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Tatsächlich...Liebe

von

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Extrem laut und unglaublich nah

10.September 2011

21:23
 

„Möchten Sie Gepäck aufgeben, Sir?“

„Nein, Danke, ich reise leicht.“

„Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Flug.“

„Vielen Dank.“

Max steckte sich wieder beide Stöpsel seines Ipods ins Ohr und nahm seinen Handgepäckkoffer auf.

Gemütlich machte er sich auf den Weg zum Sicherheitscheck.

Auch wenn das Fliegen im Laufe der Jahre zur Gewohnheit geworden war, konnte er Flughäfen grundsätzlich trotzdem nichts abgewinnen.

Erst das Warten am Check-In Schalter (und auch wenn man heutzutage online einchecken konnte, musste man ja trotzdem wegen seines Gepäcks dorthin), dann das Warten bei der Sicherheitskontrolle und dann natürlich die Sicherheitskontrolle an sich.

Alles ablegen, Laptop raus, Gürtel raus, manchmal Schuhe ausziehen.

Mindestens zweimal durch den Sicherheitsrahmen, denn könnte ja sein, man hat beim ersten Mal den Sprengstoff übersehen und mal ehrlich, das Ding geht sowieso bei jeder fünften Person allein aus Prinzip los, einfach nur um seine Quote zu erfüllen, egal ob derjenige tatsächlich irgendetwas an sich hat oder nicht.

Dann wieder alles an sich nehmen, aber bloß nicht, dass Sicherheitspersonal stressen, warum auch, immerhin ist man ja nicht dort, um noch in letzter Sekunde einen Flieger zu erwischen oder?

Im Sicherheitsbereich angekommen, stieß Max die Luft aus, die er unmerklich angehalten hatte und machte sich nun auf die Jagd nach der günstigsten Wasserflasche, denn von den Mini Portionchen Flüssigkeit, die man zum Frühstück im Flieger bekam, konnte ja kein Mensch leben.

Bewaffnet mit 1,5 Liter Wasser und drei Zeitschriften machte er sich letztendlich auf den Weg zu seinem Abfluggate.

Die geschäftige Betriebsamkeit des Tages nahm allmählich ab und der gesamte Flughafen schien langsam in den Ruhemodus über zu gehen.

Max Flug war einer der letzten, die heute Nacht noch abheben würden.

Nachdem er auf seinen Ipod sein aktuelles Lieblingsalbum eingestellt hatte (the Airbone Toxic Event), kontrollierte er noch einmal sein Handy, bevor er es für die Dauer des Fluges abschalten würde.

Drei verpasste Anrufe seiner Mutter und zwei SMS von seinem Vater.

Der Blonde verdrehte die Augen und schrieb einfach nur seinem Vater, dass er die Nachtmaschine nahm und morgen früh in New York landen würde.

Dankend nahm er die Bordkarte von der Airline Angestellten entgegen und ging durch die Schleuse ins Flugzeug.

An seinem Sitzplatz angekommen, verstaute er seinen Koffer in der Handgepäckablage und schob seine Laptoptasche unter seinen Sitz.

Als er sich umsah und die wenigen Leute erblickte, die mit ihm fliegen würden, war er sich fast sicher, dass er die Sitzreihe für sich behalten würde und sich demnach in der Nacht lang machen konnte.

Sehr gut.

Er stöpselte seinen Ipod ab und verstaute ihn vor sich im Fach.

Nach einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass der Flug ein wenig Verspätung hatte.

An sich nichts ungewöhnlich, jedoch fragte er sich, was um diese Uhrzeit für die Verzögerung gesorgt haben könnte.

Er ließ seinen Blick aus dem Fenster gleiten und starrte auf den dunklen Flughafen, der nur durch viele verschiedene, blinkende Lichter erhellt wurde.

Aus den Augenwinkeln nahm er war, dass noch ein Passagier in letzter Sekunde einstieg und sich beeilte auf seinem Sitz platz zu nehmen.

Überrascht drehte Max seinen Kopf und stellte mit Erstaunen fest, dass es sich bei dieser Person um Kai handelte.

Dieser packte gerade haargenau denselben Handgepäckkoffer den er selbst auch hatte in das Fach und ließ sich auf seinen Sitz gleiten.

Noch bevor Max sich schnell abschnallen konnte, kam endlich die Durchsage: „Boarding completed. Crew prepare for start.“

Er versuchte den Russen weiter zu beobachten, was jedoch dadurch erschwert wurde, dass dieser fünf Reihen vor ihm auf der anderen Seite saß.

