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Federschwingen

von

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Nathan war tatsächlich nicht mehr auf der Universität anzutreffen. Das hatte in ihrem Kurs Gerede gegeben – er war ins Blaue Dorf gezogen. Das war diejenige Stadt, die am weitesten entfernt von der nördlichen Hauptstadt, in der sie sich befanden, war. Es gab kaum Verbindungen zu dieser, da es eine Hafenstadt war. Niemand war interessiert an so weit entfernt liegenden Häfen. Die konnte man nur mit dem Schiff erreichen – und das dauerte wochenlang.

Eine sehr gute Wahl, wenn man bedachte, dass er seine Ruhe vor dieser „Meute“ haben wollte. Sie lächelte. Aber sie würde ihn weiterhin besuchen dürfen! Immerhin war sie ein Engel.

Heute hatte sie kaum Acht geben können, was der Dozent ihr weismachen wollte – ihre Gedanken schwebten in den Wolken – im Himmel. Dieser goldene Glanz … Es war so viel schöner, als jedes andere Naturelement auf der Erde. Und dazu noch die Todsünden …

Sie schüttelte kurz den Kopf, als sie realisierte, wie abgelenkt sie war. Sie schaute die Straße entlang. Wann würden ihre Eltern kommen?

Die Menschen eilten an ihr vorbei – so wie immer. Mit total gestressten Gesichtern, in ihren Anzügen, mit ihren Aktenkoffern und mit den Gedanken wahrscheinlich schon längst am Arbeitsplatz … Und sie alle ahnten nicht, dass es Engel gab! So wie sie … Nun – sie hatte es eigentlich schon immer gehofft … Dass irgendein Engel kommen würde, um ihr zu helfen …

Und tatsächlich – all die Jahre war einer direkt vor ihrer Nase! Und sie war zu blind, es zu bemerken.

Plötzlich bewegte sich jemand ausgesprochen lässig an ihr vorbei. Er ging so ausgesprochen langsam, dass er in dieser hetzenden Menge tatsächlich auffiel … Nein, er ging nicht nur langsam … Sogar … widerwillig?

Als Kyrie diese braunen Haare genauer betrachtete, glaubte sie, den jungen Mann von gestern darin zu erkennen. Sie musste sich noch ordentlich bei ihm bedanken! Er hatte sie immerhin … aufgemuntert …?

Sofort rutschte sie von der Mauer und eilte ihm nach – na ja, weit musste sie nicht gehen, da er sich wirklich nicht weit bewegte.

Sie tippte ihm kurz schüchtern auf die Schulter.

Er drehte sich mit unbeeindrucktem Gesicht zu ihr um. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. „Oh, das Fräulein von gestern! Du hast ja wirklich auf mich gehört!“ Er grinste. „Seit ich vorbeigekommen bin, scheinst du glücklicher zu sein!“

Verlegen schaute sie kurz zu Boden, dann lächelte sie ihn aber offen an. „Vielen Dank für deine Worte gestern! Es hat mir … geholfen.“

„Du hast heute auch eine ziemlich andere Ausstrahlung. Deine Aura gestern war mehr als schwarz.“ Er grinste breit.

Aura? War er etwa auch …?

„Aura?“, fasste sie ihre Frage kurz.

Er drehte sich zu ihr um und zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Das hat keine Bedeutung.“

Sie betrachtete den jungen Mann eingehend. Sein dunkelbraunes Haar, das ihm zu allen Seiten chaotisch abstand – Kyrie glaubte, darin eine seltsame Art von Ordnung zu finden, war an seiner Stirn, wo sich seine Stirnfransen unregelmäßig lang auswuchsen, zurückgekämmt, sodass nur noch vereinzelt Strähnen in seinem Gesicht hingen und seine leicht gebräunte Haut betonten. Seine dunklen, grünen Augen funkelten neugierig und amüsiert und sein schmaler Mund war zu einem erfreuten Lächeln verzogen.

Er trug ein loses, weißes Hemd und darüber eine schwarze Jacke, die zu seiner schwarzen Hose passte.

Insgesamt wirkte er ein wenig unordentlich, allerdings durchaus nett.

