach so über seinen Kopf hinweg Entscheidungen treffen? Warum war er gekommen? Warum hatte er sich von dem Schmerz leiten lassen … Er wollte bei seinen Freunden stehen. Er wollte keine Todsünde sein!

„Wir sind heute zusammengekommen, um euch über Begebenheiten zu informieren, die in letzter Zeit stattgefunden haben, meine Freunde …“, rief sie, als hätte sie das schon hunderte Male geprobt, „Es hat Angriffe auf die Ränge gegeben, immer wieder, in letzter Zeit immer häufiger.“

Einige Engel nickten zustimmend, doch noch immer hielten sie alle ihren Mund, um den Worten der Todsünde zu lauschen.

„Und nachdem Luxuria und Gula bereits Opfer des Angreifers geworden sind, haben sie auch Ira ausschalten können“, gab sie voller Bedauern in ihrer Stimme preis, „Doch wir werden nicht aufgeben!“ Sie faltete ihre Hände, als würde sie beten. „Wir werden uns gegen sie stellen, wir werden herausfinden, wer sie sind, was sie tun.“ Langsam schaute sie durchs ganze Publikum. „Und das werden wir tun, indem wir neue Todsünden auswählen – wir werden unsere Gebräuche abändern, um dem Problem habhaft zu werden!“

Die Engel schauten sie teils geschockt, teils erleichtert an, doch noch immer drang kein Laut hervor, der ihre Rede unterbrechen hätte können.

„Doch dafür brauchen wir euch, meine Engel“, erklärte sie, „Die Kraft der Engel ist einzigartig – und nur durch eure Energie können wir neue Todsünden ernennen. Denn euer Licht wählt uns aus. Deshalb sind wir heute hier versammelt. Um dem Todsünden-Mörder den Kampf anzusagen! Um ihm zu verdeutlichen, dass wir nicht aufgeben!“ Ihre Worte klangen hart. Wenn man es so aus ihrem Mund hörte, so direkt und unleugbar, schien es noch unwirklicher zu werden, dass das wirklich möglich sein sollte. Engel zu töten. Wie nur?

Unsicheres Nicken folgte, doch noch immer sagte niemand ein Wort. Denn jeder wusste, was so eine Entscheidung bedeutete. Alle, die hier waren, würden ihre Magie widerstandslos abgeben, denn jeder wusste, dass die Stärke der Todsünden von jedem einzelnen Engel abhing. Darum auch die Höchststrafe für ein etwaiges Nichterscheinen – weil jedes fehlende Stück Licht die neuen Todsünden für immer schwächer hielt, als sie eigentlich sein sollten.

„Alle Engel, die ihr hier anwesend seid, tut eure heilige Pflicht, verschreibt mir euer Licht, sodass ich sie ernennen können werde!“

… Sie ernennen … Sie meinte wohl eher: Ihn ernennen. Zu einer Todsünde. Und er würde sich selbst dabei helfen … Am liebsten hätte er Einspruch erhoben. Doch dazu hatte er kein Recht. Es war eine Engelsversammlung, die Engel hatten zugestimmt. Und was sonst sollten sie tun? Je mehr starke Engel die Macht der Todsünden innehatten, desto eher hatten sie eine Chance. Denn Engel waren eine Gemeinschaft, die einander half und einander beschützte.

Er war ein Engel. Und er musste jetzt seine Pflicht als Engel tun.

Also gab auch er sein Licht, genau wie Xenon und die anderen beiden Assistenten. Auch wenn er sich trotzdem noch immer wünschte, dass er sich über den Schmerz hinweggesetzt hätte, irgendwohin fliehen hätte können und jetzt nicht hier stand. Er würde das alles nicht schaffen. Das war zu groß für ihn.

Trotzdem floss sein Licht zu Acedia.
 

Kyrie glaubte, verbrennen zu müssen.

Alles in ihr schmerzte, alles an ihr schien zu verkohlen – und es hörte nicht auf, hörte einfach nicht auf, so weh zu tun. Es quälte sie. Sie konnte sich nicht bewegen.

Keine Stimme drang an ihr Ohr, nichts konnte sie mehr erkennen. So musste es sich anfühlen, wenn man starb. Wenn man plötzlich ganz alleine irgendwo war, wenn man keinen Halt mehr hatte und wenn man wusste, dass das die einzige Möglichkeit wäre, sich aus dem Schmerz zu befreien. Tot.

Nur, dass jede Schmerzwelle ihr einen Namen zurief: Acedia, rief er laut und lauter, Acedia, Acedia, Acedia. Ihr ganzer Körper jedenfalls schrie danach, in den Himmel zu gehen, dorthin zu gehen, zu Acedia. Alles in ihr wollte sie dazu bewegen, da hoch zu gehen, sich zu beeilen, um dem Schmerz ein Ende setzen zu können. Doch etwas stellte sich dem Schmerz in den Weg. Angst. Angst mit der Hoffnung, dass Nathan kommen würde, um sie abzuholen.

Er hatte es ihr sooft versprochen – er musste kommen. Er musste einfach. Er wusste ja, wo sie war. Er würde sie finden. Als könnte er auch kommen. Also könnte er sie auch beschützen. Könnte sie wieder befreien, wie er es schon einmal getan hatte …

Der Magnet … warum bewahrte er sie nicht davor?

Acedia.

Warum kam er nicht endlich, um ihr zu helfen? Er wollte doch ihr Schutzengel sein! Sie würde sich nicht rühren, bis er da war, sie würde einfach hier liegen bleiben … und dahinfristen … und hoffen, dass das aufhören würde. es sie immernoch an, Acedia! … Ira … Gula … Luxuria … Die neuen Laute gingen unter dem riesigen, betonten Acedia beinahe unter, doch sie spürte sie ganz klein und leise, wie sie den Namen unterstrichen … Was … was sollte das bedeuten? Warum …

Acedia, wies es sie hin, Acedia.

Jemand musste ihr helfen … oder etwas … Ein Wunder. Genau – ein Wunder, das war es, was sie jetzt brauchte … während sie hier so lag … und sich fühlte, als würde sie sterben.

Acedia.
 

„Kyrie!“, rief John verzweifelt, „Kyrie, bitte, wach auf!“ Seine Tochter antwortete nicht, sie hing nur noch erschlafft da. Schmerz verzerrte ihr Gesicht. Und ihre Flügel waren ausgebreitet, waren das Einzige an ihr, was sich rührte – sie schlugen wild umher, als wollten sie unbedingt nach oben in den Himmel fliegen.

Magdalena standen die Tränen in den Augen, als sie ihrer Tochter sanft durchs Haar strich, ihr Wasser brachte, mit ihr sprach … Und dabei ihre Hand mal um mal von den Flügeln geschlagen wurde. Doch sie zuckte nicht zurück, hielt stand, um ihr Kind berühren zu können.

John konnte sich einfach nicht erklären, was los war. Warum hatte sie die Flügel ausgestreckt? Was hatte der Himmel mit ihrem Zustand zu tun?! Was verursachte ihr solche Schmerzen? Und wieso konnte er nichts dagegen unternehmen?

„Wir können sie nicht ins Krankenhaus bringen!“, knurrte er verzweifelt, „Wir können rein gar nichts tun!“

„Das letzte Mal …“; brachte Magdalena besorgt hervor, „Als sie krank war … hatte das auch mit dem Himmel zu tun?“ Kyrie Kopf lagerte auf ihren Knien, die Flügel flatterten wild herum, doch Magdalena schien diese gar nicht mehr wahrzunehmen.

„Ich habe keine Ahnung!“ Alles in ihm schien platzen zu wollen. Warum tat der Himmel seiner Tochter so etwas an? Warum half er ihr nicht einfach? Warum stieg kein Engel herab, der seine Tochter in den Himmel beförderte, der ihren Flügeln half?

„Wir könnten sie nach oben tragen!“, schlug Magdalena vor, „Wir könnten sie dem Himmel näher bringen …“

Ja. Kyrie hatte ihnen einmal gesagt, dass sie nur in den Himmel steigen konnte, wenn sie ihm so nah wie möglich war. Weil sie „bloß“ ein Halbengel und damit auch schwach war. Sie sollten sie auf das Hochhaus bringen, von dem aus sie immer flog.

„Gute Idee!“, stimmte er seiner Frau zu, „Los, wir bringen sie in den Wagen!“

„Und die Flügel?“, fragte Magdalena.

Er starrte das Gefieder an. Vor lauter Herumschlagen hatte sie bereits einige Federn verloren. Und sie fielen auf. Wie sollte er das dann den Nachbarn erklären!? Aber eigentlich waren ihm die Nachbarn auch egal – er musste seine Tochter retten! Sie hatten doch ohnehin schon genug Zeit vertrödelt! Sie hatten versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen – und sie war schon dagelegen, als Magdalena sie vor einigen Minuten gefunden hatte!

Wie lange lag sie hier schon?!

Hoffentlich kamen sie jetzt nicht zu spät mit dieser Idee. Würde er allen, die es wissen wollten, eben erzählen, dass seine Tochter ein Engel war! Er würde die Konsequenzen schon tragen!

Er richtete Kyrie auf. Sitzend. Ihre Flügel schlugen weiter vor sich hin, ließen sie dadurch sogar aufgerichtet zurück – so konnte er sie einfach im Huckepack nehmen.

Er hob sie hoch – sie war nicht schwer, dadurch, dass die Flügel beinahe abhoben, wurde sie sogar noch leichter. Wenn diese etwas sinnvoller geschlagen hätten, wäre sie wohl wirklich losgeflogen. Sicherheitshalber packte er sie fest an. Die Flügel schlugen hie und da gegen seine Arme, aber es schmerzte nicht. Von hier unten würde sie es doch nie schaffen, ganz nach oben zu fliegen! In ihrem Zustand. Wie sollte das gehen?! Sie musste so nah wie möglich zum Himmel!

Bei der Tür sah er schon dem ersten Problem entgegen: Die Flügel krachten gegen den Rahmen. Er konnte seine Tochter nicht einfach so dagegen schieben! Das ging doch nicht! Er musste irgendwie durch kommen …

Es musste ihm doch irgendwie gelingen, seine Tochter zu retten!

Warum konnte er kein besserer Vater sein?

Nach wenigen Jahren hatte er ihr seine Zuneigung gestanden. Und sie hatte sie erwidert. Sie hatten wahre Liebe gefühlt. Jeder Moment, den er mit ihr verbringen durfte, war einzigartig gewesen. Keine Sekunde erschien ihm sinnlos – und doch hatten sie noch immer denselben Spaß wie all die Jahre zuvor, die sie in bloßer Freundschaft verbracht hatten.

Das war der Höhepunkt seines Glücks gewesen. Acedia, die ihn mit verliebten Augen betrachtete, die seinen Mund küsste und die den letzten Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollte.

Zumindest war es das, was er lange Zeit geglaubt hatte.
 

„Wie geht es dir?“, fragte Luxuria besorgt, als sie zusammen auf einer Treppe im Himmel saßen. Sie waren beide aus dem Zyklus gewachsen – und natürlich hatten sie, wie es sich für Freunde gehörte, alle dasselbe Alter gewählt, um weiterzuleben. Kurz hatten sie mit dem Gedanken gespielt, ewig zehn Jahre alte Kinder zu bleiben, weil sie sich in diesem bedeutungsvollen Alter kennen gelernt hatten, doch die Eitelkeit hatte gesiegt. 27. Jung, reif und schön.

„Gut“, entgegnete er unbekümmert, „Warum sollte es mir auch anders gehen?“

Luxuria warf ihm einen entgeisterten Blick zu. „Ich dachte einfach … es würde dich mitnehmen?“, mutmaßte sie unsicher.

Er lächelte. „Was soll mich mitnehmen? Dass ich mich heute mit dir hier treffe, um zu reden?“

Sie runzelte die Stirn. Ihr Haar war lang und strahlte genauso golden wie der Himmel. Es fiel bis zum Boden – und das sorgte dafür, dass sie gar keinen modischen Umhang benötigte, weil ihr Haar diesen Zweck erfüllte. „… Moment.“

„Ich laufe nicht weg“; versicherte er ihr, wobei ihm klar war, wie billig der Scherz war. Aber irgendetwas schien sie wirklich zu bedrücken. … Kein Wunder, dass sie ihm einen kleinen Ruf gesendet hatte. … Was wohl passiert war?

„Du weißt es nicht“, stellte sie schockiert fest, „Du …hast tatsächlich keine Ahnung, dass …“

„Wovon habe ich keine Ahnung?“, wollte er unsicher wissen. Irgendetwas in ihm zog sich schmerzhaft zusammen – was unmöglich war, weil er im Himmel keinen Schmerz empfinden konnte.

Mitleid schlich sich in ihre Augen und sie seufzte betrübt. „Nichts … Das … sagt sie dir wohl selbst.“

„Ist etwas mit …?“, fragte er. Was für einen Namen hatte er damals nur genannt? Wie stark musste der Schwur einer Todsünde sein, dass er den Namen der Person vergaß, die ihm am meisten im Universum bedeutet hatte?

„Nein“, entgegnete Luxuria entschlossen. Dann erhob sie sich. „Ich bin bloß ein bisschen enttäuscht von ihr, dass sie es auf diese Weise tut.“ Sie schaute auf ihn herab. „Findest du nicht auch, dass sie … ein bisschen zu ehrgeizig wird?“

Zu ehrgeizig? Seine Acedia. Nein – es war genau richtig. Sie wollte den höchsten Punkt des Himmels erreichen. Sie wollte an Gottes Seite sein – mit ihm zusammen. Das hatte sie ihm gesagt. Sie war idealistisch – wenn sie genügend starke Engel hatten, konnten sie die Dämonen verjagen. Aussperren. Sie mussten Gott helfen.

Er hatte sich ihrer Meinung angeschlossen – Gott riskierte sein Dasein für die Engel. Und was taten sie? Sie übten den Schwertkampf ein wenig, um bei einem etwaigen Angriff vielleicht eine Chance zu haben. Sie stellten mit ihren kreierenden Kräften Kaffee und Kuchen her, anstatt dass sie Schilde bauten … Sie führten ein Leben im Paradies – und das auf Kosten Gottes! So konnte das nicht weitergehen. Irgendwann würde irgendetwas daran zerbrechen.

„Wie kommst du darauf?“, fragte er unbehaglich.

„Nein …“ Sie wirkte bestürzt. „Vergiss es einfach für den Moment. Ich frage dich demnächst wieder. Aber sei nicht zu enttäuscht.“

Und sie hatte Recht behalten: Er war enttäuscht worden.


 


 

„Wo … sind unsere Kräfte?“, erklang Superbias Murmeln um die Ecke.

Nathan wankte zurück. Sein Licht war allmählich ganz aufgebraucht. Nur noch der letzte Rest … dann würde Acedia sie in sich vereinen, das Licht weben und ihm schlussendlich die Macht der Todsünden überreichen. Und dann bekam jeder sein Licht zurück.

Sie stand immernoch vorne, schaute in Richtung des Turms der Ränge und empfing das Licht aller. … Wie lange dauerte es denn noch …?

„Sie … sollte es schon längst … abgeben …“, stimmte Invidia zu, „Sie … laugt alle aus …“

„Es sind alle da …“, stimmte Avaritia zu, „Wir … sollten wieder erstarken, um ihr unsere Kräfte darzubieten … Wo … sind sie?“

Nathan ließ sein Licht weiter fließen … Acedia würde schon wissen, was sie da tat. Sie war immerhin eine Todsünde. Sie hatte dafür gekämpft. Sie hatte ihre besten Freunde verloren – wenn jemand daran interessiert war, dass hier alles glatt lief, dann war sie es.

Er glaubte an sie. Daran, dass sie das richtig machen würde … und bald würden die anderen auch anfangen, an ihn zu glauben. Einfach deshalb, weil er heute zur Todsünde ernannt werden würde. Es war schon ironisch, dass das in einer Sekunde zur nächsten geschah. Aber er würde dann eben schnell in seine Rolle hineinwachsen müssen … Zumindest war dann keine Frau sein Vorgänger … Ira … wäre doch wirklich gar nicht so übel …

Wer braucht schon einen Nathan … wenn man einen weiteren Ira haben konnte?

Sein Licht war aufgebraucht.

Wenn er sich nicht gerade im Himmel befinden würde, so würde er jetzt einfach zerfallen, weil sich nichts mehr in ihm befand. Doch er spürte, wie der Himmel diese Leere bereits wieder zu füllen versuchte. Hunger machte sich in ihm breit. Ein Kuchen wäre jetzt toll – ein Lichtkuchen, wohl gemerkt … Vielleicht erhielt er ja die Erlaubnis, noch schnell einen mit seinen Freunden zu essen …

Er saß mittlerweile am Boden, zu schwach, um aufzustehen. Er fühlte sich genauso leer, wie er war … Seine Gedanken waren unlogisch … unbedeutend …

Letzte Lichtflimmer wurden noch zu Acedia gesandt, die nur noch von Xenon ausgingen … Also war er der stärkste Engel hier … Gut zu wissen … Oder der, der einfach später angefangen hatte, mit ihr seine Kräfte zu teilen …

„Bereit?“, stieß er hervor. Es war anstrengend, auch nur einen Ton hervorzubringen – als hätte er alles, was ihn je angetrieben hatte, gerade Acedia gegeben.

„Sowas von“, antwortete Xenon locker.

Er sollte sich nicht mit ihm anfreunden … Wenn er eine Todsünde war … würde er ihn anklagen …

Acedia verbeugte sich tief. „Danke für euer Vertrauen an die Todsünden“, sagte sie aus tiefstem Herzen, „Nun werden wir die neuen ernennen.“

Sie wandte sich um. Dann lächelte sie.

Sie lächelte Nathan an. Er wusste, dass dieses freundschaftliche, fast mütterliche Lächeln ihm galt.

Er lächelte zurück … Dann wären sie also Kollegen.

Doch plötzlich verschwand Acedia von der Bildfläche, ließ nur noch ein bisschen Licht zurück.

Entsetztes Aufatmen machte sich in der Menge breit.

Doch keiner hatte die Kraft, noch einen Verzweiflungsschrei abzulassen.

Er selbst konnte seinen Augen nicht trauen. Wo war sie hin? Wie war sie verschwunden?! Warum?!

„Was … was soll das?!“, rief Xenon schwach aus, „Sie soll uns doch … erheben!“

„Die Attentäter“, kombinierte Invidia hinter ihm, „Sie … müssen sie … verschleppt haben!“

… Sie war der stärkste Engel. Der vermutlich einzige Engel, der noch Kraft besaß … Wie sollten die Attentäter … das bewerkstelligen … Außer … sie wären die Abwesenden …

„Im Moment können wir nichts tun“, erklärte Superbia ruhig, „Außer Abwarten – darauf warten, dass der Himmel uns mit genug Licht versorgt, um uns auf die Suche nach unserem eigenen zu machen.“

„Wie lange … dauert das?“, wollte Invidia wissen.

„Keine Ahnung“, gab Superbia trocken zu, „Das ist mir jetzt in tausend Jahren noch nicht passiert.“

Nathan starrte entsetzt in die Menge. … Ihnen allen wurde gerade das Licht gestohlen. Verflucht. Was … was bedeutete das dann?! Es musste doch irgendetwas zu tun geben … Er … er musste irgendwohin …

Er wollte sich bewegen, aber es funktionierte nicht. Er wollte einen Arm heben, aber es ging nicht mehr.

„Gib es auf, Junge“, murmelte Invidia, „Das hat keinen Zweck.“

Er musste sich bewegen! Er musste zusehen, dass er weiterkam. Acedia war vor seinen Augen verschwunden! Was, wenn noch mehr verschwanden?! Da unten waren alle seine Freunde! Er würde zu ihnen gehen! Musste zu ihnen! Einer musste doch auf sie aufpassen …

Auf … auf Joshua … und Liana … Thierry … Deliora und Kyrie …

Doch er bewegte sich keinen Zentimeter weiter.

… Warten … Er sollte seine Zeit damit verschwenden zu warten, während da draußen irgendetwas im Gange war?! Sie würden alle hier herumliegen und warten!?

… Andererseits … was sonst … sollten sie tun?

Er ließ den Kopf sinken.

Warum ließ Gott so etwas zu? Warum hatte er Acedia nicht beschützt?!

Warum hatte Sin sich nicht gewehrt?

Wo war der überhaupt?

Warum kam er nicht?!

Alle … Engel … mussten ihre Kraft abgeben – warum er nicht?!

„Peinlich“, meinte Avaritia, „Als Todsünden so herumzuliegen …“ Sie seufzte. „Aber zumindest haben wir jetzt ein gemeinsames Erlebnis.“

„Ziemlich lange“, fügte Invidia hinzu, „Vielen Dank auch …“

„Was … ist los mit euch!?“, wollte Xenon wissen, „Beschäftigt euch das nicht?“

„Es kommt, wie es kommt“, erklärte Invidia und lächelte schief, „Mach dir nichts daraus. Du hast genug Zeit. Die läuft dir nicht davon.“

Wie konnten sie das nur so sehen?! Hatten sie keine Freunde mehr, auf die es sich zu warten lohnte?