Während des Startvorgangs starb der Blonde praktisch vor Neugierde.

Kai hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er über das Wochenende in die USA reisen wollte.

Andererseits erzählte der Graublauhaarige ja selten, wohin er verschwand, wenn er denn mal verschwand.

Und wenn er mal ehrlich mit sich selbst war, hatte auch er keinem erzählt, wohin er reiste.

Nicht, dass er mit seinen 19 Jahren noch irgendjemanden Rechenschaft schuldig wäre.

Kaum waren die Anschnallzeichen verschwunden, machte Max seinen Gurt los und stand auf.

Sanft tippte er seinen Teamkameraden auf die Schultern, welcher sich daraufhin zuerst ärgerlich umdrehte und dann überrascht zu ihm aufblickte.

„Hey“, sagte Max nur und ließ sich auf den freien Sitz neben Kai plumpsen.

„Fancy meeting you here“, sagte er lächelnd.

Der Graublauhaarige hob lediglich eine Augenbraue.

„So könnte man es wohl ausdrücken.“

Kurz kam ein unangenehmes Schweigen auf, bis der Blonde sich schließlich ein Herz fasste.

„Warum fliegst du nach New York?“, fragte er endlich.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

„Wow, ice, ice, baby. Ich dachte darüber wären wir schon hinweg?“

„Max...“, stieß Kai genervt aus und ließ sich tiefer in seinen Sitz sinken.

„Du bist aber dünnhäutig heute“, stellte sein Nebenmann amüsiert fest.

„Warum hast du uns denn nicht erzählt, dass du heute weg fliegst?“, stellte der Russe daraufhin die Gegenfrage.

„Ich hab mich eher spontan dafür entschieden. Um meinen Eltern einen Gefallen zu tun.“

„Na, du klingst aber auch nicht gerade wie die pure Freude.“

„Wenn’s nach mir ginge, würde ich dieses Wochenende mit Emily und ihren Kommilitonen nach Hokkaido fahren“, erwiderte Max schulterzuckend.

Dann entdeckte der Blonde einen Flyer, der aus Kais Tasche am Boden hervorlugte und schluckte schwer.

„Du fliegst für die Gedenkfeier nach New York“, stellte er einfach fest.

Ruckartig drehte der Russe seinen Kopf zu ihm um.

„Woher weißt du das?“, fragte er scharf.

Angesprochener deutet lediglich auf das Papier.

„Und selbst wenn, geht es dich nichts an“, sagte Kai eisern.

Max atmete tief ein und zog dann einen gefalteten Zettel aus seiner Hosentasche.

Es handelte sich um den gleichen Flyer.

Zum ersten Mal sah Kai wirklich und ernsthaft überrascht aus.

Es wäre komisch gewesen, hätte es nicht so einen ernsten Hintergrund gehabt.

„Das wusste ich nicht. Tut mir leid“, sagte dieser leise.

„Muss es nicht. Aber mein Beileid auch an dich. Deine Eltern?“, sanft sah der Blonde zu seinen Sitznachbarn.

„Nur mein Vater. Er war im 106. Stock im Südturm. Meine Mutter starb schon drei Jahre zuvor.“

„Sorry about that.“

Kai zuckte nur mit den Schultern.

„Wer war es bei dir?“

„Mein Bruder.“

„Ich wusste nicht, dass du einen Bruder hattest.“

Diesmal war es an Max die Schultern zu zucken.

„9/11 ist passiert, lange bevor wir uns kennen gelernt haben. Mein Bruder was wesentlich älter als ich. Er machte gerade seine Ausbildung zum Feuerwehrmann.“

Kai schwieg daraufhin.

Er bekam ein schlechtes Gewissen.

Oft vergaß er, dass nicht nur die Menschen in den Towern betroffen waren.

Und ab und an, fluchte er auf die Rettungskräfte, die nicht effektiver gearbeitet hatten.

Dabei waren es gerade die beherzten Helfer der Feuerwehr, die sich ohne nachzudenken in die Türme stürzten um zu helfen und dann von dem Einsturz überrascht wurden.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch vor der Landung das Thema angehen müsste.“

„Me either.“

In dem Moment rollte die Stewardess mit dem Getränkewagen vorbei.

„Zwei Wodka, bitte. Und etwas Wasser“, sagte Max lediglich.