„Aber gern geschehen“, holte er das vorherige Thema wieder auf, „Die Wahrheit muss ausgesprochen werden.“

„Es hat mich wirklich aufgemuntert“, versicherte sie ihm, sprang dann aber im Thema von sich ab, „Sprichst du öfters einfach so Leute auf der Straße an?“

Er blinzelte sie überrascht an. „Nun ja – nein. Eigentlich nicht.“ Dann grinste er wieder. „Aber ich sehe eigentlich kaum so deprimierte Leute hier herumlungern.“ Er schaute sich so um, als sei er noch nie zuvor da gewesen, „Gewöhnlicherweise hasten die so herum und es gibt kaum jemand, der so still herumsitzt.“

Sie lächelte.

„Hast du eigentlich einen Namen?“, fragte er danach – verzog dann aber das Gesicht, als ob ihm aufgefallen wäre, dass es eine ziemlich dumme Frage war.

Sie konnte sich ein kurzes Kichern nicht verkneifen. „Mein Name ist Kyrie“, stellte sie sich vor, „Hast du denn auch einen Namen?“

„Du kannst mich Ray nennen“, bot er ihr an – dann schaute er sich um. „Wartest du auf irgendwen?“

Sie nickte. „Auf meine Eltern. Sie sollten jeden Moment vorbeikommen.“

Er seufzte übertrieben laut auf. „Wie gut du es hast!“, rief er aus, „Ein Elterntaxi!“ Er grinste. „Ich kann zu Fuß heim laufen.“

„Das ist aber schön“, stimmte sie zu, „Du kannst bestimmt ewig lang ausschlafen.“

Er lachte. „Schön wäre es, nicht wahr?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin Frühaufsteher.“

„Ich auch, ob du es glaubst oder nicht – je schneller aus dem Haus raus, desto schöner der Tag.“ Er grinste keck - Kyrie bezweifelte diese Aussage irgendwie.

„Fast“, erwiderte sie lächelnd. Na gut – fast war eigentlich schon fast gelogen. Sie war sehr gerne zuhause. Dort hatte sie es immerhin ruhig …

„Bist du öfter hier?“, fragte er dann unvermittelt.

„Immer außer an Sonn- und Feiertagen“, antwortete sie ihm wahrheitsgetreu, „Du?“

„Ebenso! Da sieht man die fleißige Jugend.“ Er grinste.

Ein Hupen ertönte und Kyrie fiel das parkende Auto ihres Vaters auf. Das war ihr jetzt auch noch nie passiert! Das Engeldasein änderte sie wohl grundlegend. Sie lächelte kurz über ihren Gedanken.

Ray folgte ihrem Blick. „Deine Eltern?“

Sie nickte. „Danke noch einmal“, wiederholte sie, verbeugte sich kurz und fügte hinzu: „Vielleicht treffen wir uns mal wieder?“, schlug sie unverbindlich vor und umrundete ihn. Sie lief schnurgerade auf den Wagen zu und stieg ein, wobei sie ihm noch einmal kurz und schüchtern zuwinkte.

Kyrie schloss die Tür.

„Wer war das denn?“, wollte ihre Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen wissen, als Kyrie sich angeschnallt hatte.

„Ray, sagt er“, erklärte sie ihrer Mutter lächelnd. So ein netter Junge.

Damit legte ihr Vater den Retourgang ein und düste los.
 


 

Ray stand noch eine ganze Weile lang an die Mauer gelehnt da, obwohl das kleine Automobil bereits nicht mehr sichtbar war. Was für ein nettes Mädchen – irgendwie chaotisch und verwirrt und doch ziemlich höflich. Eine lustige Mischung. Er lachte kurz in sich hinein.

Dass sie sich tatsächlich bei ihm bedankt hatte, bloß weil er gestern ein paar unbedachte Worte ausgesprochen hatte … Zufall.

Eigentlich war es wirklich nicht seine Art, Fremde einfach anzusprechen. Aber sie wirkte einfach so verzweifelt und traurig … Sie hatte eindeutig Abwechslung gebraucht.

Kyrie also.

Ein reichlich ungewöhnlicher Name, wenn man ihn fragte. Wieso nannte jemand sein Kind so? Er würde es nicht verstehen. Kylie war doch eine gängige Alternative … Immerhin kannte er mindestens eine Kylie – die war zwar ein wenig durchgeknallt, aber … Zumindest hatte ihr Name nichts mit so etwas abstraktem wie Gott zu tun.