… Er blickte noch einmal ins Publikum. … Freunde, die so nah und doch so fern waren … Hoffentlich ging es ihnen gut … Hoffentlich waren sie zusammen … Er fühlte sich zwischen all den Fremden hier nämlich ziemlich einsam.
 

Kyrie kam zu sich, als der Schmerz weniger wurde. Als sie ihre Augen öffnete, konnte sie sehen – sie bewegte sich. Das war doch ihr Vater. Er trug sie.

„Papa …“, machte sie auf sich aufmerksam.

Er schaute zu ihr zurück. Man sah, dass er geweint hatte.

„Mir geht es gut …“, eröffnete sie leise. Das war eine offene Lüge. Es brannte noch immer. Doch es führte nicht mehr zur Bewusstlosigkeit. Es war wie bei Nathans Ruf … als hätte sie sich an den Schmerz gewöhnt. … Nein. Nicht ganz. Er war wirklich schwächer geworden. Wie war das möglich? Warum hatte der Schmerz nachgelassen … Acedia. Weiterhin rief ihr ganzer Körper nach ihr, aber … so abgeschwächt, als sei es ein ganz normaler Ruf.

… Konnte der Magnet etwa verfallen sein?!

Ein Magnet. Sie hatte einen Magneten ignoriert. Ein Magnet bedeutete, dass sie in den Himmel zu einer Versammlung musste. … Nathans Worte traten mit extremer Deutlichkeit wieder in den Vordergrund ihrer Gedanken: Wer einen Magneten ignorierte, würde verbannt werden, vom Himmel ausgeschlossen …

Aber … er hatte ihr doch versprochen, dass er sie abholen würde! Er hätte nur kommen und mit ihr in den Himmel zu gehen brauchen …! Noch mehr Angst versteifte alles in ihr. Diese Strafe … was genau würde sie erwarten? Was hatte sie verpasst?

Sie lehnte sich gegen den Kopf ihres Vaters. Warum? Warum hatte sie nicht einfach rechtzeitig gehen können? Warum hatte diese verfluchte Angst sie nur so gelähmt?! Sie wollte das nicht …. sie wollte das doch alles nicht … Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Sie hielt die Tränen angestrengt zurück. So … so durfte das doch nicht geschehen! Sie … sie wollte doch immer schuldlos sein!

„Kyrie!“, machte Magdalena auf sie aufmerksam, „Bitte ziehe deine Flügel ein!“

Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Flügel rausgekommen waren. Sofort versteckte sie sie wieder. Wieso waren sie da? Hatten sie etwa auf den Magneten reagiert? War es das, was ihn so anziehend gemacht hatte – dass sogar ihre Flügel hervorgekommen waren, ohne dass sie es wollte? So verzweifelt hätte sie nach da oben kommen sollen? Nein … wie konnte sie nur …?

„Wir bringen dich zum Himmel“, erklärte ihr Vater leise, „Oben werden sie dir helfen und …“

„Nein!“, entgegnete sie barsch, „Nein, nein, nein!“ Sie stieß sich in einer Schockreaktion von ihrem Vater ab und fiel auf den Boden.

„Mädchen!“, rief Magdalena entsetzt, „Was ist los mit dir?!“ Sofort duckte sie sich zu ihr, schien überprüfen zu wollen, ob es ihr auch gut ging – aber Kyrie hatte den Aufprall nicht gespürt. Alles in ihr war zugeschnürt. Nicht in den Himmel!

Kyrie starrte mit aufgerissenen Augen auf John. „Nicht in den Himmel! Ich will nicht in den Himmel!“

„Was … Kyrie …“ Er wirkte bestürzt. Sehr bestürzt. „Bitte, sag mir die Wahrheit, ich …“

„Nein!“, rief sie, „Lasst mich in Ruhe. Es ist alles in Ordnung. Alles ist in bester Ordnung!“ Sie hätte sich am liebsten an ihre Mutter geklammert und sie nie wieder losgelassen. Sie hätte ihren Vater umarmen wollen, ihn darum bitten, sie nie wieder alleine zu lassen … und sie vom Himmel zu verstecken. Sie konnte das doch nicht auf sich nehmen! Eine Strafe der Todsünden? Eine Verbannung? Wie sollten sie sie verbannen?! Sie lebte auf der Erde! Für fünfundzwanzig Jahre würde sie noch hier leben – aber was würde bei der Verbannung nur geschehen?

Sie hatte Angst vor dem Unbekannten. Angst vor den Todsünden. Angst vor Xenon. Und sie fühlte sich alleine gelassen. Wo war Ray? Wieso war er nicht da?! … Nein … Nathan. Nathan – er hätte kommen sollen! Ray hatte nichts damit zu tun, sie …sie wollte nur … dass er sie festhielt und …

„Gut“, meinte ihr Vater, „Dann … eben nicht …“ Jetzt wirkte er enttäuscht.

„Es tut mir so schrecklich leid …“, murmelte Kyrie, „Wirklich … Aber ich kann es euch nicht sagen …“ Sie müsste ihnen sagen, dass sie verbannt werden würde. Dass sie zwanzig Jahre der Vorfreude einfach wegwerfen würde. Dass … dass sie genauso gut an ihrem Geburtstag einfach den Tod hätte wählen können! Warum sie? Warum hatten sie sie ausgewählt?

Oder viel mehr: Warum konnten Halbengel nicht einfach Engel sein? Wenn sie Xenon nicht zum Opfer gefallen wäre …

„Wir bringen dich auf dein Zimmer“, erklärte John dann, „… Geht das?“

Sie nickte. „Bitte …“

„Wir sehen dann ja, wie es dir morgen geht.“ Eine plötzliche Kälte hatte sich in seine Stimme geschlichen. War er wütend auf sie? Weil sie ihn belogen hatte? Weil sie sich noch immer weigerte, die Wahrheit zu erzählen? … Sie konnte doch nichts dafür! Sie … sie wollte ihn doch nur beschützen!

Er half ihr hoch und gemeinsam gingen sie hinein. Und als erstes räumte sie ihre Federn auf. Sonst würde Ray sie morgen noch fragen, ob sie ein Huhn geschlachtet hatte … Oder vielmehr einen Schwan … Ray … Zum Glück war er schon weg gewesen. Sonst wäre sie in einen ziemlichen Erklärungsnotstand geraten … Oder sie hätte einfach weiter gelogen. Wie sie es bei ihren Eltern gemacht hatte … Sie sollte sich schämen. Und dass sie dann noch nach ihm verlangt hätte, ohne ihm etwas zu erklären … Warum nutzte sie jeden immer nur aus? Warum konnte sie nichts alleine auf die Reihe kriegen? Und warum konnte sie nicht einfach nur einmal etwas richtig machen?

Sie war der schlimmste Mensch von allen. Und sie würde es wohl immer bleiben.
 


 

John saß in der Küche. Er fühlte sich schrecklich. Was war mit Kyrie los? Wann genau hatte sie angefangen, ihm so zu misstrauen?

Ihr Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte, als er ihr erklärte, dass er sie in den Himmel bringen wolle, zerfraß ihn. Er blieb in seinem Gedächtnis haften und schien seine Seele auszusaugen. Warum hatte er es nie bemerkt? Sein Mädchen hatte Angst vor dem Himmel. Wie lange schon? Was für ein Vater war er, dass er so etwas nicht bemerkte? Das war kein normales Erschrecken – das war Panik. Sie war aschfahl geworden. Und das allein bei der Erwähnung! Was wäre nur mit ihr passiert, wenn sie sie wirklich zum Hochhaus gebracht hätten?

Und warum wollte sie einfach nicht darüber sprechen?

„Ich bin besorgt“, eröffnete Magdalena ihm, „Was ist nur mit ihr?“

„Wir sollten Nathan zur Rede stellen“, schlug er vor, „Kyrie scheint ja darauf zu beharren, uns nicht einzuweihen …“

„Wir müssen mit ihr reden“, entgegnete seine Frau, „Wir müssen ihr zeigen, dass wir unter allen Umständen auf ihrer Seite stehen!“

„Das sollte sie doch wissen!“, keifte er harscher, als er eigentlich wollte.

Magdalena sog scharf die Luft ein.

Er starrte gegen den Tisch. Was konnte er ausrichten, um seinem Kind zu helfen? Wie sollte er sie vor Schaden bewahren, den er selbst weder kannte noch verstand? Das war nicht möglich. Einfach unmöglich. Er würde sie noch sterben sehen, ohne zu verstehen, was vor sich ging! Und davor fürchtete er sich. Am allermeisten. … Hatten sie sie etwa in die falsche Richtung gebracht? Oder gar … gedrängt? War ihre Entscheidung vor zwanzig Jahren falsch gewesen?

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Nicht eine Sekunde in seinem Leben hatte er sie bisher angezweifelt. War das unverantwortlich gewesen? Aber … Gott hatte die Engel geschickt. Und Gott wusste, was er tat …

„Aber sie vertraut sich uns nicht mehr an“, stellte sie erneut das Offensichtliche fest, „Das müssen wir unterbinden …“

… Gott … warum gab er ihm kein Zeichen? Warum konnte er ihm nicht seine Fragen beantworten, wenn Kyrie das schon nicht wollte? Wollte Gott etwa, dass er sich vor Sorge hier fertig machte? Dass er seiner Tochter so nicht helfen konnte? Dass die Verzweiflung ihn packte? Aber er musste weiter daran glauben, dass alles gut würde. Alles, ob er es verstand oder nicht.

„Der Himmel!“, rief Magdalena plötzlich erschrocken aus.

Er schaute ebenfalls nach draußen. Und zog die Stirn kraus: Kam es ihm nur so vor … oder hatte der Himmel wirklich seinen Glanz verloren?

„Ist das deine Antwort?“, fragte er leise und traurig. Aber er erhielt keine Bestätigung.

Was war nur aus seinem Glauben geworden? Was ließ ihn so zweifeln?

Er hatte darauf keine Antwort.
 

Als ihre Mutter nach oben stürmte, schaute Kyrie von den Lernbüchern auf. Sie hatte einfach weitergemacht, als wäre sie nie vom Magneten unterbrochen worden. Aber sie hatte auch nichts lernen können – ihre Sorgen kreisten weiter um die Todsünden, die sie bestrafen würden. Sie war noch nie in ihrem Leben von einer Obrigkeit bestraft worden. Aber diesmal würde es kein Entkommen geben … Wie weit würde sie flüchten müssen, um nicht davon getroffen zu werden? Es machte ihr Angst, den Himmel wirklich ein letztes Mal zu betreten, vielleicht noch im Beisein von Nathan als Assistent des Richters …

„Der Himmel!“, rief Magdalena erschrocken, „Schau!“

Kyrie verstand nicht, zog die Stirn kraus – und warf dann einen Blick nach draußen. Das Licht schien wie verschwunden zu sein, alles, was dem Himmel Leben eingehaucht hatte, schien verschwunden zu sein. Er wirkte wie eine fremde, goldene Fläche. Dunkelgold. Nicht mehr makellos reines Gold, sondern beinahe dreckiges. Und so fern. So unglaublich fern, dass er ihr beinahe Angst machte. Dass sie sich fast davor fürchtete … noch mehr, als ohnehin schon. Was bedeutete das?! War das etwa die Strafe dafür, dass sie nicht gekommen war?!

War das nicht etwas übertrieben? Und … wenn es so war … warum waren auch ihre Eltern betroffen?!

Sie erhob sich, wich weiter zurück. Sie war nicht bereit dazu! Sie … sie brauchte Zeit! Zeit zum Nachdenken! Sie würde nicht in den Himmel gehen! Nicht ohne Nathan! Und sie würde nicht bestraft werden wollen! Sie hatte Angst gehabt! Wegen ihnen! Nur ihretwegen! Weil sie ihre Engel nicht unter Kontrolle hatten! Es war ihre Schuld, ihre verfluchte Schuld!

Sie stürmte aus dem Raum. Wohin sollte sie gehen? Was, wenn sie hierher kamen? Ihre Eltern auch noch bestraften, nur weil sie unartig gewesen war?! Das … das durfte doch nicht sein …! Wo war Gerechtigkeit? Was war mit ihr?!

Und wieso fühlte sie sich so im Stich gelassen? Nathan hätte kommen sollen … Er hätte sie beschützen sollen … Ray … Ray würde sie doch ganz bestimmt beschützen, oder? Er würde sie in Schutz nehmen und … und … Ray. Sie musste Ray anrufen! Musste zu ihm und …

Magdalena hielt sie plötzlich umklammert. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie angehalten wurde – sie wollte zu Ray! Wenn er da war, dann war der Schmerz auch nicht mehr so schlimm, die Angst würde vergehen … Warum konnte er nicht doch hier gewesen sein? Dann gäbe es keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen. Sie könnte ehrlich sein. Sie könnte ihn lieben.

„Bleib hier, Kyrie!“, rief ihre Mutter verzweifelt, „Bitte, bleib hier …“

Kyrie klammerte sich an ihre Mutter. „Es tut mir leid …“, brachte sie erstickt hervor, „Alles tut mir so leid!“

Und schweren Herzens hielt sie sich davon ab, ihrer Mutter letztendlich die Wahrheit zu sagen. Die Todsünden würden nur ihre Erinnerungen nehmen, wenn sie zu viel wusste. Das durfte Kyrie nicht riskieren … Sie hatte eine Verantwortung … mehrere Verantwortungen … Irgendwann würde sie sich stellen … Aber … noch wollte sie sich einfach an ihrer Mutter festhalten und ihren Tränen freien Lauf lassen.

„Ich … ich bin jetzt eine Assistentin“; eröffnete sie ihm unruhig, „Das heißt, dass wir uns nicht mehr sooft sehen können.“

Er glaubte, aus dem Himmel zu fallen, als er die Worte vernahm. Warum? Wann war sie in Acedia hinein gerannt?! Wie lange schon? Wollte sie es? Was bedeutete „nicht mehr sooft“?

All diese Fragen hätte er gerne gestellt – doch sein Mund schien wie ausgetrocknet zu sein. Er glaubte, nie wieder ein Wort über die Lippen zu bringen. Bei der Vorstellung, dass sie ein Assistent würde … Er kannte die Gerüchte über Assistenten.

Immer an der Arbeit, immer an der Seite ihres Vorgesetzten. Die Freizeit würde begrenzt sein – und sie würden auf das verzichten müssen, was ihnen am meisten bedeutete.

Und in dem Moment begann seine egoistische Seite darauf zu hoffen, dass Acedia irgendetwas über ihn stellte. Er wollte nicht das sein, was sie abwerfen musste!

„Welche?“, fragte er stattdessen nur geschockt, „Welche Assistentin?“

„Acedias“; antwortete sie kleinlaut, „Ich werde eine Todsünde.“ Dann nahm sie ihn in ihre Arme. „Es tut mir so leid …“, murmelte sie, „Aber … ich muss einfach irgendetwas tun. Und es war ja keine Absicht und …“

Er drückte sie fester an sich, was sie verstummen ließ. Und doch verkrampfte sich alles in ihm so sehr, dass er glaubte, sein Licht würde aus ihm weichen. Wie sollte er damit umgehen? Er würde sie verlieren. … Nicht sofort – aber mit der Zeit. „Versprich mir einfach, dass du mich nicht vergisst …“, bat er sie leise.

„Ich verspreche es dir“, sagte sie mit fester Stimme, „Wir … wir treffen uns einfach regelmäßig!“, schlug sie vor, „Wir gehören zu einander.“ Sie schenkte ihm dieses spezielle Lächeln, das nur ihm gehörte. „Wir werden für immer zu Dritt bleiben!“
 

Doch sie hatte ihr Versprechen nicht gehalten. Schon nach wenigen Treffen war sie einfach wortlos nicht mehr erschienen. Und die Gerüchte über eine besonders talentierte Assistentin wurden in Umlauf gebracht.

Ira wurde vom Gedanken, dass sie nicht kommen würde, beinahe zerstört. Und das war der Moment, in dem seine Dankbarkeit gegenüber Luxuria ins Unermessliche wuchs – sie hatte ihm Trost gespendet, sie hatte ihn im Arm gehalten und ihm gezeigt, dass er nicht alleine war. Dass er auch nicht alleine litt. Luxuria war genauso betroffen von Acedias Entscheidung, sie zu verlassen, wie er. Sie fühlten denselben seelischen Schmerz. Die einzige Art von Schmerz, die der Himmel nicht dämpfen konnte.

„Ich kann ihr das nicht verzeihen“, zischte Luxuria, „Wie kann sie uns das nur antun?“

„Sie hat bestimmt … viel zu tun“, beschwichtigte er sie unbeeindruckt. Sie hatte es versprochen. Sie hatte versprochen, dass sie einander immer wieder sehen würden. Dass sie sich nicht trennen mussten. Dass sie zusammenbleiben konnten.

Vielleicht war es auch gar nicht das, was ihn störte. Vielleicht war es einfach der grausame Umstand, dass sie vom einen aufs nächste Mal nicht mehr gekommen war. Dass er sie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, nichts mehr von ihr gehört hatte … Als hätte sie ihn einfach vergessen. Gegen ihre Karriere eingetauscht.

„Das ist keine Begründung“, befand Luxuria, „Ist das der Dank für über dreihundert Jahre der Freundschaft?“

„Dann will ich lieber gar keinen Dank haben …“, murmelte er.

„Und wie sie da oben stehen wird“, wisperte Luxuria und schnaubte wütend. „Hochnäsig und stolz, dass sie uns das antut, nur um den höchsten Punkt des Himmels zu erreichen …“

„Glaubst du, sie hat sich freiwillig zum Dienst gemeldet?“, fragte er unsicher. Er wusste immernoch nicht, was er darüber denken sollte. Er hatte ihr am Anfang wirklich geglaubt, dass sie nur zufällig in die Sache hineingerutscht war – aber sie war allen Fragen diesbezüglich ausgewichen. Mittlerweile ging er davon aus, dass sie ihn vielleicht auch angelogen haben könnte … Er wusste es einfach nicht. Er hatte keine Ahnung mehr, was er für richtig oder für falsch halten sollte.

Alles, was er wusste, war, dass sich eine tiefe Enttäuschung in ihm festgesetzt hatte. Das war wohl das Schicksal eines jeden, der sich mit starken Engeln anfreundete.

„Aber … zumindest haben wir noch uns …“, meinte er und tastete langsam nach Luxurias Hand. Sie würde er nicht verlieren. … Auf sie würde er aufpassen.

Doch dann wurde auch ihre Stärke öffentlich.
 

Als festgelegt wurde, dass auch Luxuria zu einer Todsünde werden würde, wusste Ira, dass er bald darauf folgen würde. Es wurde immer nur über das wahre Alter der unterschiedlichen Ränge spekuliert, doch man konnte sich in etwa ausrechnen, wer sich in welchem Alter befand.

Und der nächste, der einen Assistenten brauchen würde, war Ira.

Er hatte sich damals nichts sehnlicher gewünscht, als Luxuria und Acedia wieder zu sehen. Luxuria, um ihr zu sagen, wie sehr er ihr dankte, dass sie immer bei ihm geblieben war; wie sehr er ihren Abschiedsworten – „Ich kann leider doch nicht für immer bei dir bleiben … Ich wurde als Assistent gefunden.“ – nachhing und wie sehr er sie vermisste. Acedia hingegen wollte er ausrichten, dass sein Herz ihr zwar ewig nachhängen würde, doch dass es vorbei wäre – sie hatte ihn betrogen, sie hatte ihm unheimlichen Schmerz zugefügt. Das wollte und konnte er ihr nicht verzeihen. Und sie sollte es wissen. Nicht, dass sie sich noch eine zweite Chance erhoffte – sie hatte sich dafür entschieden ein Assistent werden zu wollen. So war es. So sollte sie ihn doch vergessen.

Für Luxuria war er nicht das Wichtigste gewesen – ihre Aufgabe war es, ihre äußere Erscheinung zu vernachlässigen. Denn sie war immer sich selbst die Nächste gewesen … umso größer die Ehre, die ihm zuteil wurde, als sie sich so um ihn sorgte. Vielleicht war es auch Luxurias Stärke, dass sie sich so wichtig nahm … denn erst dadurch konnte sie andere wirklich wertschätzen.

Nachdem er also weder Luxuria noch Acedia hatte, die ihm wichtig waren, musste er ernsthaft darüber nachdenken, was es denn wäre, falls er zum Assistenten auserwählt werden würde. Doch all das Nachdenken hatte ihm nur eine Erkenntnis gebracht: Er wollte Acedia nicht verzeihen. Alles in ihm sehnte sich nach ihr, doch sein Verstand, sein Urteilsvermögen, schrie danach, dass er sie verlassen musste, um von ihr loszukommen. Dass er ihr dieselbe Einsamkeit schenken sollte, wie er ihr.

Und das war das stärkste Gefühl – das, was ihn antrieb. Das, was ihn zum Assistenten machte: Er wollte in ihrer Nähe sein, ohne bei ihr zu sein. Es war vielleicht masochistisch, doch es war genau das, was er tun musste.