„So“, fing der Amerikaner nach einem Schluck von seinem Wodka an, „weißt du schon, wo du bleiben wirst?“

„Keine Ahnung. Eigentlich wollte ich gar nicht kommen. War mehr ein spontaner Entschluss. Ich werde mir einfach ein Hotel suchen, falls noch irgendwo ein Zimmer frei ist.“

„Macht es dir etwas aus, wenn ich dich begleite?“

Kai zog beide Augenbrauen fragend zusammen.

„Du hast Eltern“, stellte er nüchtern fest.

„Ich habe trauernde, nichts mehr um sich wahrnehmende und in ihrem Schmerz versinkende Eltern.“

„Das klingt ernsthaft deprimierend.“

Der Blonde lachte kurz hart auf.

„Ja, das ist es auch. Jason war halt immer der Gute.“

„Du bist nun auch nicht gerade ein Schwerverbrecher.“

„Ich bin rastlos“, erwiderte Max tonlos.

„Unwillig meinen Eltern zu gehorchen, immer auf der Suche nach meinem eigenen Weg.“

„Klingt traumhaft in meinen Ohren.“

„Sag nicht, du wärest nicht genauso gewesen.“

Max hatte es als Scherz gemeint.

„Bis mein Vater gestorben ist, war ich es nicht. Ich hab ihn vergöttert. Ich habe gerne das gemacht, was er wollte.“

Der Blonde konnte den Schmerz in der Stimme seines Freundes hören, der tiefer in seinen Sitz gesunken war und die Augen auf den Becher mit Wodka vor sich fixiert hatte.

Er hatte Kai selten so verletzlich und offen gesehen.

„Kannst du dich noch daran erinnern, was du an dem Tag gemacht hast?“

„Jede Sekunde.“

„Erstaunlich.“

„Du nicht?“, fragte der Graublauhaarige und sah wieder zu ihm.

Sein Nebenmann zuckte unbestimmt mit den Achseln.

„Ich konnte es lange nicht. Es war einfach ein so normaler Tag bis dahin. Sozusagen total banal.“

Er schwieg kurz.

„Ich weiß noch, dass sie uns früher von der Schule nach Hause geschickt haben, wobei kein Lehrer sagen wollte, was wirklich passiert ist. Also bin ich mit mehreren Umwegen zurück in unsere Wohnung. Wir haben in Queens gelebt und dort habe ich von den Anschlägen selbst nicht viel mitbekommen. Natürlich die Menschen sind auch dort unruhig hin und her gehuscht. Aber ich fand es einfach schön, dass ich so früh Schulschluss hatte und hab mich wenig darum gekümmert. Als ich zu Hause ankam, hatte Mum bereits eine Nachricht aufs Band gesprochen, dass sie ebenfalls früher kommen würde und Dad hatte aus Japan angerufen und gefragt ob alles in Ordnung sei. Ich hab den Trubel ernsthaft nicht verstanden. Erst als ich den Fernseher angeschaltet habe, wusste ich, dass irgendetwas ganz falsch war.“

Sie hatten den Wodka ausgetrunken und Kai orderte mit winkendem Arm eine neue Runde.

„Wir...wohnten damals in Manhattan. Auch in einem Hochhaus. Ich wurde zu Hause unterrichtet. Und ich hab’s gesehen. Nicht alles!“, sagte er schnell, als Max Kopf zu ihm herum schoss, „aber mein Vater hatte angerufen, um mir zu versichern, dass es ihm gut ginge. Dass sie nur auf Anweisung warten würden, was sie machen sollen. Dass alles schon wieder in Ordnung kommen würde. Dass er mich liebe.“

Die letzten Worte kamen nur geflüstert heraus und er hielt den Becher fest umklammert.

In einer fast schwachen Bewegung, legte er seine linke Hand über seine Augen, als würde er versuchen die Bilder in seinen Kopf auszuschließen.

„Und ab da hab ich mich ans Fenster gestellt.“

Auch wenn er wusste, dass Kai Berührungen nicht mochte, konnte er sich selbst nicht davon abhalten, seine Hand auf Kais rechten Unterarm zu legen und diesen kurz zu drücken.

„Vielleicht hätte ich nicht in dieses Flugzeug steigen sollten“, sagte der Russe mit belegter Stimme.

„Vielleicht war es aber auch genau das richtige.“

„Wie kommst du darauf?“

„Du wirkst nicht so, als hättest du den Tod deines Vaters verarbeitet.“

„Natürlich nicht, er war mein Vater!“, erwiderte der Graublauhaarige aufgebracht, nur um sich daraufhin innerlich selbst zu schelten.