Er wollte am liebsten gar nicht weiter an diesen „Gott“ denken.

Ray zog sein schwarzes Handy hervor und schaute auf die Uhr. Immernoch ziemlich früh. Vermutlich saß sein Vater gerade am Mittagstisch – also eindeutig ein schlechter Zeitpunkt, um nach Hause zu kommen. In fünfzehn Minuten würde er schon weg sein. Und diese Frau hoffentlich kurz darauf genauso.

Er bemerkte, dass seine Miene sich beim Gedanken an diese Frau verfinsterte.

Warum hatte er seine Mutter gegen so jemand eingetauscht? Immerhin hätte seine Mutter ihn wirklich gebraucht und …

Er wollte gar nicht an das Weitere denken. Der Schmerz in seinem Arm sprach schon genug für das, was sein Vater hätte verhindern können – aber durfte diesem Mann nicht allein die Schuld dafür geben. Er war sich sicher, dass sein Vater dafür Groll gegen sich selbst hegte – aber er ließ es sich nicht anmerken. Und er wollte den Mann nicht weiter belasten. Immerhin tat er, was er konnte, um sie zu unterstützen, aber …

Das war keine Geschichte, über die er am Heimweg nachdenken sollte.

Er öffnete das Nachrichtenmenü und tippte fröhlich eine Kurznachricht, die danach vier seiner neuen Freunde erhalten würden. Es waren diejenigen, die mit ihm Politik studierten. Sie wollten sich heute ins Kino pflanzen und den neuen Horrorthriller ansehen, der anscheinend so gut sein sollte. Da würden sie die neu erlernten Bewertungsmethoden wohl gleich ausprobieren können.

Er stieß sich von der Mauer ab und schlich langsam und völlig ohne Eile davon. Immerhin gab es keinen Ort, an den es ihn drängte, zurückzukehren – außer natürlich das Rote Dorf. Aber seine Chancen, jemals wieder dort hinzukommen, waren denkbar gering, nachdem seine Schwester mit ihrem Vater telefoniert hatte und dieser sich einverstanden erklärt hatte, Ray zu behalten … Mindestens solange, bis er das Studium abgeschlossen hatte. Das Studium … Schön wäre es.

Falls er Kyrie noch einmal begegnen sollte, musste er sie unbedingt fragen, was sie studierte. Ihrem Namen entsprechend, hatte er bereits einen leisen Verdacht – mal sehen, ob er sich bestätigte.

Sein Telefon vibrierte und er las die Antwort. Zufrieden klappte er das Handy zu. Sie waren einverstanden – also war der heutige Abend auch schon wieder gerettet.

Und gemächlich machte er sich die Straße entlang.
 


 

„Hmmm“, machte Nathan übertrieben lang gezogen, „Fast.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kenne deine schulischen Leistungen, Kyrie! Stell dich nicht so an!“ Er grinste. „Na los!“

„Dem siebten Rang entsprechen all jene Engel, die einen höheren Rang haben, aber namenlos sind – man erkennt sie an …“ Kyrie stockte kurz und schloss die Augen. Das machte sie immer, wenn sie sich konzentrierte. „An ihrer Aura, die so gelb ist wie die Sonne und einen noch gerade so blendet, wenn man gut hinschaut. Zur leichteren Identifikation tragen sie an ihren Kleidungsstücken, die sie im Dienst anziehen, Sonnen mit einem Strahl, der ausschaut wie – ähm …“ Sie pausierte erneut. „Ein Koordinatensystem?“ Es war mehr eine Frage als eine Antwort – dieser Umstand brachte Nathan zum Lachen. Vor allem da sie … Koordinatensystem sagte. Auf die Idee wäre hier oben wohl noch keiner gekommen! Den Ausdruck würde er unbedingt benutzen müssen!

Er nickte nach seinem kurzen Lachanfall, um sie zum Weitersprechen zu ermutigen.

„Zum Rang sechs gehören die Sieben Gaben des Heiligen Geistes, die Sieben Sakramente und die Sieben Tage der Woche“, wiederholte Kyrie, „Wobei jeder dieser Sieben die Sieben Wortlaute in sich trägt. Allerdings geben sie an nichts außer ihrem Strahlen zu erkennen, wer sie sind, da sie erwarten, dass man sie kennt … Ihr Strahlen erleuchtet, wenn sie zusammen in einem Raum sind, das Gebäude, in dem sie sich befinden, vollständig, wenn sie … ihre Macht ausfahren?“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Scheinbar hielt sie das für irre.