… Doch mit der Zeit würde er lernen müssen, dieses Gefühl zu ignorieren. Einzusehen, dass es dumm war, solch einen Wunsch zu hegen. Irgendeinen Wunsch zu hegen. Er musste lernen, für die anderen da zu sein. Er war ein Assistent. Er musste überall drüben stehen.

Genau aus diesem Grund würde es für ihn eine Bereichung sein, zum Assistenten zu werden. Dass seine Existenz einen neuen Sinn erhielt. Und so ging er an den Platz, an dem sie vor über hundert Jahren ihren Wettstreit ausgeführt hatten und stieg erneut neben dem Turm der Ränge auf. Diesmal allerdings sorgte er dafür, dass er gesehen wurde.

Und das ebnete ihm den Weg.


 

Ray saß auf der Mauer und schaute in die Menge, ohne wirklich jemanden zu sehen. Die letzten Tage mit Kyrie waren wie immer voll mit Lernen gefüllt gewesen – immerhin standen sie mitten in der Prüfungszeit. Er hatte seine ersten Prüfungen bereits geschrieben, aber noch keine Ergebnisse erhalten. Aber die würden noch kommen. Und er hatte gar kein ungutes Gefühl.

… Und dann würden schon sehr bald die Sommerferien auf sie warten. Auf sie … Kyrie hatte ihm zugestimmt, dass sie sich da eindeutig öfter treffen mussten, auch wenn sie nicht zwangsläufig etwas zu lernen hatten …

Es war seltsam mit ihr … Sobald er an sie dachte, wusste er einfach, dass er sie liebte. Alles in ihm sagte es ihm. Und wenn sie weg war, vermisste er sie. Wenn sie da war, wollte er ihre Nähe spüren … Aber sie lehnte ihn ab. Obwohl er sich so sicher war, dass sie zumindest ähnlich über ihn dachte. … Es machte ihn aber froh, stimmte ihn beinahe zufrieden, dass sie sich nach wie vor treffen konnten. Immerhin … war das zumindest besser, als wenn sie ihren Kontakt abgebrochen hätten …

Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Weg zu – und da schritt Kyrie auch schon daher. Langsam. Mit hängenden Schultern. Beinahe zögerlich. … War etwas passiert? Sie wirkte so … fertig. In ihm stieg ein mulmiges Gefühl auf, das ihn sofort zum Handeln zwang. Er stieß sich von der Mauer ab und stellte sich ihr entgegen. Als sie den Blick nach wie vor nicht hob, ihn noch immer gesenkt hielt, erfüllte ihn noch mehr Sorge. … Und die Hoffnung, dass sie ihn bloß übersehen hatte. Doch was nur konnte sie so sehr ablenken?

Ihre Arme hielt sie verschränkt – und dann rempelte sie ihn tatsächlich an.

Geschockt starrte sie daraufhin zu ihm hoch. „Ray!“, rief sie überrascht aus.

Er runzelte die Stirn. „Wie immer“, wollte er eigentlich locker sagen, aber der Scherz mochte nicht so recht funktionieren. Sorge machte sich in ihm breit. Tiefe Ringe thronten unter ihren Augen, die leicht gerötete waren. Und sie war blass. Sehr blass. Noch bleicher als sonst. Sie wirkte fertig. Mehr als nur fertig. Zerstört beinahe.

Sofort legte er seine Hände auf ihre Schultern. „Alles in Ordnung? Was ist passiert? Soll ich …“

Ihr vehementes Kopfschütteln ließ ihn innehalten.

„Es ist alles gut“, beteuerte sie ihm leise, „Setzen wir uns einfach wie gewohnt …“ Sie zog Richtung der Mauer an, doch er ließ sie nicht los. Und sie kam gegen den sanften Griff nicht an. Was war los mit ihr?!

„Das glaube ich dir nicht“, stellte er sofort klar. Seine Stimme klang gepresst. Er musste sich zusammenreißen! Einer musste ruhig bleiben. Wie sah sie nur aus? Sie wirkte, als hätte sie Schmerzen. Ihre Augen. Aus denen sprach er eindeutig.

„Nein … wirklich …“, beruhigte sie ihn ungeschickt, „Ich habe bloß die ganze Nacht lang kein Auge zugetan. Aber die Prüfung heute war zu wichtig, um zu fehlen …“

„Du brauchst ganz dringend Schlaf“, stimmte er ihr zu, „Aber das ist bestimmt nicht alles.“ Er ließ sie los.

Sie schaute ihn an und nickte bloß, ehe sie sich abwandte.

Etwas in ihm brach dabei. „Du solltest endlich lernen, dass du anderen Leuten vertrauen kannst“, fügte er hinzu. Strenger und kühler, als beabsichtigt. Ein Stich ging ihm durchs Herz, als ihm klar wurde, dass er soeben mit Kyrie auf diese Weise gesprochen hatte. Aber die Art, wie sie sich weggedreht hatte – dass sie ihm nicht einmal jetzt etwas anvertrauen wollte, wo es eindeutig viel schlimmer geworden war … Er erwartete nicht, dass er ihr Problem lösen konnte. Aber er wollte es zumindest verstehen.

Und sie blieb auch stehen. Ihre Schultern sackten weiter hinab. „Es ist nicht so einfach, Ray …“, murmelte sie kaum hörbar.

„Du machst es dir nur unnötig kompliziert“, schalt er sie, „Lass mich entscheiden, ob es wirklich so schwer ist.“

„Es geht nicht“, beharrte sie ruhig. Dann wandte sie sich ihm kurz zu – und er bemerkte, dass Tränen in ihren Augen glitzerten.

Es schnürte ihm die Kehle zu, sein Magen verkrampfte sich unangenehm. Er hatte sie zum Weinen gebracht. Seinetwegen war sie traurig. Er war zu streng mit ihr. Alles, was ihn eben noch große Reden schwingen hatte lassen, brach in dem Moment zusammen. Und er wollte sie nur noch umarmen. Aber er hielt sich davon ab.

Sie wischte sich mit dem Ärmel ihrer weißen Jacke über die Augen und setzte sich auf die Mauer. Sie starrte zu Boden. Und wirkte wie ein kleines Häufchen Elend. „Hübsche Mädchen sollten nicht weinen …“, murmelte sie leise, während sie sich erneut über die Augen fuhr.

Er horchte auf. Das war … sein Spruch … Woher kannte sie den? … Eine Erinnerung kam in ihm hoch. Am Tag, an dem er sie zum ersten Mal unterbewusst wahrgenommen hatte – da hatte sie genauso geweint. Nur dass er sie damals einfach so aufmuntern wollte. Dass es ihm damals nicht das Herz zerrissen hatte, dass sie weinte. Dass er damals nicht gewusst hatte, wie sehr er dieses kleine, unschuldige Mädchen liebte.

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich.

„Nein, nicht doch …“ Er befand sich neben ihr, schaute auf sie herab und fühlte sich furchtbar deplatziert. Das war nicht richtig. So verstärkte er dieses Gefühl mit seinen Vorwürfen wohl noch tausendfach. Warum konnte sie es ihm nicht sagen? Was nur war ihr Geheimnis?

Er stellte sich neben sie und lehnte an der Mauer. Ray steckte seine Hände in die Hosentaschen seiner Jeans. … Wie sollte er ihr bloß helfen? Er musste irgendetwas sagen. … Bloß was? Er hatte keine Ahnung, worum es ging und … Plötzlich glaubte er zu verstehen, wie sich Leute, die sich um ihn sorgten, fühlen mussten, wenn er sich ihnen gegenüber abweisend benahm. Wenn er ihnen seine Geschichte verschwieg, obwohl er sie mehr als nur andeutete.

„Damals … bevor ich dir meine Geschichte erzählt habe …“, hörte er sich selbst sagen. Eine plötzliche Traurigkeit stieg in ihm auf – wie immer, wenn die Szenen, die sich damals ereignet hatten, wieder in seinem Kopf auflebten. „… habe ich geglaubt, ich sei der Einzige, der mich verstehen würde. Dass keiner, der das nicht erlebt hat, nachvollziehen könnte, wie es mir geht, was das alles bedeutet …“

Er bemerkte, dass sie zu ihm aufsah, schaute ihr in die Augen und fing den Blick auf. „… Deshalb habe ich es auch so wohl gehütet. Für mich hat es Sinn gemacht. Und ich habe für andere mitgedacht, habe mir selbst eingeredet, dass es zu kompliziert wäre, mit anderen darüber zu reden …“

„Das ist es nicht“, entgegnete sie plötzlich viel beharrlicher, „Ich …“

Er schüttelte den Kopf. „Du hast mich nie zum Reden gedrängt. Es ist einfach passiert … Aber danach … Ich habe mich einfach nur komplett befreit gefühlt, als ich wusste, dass du diese Geschichte kennst. Ich wusste einfach, dass du mich verstanden hattest.“

Sie sah ihn überrascht an. Ihre Wangen glitzerten noch feucht, aber ihre Augen schienen sich beruhigt zu haben.

Er lächelte ihr zu. „In dem Moment ist mir eigentlich klar geworden, wie viel mir dein Vertrauen bedeutet. Und dass ich einfach wollte, dass du das über mich weißt. Du und kein anderer.“

Ihre Augen weiteten sich. „Ray … ich …“, brachte sie hervor, „Ich …“ Sofort wandte sie sich wieder ab. „Ich kann es nicht sagen. Ich will auch, dass du mir vertrauen kannst. Mehr als jeder andere, aber …“ Sie sackte noch tiefer zusammen. „… das würde dich in Gefahr bringen.“

„Hey …“ Erneut stieß er sich von der Mauer ab und stellte sich vor sie. Er nahm ihre Schultern in seine Hände und drückte sie zurück, sodass sie ihn ansehen musste, dass sie gerade sitzen musste und dass sie nicht entkommen konnte. Sie erwiderte seinen Blick kurz, schaute dann aber weg. „… Du machst dir zu viele Sorgen. Ich bin hier, um dich zu beschützen – ich weiß nicht vor wem, ich weiß nicht wovor, aber ich habe es mir vorgenommen.“ Er lächelte breiter. „Manchmal muss man Risiken eingehen, um weiterzukommen.“

„Und das kommt von dir?“, fragte sie plötzlich spitz. Nicht nur spitz, sondern beinahe stechend tief. Und dieser Stich, den sie ihm erneut versetzte, ließ ihn erkennen, was er gerade erzählte: Er gab Tipps, an die er sich selbst nicht halten konnte. … Er konnte seine Vergangenheit nicht vergessen, konnte deshalb gewissen anderen Leuten nicht vertrauen – konnte eigentlich kaum einen so richtig vertrauen … und dann redete er ihr ein, dass er Risiken einging? Er ging keine Risiken ein. Er hatte einen Schutzwall um sich errichtet.

… Aber eine Person hatte ihn plötzlich einreißen können.

„Ich habe dir mehr über mich erzählt, als ich eigentlich je wieder sagen wollte“, wiederholte er, „Das war doch schon ein ziemliches Risiko.“ Er hielt sein Lächeln aufrecht. Er wollte, dass sie das wusste. Dass es zwar ein Risiko war – aber alles andere als ein Fehler.

Sie starrte zurück. Und sofort verzog sie schmerzerfüllt das Gesicht. „Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Es ist nur so – ich … ich bin verwirrt …“, stotterte sie herum, „Ich …“ Plötzlich wandte sie den Blick ein wenig ab. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Und sämtliche verbliebene Farbe wich ihr aus dem Gesicht.
 


 

Kyrie sah an Ray vorbei direkt zum Vonronwonsonyonxonton, einem der höchsten Gebäude der Stadt. Kyrie war noch nie bei diesem gewesen – es war im nördlichsten Norden der Stadt, von der kompletten Stadt aus sehr gut zu sehen und in diesem befanden sich einige Unternehmenssitze. Doch was Kyries Atem stocken ließ, war das Licht, das von der abgeflachten Dachterrasse aus zu sehen war. Und ihr Körper, der sie sofort in diese Richtung ziehen, der ihr zuschrie, dass sie zu Acedia gehen müsse. Sofort.

„Kyrie?“, fragte Ray verwirrt.

Die Schmerzen, die sie relativ gut zurückgedrängt hatten, pochten durch die Nähe zur Ruferin wieder in vollen Zügen auf. Sie fühlte sich geschlagen und getreten. Aber zumindest schienen ihre Flügel nicht mehr auf den Ruf zu reagieren. Glück im Unglück.

„Alles in Ordnung?“, wiederholte er, „Bist du noch da?“

„Ja …“, hauchte sie beinahe tonlos, „Ja, bin ich.“ Was sollte sie tun? Ihr Herz schien noch höher zu schlagen als sonst. Acedia. Ein Schauer ging ihr über den Rücken. Sie war hier, um Kyrie zu holen. Um sie zu verbannen, zu bestrafen. Dafür, dass sie nicht auf den Ruf gehört hatte.

Angst machte sich in ihr breit.

Und das goldene Licht, das die Flügel des Engels ausstrahlten, schien bereits Strafe genug zu sein. Es war so hell, dass es nicht mehr auffiel, dass der Himmel seinen Glanz verloren hatte. Es war vielen Leuten aufgefallen. Die meisten hielten es für ein Wetterphänomen – unter anderem auch Ray. … Und Kyrie wollte es auch glauben.

… Aber dass das genau am Tag der Versammlung passiert war – dass Acedia alles so hell erleuchtete … Vermutlich war die Versammlung deshalb einberufen worden. Vermutlich wären alle Engel gebraucht worden. Und sie hatte sie im Stich gelassen.

Ihre Kehle schnürte sich zu, sie begann zu zittern. Sie wollte nicht bestraft werden. Sie hatte Angst vor einer Bestrafung, so ungeheure Angst. Ihr Magen protestierte beim Gedanken daran, Acedia in die Arme zu laufen und die Gerechtigkeit entgegen zu nehmen. Und sie hasste ihre Feigheit dafür. Zwanzig Jahre der Prinzipien waren einfach so zerstört!

Ray legte ihr die Hände auf die Schultern. Er stand vor ihr, sein Gesicht war so nah bei ihr … Und er lächelte. Wie er lächelte. Wie er keine Ahnung hatte, dass dort oben ihr Richter stand und … und …

„Bitte, rede mit mir …“ Sein Lächeln verschwand plötzlich, „Hey …“

„Ich …“, brachte sie erstickt hervor. Was sollte sie sagen? Was sollte sie tun? „Ich glaube, ich … ich habe etwas Schlimmes getan“, erzählte sie ihm mit erstickter Stimme. Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. „Und es tut mir schrecklich leid“, fügte sie hinzu, „So schrecklich leid!“, versicherte sie ihm, „Aber … ich konnte nicht anders – und … und eine Bestrafung würde es wieder gut machen – aber ich habe Angst davor, bestraft zu werden und …“

„Ehrlichkeit währt am längsten“, meinte er zuversichtlich, „Jeder Richter wird Nachsicht haben, wenn du deine Gründe offen legst, wenn es gute Gründe sind – und wenn du Reue zeigst.“

„… Nachsicht …“, wiederholte sie. Konnte sie bei einem Engel wirklich auf Nachsicht hoffen? … Hatte sie das gerade wirklich in Frage gestellt. Vor einem halben Jahr noch waren Engel für sie die Nachsicht in Person. … Und jetzt … jetzt ließen sie sie erzittern …

„Stehe zu deinen Fehlern“, riet er ihr, „Aber lass dich von ihnen nicht unterkriegen. Du musst weitermachen. Deine Ziele weiterverfolgen – du möchtest doch irgendwann genauso gut predigen können wie dein Vater, oder?“ Er lächelte leicht. „Wenn du das wirklich willst, dann musst du dich zuerst an deine eigenen Vorsätze halten.“

„… Also … soll ich mich stellen?“, fragte sie leise. Ungläubig. Ray sagte das so einfach, aber … aber … diese Angst … Die Enttäuschung. … Doch er hatte Recht. Was, wenn es wirklich der erste Schritt zur Besserung war …? Wenn Engel wirklich gnädig sein konnten?

„Denkst du, dass der Richter deine Beweggründe verstehen würde?“, wollte er von ihr wissen.

… Ob Acedia es verstehen würde? Für sie war sie nur ein kleiner, unbedeutender Halbengel, der es nicht einmal wert war, dass man ihm Hilfe gewährte, wenn er sie brauchte. Natürlich hatten die Todsünden dafür auch ihre Gründe gehabt. So wie sie sie gehabt hatte. Jeder hatte für alles seine Gründe, hielt sie für die besten überhaupt – auch Xenon tat das … Xenon …

Wenn sie jetzt da hoch ging … dann würde sie aus dem Himmel verbannt werden. Sie hatte noch eindeutiger als beim Blenden gegen das Gesetz verstoßen. Wegen Xenon. Schon wieder. Sie hatte nicht mehr die psychische Kraft, alleine in den Himmel zu gehen. Nathan war nicht gekommen … Acedia … wenn sie es ihr erklärte – würde sie es nachvollziehen können? Würde einer der mächtigsten und wichtigsten Engel wirklich einfühlsam genug sein, um panische Furcht vor dem Himmel akzeptieren zu können?

… Vielleicht war sie auch gar nicht da, um sie zu bestrafen. Vielleicht erhielt sie jetzt schon ihre zweite Chance – als Wiedergutmachung. Lief die Versammlung überhaupt noch? Warum war Nathan sonst noch nicht gekommen? Acedia … war sie vielleicht hier … um sie auf den richtigen Weg zu bringen?

Und falls nicht … konnte sie laufen. Der Ruf würde zurück geschickt werden. Und nichts konnte mehr so schmerzhaft sein wie der Magnet. Sie wäre frei vom Ruf.

Sie erhob sich. „Ich … hoffe es …“

Ihre komplette Magie zog an ihr. Sie musste laufen. Und rennen. Zu Acedia. Sie wartete dort oben auf sie. … Sie würde sie befreien können …

„Sei überzeugend“, half Ray ihr weiter, „und bereue.“ Plötzlich runzelte er die Stirn. „Kyrie? Alles klar? Du … wirkst plötzlich so …“ Er stockte.

„… entschlossen?“, mutmaßte sie und starrte weiterhin zum Dach hoch. „Ich habe eben eine Entscheidung getroffen.“ Sie lächelte ihn unsicher an. „Ich glaube, das ist seit langem die erste gute Entscheidung.“ Auch wenn sie selbst es noch immer bezweifelte.

„Welche?“, wollte er wissen.

„Sag meinen Eltern, dass sie nicht auf mich warten brauchen.“ Sie erhob sich von der Mauer und umarmte Ray. „Bis morgen. Und danke für deine Hilfe.“

„Welche Hilfe?“, wollte er verwirrt wissen.

Sie schaute zu ihm hoch. „Du hast mir doch eben Tipps …“

„War das nicht rhetorisch?!“, schnitt er ihr das Wort ab, „Läufst du jetzt zur Polizei? Ich-…“

Sie wich einige Schritte zurück. Sie wusste, was er jetzt sagen wollte, der besorgt bestimmte Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände. „Nein, da … da kannst du nicht mit“, meinte sie mit Entschlossenheit in der Stimme, „Es … es werden schon andere da sein, die mir helfen, ich-…“ Sie unterbrach sich. Es wäre schon toll, wenn Nathan bei ihr wäre. Wenn er sie unterstützen könnte. … Aber … Nathan war auch Acedias Assistent. Und wieso sollte …

Ein Geistesblitz traf sie – deshalb war Acedia hier! Nathan musste ihr gesagt haben, dass Kyrie nicht alleine in den Himmel konnte! Und er hatte bestimmt irgendetwas Wichtiges zu tun, hatte derweil Acedia geschickt, um sie zu holen. Um sie zu begleiten! Das war keine Bestrafung – sie gaben ihr vielleicht wirklich eine Chance!

Sie musste los.

„Bis morgen!“, rief sie, drehte sich um und rannte los. Morgen würde sie sich bei Ray für ihren Auftritt entschuldigen müssen. Aber … vielleicht war wirklich nicht alles zu spät. Vielleicht hatte Nathan für sie alles ins rechte Lot gerückt – und sie wollte sich eine zweite Chance nicht durch ihre Angst nehmen lassen.

… Während sie rannte, schaute sie zurück zu Ray, der noch immer an der Mauer stand und ihr verdutzt nachschaute. … Er würde es ihren Eltern ausrichten, sodass sie sich keine Sorgen machen mussten.

Und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühlte sie wieder Hoffnung, als sie dem Himmel entgegen lief. Nathan hatte sie also doch nicht vergessen. … Damit hatte er also bewiesen, dass sie sich wirklich auf ihn verlassen konnte.

Das Leben als Assistent war wirklich streng. So streng, wie man munkelte. Doch er würde es durchstehen. Ira bei seinen Aufgaben zu helfen, war sein neues Lebenswerk. Das, und dabei den Assistenten von Acedia zu vermeiden. Es galt die Regel, dass man sich die Assistenten der anderen nicht zum Freund machen musste, da man sie als Todsünde sowieso schon gut genug kennen würde – und es war besser, die Fehler der anderen nicht zu kennen, um sie ernster nehmen zu können. Denn zu viel Information schadete dem Respekt, so hieß es.