Sie öffnete ein Auge und sah ihn fragend an. „Wieso erwarten sie, dass man sie kennt? Wo leben sie überhaupt?“

Er erhob seinen Zeigefinger und schüttelte heftig den Kopf. „Nein, nein, nein, meine Liebe!“ Er grinste. „Erst die Antwort, dann die Fragen.“

Sie seufzte kurz und warf ihm einen leicht zerstörenden Blick zu. „Im Rang fünf stehen die Fünf Bücher, die in sehr großer Entfernung zu fünft stehen können und man sieht sie dennoch …“ Sie schaute in eine Richtung. „Aber ich erkenne sie trotzdem nicht …“

„Dazu später“, versprach Nathan ihr schnell, ehe sie erneut eine Verschnaufpause erhielt. Es war vielleicht viel zu merken, doch andere hatten noch mehr zu tun! Andere hatten immerhin kein Theologiestudium begonnen – Nathan fand es erstaunlich von ihr, dass sie so gute Voraussicht bewiesen hatte. Doch bei ihrem frommen Vater?

„Danach kommen die zehn Gebote, die ihre komplette Umgebung bis hin zu einer gewissen Entfernung völlig ausleuchten können …“, sagte sie, „Und danach schließlich Rang drei – die Sieben Todsünden. Man kann sie ausmachen, wenn sie einzeln in großer Entfernung stehen und darum findet man auch immer einen Weg zu ihnen …“ Sie machte eine kurze Pause, in der sie ziemlich nachdenklich wirkte, sprach dann aber weiter, ohne dass er sie an seine Anwesenheit erinnern musste, „Und dann noch Rang zwei – Sin. Man sagt, er würde den ganzen Himmel ausleuchten können, obwohl er bloß alleine ist, verblasst allerdings Angesicht von Rang eins – Gott persönlich. Er selbst ist das Licht.“

Nathan klatschte in die Hände. „Sehr gut, Mädchen! Du lernst verdammt schnell!“

Sie grinste glücklich, tat es dann aber mit einer bescheidenen Geste ab. „Ach was … Es waren immerhin vier Anläufe. Und es interessiert mich ja wirklich …“

Er grinste. „Du kannst so niedlich sein, wenn du möchtest.“

Plötzlich errötete Kyrie und warf ihm unpassend dazu einen sehr bösen Blick zu – das breitete sein Grinsen natürlich aus.

„Also“, wechselte sie dann sogleich das Thema, „Wie ist das mit dem Leuchten jetzt gemeint? Du weichst meiner Frage aus! Das mit Gott und Sin sehe ich ja ein – aber der Rest?“

„Dir ist bestimmt aufgefallen, dass gestern Nacht Acedia und ihre Leute viel heller geleuchtet haben als ich – dann, als ich meine Flügel ausgeweitet habe.“

„Ich habe angenommen, dass das an ihrem Alter liegt …“, gab sie dann zu.

An ihrem Alter? Ziemlich schräge Annahme. Immerhin hatte es schon ranghohe Engel gegeben – und gab es immer noch -, die jünger als Nathan waren. Es war allerdings schön zu hören, dass sie bereits nach Erklärungen gesucht hatte – so erwartete er es von Kyrie.

„Nein, das liegt ganz allein an der Stärke, mit der man geboren wird. Je stärker das Licht um einen herum ist, desto weiter kommt man im Leben. Nur die Stärkten können Todsünden werden. Jemand, der also geboren wird, kann lediglich hoffen, in Rang drei geboren zu werden. Rang eins und Rang zwei sind unantastbar.“

„Aber wenn sie so stark sind, wie du sagst, dann müsste ich sie doch auch durch Sins Strahlen hindurch erkennen können, oder?“, kombinierte sie unsicher.

Er nickte. „Ja, schon. Und du könntest es auch, wenn sie das wollten. Doch anderen mitzuteilen, wie stark man wirklich ist, erfordert auch Stärke. Man kann das Licht zurückdrehen – wie so eine Leselampe, falls du die auch mal benutzt hast. Oh – oder den Handydisplay. Du kannst da die Helligkeit ja einstellen und …“

„… Du willst mir also erzählen, dass Engel wie Handydisplays sind?“, fasste Kyrie amüsiert zusammen.

Er konnte ein lautes Auflachen nicht vermeiden. „Stimmt, das war blöd von mir“, gab er zu, fuhr dann aber mit dem Unterricht fort, „Aber es stimmt, was ich gesagt habe. Sie können es zurückdrehen. Und darum … sind sie auch nur Fußballstadionersatz anstatt Leuchtfeuer.“

Kyrie behielt ihr Lächeln bei.

Es war schön, sie wieder so zu sehen. Früher war sie auch oft so glücklich und hatte viel gelächelt und gelacht – sie hatten zusammen sehr viel Spaß gehabt. Jedes ihrer neuen Lächeln fügte seinem Gewissen eine neue Last an. Immerhin war es seine Schuld, dass sie so unglücklich war … Er hatte es bemerkt, aber nichts dagegen getan … Er schuldete ihr etwas. Und er wollte aus tiefstem Herzen, dass die Jahre, die sie von nun an erlebte, glücklicher sein würden als alle zuvor – und dass dieses Glück alles andere wett machte.

Das war sein Ziel.

„Wenn wir dann deine Kräfte trainieren, wirst du der Lektion auch noch begegnen. Aber behalte das Display im Kopf – es könnte dir helfen!“, versprach er ihr, „Sonst noch Fragen?“

„Wozu gibt es diese Ränge? Dass die Todsünden eine Besonderheit haben, habe ich mittlerweile auch schon festgestellt, aber … sieben Ränge?“, stellte sie ihre nächste Frage.

„Ob du es glaubst oder nicht – Engel sind auch nur Menschen. Nur halt … schöner, älter und mit Flügeln und eigentlich besser und … ach egal. Jedenfalls haben sie auch Problemchen. Und mit Problemchen kommt man zum Rang sechs. Das wäre dann wohl so die Art von Polizei, Feuerwehr oder Notarzt.“

„Du nennst ein Feuer, einen Mord oder einen Unfall mit schweren Verletzungen … ‚Problemchen’?“, informierte sich Kyrie verwirrt.

Er zog eine Grimasse. „Na ja, das mit Mord und Unfall mit schweren Verletzungen ist im Himmel ja nicht möglich und … Feuer genau genommen auch nicht, also …“ Er schwieg. Wie sollte er es ihr erklären? Beispiel. Einfach ein Beispiel. „Wenn zwei Engel einen Schwertkampf üben und sich dabei …“

„Schwertkampf?“, unterbrach Kyrie ihn neugierig, „Wie Schwertkampf?"

Nathan grinste. Wie neugierig sie doch sein konnte!

Sie wirkte irritiert. "Nathan?"

„Wir haben Schwerter!“, verkündete er ihr, „Du auch! Und wenn ihr Menschen-..." Er unterbrach sich selbst. Sie war kein Menschenengel, sie war ein Halbengel! "Halbengel … so viele Nachteile habt – Sogar ihr könnt Schwerter rufen. Die haben nämlich nichts mit Stärke zu tun."

„Und – und was macht man mit Schwertern?“, wollte sie zaghaft von ihm wissen.

„Na ja … Kämpfen?“, vermutete er, war die richtige Antwort. Was sollte man sonst mit Schwertern tun? Was stellte sie sich unter dieser Frage vor? Natürlich hatten sie noch weitere Effekte, aber ... nachdem er nicht vor hatte, ihr den Schwertkampf nahe zu bringen, brauchte sie nichts darüber zu erfahren.

„Und – gegen wen?“, bohrte sie nach.

„Gegen Dämonen“, erklärte er in einem Ton, der das Thema für beendet erklärte. Hoffte er.

Aber sie sagte nichts mehr, also nahm er an, dass sie verstanden hatte, auch wenn sie etwas enttäuscht wirkte.

Doch von diesen Ungeheuern wollte er ihr wirklich nicht zu früh zu viel berichten. Es würde kommen – ganz sicher. Aber … erst später. Nach und nach. Erst sollte sie sich die gemütlichen Seiten des Himmels gönnen und dann konnte sie zu den Pflichten wechseln. Mit Halbengeln hatte man Verständnis – nun, eigentlich erwartete man nichts von ihnen. Die meisten ignorierten Halbengel freundlich, einige hassten Halbengel und wieder andere mochten sie.