Ein Jahrhundert zog ins Land, in dem er unter anderem einen Halbengel großgezogen hatte. Der jedoch wollte nicht zum Engel werden. Neben Acedia und Luxuria war er vielleicht das einzige Wesen gewesen, das ihm je mehr bedeutet hatte. Doch mit seiner Entscheidung – er hatte sich auch von Ira nicht umstimmen lassen – wurde er gekappt. Und mit ihm sein ganzes früheres Leben. Auf dass ihm ein früher Tod ereilen würde. Irgendwie gab Ira sich Mitschuld an der Entscheidung seines Schützlings – er hätte ihm mehr gut zureden müssen, auch wenn sie das nicht durften. Er hätte ihm mehr Zugang zu Wundern gewähren müssen … etwas, das ihm Anlass gab, keine Angst vor Magie zu haben … Doch er hatte seine Magie zu gut gemeistert. Er hatte ihn vor jedem Dämon gewarnt, hatte keine Gefahr an ihn heran gelassen und hatte ihn ein Leben führen lassen, das er liebte. Und deshalb wollte er wohl nichts daran ändern … Ein gutes Leben, wie es war, statt einer gravierenden, unglaublichen Änderung … Wenn er den Preis gekannt hätte – dann hätte er sich anders entschieden, oder?

Iras Herz war schwer geworden, als das vehemente Kopfschütteln gesehen hatte. Ein zu gutes Leben … Manchmal hatte er ihn noch besucht. Anfangs. Aber er hatte ihn tatsächlich nicht wieder erkannt. Alles war gelöscht worden. Er hatte sich beinahe so verloren gefühlt, wie all die Jahrhunderte zuvor bei Acedia. Warum konnte er keinen beschützen, den er liebte?
 

Kurz nach seiner Rückkehr in den Himmel war dann die Todsünde Luxuria gestorben.

Ira war geschockt, als er das vernahm, weil das bedeutete, dass Luxuria als Erste von ihnen zur Todsünde ernannt werden würde. Dass sie diesen Pfad zuallererst bestieg. Luxuria hatte ihren näher kommenden Tod bereits ein Jahr zuvor prophezeit gehabt – und somit hatte seine Freundin die besten Voraussetzungen, eine hochwertige Nachfolgerin zu werden.

Doch wie immer zogen sich die Verhandlungen der amtierenden Todsünden in die Länge – und es wurde keine Engelsversammlung angesagt. Auf eine Todsünde könnten sie verzichten. In Wahrheit wussten sie vermutlich bereits, dass auch Ira bald sterben würde.

Und so war es auch. Und wenig später starb Acedia.

Das war der Zeitpunkt, an dem er Acedia nach all den Jahren wieder sah. Und er hatte sie damals kaum wieder erkannt.
 

Ira hatte den Ruf von Avaritia vernommen und war sofort zur Engelsversammlung geeilt, um sie zu sehen und so dem Schmerz zu entkommen. Er war noch dazu ziemlich nervös, weil er wusste, dass es nun wirklich kein Zurück mehr gab. Als Todsünde kam die volle Verantwortung. Und er fühlte, dass er bereit war. Er würde das schaffen. Sein Vorgänger hatte ihn sehr gut vorbereitet, war mit ihm alles durchgegangen, was er wissen musste. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen: Er würde eine Todsünde sein. Sie waren allmächtig. Sie machten keine Fehler.

Und doch erschien alsbald Acedia neben ihn. Ihr flammend rotes Haar war hochgesteckt – und sie starrte ihn entgeistert an, als sie ihn sah. Es waren keine liebevollen Worte, wie er sie sich vielleicht in seinen Träumen erhofft hätte, es waren keine Worte des Willkommens, wie er sie erwartet hätte – vielmehr war ein Schock auf ihrem Gesicht abgebildet, den er nie wieder vergessen hatte können. Wie sie erbleicht war. Wie sie mit offenem Mund dagestanden hatte und ihm ein schockiertes „Du?!“ zugerufen hatte …

Er bedachte sie mit einem kühlen Blick. „Ja“, antwortete er, „Und du bist Acedia.“

„Aber …“, keuchte sie, „Du … Was machst du hier? Seit wann bist du ein Assistent?“

„Wir sind uns nie begegnet“, gab er ihr Recht, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Vielleicht war das auch gut so …“

„Aber … aber ich …“, stammelte sie verlegen – und daraufhin wandte sie sich ab.

„Und Luxuria ist auch hier“, eröffnete er ihr.

Sie versteifte sich vollkommen.

Also hatte sie wirklich gedacht, sie sei der einzige starke Engel hier.

… Er unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht war sie doch zu ehrgeizig geworden. Und scheinbar war sie völlig über ihn hinweg gekommen …

Als sie davon marschierte, schaute er ihr nach. Und der Schmerz in seiner Brust verkündete ihm, dass er leider nicht so gefasst war, wie er hätte sein sollen.

… Vielleicht hätte er sich doch mehr anstrengen sollen, sie zu vergessen. … Denn immerhin war die Liebe das Schönste, was man geben konnte – denn sie blendete die Realität und ließ einen alles besser sehen, als es in Wirklichkeit war. Doch das war nicht die Aufgabe der Todsünden. Sie mussten das Böse sehen und es ausmerzen.

Das war ihre Aufgabe.
 

„Ira … ich …“, begann Acedia eines Tages am Gang ein Gespräch. Sie waren Todsünden geworden. Alles war gut vonstatten gegangen – und sie hatten schon ihre erste Sitzung gehabt, „Ich muss mich bei dir entschuldigen …“

Er schaute sie an und versuchte, dabei so gleichgültig dreinzuschauen, wie es von seinem Rang verlangt wurde. „Wofür?“

„Für damals … Ich …“ Sie biss sich auf die Lippen. „Ich wollte dich nicht einfach so verlassen.“

„Aber du hast es getan“, erklärte er sachlich. Sein Herz klopfte gegen seine Brust. Er wollte sie umarmen. Nein – er war jetzt eine Todsünde.

„Und es tut mir leid“, schwor sie, „Von ganzem Herzen. Doch – ich hatte meine Gründe …“

„Nein“; hielt er sie ab.

All die Jahre hätte er diesen Moment dazu genutzt, sie in die Arme zu nehmen, ihr zu verzeihen und einen Neuanfang zu wagen. Doch jetzt nicht mehr. Sie waren Todsünden. Ihr Zusammentreffen war rein geschäftlich, ihre Beziehung entfernt und sie mussten kalkulieren und nicht interpretieren.

Sie starrte ihn verdutzt an. „Ira, ich …“, startete sie erneut, „Meine Gründe sind schwerwiegend, sie …“

„Sie sind mir egal“, sagte er ihr ins Gesicht, „Und ich wünsche, nicht weiter gestört zu werden.“

Plötzlich verhärtete sich ihr Blick. Ihre Augen, die kurz ausgesehen hatten, als wären sie den Tränen nah, wurden stahlhart und schienen plötzlich undurchdringlich zu sein. Sie verzog den Mund und setzte eine eiserne Miene auf. „Na schön“, meinte sie, „Wenn du willst, Ira, dann vergessen wir es einfach.“ Sie klang beinahe wütend.

Dann stapfte sie mit donnernden Schritten an ihm vorbei.

Und da wurde ihm klar, dass es keine zornige Wut war – sie war enttäuscht. Sehr enttäuscht von ihm. Weil er ihr nicht zugehört hatte, aber …

War es nicht unfair? Warum sollte er ihr jetzt zuhören, wo sie sich solange nicht gemeldet hatte? Sie sprach von Gründen, ja, aber … welche Gründe könnten es sein, die sein Herz so lange hatten schmerzen lassen?

Er wollte nichts mehr davon hören. Er wollte das beenden.

Sie waren Todsünden. Sie hätten sowieso keine Zeit mehr füreinander. Es würde alles noch schlimmer machen, wenn er ihr verzeihen würde.


 

Kyrie rannte die Treppen nach oben. So viele Menschen im Anzug, zum Glück oftmals gepaart mit gewöhnlich gekleideten, kamen ihr entgegen; einige warfen ihr skeptische Blicke zu, doch sie sah darüber hinweg. Während sie gerannt war, hatte eine plötzliche Euphorie sie gepackt: Sie würde ihre Schmerzen verlieren! Dieses schreckliche Gefühl, dass sie von innen zerfiel, würde endlich verschwinden, sie würde schlafen können – der Schmerz und ihr Versuch, diesen zurückzudrängen, hatten sie immerhin die ganze Nacht gekostet. … Und sie hatte Ray nicht die ganze Wahrheit gesagt. Es war nicht nur der Gedanke an die Prüfung gewesen, der sie hatte aufstehen und zur Uni gehen lassen … Sie hatte ihn sehen wollen. Der deprimierende Gedanke, Ray an diesem Tag vielleicht nicht sehen zu können, war es, der sie sich aufkämpfen hatte lassen, um ihn nicht wahr werden zu lassen. Sie hatte alles zurückgedrängt, hatte eisern eine fröhliche Miene aufgesetzt, um die Sorge ihrer Eltern zu vermindern – sie hatten auch gesagt, sie würden sie heute früher abholen als sonst. … Was sie auch abgehalten haben mochte – Kyrie dankte demjenigen auf jeden Fall … Vielleicht hätte sie Acedia übersehen. Acedia, die ihr helfen würde, ob das nun ihre Absicht war oder nicht …

… Was auch immer hinter Acedias Auftauchen stand … wie auch immer Kyrie sich vorstellte, vor einer etwaigen Bestrafung davonlaufen zu können – sie musste es schaffen. Und wenn der Schmerz, der sie nach und nach weiter nach unten drückte, endlich weg war – sie war sich sicher, dass sie danach auch ohne Flügel fliegen können würde. Wenn dieses Gefühl endlich verschwinden würde … dieses alles übergreifende Gefühl, das in dem Moment, in dem ihr klar geworden war, dass sie es gleich wieder verlieren würde, sogar ihre Angst bezwungen hatte …

Zum Glück sprach keiner der Geschäftsmänner sie darauf an. Aber vermutlich gingen Kinder der Angestellten oder Kunden ebenfalls aus und ein, weshalb die Türen offen standen.

Die Treppen raubten ihr den Atem, aber der Schmerz, den ihre Lunge dabei empfand, fiel ihr auch nicht weiter auf, weshalb sie sich weiter vorantrieb. … Je näher sie Acedia kam, desto schlimmer wurde dieses Brennen in ihr, desto dringlicher wurde es … Sie hatte keine Ahnung, in welchem Stock sie sich befand, als ihr ganzer Körper nur noch ACEDIA schrie, als alles in ihr nur noch an Acedia dachte.

Und unvermittelt hatte sie die Tür zur Dachterrasse aufgerissen. Sie konnte nicht glauben, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. Dass sie da war. Dass sie … dass sie … vor einer Todsünde stand.

Acedia stand vor dem Geländer. Die riesigen Schwingen hatte sie ausgebreitet, demonstrierend, dass sie keine Angst hatte, gesehen zu werden. Ihr rotes Haar wippte im Wind, der auf der Terrasse blies, langsam hin und her. Und dann wandte sie sich zu ihr um.

Der Blick aus den violetten Augen traf den ihren – und alle Schmerzen waren verschwunden. Die Erlösung erfasste Kyrie und am liebsten hätte sie laut ein Lobgebet ausgestoßen – doch sie befand sich vor einer Todsünde. Sie musste Haltung bewahren. Acedia hatte sie jetzt gesehen. Das bedeutete … dass sie … dass sie sich dem Grund für ihr Kommen stellen musste.

Sie schnappte schnell nach Luft und spannte sich an. … Acedia betrachtete sie bloß schweigend. Musterte sie … Als würde sie sie zum ersten Mal sehen … Nach einem halben Jahr war sie also bereits in Vergessenheit bei ihr geraten? … Vermutlich bereits nach einer halben Stunde.

Acedia. Eine der Todsünden. Eine derer, die sie im Stich gelassen hatten …

„Der Halbengel“, stellte sie kühl fest, „Du bist also der letzte Aufsässige.“

… Aufsässig. Kyrie erschauderte kurz. Man hatte sie in ihrem Leben schon als viel bezeichnet – aber nie als aufsässig. Sie war nämlich gehorsam und brav und …

„Komm her“, kommandierte Acedia dann, wobei sie sich ganz zu ihr umdrehte.

Kyrie schritt sofort vor, wobei die Dachterrassentür, die ihr bis zu dem Moment eine Fluchtmöglichkeit geboten hätte, mit einem Krachen zuflog. … Sie hatte Flügel. Irgendwie würde sie davonfliegen können, wenn … Nein. Nein, sie musste sich der Strafe stellen. Sie wollte nicht als Rebellin gelten! Sie war gut erzogen und unterwürfig! Ray … Ray sollte stolz auf sie sein … Reue. Sie musste zeigen, dass sie wahrlich bereute.

In einem Abstand, der ihr für Acedia angemessen vorkam, hielt sie inne. Sie ließ den Blick auf den Boden geheftet. Doch sie spürte, dass Acedia sie nach wie vor musterte.

„Du hast meinen Ruf ignoriert“, begann die Todsünde dann vorwurfsvoll, „Und noch viel schlimmer – du standest der Engelsversammlung nicht bei.“ In ihrem Ton schwang ein eindeutiges „Und das als Halbengel!“ mit. Doch die Worte selbst folgten nicht. Aber es waren tadelnde Worte. Nicht enttäuscht, nicht ungläubig – nur scheltend.

„Es … es tut mir leid“, brachte Kyrie hervor – und sie hörte, wie ihre eigene Stimme dabei quietschte. … Nervosität stieg in ihr hoch, jetzt, wo der Schmerz vorbei war. Wo alles wieder normal war … Eine Todsünde. Sie stand vor einer Todsünde. Was … was sollte sie nur tun? Wo war Nathan? Nathan sollte kommen … Hatte er wirklich so viel Wichtiges zu tun, dass er ihr nicht beistehen konnte? „Ich … ich hatte aber einen Grund … Ich …“, stammelte sie mit vor Aufregung kleinlauter Stimme.

„Mich interessieren deine Gründe nicht“, erklärte Acedia geradeheraus, „Du hattest dem Ruf zu folgen – wie alle anderen Engel auch.“

Die Worte trafen Kyrie wie ein Blitz. Sie traute sich kaum mehr zu atmen. … Alle anderen Engel waren gekommen? Sie … sie war also die Einzige, die bestraft werden würde … Keiner würde ihr helfen. Sofort stürzte die Angst wieder über sie herein. Sie verschränkte die Arme, um ein Zittern zu unterdrücken, was ihr aber nicht gelang. „Ja“, gab sie ihr piepsig Recht, „Es tut mir leid …“ Sie wollte weg. Sofort! Aber die Angst ließ sie auf der Stelle erstarren. Acedia durfte nicht wütend sein … bitte … bitte nicht …

„Damit ist dir nicht mehr geholfen“, beschied sie.

Kyries Augen weiteten sich. Sie schaute kurz unbeholfen auf. Acedia sah nicht in ihre Richtung. Ihr Blick war auf den Himmel gerichtet.

… Sie könnte fliehen. Sie könnte abhauen. Acedia würde sich bestimmt nicht die Mühe machen, sie zu suchen … Sie könnte … sie könnte so viel – aber … Sie fühlte sich versteinert. Sie hatte noch mehr Schuld auf sich geladen. Sie hatte … sie hatte das wohl einfach verdient, was auf sie zukam. Sie … sie … könnte sich sowieso nicht wehren … Und die Strafe anzunehmen … war wohl besser. Vielleicht würde sie dann eine zweite Chance bekommen und … Irgendwie konnten sie den Gedanken weder beenden noch glauben.

„Nicht bei einer Engelsversammlung zu erscheinen, ist ein eindeutiger Regelverstoß“, fuhr sie unbeirrt fort, „Deine Strafe lautet … Exekution.“ Acedia machte einen Schritt in ihre Richtung.

Kyrie konnte nicht anders, als gerade heraus zu ihr zu starren. Was?! Was?! Aber … aber Exekution?! Davon war nie die Rede gewesen?! Nathan hatte ihr doch gesagt, dass es die Verbannung wäre – mit 25 Jahren Lebensdauer auf der Erde und …

Kyries Magen verkrampfte sich weiter. Ihr wurde speiübel. Sie musste weg. Sie musste weg hier! Rays Gesicht, das ihrer Eltern, Nathans – sie alle tauchten plötzlich in ihren Gedanken auf. Sie konnte jetzt nicht einfach so sterben! Sie wollte jetzt nicht einfach so sterben! Nie mehr in den Himmel zu können, war eine deprimierende Sache – aber zu sterben? Nein! Das … das ging doch nicht! Es war unmöglich!

Sie wich einen Schritt zurück, wodurch sich die Starre glücklicherweise löste. Dabei bemerkte sie, wie ihre Knie zitterten. Tod? Jetzt?

Es erschien ihr wie ein dunkler Traum. Das konnte doch nicht ihr ernst sein! Wie sie es sagte – mit diesem kühlen, emotionslosen Gesicht, wie ihre Augen auf Kyrie hafteten …

Ein Engelsschwert erschien in Acedias Hand.

Und plötzlich wurde Kyrie bewusst, dass das ihr völliger Ernst war. Sie würde sie jetzt hinrichten. Jetzt sofort … aber …

„Wo ist das gerecht!?“, hörte sie sich selbst aufbegehren, „Das ist doch … das ist …“

Acedia zuckte mit den Schultern. „Für den letzten Engel erspare ich mir das Tamtam“, erklärte sie leichthin, „Also halt still!“ Und damit stieß sie sich vom Boden ab und auf Kyrie zu.

Kyrie konnte nur die Schwertspitze sehen, wie sie auf sie zu kam. Von unten. Wie oft war Nathans Schwert so auf sie zu gekommen? Immer. Acedia war keine großartige Kämpferin, hatte er gesagt, aber sie war seine Kampfpartnerin gewesen.

Sie warf sich seitlich auf den Boden, sodass Acedia sie glatt verfehlte. Reflexe. Sie hatte Reflexe ausgebildet! Sie … sie war so erleichtert, dass alles in ihr nachgab, weshalb sie wie am Boden liegen blieb und am liebsten darin versinken wollte. Was sollte sie tun? Was nur!?

„Halbengel“, fauchte Acedia, „Wärst du zur Versammlung gekommen, hätte es sich sowieso schon erledigt.“

Kyrie hob ihren Kopf. Es war noch nicht vorbei. Sie hatte nicht sofort wieder zu gestochen. War das vielleicht also doch mehr ein Schreckkommando? … Nein … diese Mühe würden sich Todsünden nicht machen. Wirklich nicht.

Sie schaute auf die Schwertspitze. Wie oft hatte so ein Engelsschwert sie jetzt schon getroffen? Dass sie noch immer nicht daran gewöhnt war … dass sie immernoch Angst vor dieser Spitze hatte …

Sie erschauderte leicht. Exekution. War es diesmal … richtig ernst?

„Es tut mir wirklich leid!“, setzte sie erneut an, „Ich … ich hatte Angst!“, brachte sie endlich hervor, „Angst davor, ohne Nathan in den Himmel zu gehen …“

Beim Klang von Nathans Namen horchte Acedia auf. Sie schaute auf sie herab. Sie stand in einiger Entfernung. Vielleicht tat sie ihr nur nichts, weil sie so wehrlos am Boden lag. … Wie lange würde sie brauchen, um ihr eigenes Schwert zu rufen? Wenn Acedia sich dann erneut auf sie stürzte, konnte sie sie blenden … und flüchten.

Die Übelkeit in ihrem Bauch, die nagende Angst in ihrem Knochen und der Anblick des Schwerts der anderen überzeugten sie davon, dass sie diesmal kein Problem mit dem Blenden haben würde. Nur damit, selbst eine Waffe zu rufen, bevor Acedia ihr den Garaus machte. Sobald sie sie lähmte, wäre alles zu spät … Eine Hinrichtung … Warum? Warum nur?

„Nathan ist wohl pflichtbewusster als du“, wertete sie dann, „Du hättest einfach kommen sollen. Wir würden uns beide etwas ersparen.“ Graziös wandte sie sich zu ihr um, wobei ihre Schleppe am Boden hinter ihr schleifte. „Alles würde ganz schnell gehen. Der Himmel bliebe noch für ein paar Tage abgedichtet, die Erde für ein paar unbedeutende Stunden noch sie selbst – aber …“ Sie seufzte verbittert und warf ihr einen erbosten Blick zu, ohne innezuhalten. Erst jetzt bemerkte Kyrie, wie sie zitterte. … Warum zitterte eine Todsünde? Hatte sie … Angst? Angst vor ihren eigenen Worten? Was wollte sie damit überhaupt aussagen?! Wie sollte Kyrie da mit drinnen hängen?! Was war los?! „Und der Welt hättest du ihre letzten qualvollen Stunden ebenfalls erspart!“ Sie hob das Schwert an, während sie bedeutungsvoll innehielt.

Jetzt. Wenn sie sich erneut auf sie zu bewegte, musste sie ihre Flügel ausstrecken und das Schwert rufen. Nathan hatte es doch sooft mit ihr geübt! Sie musste es schaffen, sie musste es einfach …

„Auf Wiedersehen, kleiner Engel“, wünschte Acedia ihr, „Auf dass der Himmel wieder scheinen möge!“ Und sie bewegte sich blitzschnell auf Kyrie zu.

Doch das Schwert kam gar nicht erst in ihre Nähe. Stattdessen stand dort Ray – und das Schwert zerbrach an seinem Arm.
 


 

Schwer atmend hatte Ray es die Stufen nach oben geschafft. Er war Kyrie gefolgt. Sie war aber viel schneller und ausdauernder, als sie ausschaute. Das Lernen tat seiner Kondition wirklich nicht gut … Aber seine Sorge um Kyrie hatte ihn vorangetrieben. Wenn auch langsamer, hatte er die Stufen doch erklommen – ihr Blick war stetig nach oben gerichtet gewesen, sie war eindeutig in dieses Gebäude gegangen … Er musste ihr hinterher! Was hatte er ihr da nur gesagt? Einmal hatte er sich endlich überwunden, ihr die Wahrheit über seine Gedanken als Gesetzeshüter zu sagen – und dann stürmte sie gleich los, um sich wirklich wegen irgendetwas zu stellen? Sie hätte es ihm sagen müssen! Sie hätte einfach die Karten auf den Tisch legen sollen! Sie … sie konnte sich doch nicht wirklich irgendwem übergeben und auf Reue hoffen! Das Gesetz war dazu da, über jene zu richten, die etwas falsch gemacht hatten – aber dem Gesetz war es auch total egal, dass es sich dabei um Kyrie handelte. Und er war sich nach wie vor sicher: Egal, was sie getan haben sollte, es konnte nicht so schlimm gewesen sein, dass sie wirklich eine Bestrafung verdiente.

Die Tür ganz oben schien zur Dachterrasse zu führen. Sie war geschlossen. Ein mulmiges Gefühl tat sich in ihm auf. Was für ein Gesetzeshüter wartete auf einer Dachterrasse? Kyrie würde doch nicht … über sich selbst gerichtet haben, oder?

Eilig zog er die Tür auf. Vielleicht kam er noch nicht zu spät und- …

Alles in ihm gefror bei dem Anblick, der sich ihm dort bot: Eine majestätische Frau mit flammend rotem Haar streckte ein langes, goldenes Schwert nach vorne … und setzte mit ihren riesigen, weißen Federschwingen zur Landung an. Durch die Bewegung am Dach stoben einige Federn durch den Wind, wippten hin und her … und unterstrichen die Anmut ihrer Bewegungen.

Und am Boden neben ihr lag Kyrie. Kyrie … Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, da die beiden sich in einiger Entfernung aufhielten – sodass keine der beiden die Tür im Auge hatte. Warum lag sie am Boden? Vor einer … vor einer Frau mit Flügeln? Alles in ihm schrie den Namen des Wesens – doch er wollte es nicht fassen. Das da konnte kein Engel sein! Warum sollte da ein Engel sein? Das ging nicht.

„Und der Welt hättest du ihre letzten qualvollen Stunden erspart“, eröffnete die helle Stimme des Engels – doch ihre Worte ließen Ray erschaudern. Was … was hatte das Wesen nur vor?

Und dann sah er, wie sie das Schwert hob.

Zugegeben, er hatte keine Ahnung von der Schwertkunst. Er wusste nur, dass das tödliche Waffen waren, dass man sie nicht in der Öffentlichkeit zeigen durfte und dass sie an öffentlichen Orten vom Sicherheitspersonal abgenommen werden mussten. Aber er erkannte einfach, was diese Frau jetzt vorhatte. Ihre kompletten Bewegungen verdeutlichten es, Kyries Anspannung bestätigte es.

Er hatte gegen Midas nichts ausrichten können – aber er würde nicht noch jemanden an seine Schwäche verlieren. Und schon war er losgerannt, hatte sich vor Kyrie geworfen und seinen ohnehin verletzten Arm dem Schwert entgegengedrückt.

Und Ray hätte mit allem gerechnet. Mit Blut. Damit, seinen Arm zu verlieren, vielleicht auch, dass das Schwert ihn durchschnitt. Und umso erstaunter war er, als das Schwert seinen Arm nicht einmal wirklich berührte, sondern direkt an ihm zerbarst. Eine kleine Druckwelle schob den Engel zurück – und dabei sah er in ihr Gesicht. Tiefrote Lippen waren in Erstaunen leicht geöffnet, ihre Augen weit aufgerissen und sie musterte ihn mit Entsetzen.

Aber er hatte keine Zeit, sich mit ihr zu befassen. Sie wollte wirklich Kyrie angreifen! Wie konnte sie es wagen, Kyrie anzugreifen?!

Und ehe er sich versah, hatte er Kyrie gepackt, die in etwa genauso perplex starrte wie der Engel, und hatte sie fortgezogen.

„Ihr könnt fliehen!“

Ray schaute zurück, als er Kyrie die Treppen herunterzog und inständig hoffte, dass sie nicht fallen würden. Der Engel stand vor der Tür. Er sah nur seine Silhouette, kein Gesicht. Hörte nur ihre durchdringende Stimme. „25 Jahre hält diese gottverlassene Welt sowieso nicht mehr aus.“

Er lief schneller. Sie blieb scheinbar oben – aber er wollte Abstand zwischen sie bringen! Von dort oben könnte sie sie überall hin verfolgen! Die Frau hatte Flügel!

Er ließ Treppen aus, sprang weiter. Adrenalin verteilte sich in seinem Körper. Weg!

„Und versuche gar nicht erst, den Himmel noch einmal zu betreten.“ Nur ein Hall im Treppenhaus. Eine Stimme, kalt wie Eis.

„Die Pforten sind deinetwegen verschlossen.“ Immer leiser, und dennoch noch viel zu nah.

„Bis du stirbst.“

Sie entkamen aus dem Haus.
 

Die Todsünden erschienen vor der Haustüre des Ehepaars und klopften an. Sie wurden hinein gelassen. Der Vater starrte sie mit großen Augen an – sieben verhüllte Gestalten.

Als Luxuria die Tür schloss, warfen sie ihre Umhänge ab – und zeigten ihre Flügel.

„Was … was sind das?!“, kreischte die Mutter aufgeregt.

„Euer Kind hat das Potenzial eines Engels“; erklärte Superbia freundlich, „Und hat die Chance, in zwanzig Jahren zu einem zu werden.“

„Der Himmel hat heilende Kräfte“; fügte Acedia genauso nett hinzu, „Er spendet Licht und Wärme. Durch die Flügel wird es weiter fliegen können, als ihr es je für möglich halten würdet.“

„Was … was redet ihr da!?“, fragte sie aufgeregt, „Haltet euch von meinem Kind fern!“

„Bitte überlegt es euch gut“, bat Ira sie, „Es ist nur zum Besten eures Kindes …“ Er dachte an seinen eigenen Halbengel. … Wenn der nächste Assistent dafür losgeschickt werden würde, dann könnte er es besser machen.

„Nein!“, rief der Vater dazwischen, „Haut ab! Oder ich rufe die Polizei!“

„Das Kind wurde von Gott auserwählt, um Größeres zu schaffen“, meinte Invidia, „Wenn ihr jetzt ablehnt, dann nehmt ihr dem Kind die Chance zu wachsen und zu gedeihen. Wollt ihr euch wirklich dafür verantworten?“

Es war das erste Mal, dass er dabei war. Es war das erste Mal, dass er es wirklich erleben würde. … Er wollte das nicht. Hoffentlich besannen sich die Eltern! Warum waren sie nur so gegen Gott eingestellt? Warum beeindruckte das himmlische Licht sie nicht?! Eigentlich sollte es doch ihre Nerven beruhigen, ihnen Wärme schenken und sie logisch denken und handeln lassen!

„Ich will nichts mehr davon hören!“, meinte die Mutter, „Es gibt keinen Gott!“

„Und was auch immer ihr hier abspielt – raus mit euch!“, setzte der Vater überzeugt nach.

… Das war die Entscheidung.

Er schaute Superbia in die Augen. Der nickte.

„Euer Wunsch ist uns Befehl“, meinte er ruhig, „Wenn ihr keinen Engel zum Kind haben wollt, so soll er euch genommen werden.“

Erkenntnis trat in die Augen der Mutter. „Moment – was soll das heißen!?“

„Wer kein Engel ist, ist ein Dämon“, fuhr er fort, „Und einem Dämonen dürfen wir kein Leben gewähren.“

„Was?!“, kreischte sie. Sofort wandte sie sich um und lief in einen anderen Raum.

Da drüben würde das Kind liegen.

Sie hatten ihm Instruktionen gegeben – was er tun musste, um die Macht an den weiterzugeben, der das Kind mit sich nahm …

Der Vater sah gehetzt hin und her. „Das kann doch nicht euer Ernst sein!“

„Wir sind Engel“, erklärte Superbia, „Natürlich ist das unser Ernst.“

„Ihr bleibt dabei?“, fragte Ira. Hoffentlich entschieden sie sich um. Bitte. Er wollte kein Kind töten – ob Dämon oder nicht! Diese Leute liebten es bestimmt so sehr, wie er seine besten Freunde geliebt hatte …

„Ich gebe es bestimmt nicht in eure Obhut und …“, knurrte der Vater.

Doch Superbia wandte sich ab und Ira richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn. Und dann gab er ihm sein Licht.

Superbia ging – umhüllt mit dem Licht der Sieben Todsünden – zum Kind. Die Mutter hielt es fest an sich gedrückt und wich immer weiter zurück.

„Bitte, bitte nehmt es mir nicht weg!“, bat sie.

Ira folgte ihnen.

Wollte er das wirklich mit ansehen?

Superbia schickte den ersten Strahl los. Plötzlich wurde die Mutter ganz ruhig. Schaute ganz perplex zu ihnen. Er nahm ihr das Kind geschickt aus den Armen.

Dann kehrte er zum Vater zurück – der plötzlich mit einem Messer bewaffnet hinter den Todsünden stand. Doch auch er konnte dem Licht nicht entkommen. Und wirkte im nächsten Moment völlig ausgewechselt. Ruhig und freundlich.

Superbia hielt das Kind weiterhin in der Hand. Und dann traf ein dritter Strahl das Kind, welchem plötzlich Flügel sprossen.

Er wirkte glücklich.

„Bevor dich die Dämonen bekommen …“, murmelte Superbia, „Tut mir echt leid, Kleiner. Aber wir ersparen dir damit etwas.“

Als sie in den Himmel zurückkehrten, fühlte Ira sich miserabel – ja. Ja, er wusste, weshalb sie es taten: Halbengel waren zu empfänglich für dämonische Energie. Lebten sie in einer Umgebung mit zweifelnden Eltern, so würden sich die Dämonen viel einfacher in ihnen festsetzen können – einfacher, als ein Assistent ihnen helfen können würde.

Es hatte keinen Zweck. Und so blieben dem Kind vierundzwanzig Stunden im Himmel.

Luxuria kam zu ihm. „Ich kann es nicht einfach alleine lassen“, erklärte sie, „Es ist noch so klein und …“

Ira nickte.

Und so spielten sie 24 Stunden mit dem Kind. Und sie ignorierten die Rufe, die eingingen. Es war wohl noch ein Unterschied zwischen Engel und Menschen: Ein Engel war von Geburt an alleine, hatte außer Gott keine Eltern. Menschen hingegen konnten nicht alleine sein … Er würde auf es aufpassen.

Und er würde es nicht vergessen.

Nach einigen Tagen, das Kind war zu Gott eingegangen, ging er wieder auf die Erde und suchte die Eltern auf. Er wollte wissen, wie es ihnen ginge – sie wussten ja nicht, dass das Kleine jetzt an einem sicheren Ort war, der von Glück erfüllt war.

Er stand am Fenster und schaute unauffällig hinein. Und da sah er, dass die Mutter ein anderes Kind im Arm trug. Nein … kein anderes – dasselbe?!

Wie … wie war das möglich?!

Er wandte sich um – und da stand plötzlich Superbia.

„Dass es tatsächlich Engel gibt, die Mitleid mit ihnen haben“, bemerkte er mit einem amüsierten Lächeln, „Bemerkenswert, Ira.“

„… Wo kommt das Kind her?!“, fragte er aufgeregt, „Wir haben ihm dabei zugesehen, wie es …“

„Gott ist nicht grausam zu ihnen“, meinte Superbia sanft, „Er liebt die Menschen. Und darum gibt er sie ihnen zurück.“

„Aber … warum löschen wir dann ihre Erinnerungen?“, fragte er aufgeregt, „Wieso sagen wir das nicht weiter!? Das ist doch ein Hauptargument gegen uns!“

„Weil wir egoistisch werden würden“, erklärte er ruhig, „Weil wir selbst alles, was wir verloren haben, zurückhaben wollten. Er entzieht ihnen die Kraft, die sie zu Engeln oder Dämonen machen würde, und lässt sie als gewöhnliche Menschen wiedergeboren werden. Darum ist es auch wichtig, dass sie noch so klein sind, während wir sie aufsuchen.“

„Aber … warum lassen wir ihnen dann überhaupt die Wahl?“, fragte Ira, „Warum quälen wir sie so mit dieser Entscheidung?“

„Es waren deine ersten“, entgegnete Superbia, „Nicht alle reagieren so wie sie. Und je mehr wir in Erscheinung treten, desto mehr Licht lassen wir in ihren Herzen zurück. Sie sind jetzt für längere Zeit gute Menschen, die Dämonen fern halten. Vielleicht fangen sie auch an zu glauben. Denn Hoffnung, Glaube und Liebe sind es, was wir Engel bedeuten. Und das musst du immer in dir bewahren. Es ist unsere Aufgabe, den Menschen genau das bewusst zu machen.“

Er breitete seine Flügel einfach so aus, ohne sich vorher umzusehen.

„Du meinst damit, dass das Löschen der Erinnerungen gut für sie ist?“, fragte Ira skeptisch.

„Es wird gut werden“, entgegnete Superbia, „Darum sehe ich auch kein Problem darin.“ Und dann verschwand er.

Ira benutzte den Fußweg. Das hatte er sich als Assistent angewöhnt – damals, als er selbst ein „Mensch“ gewesen war … Sie hatten dasselbe Prinzip ja eigentlich auch bei der Ablehnung. Nur dass der Engel dann nicht wiedergeboren wurde, sondern dass man ihm einfach die Kräfte nahm. … Wobei man diese ja eigentlich aufschloss. Und das Licht der Todsünden simulierte dabei den Himmel, sodass sie fünfundzwanzig Jahre leben konnten, ohne ihre Kraft zu benutzen. Und in der Zeit, in der der Assistent bei ihnen war, bildeten sie Charakter. Und der Assistent half ihnen dabei gut zu werden. Und wenn man die Hälfte seines Lebens gut war, würde man es auch die andere Hälfte lang sein. Dann hatten Dämonen keine Chance. … Aber sie hatten dafür auch keine Chance, in den Himmel zu kommen.

Es war ein Dilemma. Aber Superbia hatte ja Recht – man durfte sie nicht zu ihrem Glück zwingen, solange sie keine andere Person außer sich selbst schadeten. Immerhin schadete ihr Unglaube auch Gott …

… Anfangs prüfte er immer wieder nach, ob das mit dem „neuen“ Kind auch wirklich eintraf. Doch irgendwann hatte er damit aufgehört. Und es einfach vergessen.
 

Und so wurde sein Herz mit der Zeit von Gleichgültigkeit erfüllt. Und irgendwann waren ihm seine früheren Gefühle so fern, dass der Schmerz aus seinem Herzen verschwunden war, wenn er Acedia ansah. Dass er nichts mehr fühlte, wenn er ein Kind in den Himmel schickte. Dass es ihm egal war, welche Erinnerungen er von welchem Engel löschte. … Alles war ihm im Grunde seines Herzens so egal.


 

Ray verstand noch immer nicht, was sich da wirklich abgespielt hatte. Dort oben auf der Dachterrasse. Er wollte nicht einsehen, dass da eine geflügelte Frau gestanden hatte, deren Schwert auf Kyrie gerichtet war. Die versucht hatte, Kyrie umzubringen.

Er fühlte nur noch die Erleichterung. Die Erleichterung darüber, dass sie die halbe Stadt durchquert hatten, sich dann in eine überdachte Gasse abgesetzt hatten und dort jetzt endlich nach Luft schnappten. Sein ganzer Körper beschwerte sich über die Anstrengung.

Und sein ganzer Geist dankte ihm im Gegenzug dafür. Er hatte … er hatte sich tatsächlich vor ein Schwert geworfen … Für Kyrie. Und er bereute es keine Sekunde. Vor ein Schwert. Von einer geflügelten Frau. Unfassbar. Unbegreiflich.

Kyrie lehnte genauso atemlos wie er an einer Mauer. Sie wirkte noch immer gehetzt, schaute ständig wie im Verfolgungswahn zum Licht, das von der Straße her hereinfiel und dafür sorgte, dass sie hier irgendetwas sehen konnten.

Sie hatte noch kein Wort gesagt. Und ihre Augen verrieten ihm, dass sie sich auch noch nicht beruhigt hatte.

… Verdammt. Sie war gerade dabei, umgebracht zu werden! Wenn … wenn er ihr nicht gefolgt wäre, wäre sie tot. Ein Schauer durchzuckte sein ganzes Dasein. Tot. Nicht mehr da. Sofort verdrängte er den Gedanken wieder. Sie war noch da … sie lebte … Er hatte ihr helfen können … Sofort schloss er den Abstand zu ihr und umarmte sie. Er fühlte, dass sie wirklich noch da war. Dass er sie nicht im Stich gelassen hatte … sie nicht verloren hatte.

Sie atmete kurz überrascht auf, erwiderte die Umarmung dann aber. Sie lebte. Sie war nicht gestorben. Sie konnte sich noch vollends bewegen … Er hatte sie … beschützen können …

Er drückte sie noch fester an sich. Dreimal setzte er an, ehe wirklich Worte seinen Mund verließen: „Kyrie …“, brachte er hervor, „Was … was war das?“

„Ich …“, quietschte sie, „ich schulde dir wohl eine Erklärung …“

„Ja“, meinte er ernst, „Durchaus.“

„Das war ein Engel“, erklärte sie leise, „Und sie wollte mich … wollte mich …“ Sie stockte.

… umbringen. Das war es, was sie wohl nicht sagen konnte. Ein Engel. Etwas, worüber Kyrie so oft in höchsten Tönen gesprochen hatte, etwas, was sie ihm als Grund genannt hatte, an Gott zu glauben, hatte versucht, sie zu töten! Wie grotesk war das?!

„Dann war es kein Engel“, beharrte er, „sondern ein Monster.“ Ihre letzten Worte, die, die er gehört hatte, hallten in seinem Kopf wider: … die letzten qualvollen Stunden. Allein diese Worte … wie könnte ein Engel so etwas sagen? Wenn Engel das waren, was Kyrie ihm immerzu beschrieben hatte – gute, lichte Wesen -, wie konnte sie dann so etwas einen Engel nennen, nur weil er Federflügel trug?

„Sie ist eine der Sieben Todsünden“, fuhr Kyrie noch zurückhaltender fort, „Sie … sie hatte wohl einen guten Grund dazu, mich ... anzugreifen …“

„Es gibt keine guten Gründe, Menschen zu verletzen“, entgegnete er überzeugt. Er legte seine Hand auf ihren Hinterkopf und umschloss sie noch enger. Wie konnte sie glauben, dass sie das verdient hätte?! Das Ding hatte sie mit einem Schwert attackiert!

„Wohl … wohl wahr …“, stimmte sie zögerlich zu. Dann seufzte sie und ließ sich gegen Ray sinken. Er hielt sie fest. „Ich verstehe es selbst nicht …“

„Was hast du dann mit ihr zu tun?“ Kyries Gesicht lehnte an seiner Schulter, vergraben und nicht sichtbar für ihn. Engel … Konnte das etwa der Grund für ihre Verschwiegenheit sein?

„Ich habe nicht auf sie gehört …“, erklärte Kyrie kurz angebunden, „… und das war ihre Strafe …“

„… von der ich gesagt habe, du solltest sie annehmen“, beendete er ihren Gedanken, als ihm genau das klar wurde.