Nathan hatte einen ganzen Freundeskreis, der sich auf Halbengel Kyrie freute. Er hatte ihnen wirklich die ganze Nacht lang zwanzig Jahre Erdenleben schildern dürfen – dabei hatte er natürlich einige zu private Angelegenheiten ausgelassen, aber den Großteil war es losgeworden. Aber Liana war immerhin dabei – und wo Liana war, blieb kein Auge trocken und kein Geheimnis gewahrt. Dieser Engel mit dem unschuldigen Lächeln hatte es einfach drauf. Hoffentlich verschonte sie Kyrie ein wenig.

Er sah sich um. Heute befanden sie sich nicht mehr am Eingang sondern waren tiefer eingedrungen. Er hatte mit Kyrie das Fliegen ein wenig geübt, ehe sie hierher gekommen waren – das bedeutete, dass Kyrie auch wieder den Weg zurückfliegen musste. Er würde sie natürlich begleiten, falls sie einen Aussetzer hatte. Das hatten Kinder manchmal, aber es war nicht allzu schlimm und nicht allzu lang andauernd.

Sie würde es auch ohne ihn überstehen, aber … er war immerhin ihr Schutzengel. Er musste ihr doch helfen.

„Was machst du als Acedias Assistent eigentlich so? Hast du viel zu tun? Triffst du sie oft?“, wollte Kyrie von ihm wissen, nachdem sie eine Zeit lang geschwiegen hatten.

Er sah sich die golden leuchtenden Wolken an, die unter ihm waren, als sie beide dort mitten am „Fußboden“ saßen und ihr Lerngespräch führten. Hin und wieder rauschte ein Engel an ihnen vorbei, doch diese ignorierten sie einfach. Genau genommen war es der Erde sehr ähnlich. Das zu hören, würde einigen wohl im Hals stecken bleiben. Er grinste.

„Ich lege ihre Termine fest und schaue zu, dass sie sich früh genug auf den Weg macht, um halbwegs pünktlich zu kommen – ich will gar nicht wissen, was diese Frau die letzten zwanzig Jahre für Schabernack mit ihren Kollegen getrieben hat!“, erklärte er ihr.

Es war auch wirklich das meiste, was er getan hatte. Natürlich hatte er ihr auch beim Aufräumen geholfen oder einige Fälle bearbeitet, aber allzuviel hatte sie ihm am Anfang nicht zugetraut. Also hatte er ihren persönlichen ... Assistenten gespielt: Acedia – Ihr müsst dorthin. Acedia – Ihr werdet da drüben gebraucht … Den ganzen Tag lang hatte er ihr berichten müssen, wo man sie brauchte. Und da sagte noch einer, keiner hätte Zugang zu den Todsünden. Scheinbar kamen solche Fälle doch öfter vor, als man dachte. Solche … ganz schlimmen Fälle … Oder die Leute übertrieben einfach.

Apropos – er hatte die Geschichte noch gar nicht fertig erzählt!

„… Schwerter. Wenn die beiden mit ihren Schwertern kämpfen. Da war ich, oder?“, nahm er das vorherige Thema wieder auf.

Kyrie sah ihn total konfus an. „Wovon … Ah – ja. Ja, du warst bei den beiden Schwertkämpfern.“

„Na gut, wenn sie sich also bei so einem Übungskampf verletzen, dann kommen sie zu den Sieben Gaben des Heiligen Geistes. Sie wollen Rat, brauchen dafür Weisheit und Einsicht und … wie sie alle heißen mögen. Natürlich heilt die Verletzung sofort – aber es geht ums Prinzip. Es könnte immerhin wirklich einmal ein Kampf auf der Erde stattfinden … und dort dürften sie sich auch nicht leichtsinnig verletzen.“ Er verschränkte die Arme. Ob sie das einsah? "Sie halten den Engeln also Moralpredigten." Dass so ein Schwertkampf auch zu den Todsünden führen konnte, verschwieg er ihr.

Kyrie nickte. „Ich verstehe. Das macht Sinn … Was macht man mit den Wochentagen?“

„Die Wochentage sind dafür zuständig, dass auch jeder seine Frömmigkeit behält – darum arbeiten sie mit Frömmigkeit auch ziemlich zusammen, weshalb sie als schwächstes Glied angesehen wird“, erklärte er ihr, „Sie wollen, dass man daran denkt, dass man ohne den ersten Rang gar nicht erst das Licht erblicken könnte … Darum wird man auch für gottloses Getue hierher geschliffen.“

„Oh, ich hätte gedacht, dass das mehr etwas für die Todsünden wäre …“, gab Kyrie zu bedenken.

„Ich hab die Regeln nicht gemacht – die waren schon da, als ich gekommen bin.“

Kyrie lächelte. „Ich verstehe …“

„Ich gebe dir einfach einen Tipp: Lerne die Namen und schau zu, nirgendwo hinein gezogen zu werden, wo du einen Rang aussuchen müsstest. Die Assistenten haben es nicht gerne, unnötig angesprochen zu werden, wenn man sich im zuständigen Rang irrt … Sie haben Besseres zu tun."

Und es war wirklich so. Wenn sich zwei Engel prügelten und sie kamen zu ihm, weil der eine glaubte, so sehr im Recht zu sein, dass er mit den Todsünden sprechen dürfte … Solche Idioten.

„Aber das mit den Todsünden dürfte dich trotzdem interessieren, aber … nein.“, überlegte er laut, unterbrach sich dann aber selbst, als Kyrie aufgehorcht hatte, „Ich denke, es war genug für heute.“

Kyrie zog einen Schmollmund. „Was wolltest du sagen?“

Wie ein kleines Mädchen!

„Nur, was geschehen müsste, um zu einer Todsünde geschickt zu werden – aber das betrifft dich bestimmt nicht.“

„Du hast aber gesagt … dass das öfter vorkommt, als man glaubt …“, widersprach sie ihm.

Diese … diese Zuhörerin! Hatte sie denn nichts Besseres zu tun?!

„Wenn du fleißig den Weg zurück fliegst – es ist immerhin schon Abend -, dann sag ich es dir, ehe du den Himmel wieder verlässt!“, lockte er sie.

Sie lächelte daraufhin. „Na gut!“

Und ehe er sich versah, erhob sie sich in die Lüfte und flog los.

Dieses Mädchen …



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Saph_ira
2015-03-06T20:10:19+00:00 06.03.2015 21:10
Oh, neuer Gesichter. Mal sehen was mit diesem Ray es auf sich hat... ;-)
Antwort von:  RhapsodosGenesis
07.03.2015 01:02
Danke!! *-*

Ich hoffe, du wirst nicht zu enttaeuscht sein xD

Aber danke fuers Kommentieren! *-*

LG
Geni
Von:  MarySae
2014-06-24T05:46:21+00:00 24.06.2014 07:46
Hmmmm. Eine interesannte Begegnung O.o
Dieser Ray ist mir noch etwas suspekt. Irgendwas scheint mit ihm nicht zu stimmen.
Zumindest scheint es einige Probleme bei ihm zu geben. Sein vater hat wohl eine neue Frau. Aber da scheint noch mehr dahinter zu stecken. Ich bin gespannt. ^^
Aber ich ahne schon, was es mit ihm auf sich hat. (Blaues Dorf/Rotes Dorf; "diesen "Gott"". Ich denke, das spricht für sich ^^)

Liegt das an mir oder benimmt Kyrie sich für ihr Alter noch sehr kindisch O.o
Irgendwie kommt sie mir eher wie eine 15/16-jährige vor. Aber gut. Da ist ja nichts schlimm dran.
Mich wundert es nur, dass ihre Mutter sich so leicht zufrieden gibt. xD
"Wer war das?" "Joa, Ray." "Okay." xD Na gut. den Rest des Gespräches hat man als Leser ja nicht mitbekommen ^^ Das bleibt also ein Geheimnis xD

Hä? Das versteh ich jetzt gar nicht.
"Schwertkampf?“, unterbrach Kyrie ihn neugierig, „Wie Schwertkampf? Ihr habt Schwert?“
Nathan grinste. „Nein, Kyrie.“
Sie wirkte irritiert.
„Wir haben Schwerter!“, verkündete er ihr, „Du auch! Und wenn ihr Menschen … Halbengel … so viele Nachteile habt – Schwerter habt ihr auch.“"
Entweder liegt es daran, dass es heute noch zu früh ist oder ich bin zu blöd zu verstehen, was genau das jetzt heißen soll. O.o
Haben sie nun Schwerter oder nicht?!
Hab die Stelle mehrfach gelesen, bin aber immer noch verwirrt O.o