Sofort schaute sie auf. Ihre dunklen Augen blickten ihn schockiert an. „Nein!“, widersprach sie, „Also – doch, aber nein! Das ist nicht deine Schuld! Ich wäre so oder anders gegangen!“ Plötzlich sprach sie ganz schnell, „Ich … hatte so große Schmerzen – ihretwegen. Ich musste zu ihr … sonst … sonst …“ Sie schüttelte schnell den Kopf. „Danke, Ray“, sagte sie, wobei sie ihn fester umarmte, „Danke … ohne dich … hätte ich es vielleicht nicht geschafft …“

… Große Schmerzen. In seinem Kopf sah er sie vor sich, wie bleich und krank sie heute noch gewesen war … Sie war zersaust, Staub bedeckte Teile ihrer Kleidung – aber sie schaute gesünder aus als noch zuvor … bevor sie mit einem Schwert bedroht wurde. „Ich habe dir gesagt, dass ich auf dich aufpassen werde“, erinnerte er sie, „Und ich hatte vor, mein Versprechen noch etwas länger zu halten.“

Sie kniff ihre Lippen kurz zusammen. „Danke …“

„Kyrie?“, fragte er leise. Es war noch immer schockierend für ihn, dass er diese Frage wirklich stellte: „Warum … war da ein Engel?“

„Sie leben im Himmel“, wisperte sie, „Von dort aus helfen sie Gott bei seinem Kampf gegen Dämonen …“ Plötzliche Trauer beschlich ihr Gesicht. „Und Halbengel stehen an ihrer Seite – oder standen … Ich kann nicht mehr zurück.“

Ihre Worte jagten ihm einen weiteren Schauer durch den Körper. … Sie war ein Engel. Er hatte immer gewusst, dass mit ihr etwas nicht stimmte – aber … aber das … „Warum?“, war alles, was er herausbrachte, „Was …“

„Ich wusste bis vor einem halben Jahr auch nichts davon“, gestand sie ihm, „Aber … ich war von Geburt an ein … ein halber Engel.“

„Heißt das …?“, setzte Ray an – dass John oder Magdalena ebenfalls Engel waren?

„Nein“, entgegnete sie, weil sie seinen Gedankengang wohl erriet, „Einfach … dass ich ein Mensch bin, der ein Engel sein könnte. Und der einer war, aber … das hat sich jetzt wohl erledigt …“

“25 Jahre hält diese gottverlassene Welt sowieso nicht mehr aus.“

Diese Worte – voll von Spott - hatte die Todsünde ihnen noch nachgerufen, während sie bereits die Treppen nach unten gerannt waren. … Sie hatte Flügel. Wenn sie ihnen folgen hätte wollen, hätte sie das leicht tun können, indem sie sie von oben beobachtet hätte. Hatte sie aber nicht. Zum Glück hatte sie sich dagegen entschieden – aber weshalb?

„25 Jahre …“, murmelte Ray vor sich hin.

„… sind meine verbliebene Lebenszeit“, erklärte Kyrie leise, „25 Jahre als Mensch …“

„Und versuche gar nicht erst, den Himmel noch einmal zu betreten. Die Pforten sind deinetwegen verschlossen. Bis du stirbst.“ Die Stimme hatte gehallt, sie war so mächtig und stark, dass sie sich in seinen Kopf gefressen hatte – und doch hatte seine Panik es geschafft, sie zu verdrängen. Ihre Worte waren mehr als nur beunruhigend. Und wie laut und bedrohlich sie durch das Treppenhaus gehallt hatten – es fühlte sich nach wie vor an, als wäre er hier in dieser Seitengasse aus einem Alptraum erwacht.

„Warum … soll der Himmel zu sein?“, wollte er wissen. Er verstand es nicht. Er verstand nichts von dem, was Kyrie ihn da gerade erzählt hatte. Ein Engel. Sie erklärte ihm gerade vollen Ernstes, dass sie ein Engel war! Er hatte gerade dabei zugeschaut, wie ein anderer Engel sie töten wollte! Wie ein Engel ihr erklärte, dass sie sterben müsste, um den Himmel wieder zu öffnen! Das konnte doch alles nicht real sein! Es klang so unglaublich!

Und doch bestätigte es ihm, woher Kyrie ihren festen Glauben hatte – das war Wissen. Wissen um einen Gott, der sie auch nicht mehr beschützte, Wissen um Engel, die sich gegen sie gestellt hatten ... Es klang unglaublich. Aber möglich. Und er hielt sie in diesem Moment fest umklammert, weil sie gerade vor einer Verrückten geflohen waren. Das war kein Alptraum im eigentlichen Sinne gewesen. Das war eine neue Ebene der Realität.

„… Ich weiß es nicht“, gab sie bedrückt zu. Sie wirkte ehrlich betrübt. … Die Worte der Todsünde waren auch schockierend. … Bis du stirbst.

„Sie wir im Moment sicher?“, informierte er sich und kontrollierte noch einmal den Zugang zu dieser Gasse.

„Nutze deine Zeit“, murmelte Kyrie zur Antwort, „denn ich kann warten.“ Ein Zitat.

Ray erinnerte sich an den Klang dieser letzten Worte nur noch ganz verschwommen, weil sie wohl schon zu weit weg gewesen waren, um sie in voller Pracht aufnehmen zu können.

„Heißt das … sie wird dich noch einmal aufsuchen?“, fragte er besorgt – und umschloss sie fester.

„Ich … ich habe keine Ahnung“, beteuerte Kyrie„Wirklich nicht …“ Sie grub sich wieder in seine Schulter. „Bleibst du bei mir?“, bat sie ihn leise.

„Ich verlasse dich nicht“, versprach er ihr entschlossen. Was auch immer das noch für Überraschungen mit sich ziehen sollte – er würde bei ihr bleiben. Er würde sie nicht im Stich lassen, während eine Irre versuchte, sie umzubringen. Er würde sie auch nicht alleine lassen, wenn sie das nicht der Fall wäre.

Sie schaute zu ihm auf. „Danke.“ Dann lächelte sie mit solcher Aufrichtigkeit, dass sein Herz fester zu schlagen begann. „Ich liebe dich.“

Beim Klang dieser Worte war er erneut davon überzeugt, dass es sich nur um einen Traum handeln konnten. Doch diesmal einem guten. Aber als ihr Körper sich fester gegen seinen presste, sodass er ihre Wärme spüren konnte, als sein Herz vor Aufregung Salti schlug, weil er sie endlich vernahm – da wurde er erneut in die Realität zurückgeholt, dass es sich dabei um keinen Wunschtraum handeln konnte.

Nichts von alledem. … Aber er verstand jetzt, weshalb sie ihm nicht die Wahrheit sagen wollte. Wenn er nicht die Todsünde mit dem Schwert gesehen hätte, hätte er ihr vermutlich auch nicht geglaubt. Jetzt jedoch … jetzt konnte sie mit seinem Vertrauen rechnen. Und er mit ihrem.

Und dann näherte sich sein Mund dem ihren – und endlich küsste er sie. Und es fühlte sich genauso magisch an, wie er es schon solange erwartet hatte. Wenn er seinen Engel jetzt küssen konnte … dann war das ein Anfang. Der Anfang einer neuen Geschichte – die er mit Kyrie bestreiten würde.

Fünfundzwanzig Jahre klangen nach viel, doch er wusste, dass sie viel zu kurz sein würden.
 


 

Hand in Hand spazierten Ray und Kyrie weiter. Sie konnte Acedias Leuchten über sich fühlen. Das Licht erhellte den Himmel, der für Ray aber noch immer gleich dunkel wirkte. … Und doch strahlte er für Kyrie noch eine Spur heller. Sie hatte Ray endlich ins Vertrauen ziehen können. Ihm endlich die ganze Wahrheit eröffnen können. Sie brauchte ihn nicht mehr anzulügen, ihm keine Märchen zu erzählen – er wusste jetzt um ihre wahre Natur. Dass sie ein Engel war, zumindest für ein halbes Jahr.

Denn jetzt würde sie ihre Flügel nicht mehr ausstrecken können. Acedia konnte warten. Acedia würde warten. Aber sie konnte genauso gut zuschlagen, sobald sie Kyrie sah. Aber Kyries Licht war unsichtbar, solange sie ein flügelloser Mensch war. Und aus irgendeinem Grund würde Acedia geduldig sein … bis sie starb.

Fünfundzwanzig Jahre. Und die Zeit tickte. … In der Theorie hatten sie sich lange angehört – aber jetzt erschienen sie ihr unendlich zu kurz.

„Ich liebe dich“, hatte sie zu Ray gesagt … und dann hatten sie sich geküsst. Der Kuss erschien ihr, wie die Erfüllung all ihrer Träume. In dem Moment, in dem sich ihre Lippen berührt hatten, waren all ihre Probleme plötzlich wie davon geblasen … Aber danach waren sie mit aller Dringlichkeit zurückgekehrt …

Sie musste nachdenken. Sie musste über alles nachdenken! Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte! Immerhin wusste sie auch nicht, was passiert war.

… die Pforten des Himmels waren für sie also verschlossen, wenn das stimmte, was Acedia behauptete … Wie sollte sie dann ihr Leben verlängern?

Sie lehnte sich weiter an Ray. Ihr Herz schlug wie wild. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Er hatte ihr gesagt, dass er bei ihr bleiben würde … Er hatte sich für sie vor ein Schwert geworfen. Er hatte sie gerettet. Ohne ihn hätte sie nicht einmal mehr fünfundzwanzig Jahre. Sie wäre vielleicht schon tot. … Sie verdankte ihm so viel. Und sie war froh, ihm im Gegenzug endlich in alles eingeweiht zu haben … Und Kyrie hoffte, dass ihr zumindest ein wenig Zeit blieb, um Rays Liebe zu genießen, ehe ihr dann alles so richtig klar werden würde. Es war so viel gewesen … Sie konnte ihre Gedanken nicht einmal richtig ordnen – immer wieder kamen sie zu Ray zurück, zu ihrem Glück … Das Glück, das mit einer schrecklichen Wendung begonnen hatte.

„Egal wie dunkel der Weg auch erscheinen mag – irgendwann geht er immer aufs Licht zu“, murmelte sie, „Glaubst du, dass das stimmt?“

„Ganz bestimmt“, versicherte er ihr. Er legte einen Arm um ihre Schultern und drückte sie näher zu sich. Mit dem anderen Arm legte er ihre Hand um seine Hüfte. Er wirkte so lässig … Vermutlich konnte er es genauso wenig glauben. Noch viel weniger … es musste … überwältigend für ihn sein. Wie es für sie am Anfang ebenfalls gewesen war.

Sie hatte sich also tatsächlich eine Todsünde zum Feind gemacht … Sie schaute nach oben in den Himmel. Ray hielt sie fest. Sie war davon überzeugt, dass sie zusammenbrechen würde, wenn er sie jetzt los ließe. Aber er tat es nicht.

Sie musste zu ihren Eltern. Und dann würde sie auch mit ihnen reinen Tisch machen müssen … Ein Engel hatte versucht, sie zu töten … schon wieder.

… Aber wo war Nathan? Er konnte doch nicht damit einverstanden sein – er hätte doch etwas zu ihrem Schutz gesagt … Oder nicht? … Hoffentlich war mit ihm und mit Liana, Deliora, Thierry und Joshua alles in Ordnung … Und wie sollte sie mit ihnen in Kontakt treten, wenn sie ohne ihre Flügel auch keinen Hilferuf aussenden konnte?!

Sie fühlte sich fast schon schlecht dafür, mit Ray glücklich zu sein, während sie keine Ahnung hatte, wie es um ihre Freunde stand.

… Keine Ahnung - davon hatte sie im Moment genügend.

„Ich bin froh, dass du da bist“, meinte sie leise und aufrichtig, „So froh …“

„Ich will immer da sein, wo du bist“, entgegnete er, „Jemand muss auf dich aufpassen.“

„Ich bin froh, dass du es bist“, erwiderte sie erleichtert.

Sie schritten weiter. Zusammen. Vielleicht wirkten sie für andere klein und unbedeutend, nicht bemerkenswert und leicht zu ignorieren … Aber für Kyrie wollte ihre Welt im Moment nur aus Ray und sich selbst bestehen. Alles andere hätte sie wohl einfach zerbrochen.
 

Iras Verstand schien endlich zum Stoppen gebracht worden zu sein … Endlich fühlte er den Himmel nicht – endlich konnte er los lassen … Seine Erinnerungen tanzten um ihn herum …

Und als er die Augen aufschlug, sah er in Luxurias Gesicht.

Sie trug keine Federschwingen am Rücken, sondern golden schimmernde, die aus Metall zu bestehen schienen. Sie lächelte ihn an. Und da erkannte er, dass sie selbst strahlte. Aber anders als sonst. … Vollendeter.

„Gray …“, begrüßte sie ihn leise, „… Ich bin hier, um dich zu uns zu holen …“ Sie strich ihm sanft über den Kopf. „Wir brauchen deine Hilfe …“ Und plötzlich brachen seine Blockaden.
 

F e d e r s c h w i n g e n – T e i l 1

Ende.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bin für so verzwickte Liebesgeschichten einfach nicht geschaffen! Warum habe ich mir diese Geschichte mit Nathan und Joshua bloß angefangen? Ich hoffe, dass es zumindest halbwegs verständlich herüber kommt - ihre Gefühle, dass es nicht sein darf ...
Grr ...

Wie gesagt: Federschwingen ist nur eine Übungsgeschichte für mich - in Sachen Liebe. Erwarte(t) darum bitte kein Wunderwerk! Natürlich gebe ich mir sehr viel Mühe mit der Geschichte und sie geht mir auch sehr ans Herz, aber mein bestes Werk ist sie deshalb noch lange nicht :/
Jetzt habt ihr noch Zeit, umzudrehen XD

Aber ein großes DANKE an all jene, die es bis hierher geschafft haben!
Es freut mich wirklich sehr, wenn jemand meine Geschichten liest :3
Ich gebe auch mein Bestes! Versprochen! >w< Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke an meine Leser!
Ich hoffe, es gefällt euch bisher :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und hier und heute muss ich mich ordentlich bedanken: Danke fürs Favorisieren! Es freut mich, dass es zumindest jemanden gefällt ^^
Danke schön! ^__^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, der Rutsch ist gut ausgefallen!
Und hiermit wünsche ich ein frohes, neues und erfolgreiches Jahr :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielleicht ist jemandem aufgefallen, dass es neue Charakterbilder gibt?
Die sind anlässlich dieses 1-Jahr-lang-am-Schreiben-yeah-Ereignisses entstanden!
Aber behaltet ruhig eure eigenen Bilder im Kopf xD

Falls sich jemand wundert: Jeder kann sich umziehen. Und wenn jemand Brillen bloß als Schmuck trägt, kann er sie immer wieder ablegen und anziehen - gerade so wie er möchte xD

Vielen Dank fürs Lesen! ^__^

PS: Es gibt verdammt viel Liebe in dieser FF ... SO viel @.@ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wieso jemand schläft, wenn er nicht zwangsläufig schlafen muss?
... ICH LIEBE SCHLAFEN *,* Und Essen! Und euch :-*
Danke für das Lesen und die Treue <3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Okay, jetzt muss ich voller Freude herausposaunen: OMG!! Vielen lieben Dank an MarySae, die die Fanfiction so ultratoll kommentiert und mich dadurch nicht nur motiviert, weiterzuschreiben, sondern mich endlich einmal dazu bringt, alle alten Kapitel zu überarbeiten!! Danke sehr, so einen Schub habe ich gebraucht! Und dann gibt es immer so tolle Rückmeldungen, die mir wirklich Freude machen, ob sie nun mehr positiv oder negativ sind.
Also: Vielen, vielen Dank dafür! >w< Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, das war die erste actionreiche Szene in Federschwingen! Herzlichen Glückwunsch, wenn du es bis hierhin geschafft hast, das würde nicht jeder durchhalten. xD

Jedenfalls muss ich hier darauf verweisen, dass es in der gesamten Geschichte nur drei solcher Schlag-ins-Gesicht-(wortwörtlich)-Momente geben wird. Der Rest ist wie der (recht lange) Anfang der Geschichte: Seelenleben.

Aber ich danke jeden von Herzen, der sich bis hierher durchgekämpft hat!! <3
DANKE! >w<
Ich hoffe, dass die Charaktere, die Geschichte oder einfach die Weltenbildung euch dazu aufrütteln kann, weiterzulesen. Oder einfach irgendetwas >w<
Vielen Dank-Dank-Danke noch einmal dafür! :)

Mir macht es übrigens sehr viel Spaß, an der Geschichte weiter herumzuschreiben >w< Und ich bete, dass es euch genauso viel Spaß macht, sie zu lesen :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen des Kapitels!! *_*
Ich hoffe, es hat euch gefallen :3

Liebe Grüße und noch einen schönen Tag ^_^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bedanke mich noch einmal für die Kommentare!! Meine Motivation steigt stetig!! Vielen, vielen Dank <3

Und einen schönen November wünsche ich :3 Ich hoffe, das Kapitel hat gefallen ^_^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein Krankenhauskapitel - ich mag keine Krankenhäuser, keine Kabel, kein gar nichts ... Darum habe ich die Teile auch recht kurz gehalten.
Also: Vielen lieben Dank fürs Lesen <3
Hoffentlich hat euch das Kapitel gefallen (auch wenn mal wieder recht wenig passiert ist xD')

Liebe Grüße
Geni

Edit: O.O Es ist ja schon Dezember!!! (Zeit, Jahr - wo seid ihr hin!?) Das macht dieses hier zum letzten Kapitel fuer 2014! °^° *shocking moment* Ich hab es auch geschafft, alle Kapitel zwischen 1. und 5. des Monats hochzuladen!!! Das haette ich nie von mir erwartet TwT
Aber, wenn alles glatt laeuft, gibts im naechsten Jahr mehr Kapitel pro Monat, bis sich jemand beschwert ;)

Und auch wenn wir uns 2014 nicht mehr schreiben/lesen/sehen sollten - fuer "Frohe Weihnachten und ein gutes/besseres/bestes neues Jahr!" ist es eindeutig noch zu frueh! Das kommt dann als Edit xD

Und natuerlich hoffe ich, dass die Geschichte auch im neuen Jahr noch irgendwie reizend wirken wird - ich wuerde mich freuen!

Liebe Gruesse! :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein frohes neues Jahr! Ich wünsche euch allen viel Glück, Erfolg und hoffe, dass wir auch in diesem Jahr das Vergnügen miteinander haben werden! *^* Ich würde mich freuen <3
Außerdem hoffe ich, dass ihr einen guten Rutsch abgelegt habt ;) Ich bin nicht mal ausgerutscht! Ha!

Jedenfalls danke ich euch, dass ihr das Kapitel gelesen habt und mein Most-dramatic-No-Drama-Drama miterlebt x//D''

Liebe Grüße, Geni!

Wegen den Hochladedaten muss ich noch nachdenken :3 Das Einmal-im-Monat ist zwar echt praktisch, weil man nicht sooft denken muss, aber ... es dauert so lange ;.;

Bis zum nächsten Kapitel :3 Und einen guten Start ins neue Jahr! ^_^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Huhu und danke fürs Lesen! *^*
Ja, das war mehr so ein Übergangskapitel, aber ... ich hoffe, es hat trotzdem ein wenig gefallen :3

Ich glaube, ich lade wirklich einfach zwei Kapitel pro Monat hoch (wenn ich es nicht vergesse xD) ... Mal schauen, was daraus wird!

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen :3

Ich hoffe, es hat euch halbwegs gefallen - auch wenn sich die Spannung derzeit wohl in Grenzen hält ... ^^°

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen! Ich hoffe, es hat euch gefallen :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen!
Jetzt ist "Federschwingen" schon zwei Jahre alt! *^*
Und nach zwei Jahren sind wir endlich bei 30 % angekommen, Glückwunsch! xD

Die derzeitigen Kapitel sind etwas 0815, ich weiß ^^° Und ich entschuldige mich auch schon dafür! Aber ich mag es, wenn 0815-Angelegenheiten geklärt werden, da bekommt man (hoffentlich ihr auch?! D:) ein ganz anderes Gefühl für die Charaktere!

Jedenfalls danke fürs Lesen ^_^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Mit einiger Verspätung - aber es ist daaa~

Huuuh, 30! Jetzt sind wir wirklich beim Drittel angelangt!

Danke fürs Lesen *3* Ich hoffe, es gefällt <3

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Durchhalten! Nicht mehr lange, okay?
Und ja, Kyrie ist blöd. Wirklich.

Vielen Dank fürs Lesen :)
Ich hoffe, ihr findet es erträglich ^^°

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wowowow! Cliffhanger, Leute, Cliffhanger!
Ich glaube, es gibt in der ganzen Geschichte zwei davon xD

Jedenfalls tut es mir leid, dass ich mir beim Hochladen so viel Zeit gelassen habe! Aber im April war viel los ^^°
Das nächste Kapitel kommt dann Anfang Mai :3

Ich hoffe, es hat euch gefallen <3

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen :3 Ich hoffe, es hat euch gefallen :3
Schönen Start in den Mai! ^_^

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, nach all der Zeit ist Nathan endlich in Aktion getreten xD
Er ist wirklich ein alter Faulpelz :P

Ich hoffe, euch hat die Geschichte bisher gefallen!
Vielen Dank fürs Lesen <3

Liebe Grüße! :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Etwas zu spaet, ich sehe schon ^^°
Die anderen beiden werden bald folgen, danach kehrt hoffentlich wieder Normalitaet ein!

Danke fuers Lesen <3 Liebe Gruesse
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es dauert, es ist nicht gebetet, aber es ist für euch!! Ich hoffe, es gefällt euch noch :3
Danke fürs Lesen <3
Ab Juli wieder regelmäßig!!

Byeee <3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo! Fast pünktlich! Aber besser als die letzten XD

Danke fürs Lesen! *^* Ich freue mich noch immer, wenn es euch gefällt *^*

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen :3

Ich hoffe, es gefällt euch noch ein bisschen :3

Liebe Grüße
<3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Assasymphonie!

Leute, Leute! Das wird schon das vorletzte Kapitel aus Frankreich! Uiuiui, die Zeit vergeht viel zu schnell!
Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen :3

Schönen Abend noch <3 Und vielen Dank fürs Lesen <3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Uiuiui, und schon wieder spät dran!
Aber diesmal schon wieder aus der schönen Heimat!
Adieu, France, je t'aime :'(

Ich hoffe, ihr mögt mein Kapitel genauso oder zumindest nur halb so wenig, denn das wäre auch schon genug *^*
Jedenfalls <3 Danke fürs Lesen und bis zum nächsten Mal :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Weiterverfolgen!
Wenn ich mich weiter dran halte, dann haben wir in drei Monaten die Hälfte erreicht - und ich werde dann versuchen, bis Ende des nächsten Jahres den ganzen Rest noch reinzuquetschen :3
Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich heuer noch gar nichts geschrieben habe. Einfach null. :P
Wünscht mir Glück, dass sich das noch ändert ;)

Und ich danke euch derweil fürs Lesen und Weiterverfolgen <3
Das freut mich wirklich super *^* Ihr seid toll *^*

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Weiterverfolgen :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und wieder ein Kapitel! Jetzt sind wir fast bei der Hälfte angelangt! Ich weiß, es geht nur schleppend voran und es ist langatmig, aber ... danke, dass ihr es weiterverfolgt <3 Das freut mich wirklich sehr <3

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen <3 Ich hoffe, es amüsiert noch ein wenig :3

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!!

Ihr habt die Halbzeit erreicht!
Richtig! Halbzeit! Weitere 45 Kapitel trennen euch noch vom zweiten Teil!

Ich habe vor, die restlichen 45 (-3 = 42) Kapitel 2016 hochzuladen (= in einem Jahr so viele, wie jetzt in fast zwei) ... Seit Jänner habe ich eine Schreibpause eingelegt, die werde ich voraussichtlich nächstes Jahr beibehalten. Aber dann geht es weiter mit dem zweiten Teil, für alle, die vorher nicht weggeschlafen sind xD

Vielen Dank fürs Lesen/Durchhalten!!
Weiter sooo!!
Ich hoffe, es gefällt euch :3

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soo, nach diesem Kapitel gibt es im heurigen Jahr nur noch zwei!! Wie schnell die Zeit vergeht - schockierend!
Nicht so schockierend, wie andere Ereignisse, aber - huh.

Jedenfalls vielen lieben Dank fürs Lesen <3 Ich hoffe, es gefällt euch noch und 0815-Kapitel wie dieses langweilen euch nicht zu sehr ^^°°° Aber ... Charakterbildung und so!!1111!!11

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen <3
Ich hoffe, es hat euch gefallen oder gefällt euch noch ^_^

Und das war das vorletzte Kapitel für dieses Jahr! Die Zeit vergeht so verflucht schnell!! OMG D:>

Danke jedenfalls <3
Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Konzert-Geschichte war einer der ersten Teile der Geschichte, die feststanden! (Dass ich mit dem Ende angefangen habe, ist doch wohl klar, oder? xD) Jedenfalls war es wirklich eine Erleichterung, das alles wirklich abzutippen <3

Und damit sind wir auch schon beim letzten Kapitel für 2015 angelangt! Die Hälfte haben wir heuer also geknackt, das nächste Jahr wird ein Flashjahr!! (Ich muss noch schauen, wie ich das mit dem Upload zusammenbringe!)

Jedenfalls danke ich euch fürs Lesen <3 Ich bin stolz auf jeden, der es so weit geschafft hat!!!

Und somit wünsche ich auch frohe Weihnachten, ein schönes Restjahr und ein gutes, perfektes neues Jahr mit viiiiel Vergnügen!!! <3

Und wenn ihr ein Konzert besuchen wollt, dann tut es!!!

Ich hoffe, euer Jahr 2015 war genauso toll wie meines (bisher) und dass das Jahr 2016 das alles noch toppen wird <3

Liebe Grüße
RhapsodosGenesis Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo und willkommen im Jahr 2016!! Alles gut überstanden? :3

Ich werde immer versuchen, einmal die Woche was hochzuladen :3 Dann sollte es sich hoffentlich ausgehen!!

Danke fürs Lesen und habt ein tolles Jahr, ihr Lieben <3

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, euer Jänner hat sich auch weiterhin gut fortgesetzt?
Ich bemühe mich jetzt schon zum zweiten von ca 43 Malen, pünktlich zu sein!!

Hat euch das Kapitel gefallen? Jedenfalls vielen Dank fürs Lesen!!

Mit freundlichen Grüßen
RhapsodosGenesis alias Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen!

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So schnell kommt man in Verzug!! Oh je, oh je!!

Ich hoffe, bei euch läuft's soweit noch gut? :2

Danke fürs Lesen <3

Liebe Grüße
Bibi the Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen <3

Ja, ich bin ARG im Verzug xD

Liebe Grüße

Bibi the Geni Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, anlässlich zum dritten Jahr des Online-Seins gibt es (fast) pünktlich ein Kapitel!! :3
Aber heuer ist ein Schaltjahr, also ist der Tagunterschied wohl begründet!!

Wer es nach drei Jahren noch immer liest, dem danke ich hiermit herzlich <3
Und natürlich denjenigen, die sich wirklich durchschlagen, auch!!

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wusste ja, dass es schwierig werden würde, jede Woche etwas hochzuladen - aber Freunde, das ist unmöglich!!
Meine Gehirnkapazität reicht dafür einfach nicht XD Diese sieben verdammten Tage vergehen verdammt zu schnell!!
Ich hoffe einfach darauf, dass es sich dennoch bis Kapitel 90 ausgehen wird. Sonst gibt es im Dezember eben einen Kapitelstau XD

Danke fürs Lesen <3 Ich freue mich, wenn es gefällt ^_^

Liebe Grüße
ein verzweifelter Autor namens Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bin so in Verzug!! Ich hoffe, jetzt in der Karwoche noch ein Kapitel hochladen zu können, aber ich bin mir rech sicher, dass ich es einfach vergessen werde >.<''
... Ich stelle mir jetzt am besten immer auf Freitag einen Wecker!!

Vielen Dank fürs Lesen, ich hoffe, es gefällt euch. :3

Mit freundlichsten Grüßen und frohe Ostern (davon ausgehend, dass ich es vergessen werde xD)
und schönes Ende der Fastenzeit noch!!

Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Bald haben wir es auf 60 geschafft!! Dieses Kapitel ist im Juni 2014 geschrieben worden. Die Zeit vergeht, Kinder!!
Ich hoffe wirklich echt, dass ich heuer alle Kapitel hochladen kann.
Wenn ich es bis Dezember schaffe, habe ich einen Polster von drei Monaten, in dem ich dann den nächsten Teil starten kann >w<

Danke fürs Lesen! Ich hoffe, es gefällt <3
Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal bin ich wohl etwas schneller dran x//D
Tut mir leid!!

Die Idee hat sich im Laufe des Schreibens gegeben - also mit Kyries Oma. Ich wollte nicht, dass sie nur am Anfang diesen einen Gastauftritt bekommt. xD

Ich hoffe, es gefällt euch nach wie vor!!
Danke fürs Lesen <3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wuhu, fast bei 60!! Dann noch dreißig Kapitel! Dreißig in acht Monaten!!
Ab jetzt müssen es wirklich vier pro Monat werden ://D Ich bin so unzuverlässig xD

Danke fürs Lesen <3
Ab nächste Woche suchen mich die Prüfungen heim >.< Wünscht mir Glück!!

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen!
Zurzeit ist die Prüfungszeit, ich bin froh, dass ich die ganzen Kapitel schon fertig habe xD
Ich brauche ganz viel Glück!

Ich hoffe, euch hat es gefallen!
Liebe Grüße!!

PS: Schreiben ist so viel toller als Kochen xD Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und pünktlich zum Tag der Arbeit Kapitel 61!!
Jetzt können wir ja schon fast nen Countdown starten!
29 Kapitel in sechs Monaten - ob das gut geht!?
Wir werden es am Ende des Jahres erfahren xD

Liebe Grüße, ich hoffe, es gefällt euch :3
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Die Zeit vergeht immer so schnell T.T
Ich komme gar nicht mehr hinterher!!

Wünscht mir Glück für die Prüfungen! <3

Ich hoffe, es hat euch gefallen <3

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und der Mai ist auch schon fast vorbei!! OMG >_<

Danke fürs Lesen!!
Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen <3
Ich hoffe, euch gefällt es!!

Liebe Grüße
Dipl. Bibi B) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
OMG, das halbe Jahr ist ja schon um!! 2016 vergeht ja wie im Flug >.<

Ich hoffe, euch gefällt das Kapitel :3

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Huh! Das letzte Kapitel für Juni >.<
Die Zeit drängt!! Wenn ich noch Wecker übrig hätte, würde ich sie ja stellen!!

Liebe Grüße
Bibi

Ich hoffe, es hat euch gefallen >w< Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Noch drei Kapitel, dann fehlen noch 20!!
Ob das gut geht bis Jahresende? Wir werden es erfahren! XD

Ich hoffe, dass es euch gefallen hat <3
Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen <3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kapitel 70!!! Wow, Leute, seht ihr das?!
Nur noch 20!!!

Danke fürs Lesen <3
Liebe Grüße Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen!!
Freu mich, wenn's gefällt!

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Im August war ich ja mal fleißig mit Hochladen! Wir könnten schon fertig sein, wenn es immer so gewesen wäre XD

Vielen Dank fürs Lesen! Ich freue mich, wenn es gefällt!

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
73! Wow! Gefällt mir! Euch auch? Ich hoffe es!

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich liebe Kuchen.
Ich hoffe, ihr habt das bereits von selbst bemerkt.
Liebe. Kuchen.

Und ich hoffe, es hat euch kuchentastisch gefallen <3
Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen <3
Ich hoffe, es gefällt und gefiel <3

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Schon September! Wir nähern uns dem Ende des Jahres!
Viel Spaß auf der Connichi, an alle, die hingehen xD

Ich hoffe, es hat gefallen <3
Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen!!

Ich hoffe, es gefällt <3

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und so ist der September auch schon wieder so gut wie um!
Das nächste Kapitel gibt es dann im Oktober :3

Ich hoffe, es hat gefallen <3
Ihr seht hier ziemlich natürliches Slice-of-Life!

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, die Uni-Zeit startet!
Hoffentlich vergesse ich da nicht, die Kapitel hochzuladen XD
Aber es sind sowieso nur noch 11 für dieses Jahr O__O

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Most-Drama-Love-Story-BAM

Mit freundlichen Grüßen
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen <3
Hoffe, es gefiel euch <3

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen <3 Ich hoffe, the Drama gefällt :3

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen!
Bald ist das Jahr vorbei OoO

Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nach einer kurzen Pause wieder im Geschäft xD

Ich hoffe, es gefällt euch <3
Liebe Grüße
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Nachwort zu diesem Kapitel:
... Wow, wir sind schon bei Kapitel 85!! Letzte Woche war ich etwas nachlässig, ich weiß, aber ... Leute! 85 - es fehlen noch 5 Kapitel!!

Ich hoffe, es ist noch halbwegs erträglich und nachvollziehbar :')
Danke fürs Lesen <3

Liebe Grüße
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh je, Klausurenzeit und ich komme wieder mit dem Terminplan nicht nach xD

Vielen Dank fürs Lesen! Noch vier Kapitel übrig!
Ich hoffe, es gefällt!!
Liebe Grüße
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen! Ich hoffe, es gefällt noch! Nicht mehr lange und es ist geschafft!
Liebe Grüße!
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich glaube, dass die Einteilung, die ich vorgenommen habe, gar nicht so ideal gewesen ist.
Die Geschichte mit Ira erst am Ende reinzuquetschen, war etwas, was wohl so nach "Last Minute Idee" klingt - aber eigentlich war der Teil einer der ersten, die festgestanden haben xD
Aber es ist ja nur indirekt der Schluss XD

Liebe Grüße
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen!
Das Ende naht! Zumindest das Ende vom ersten Teil B)
Ich hoffe, es macht noch Sinn für euch und ich freue mich, wenn diese Fiktion der Unterhaltung dient!

Liebe Grüße
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Und damit ist der erste, langatmige Teil von Federschwingen (alias Silent Sacrifice) vorbei!
Der zweite Teil ist noch nicht angefangen, es wird also dauern, bis der zur Verfügung steht! (#Verschnaufpause xD)
Und ich verspreche, den zweiten Teil kürzer zu halten bzw die Gefühlsduselei und unnötigen Szenen weitestgehend zu streichen! Aber es kann noch dauern ... xD
Aber hey! Nach fast vier Jahren haben wir Silent Sacrifice jetzt zu ende gebracht!
Vielen Dank für die Treue und das Durchhaltevermögen <3
Ich hoffe, es hat euch gefallen <3

Liebe Grüße
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Kommentare zu dieser Fanfic (45)
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Von:  MarySae
2015-04-19T08:29:29+00:00 19.04.2015 10:29
Hallöchen. Da bin ich wohl wieder O.o
Irgendwie hatte ich ein total schlechtes Gewissen, weil ich mit dem Lesen aufgehört/pausiert hatte, aber du immer noch mit so tollen Kommentaren bei TS um die Ecke kommst. ._.'
Ich stell mich wahrscheinlich einfach zu sehr an...
Jedenfalls weißt du jetzt, dass du es schaffst, mit deiner Hinhaltetaktik deine Leser auf die Palme zu bringen xD

Hmmm. Die Feder erinnert sie wieder an ihr Engelsdarsein. Sie hat es also immer noch nicht aufgegeben.
Ich an ihrer Stelle hätte die Feder längst weggeschmissen oder in die hinterste Ecke gefeuert. Da, wo ich sie nicht mehr sehen könnte. Sie meinte ja, ihr Entschluss sei endgültig. Also sollte es ihr ja nicht so schwerfallen, sich der Feder zu entledigen.
Wäre jedenfalls das Beste für sie, um nicht ständig daran erinnert zu werden...

Okay, da ist eine kleine Sache, die mich wundert.
"Sie nahm die Bettdecke und schüttelte sie gut durch, um sie im nächsten Moment zusammenzulegen und am Bett zu verstauen." - Wie schafft sie das mit nur einem Arm? O.o Ich habe schon Probleme damit, Decken mit zwei Armen/Händen zusammenzulegen. Wie schafft sie das also mit nur einem Arm? O.o

Okay, ein Konzert O.o Ein für ihn eigentlich völlig Fremder verschenkt einfach mal so sauteure Konzertkarten? Und spielt auch noch den Verkupplet? O_O
Ich habe ehrlich gesagt absolut keine Ahnung, auf was das hinauslaufen soll O.o

Hach ja. Der Stalker ist wieder am Werk...
Er könne nicht akzeptieren, dass Kyrie ihn "verlassen" hatte? O.o
Whoa, Ray. Du bist wirklich auf dem besten Weg zum Stalker zu werden xD Wenn er wüsste, wo sie wohnt oder er ihre Handynummer hätte, würde er ihr bestimmt dutzende SMS schreiben und Tagelang vor ihrem Haus kampieren O.o
Langsam wird mir der Kerl echt unheimlich...

Sie hat eine Suppe zum Überkochen gebracht? O.o Okay, sie kann also wirklich nicht kochen xD
Hmmm, ich wollte zwar, dass sie endlich ans Telefon geht, aber DAS hab ich mir darunter sicherlich nicht vorgestellt O.o
Ray ist aber auch ein Vogel. Nach WOCHEN nimmt ENDLICH einer das blöde TELEFON ab, wenn er anruft, und nur weil kurz niemand antwortete, legt er einfach auf?!?!?
Die ganze Zeit macht er einen auf stalkednen Psycho und dann im entscheidenden Moment gibt er einfach auf! Seufz. :/
Ich meine, man hört doch, wenn aufgelegt wurde oder nicht? Kyrie hat da in der Küche rumgewerkelt (was ja auch Krach macht) und seine Verbindung war doch gar nicht unterbrochen, weil ja gar nicht aufgelegt wurde! ER hat also aufgelegt, obwohl das Gespräch noch stand?!
Ist jetzt echt die Frage, wer von beiden der größere Trottel ist... Seufz.

Na dann schau'n wir mal, wie lange das noch so weitergeht xD

Liebe Grüße,
Mary
Antwort von:  RhapsodosGenesis
25.04.2015 10:49
Hallo! Es war echt eine Überraschung, dich wiederzusehen xD Aber eine gute!
Jedenfalls danke ich dir dafür, dass du dich weiterquälst und sogar noch weiterkommentierst! Ich freue mich über jede Rückmeldung, nachdem ich dadurch lerne, was ich noch zu verbessern habe - aber wie gesagt: Bitte fühle dich nicht gezwungen, weiterzulesen! ^^° Es freut mich zwar, wenn es jemand liest, aber ich will dich wirklich nicht auf die Palme bringen xD Das ist eigentlich echt nicht der Sinn der Geschichte XDD

Oder es fällt ihr eben doch schwer, weshalb sie es nicht getan hat ... Vermutlich ist sie eine Waage im Sternzeichen, die können sich nie entscheiden und keine endgültigen Entschlüsse fassen xD
Aber ja, da hast du recht :/ Vielleicht sollte sie das tun.

... Oh Gott. Danke! Es ist so schwierig, sich an körperliche Einschränkungen zu halten! (genauso bei blinden Charakteren ... grr xD Das muss ich noch sehr gut üben! >.<) Das werde ich natürlich ändern. ... Haha, und ja, das Problem kenne ich xD

Er ist kein völlig Fremder °^° Er ist ein Freund von ihm, mit dem er ziemlich oft was unternimmt. Hat das nicht so gewirkt? Okay, ich werde noch einmal drüber schauen! Danke für die Anmerkung ^^°

Er will eben nur, dass sie einmal mit ihm redet XD Aber ja, er ist wirklich am besten Wege XDD

Jap. xDD
Das glaube ich dir XDD
Das war bestimmt nur eine Kurzschlussreaktion, weil endlich wer abgehoben hat und dann nicht mit ihm gesprochen wurde xD Das war der Stress~

Ja, das ist, glaube ich, in der ganzen Geschichte die Hauptfrage xD

Danke fürs Kommentieren und Lesen *^* Ich freue mich darüber und werde auch gleich noch einmal drüberschauen! *^*

Liebe Grüße <3
Geni
Von:  MarySae
2015-03-29T09:13:11+00:00 29.03.2015 11:13
So, jetzt komme ich endlich Mal dazu das Kapitel zu lesen. Aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch tun kann... :(

Deine Geschichte frustriert mich. Aufs Äußerste. Es tut mir schon fast weh weiterzulesen und jedes Mal danach bin ich noch frustrierter und erschöpfter als vorher schon.
Sorry, wenn ich das so offen sage, aber ich bin echt am nachdenken, ob ich nicht aufhören (oder zumindest pausieren) sollte, zu lesen... .___.

Immer dieses "fast und dann doch nicht" und dann wieder dieselben Gedanken.
Und gefühlt tut niemand von denen, was ein normaler Mensch tun würde! Das Telefon klingelt: ach, auch egal. Den ganzen Tag blinkt die AB-Lampe: ach, auch egal. Natürlich interessiert das nur den Vater, der aber wieder aus bekloppten Gründen nicht zurückrufen will und eine Frau, die sich so kacken dreist ins Gesicht lügen lässt, ohne etwas zu sagen! D:
Gnarf. Mir schlägt das Herz echt bis zum Hals, weil ich mich grade wieder total aufrege. xD
Du meine Güte. Entweder habe ich echt schwache Nerven, oder du hast es geschafft, mich in den Wahnsinn zu treiben. xD *tief durchatme*

Manno... Ich würde ja gerne weiterlesen, weil ich immer noch darauf hoffe, dass die Story irgendwann mal weitergeht, aber ich weiß nicht, wie lange ich diesen Frust noch aushalte... :/

Seufz. Na gut.
Kyrie geht es schon ein bisschen besser und sie kann wieder etwas eigenständiger Leben. Das ist schön!
Aber sie scheint psychisch ganz schon was abbekommen zu haben... Sie sieht ja echt nur noch das Schlechte in allem. :/ Das Geheimnis, das sie vor ihren Eltern hat und die Gewissheit, dass die beiden nie aufhören werden, zu fragen. Aber die Antwort, die sie ihnen geben kann, wird beiden nicht gefallen. Schwierig...