Die Geschichte mit den Rängen ist ja sehr interessant.
Wenn auch ziemlich verwirrend O.o Viel verstanden/behalten hab ich wahrscheinlich jetzt nicht, aber ich werde schon merken, was Sache ist ^^

Hmmmm. Ich weiß nicht warum, aber Nathan ist mir immer noch total unsympathisch >_<
Ich weiß zwar, dass er das alles nur zu ihrem Besten gemacht hat, aber ich finde seinen Beschützerinstinkt und wieder gut gemache total aufgesetzt und übertrieben.
So sehr kann er sie ja nicht mögen, wenn er nicht mal auf die Idee gekommen war, ihr das Leben ein bisschen leichter zu machen.
Jetzt im Nachhinein anzukommen und so zu tun, als könne er all die Jahre des Schmerzes wieder gut machen, finde ich richtig... Ich weiß auch nicht. Vielleicht heuchlerisch.
Und Kyrie macht das einfach so mit! Plötzlich scheint ihr alles egal zu sein und sie ist freudig wieder seine gute Freundin.
Kann ich nicht nachvollziehen :/
Ich glaube, Nathan und ich werden uns nie anfreunden können...

Na ja, jedenfalls... Nettes Kapitel, wie immer :D
Viele Grüße, Mary
Antwort von:  RhapsodosGenesis
27.06.2014 11:12
Also, danke für dein Kommentar! Ich freue mich, dass du wieder Zeit zum Lesen gefunden hast! Und vorweg: Danke für die ganzen Hinweise!

Schön, dass du dir Ray schon eingeprägt hast, er wird noch öfter vorkommen, da kannst du dir dein Bild dann zurechtrücken. Aber auf deine Vermutung bin ich schon sehr gespannt! Mal sehen, was es damit auf sich hat und inwiefern du richtig liegst!

Schon? ó_ò Okay, ich habe es mir jetzt noch einmal durchgelesen und dieses schüchterne Erröt-Gehabe wird es sein, das du meinst, oder? Kyrie ist einfach noch immer ziemlich schüchtern, vor allem bei Fremden. Aber ja, sie wirkt wirklich mehr wie eine 16-Jährige, je öfter ich mir das durchlese. Ich hoffe, dass sich das während der Geschichte noch ändert.
Wenn Kyrie nicht reden will, dann merkt ihre Mutter das und quetscht sie nicht aus - sie hat also wirklich nicht mehr erfahren, als dass das Ray ist xD So eine Mutter müsste man haben!

Ich habe den Teil geändert bzw. die unnötigen Fragen gestrichen, also den ganzen Block hier eigentlich xD Du kannst das getrost aus deinem Gedächtnis streichen, es geht einfach darum, dass Engel und Halbengel jeweils ein Schwert rufen können und das auch benutzen könnten.
Nein, nein xD Das liegt weder daran, dass es zu früh ist, noch daran, dass du zu blöd sein solltest - es war nur unglücklich ausgedrückt (Ich hab es auch erst nach einigem Nachdenken wieder kapiert, drum hab ich es jetzt gestrichen xD)
Also: Ja, sie haben Schwerter xD

Ja, das ist auch ziemliche Randinformation ^^ Du musst dir das alles wirklich nicht merken, das Wichtigste kommt dann später wieder vor :)

Dass du Nathan so kritisch betrachtest! ... Danke qwq Das wäre mir wirklich nie aufgefallen, dass Kyrie sich wieder viel zu schnell auf ihn einlässt (auch wenn einsame Menschen manchmal anhänglich werden können) Sie hofft eigentlich darauf, dass es einfach wieder wie früher sein könnte, damals, als sie noch Freunde waren. Außerdem ist er im Himmel ihre einzige Bezugsperson, da hat si enicht viel Auswahl :/
Vielleicht wirst du es im Laufe der Zeit nachvollziehen können? Wenn nicht - einfach sagen, dann werde ich mich reinknien und es umschreiben (noch ist es zu früh dafür xD)
Ich glaube daran, dass er irgendwann sympathisch werden wird xD

Danke jedenfalls für das Kommentar! Ich freue mich darüber! *w*


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