Ray ist ein Blödmann, wie immer. Total unfreundlich zu Kim, obwohl sie sich wirklich Sorgen um ihn macht. Eigentlich hat er das Ganze nicht verdient... ://
Aber wer plötzlich daherkommt und über Gott und Mikrowellen philosophiert, hat wohl wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank ^^'

Das ist ein blödes Kommentar, ich weiß, und es tut mir auch Leid. ._.
Ich muss aber echt mal überlegen, wie ich hier weiter mache. Ich möchte ja auch gerne was Positives schreiben und sagen können, dass es mir Spaß macht, deine Geschichte zu lesen!
Aber grade fällt mir das etwas schwer... (Liegt vielleicht auch daran, dass ich selber grade schon genug frustriert bin und nicht noch eine Portion extra Frust brauche. xD)
Ich will damit nur sagen, dass du auf mein Gelaber gar nicht hören sollst! Deine Geschichte ist wirklich gut und ich mag die Idee immer noch, aber im Moment zieht sich das alles für mich etwas zuuu sehr.
Wenn das aber dein Stil ist, lass dich von mir bitte nicht davon abbringen!
Andere sehen das wahrscheinlich wieder ganz anders als ich ^^

Lange Rede, gar kein Sinn.
Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg mit deiner Story und ich werde sie bestimmt weiter begleiten! Ich weiß nur noch nicht, wie ^^'
viele Grüße, Mary
Antwort von:  RhapsodosGenesis
30.03.2015 23:11
Okay, also erstmal: Vielen Dank fuers Kommentieren! Ich freue mich, dass du dir die Zeit dafuer genommen hast! Und auch fuer die ehrlichen Worte beziehungsweise dafuer, dass du sie auch wirkljch noch einmal ausgeschrieben hast.

Ich finde es ausgesprochen schade, dass du so empfindest (und es tut mir leid, dass ich wirklich so gegen deinen Geschmack schreibe und dich frustiere und - oh, du meine Guete >< - dass es dir so schlecht damit geht! >< Das wollte ich nicht ><) Ja, ich will Leser mit dem Verlauf meiner Geschichte runter ziehen, aber nur durch Inhalt und DRAMA und nicht, dass sie sich aufregen, weil die Charaktere d u m m e Entscheidungen treffen >< Ja, die Entscheidungen s i n d dumm, aber diese Art von Qual wollte ich echt nicht verursachen! Ich nehme damit zur Kenntnis, dass ich den Aspekt total falsch angegangen bin und entschuldige mich auch dafuer!! Und danke, dass du es mir sagst und nicht einfach so verschwindest ^^°

Also wirklich vielen Dank noch einmal, dass du echt dreissig langwierige Kapitel durchgebissen und mich mit Tipps und Meinungen versorgt hast! Das ist schon viel mehr, als ich mir ueberhaupt erhofft habe! Und auch danke noch fuer diesen letzten Kommentar. Und ja, du h a s t Recht - Ray ist ein Bloedmann, Magdalena und Kyrie hoffnungslose Angsthasen und John ist gleich bloed wie Ray. Aber danke, dass du die Charaktere so weit auf ihrem Weg begleitet hast :3
(Warte. Das klingt bloed ... Aber ich weiss nicht, wie ich das sonst ausdruecken soll xD)

Jedenfalls hat es so echt keinen Sinn, dass du dich weiter damit herumquaelst ... Immerhin kostet das ja auch deine Zeit und ich will jetzt wirklich nichf deine Zeit mit Extra-Frust verschwenden XD (Ich hab auch schon Gesc hichten abbrechen muessen, ich verstehe wie du dich fuehlst!)


Aber falls du deine Meinung je wieder aendern oder mir und meiner/n Geschichte/n mal wieder eine Chance geben magst, wuerde ich mich nach wie vor natuerlich sehr freuen. Aber erhol dich erst mal xD

Und dein Kommi hat sehr wohl Sinn! Er sagt mir, dass ich noch sehr viel mehr weiterschreiben muss, ehe ich die perfekte Geschichte "raushauen" kann! Dafuer danke ich dir ehrlich!

Liebe Gruesse
Geni

(PS: Schreibfehler sind nicht schlimm, wenn sie ausgebessert werden XDD Und bitte fuers Kommi ;)
Von:  Saph_ira
2015-03-06T21:10:10+00:00 06.03.2015 22:10
Hmmm... Nathan hat aber seltsame Freunde - vor allem dieser Joshua ist mir irgendwie nicht geheuer... Aber mals sehen, wie das alles sich weiter entwickelt. :-)
Antwort von:  RhapsodosGenesis
07.03.2015 01:07
Oh je xD Man kann sich seine Freunde nicht aussuchen? Haha, das stimmt wohl nicht ganz xD
Joshua ist gar nicht soooo uebel ;)

Danke auch hier noch einmal *q* Ich bin froh, dass du die Geschichte weiterliest <3 Das freut mich *-*

Liebe Gruesse
Geni
Antwort von:  Saph_ira
07.03.2015 20:04
Aber gerne doch. ;-)
Na dann werden wir sehen, was für Typ der Joshua ist. Ich bin immer für Überraschungen gespannt. XD
Liebe Grüße
Saph_ira
Von:  Saph_ira
2015-03-06T20:29:29+00:00 06.03.2015 21:29
Hmmm... ein rätselhafter Fall dieser Ray... Ich frage mich noch zusätzlich, warum er nicht einfach sich eigene Wohnung sucht bzw mietet oder eine WG aufmacht? Er ist doch volljährig oder? Aber gut, erst einmal weiterlesen. XD
Antwort von:  RhapsodosGenesis
07.03.2015 01:05
Haha, raetselhaft trifft es wohl ganz gut xD
Wohnungen sind wohl zu teuer fuer eine Einzelperson, ausserdem ist er nicht der WG-Typ :/ Und neben drei Studuen zu arbeiten, wird auch schwierig D: Bleibt ihm nichts anderes uebrig, als dort zu bleiben :/

Okay! Jedenfalls sehr vielen Dank fuer deine Kommentare! Ich freue mich darueber *-*
Antwort von:  Saph_ira
07.03.2015 20:02
Gerngeschehen. ;-)
Hmm... In dem Falle ist es verständlich.
Von:  Saph_ira
2015-03-06T20:10:19+00:00 06.03.2015 21:10
Oh, neuer Gesichter. Mal sehen was mit diesem Ray es auf sich hat... ;-)
Antwort von:  RhapsodosGenesis
07.03.2015 01:02
Danke!! *-*

Ich hoffe, du wirst nicht zu enttaeuscht sein xD

Aber danke fuers Kommentieren! *-*

LG
Geni
Von:  MarySae
2015-03-03T07:27:23+00:00 03.03.2015 08:27
Hmmm, ich überlege echt, was ich jetzt hier schreiben soll. xD Ich hab das Gefühl, als hätte ich zu allem schon meinen Senf abgegeben. ^^'

Okay, die Mittwochstreffen sind doof, wenn nicht alle da sind. Kann ich verstehen.
Nathan ist mehr als erpicht darauf, alles schönzureden. Wahrscheinlich will er nicht glauben, dass noch mehr schief geht, weil er ja gerade von dem Verschwinden Engeln so geschockt ist. Auch verständlich.
Seinen Freund lässt er dazu noch aus Pflichtbewusstsein abblitzen. Joa. Nicht schön, aber passend für diesen Wirrkopf.

Kyrie kann wieder (halbwegs) laufen, das ist gut. Schön zu hören, dass es ihr wieder etwas besser geht. Aber ich kann sie verstehen, dass sie es hasst so viel Hilfe von anderen zu brauchen.
Ich stehe auch lieber auf eigenen Füßen und würde es auch nicht mögen, ständig wen nerven zu müssen. ^^
Dann drück ich mal die Daumen, dass sie schnell wieder ganz fit ist!

Die Sache mit dem Telefon, ja. Muss grade mal überlegen, wie das eigentlich war. Hatte Ray nicht aufs Band gesprochen? Müsste die Nachricht nicht noch drauf sein? Oder hatte der Vater die gelöscht?
Hätte es eigentlich ganz cool gefunden, wenn Kyrie Rays Nachricht so bekommen und ihren Vater damit ertappt hätte. Dann hätte sie sich endlich mal entsprechend ihres Alters (wie alt war sie? 20?) benehmen können!
Mir kommt es eher so vor, als wäre sie 12 und nicht 20. Ein bisschen Eigenständigkeit und vor allem Willen könnte sie schon mal an den Tag bringen! D:
(Oder war ich einfach nur ein böser Mensch, weil ich mir in dem Alter längst nicht mehr alles von meinen Eltern gefallen ließ? O.o Ich sollte wohl mal meine Kindheit überdenken xD Obwohl... Da hab ich schon gar nicht mehr Zuhause gewohnt. Boah, ist das schon wieder lange her... Na ja, egal xD)

Dann noch herzlichen Glückwunsch zu 2 Jahren Federschwingen und zu ... 30% Komplettierungsrate! :)
Ich hoffe nur, dass die restlichen zwei Drittel nicht auch noch so lange brauchen, weil ob ich in 4 Jahren noch hier bin, kann ich wirklich schwer einschätzen xD

Viele Grüße,
Mary
Antwort von:  RhapsodosGenesis
03.03.2015 16:16
Haha, es kann niemals genug Senf geben xD

Wirrkopf ist ein guter Ausdruck fuer ihn. Den muss ich mir merken, danke! Und ich bin froh, dass soweit alles verstaendlich ist! Da frohlocket mein Herz - oder so xD

:3 Huh, danke!

Sein Vater hat sie geloescht, indem der Stecker gezogen wurde :/
Ahaha, sie ist eben einfach verwoehnt und verzogen (Ich meine - wer wird schon jeden Tag mit dem Auto abgeholt und hingebracht, auch wenns am Weg liegt xD)
Sie kann nicht gut kochen (wuerde aber vermutlich ohne Mami ueberleben xD), weil sie es nicht tun m u s s und entsprechend nicht tut, sie hatte keine Freunde, die etwas mit ihr unternommen haetten, weshalb ihre Familie sowas wie Freundesersatz ist, was sie noch staerker abhaengig macht ... und Willen hat sie auch keinen, weil sie kein bis kaum Selbstvertrauen besitzt, mit dem sie sich einreden koennte, endlich mal etwas richtig machen zu koennen. Vielleicht hat sie sich deshalb so aufs Engeldasein gestuerzt - endlich mak etwas Selbststaendiges tun zu koennen. Und dann wurde ihr Vertrauen (mal wieder) von Aussenstehenden niedergetrampelt :/
(Haha XD Du bist einfach keine nachgiebige, naive Person, denke ich XD Mir zB koennte man alles einreden [Ich wuerde Riley die Daemonengeschichte ja sofort abkaufen XD *alter Naivling*] ... Aber da sieht man mal, dass es alle Sorten von Menschen gibt! xD
Ja, das Ausziehen traegt bestimmt auch sehr viel zur Selbststaendigkeit bzw. "Abgrenzung" von der Familie bei. xD)

Juhu! Dankeschoen *///* Ich bin voller Freudeeee!!! DANKE <3
Hahaha XD Planst du nicht schon vier Jahre in die Zukunft!? Also echt!! XDD
Spass beiseite - heuer sollte es hoooffentlich bis Kapitel 50 gehen [Viel Spass xD] und danach noch Stopfi-Stopfi die naechsten 40 im Folgejahr :3

Also nochmal: Danke!! Ich freu mich jedes Mal wieder, dass du so ausfuehrliche Kommentare schreibst *-*b Merci beaucoup! *q*

Liebe Gruesse
Geni
Von:  Saph_ira
2015-03-01T16:58:31+00:00 01.03.2015 17:58
Ein ruhiges und aufklärendes Kapitel. Es ist schön nun mehr über Nathan zu erfahren. Aber ein eigenartiger Typ bleibt er trotzdem. ^^
In diesem Kapitel gefällt mir auch mal von der Seite der Eltern zu erfahren, wie sie die Erreignisse der letzten Nacht usw aufgenommen haben. Das gleiche betrifft auch Kyrie. :-)

Liebe Grüße
Saph_ira
Antwort von:  RhapsodosGenesis
02.03.2015 11:16
Er ist einfach ein Hohlkopf! xD

Juhu, ich freue mich sehr, dass das ankommt *-*

Danke noch einmal fuer deinen Kommentar! Ich freue mich *-* <3

Liebe Gruesse
Geni
Von:  Saph_ira
2015-02-20T21:39:52+00:00 20.02.2015 22:39
Schön, mal etwas mehr über Nathan zu erfahren. Wobei ich aus ihm nicht ganz schlau werde.^^ Er hat eine wichtige Aufgabe und verliert sie mit der Zeit, sozusagen, aus den Augen.... Aber gut, dass er anscheinend gerade jetzt das alles nachhollt und ich hoffe, dass er bei ihr weiterhin bleibt - so, wie er es sich selbst versprochen hatte. Und Kyrie scheint jetzt langsam besser zu gehen. Nun mal sehen, wie sie sich weiter entwickelt und sich damit abfindet ein Engel zu sein. :-)
Antwort von:  RhapsodosGenesis
22.02.2015 11:19
Und noch ein Kommentar! Dankeschön! *^*
Ja, Nathan ist ein bisschen ein komischer Vogel ^^'' Und lässt sich sehr leicht ablenken x//D Von pflichtbewusst also keine Spur!
Er hofft das auch :3

Danke für die Mitteilung deiner Gedanken *^* Es ist interessant, das zu hören!
Liebe Grüße
Geni

Und danke noch einmal fürs Kommentieren! Ich freue mich wirklich total darüber *3*
Von:  Saph_ira
2015-02-20T19:07:27+00:00 20.02.2015 20:07
Herrje... Arme Kyrie.... Ich kann ihre Zögerung vollkommen verstehen und nachvollziehen. Und Nathan ist auch keine große Hilfe. Ich frage mich gerade, was wäre wenn sie "Vielleicht" oder "Jain" gesagt oder besser noch, eine dritte Antwort-Option erfunden hätte? XD Hat sie überhaupt möglichkeit, sich mit ihren Eltern zu beraten oder sich von ihnen zu verabschieden? Und was wird, wenn ihr das Leben als Engel doch noch nicht allzu gefallen wird? Die Engel wirkten nicht gerade an ihr interessiert, sondern nur ihre Aufgaben pflichtbewusst zu erfüllen und fertig? Fragen über fragen...^^ Aber gut, im Laufenden der Geschichte wird sich bestimmt alles aufklären und freue mich schon darauf, weiter zu lesen. ;D

PS.: Der kurze Auftritt von Ira hatte mir aber auch gefallen. :D

LG
Saph_ira
Antwort von:  RhapsodosGenesis
22.02.2015 11:17
Wow! Vielen lieben Dank für dein Kommentar <3
Haha, das hätten die Engel wohl nicht so gerne gehört XD Sie hätte es ja versuchen können! Aber dafür hätte es vermutlich bloß einen bösen Blick und ein "Reiß dich zusammen" gegeben XD

Ich bin froh, wenn du dir Fragen dazu stellst *^*
Juhu! Ich freue mich, dass du weiterliest <3 Und kommentierst!
Vielen Dank!

PS: Haha, als könnte jemand, der Ira heißt, keine guten Auftritte haben ;)

Liebe Grüße
Geni
Von:  MarySae
2015-02-17T16:05:36+00:00 17.02.2015 17:05
Oh, schon ein neues Kapitel? O.o Hast du doch den kürzeren Turnus eingestellt? ^^
Jetzt hab ich also zweimal im Monat das Problem mit dem rechtzeitig Lesen. xD
Tja, manchmal fällt es leichter etwas zu lesen, manchmal schwerer. Und dann gibt es auch noch so viel, was gelesen werden muss! D:
Aber gut, ich will gar nicht hier darüber meckern. xD
Ich gucke mal, wie schnell ich Kommentieren kann ^^ Ich geb mir Mühe! :D

Ah, Ted! Endlich mal einer, der es sagt! Liebeskummer!
Und was macht Ray? Neeein. Sie ist ja NUR seine MauerFREUNDIN! Er würde bestimmt bei jedem anderen auch so handeln!
Na ja, gut.
Ted ist jedenfalls ein merkwürdiger Vogel O.o Sehr direkt und nicht um einen dummen Spruch verlegen. ^^
Okay, Rays Geschichte ist sehr weit hergeholt und der Westen dürfte relativ groß sein. Schwierig da ein bestimmtes "schwarzes Auto" zu finden. Aber gut. Er hatte schon erfolglosere Ansätze ^^

Ist nicht wahr. Das kann echt nicht wahr sein.
Seit gefühlt 100 Kapiteln hör ich mir dieses Gejammer von beiden Seiten an und jetzt, wo sie endlich zur Uni fährt, ist ER NICHT MEHR DA?!?!?!?
Gnarf. Ich bin grade etwas... Weiß auch nicht. Sauer? Pissig? Genervt? Jedenfalls nicht besonders happy. :/
(Wenn du mich damit ärgern wolltest, dann ist dir das definitiv gelungen! Meh.)

"Aber vielleicht sollte er es doch mehr schätzen, dass er immer etwas Selbstgemachtes bekam … " Endlich mal ein Wort, Ray! :D

Sie haben sie nicht gefunden. Welch Überraschung. *grummel*
Aber süß, wie er sich am Ende versprochen hat! Mir ist das sofort aufgefallen! xD
Und Ted anscheinend auch ^^ Er scheint zwar sonst ein schräger Vogel zu sein (seit wann wohnen Pfarrer in der Kirche selbst?!), aber da hat er mal was richtig mitbekommen ^^
Das Gespräch wird nicht so einfach. xD

Mensch. Der Papa wird ja doch noch vernünftig! Oder macht er am Ende doch wieder einen Rückzieher? O.o
Wäre ihm zuzutrauen...
Wehe... :/

Na dann. Das wars fürs erste :) Ich schau Mal, wie es weitergeht ^^
Wie viel hast du eigentlich noch geplant? Ich "hoffe" deine Angabe von 5% ist nur schon etwas veraltet. xD Meine Nerven... xD)
viele Grüße, Mary :3
Antwort von:  RhapsodosGenesis
20.02.2015 12:50
Sooo! Erstmal: Vielen Dank fuers schnelle Kommentieren und deinen Kommentar! :3
Ja, jetzt gibt es zweimal im Monat ein Kapitel (wenn ich es nicht verpenne XD), weil es sonst zu lange dauert mit dem Uploaden der Geschichte ... ahaha ... Aber ich will dich wirklich nicht in seelischen Stress versetzen! Du darfst dir fuers Kommentieren wirklich so viel Zeit lassen, wie du brauchst xD"' Ich bin zwar wirklich ueber jedes Kommentar froh, aber fuehl dich bitte nicht gezwungen zu schreiben xD'" Ich kann es echt verstehen wenn du mal keine Zeit oder keine Lust hast, was dazulassen xD Aber ich bin natuerlich nach wie vor froh, dich zum Leser zu haben *^*

Haha, jaaa, Ted ist echt seltsam ... Und Ray ist eben Ray, er braucht einfach Zeit xD Ted ist wohl zu direkt ûu xD
Ray ist eben sehr kreativ, wenn es um sowas geht XD

Hahaaaa, Ueberraschung <3
Nein, ich will dich batuerlich nicht damit aergern XD Das ist ein Shoujo-Manga-Zufall, die gibt es im Leben einfach x//D Aber ich wollte dich damit wirklich nicht nerven, auch wenn es wohl wirklich nervig ist XD Aber wenn Ray es wuesste, waere er noch viiiel genervter xD
Also: Tut mir echt leid, dass dir das so missfaellt xD"' Verstaendlicherweise x//D
(Ja! "Mary aergern" ... abgehakt! Jetzt ha ich schon mal ein Lebensziel erfuellt xD Oder auch nicht! xD)

xDD Haha, ja, das wird wohl wirklich ein seltsames Gespraech xD'

Er ist einfach besorgt :/ Und da macht man manchmal Fehler :/ Vielleicht findet er ja den richtigen Weg? D:

Und dankeschoen noch einmal fuer das Kommi *-* [Tut mir leid fuer die spaete Antwort, aber did schoenen Ferien sind schon wieder um xD]
Ich hoffe, dass du die naechsten Kapitel nicht hassen wirst ^^° Ich habe sie mir angeschaut und bis Kapitel 32 geht es so weiter ... Wenn es dir lieber ist, kannst du die ueberspringen und ich schreibe dir dann die Kernessenzen der Kapitel? ^^°°° [Jaaa, ich mache Unwichtiges gerne ausfuehrlich xD"' Und lang ... und unnoetig lang xD"']
Hahaaa, ja, die fuenf Prozent sind veraltet xD"' Aber leider nicht sehr x///x Ich wollte die Wer-aussteigen-will-sollte-das-jetzt-tun-Warnung zwar erst bei Kapitel 30 schreiben, aber ich verstehe es gut, wenn einem die Geschichte zu lange wird - Bei Kapitel 30 haben wir das erste Drittel hinter uns ... Hooray? xD'"
(Deine Nerven tun mir leid ^^° xD"')
[Ich wollte die Geschichte echt nicht so lang gestalten, das ist einfach passiert ^^° Bei den naechsten setze ich mir Limits, die ich dann einhalten werde! *vornimm*]

Liebe Gruesse
Geni



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