Nicht nur er hatte jemanden verloren.

„Du scheinst damit jedenfalls besser zu Recht zu kommen.“

Max schnaubte.

„Ja, jetzt. Glaub mir, damals habe ich Zeter und Mordio geschrien, tief getrauert und mindestens ein Jahr lang mit niemandem geredet. Unser Haus war das reinste Mausoleum. Ist es übrigens immer noch. Und ich hatte permanent Angst. Angst das Haus zu verlassen, Angst mit den Öffentlichen zu fahren, Angst über Brücken zu gehen, Angst vor Menschenmassen, Angst vor Leuten, die in den Himmel blicken, Angst vor der Dunkelheit, Angst vor Treppenhäusern, Angst in stickigen Räumen, Angst vor rennenden Menschen, Angst vor Anrufbeantworten, Angst vor geschlossenen Räumen. Ich konnte die Vorstellung nicht loswerden, wie diese letzten Minuten gewesen sein mussten. Eingeschlossen in einem endlosen Treppenhaus, das hunderte Stockwerke hoch geht, man kann weder vor noch zurück und überall ist Rauch. Das Atmen ist schwer und man merkt, dass man einen Fehler gemacht hat, schon in dem Moment, in dem man das Gebäude betreten hat. Man weiß, dass es jeden Augenblick vorbei sein kann. Und dann stürzt alles auf einen ein und erdrückt einen. Dabei wollte man doch nur helfen. Ist das gerecht?“

Er holte tief Luft und schloss die Augen, die zuvor ziellos durchs Flugzeug geglitten waren.

„Und irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, hab die Schule geschwänzt, bin zum Ground Zero gefahren und hab Mülleimer zertreten.“

„Warum Mülleimer?“

„Die standen da gerade halt. Aber es hat mir geholfen, die Wut in meinem Bauch los zu werden. Als ich dann vor den Löchern im Boden stand, war ich wie leer. Und dann habe ich mir vorgestellt was mein Bruder mir in einer solchen Situation geraten hätte. Und ich habe mir vorgestellt, dass er in der Erfüllung einer Pflicht gestorben ist, der er gerne nachgegangen ist. Das hat geholfen.“

Er schwieg kurz.

„Danach...habe ich mir eine Liste von Überlebenden besorgt und nach jemanden gesucht, der meinen Bruder an jenem Tag gesehen hat. Ich habe hunderte Menschen aufgesucht, ihre Geschichten gehört und verzweifelt jeden gefragt, ob er sich sicher nicht an einen ganz jungen Feuerwehrmann mit blonden Haaren erinnern könne. Wie unsinnig mein Vorhaben war, war mir durchaus völlig bewusst. Wie sollten diese, damals panisch aus dem Gebäude stürmenden Menschen, sich an einen Mann erinnern, der genau dieselbe Uniform und denselben Helm trug, wie all die anderen. Aber stell dir vor: ich fand einen Mann. Er schwor Stein und Bein, dass Jason ihm aus dem Gebäude geholfen hatte, weil er sich den Knöchel gebrochen hatte. Und nachdem er den Mann an Rettungssanitäter übergeben hatte, wäre er wieder reingegangen in das Inferno.“

Max nahm einen Schluck Wasser.

Seine Kehle war unangenehm zu geschnürt.

„Das hat geholfen. Ich wusste nun, dass mein Bruder Menschen geholfen hatte. Ich weiß nicht warum, aber dadurch hatte ich das Gefühl sein Tod wäre nicht ganz so sinnlos. Nicht nur der Akt von ein paar todessehnsüchtigen Terroristen.“

Er bemerkte erst, dass seine Hand immer noch auf Kais Unterarm lag, als dieser mit seiner anderen Hand seine drückte.

Kurz schloss er die Augen und atmete tief durch.

„Es war der schlimmste aller Tage. Aber es sind wieder bessere gekommen. Und es werden noch bessere bevor stehen.“

„Du bist mit Abstand der unverbesserlichste Optimist den ich je kennen gelernt habe.“

Daraufhin musste Max tatsächlich lachen und sorgte damit dafür, dass auch Kai kurz mit den Mundwinkeln zuckte.

„Seid ihr deshalb nach Japan ausgewandert?“

„Nur mein Vater. Meine Mutter hat sich nach dem Tag in Arbeit verkrochen und begann ernsthaft Karriere zu machen. Sie war praktisch nie zu Hause. Letztendlich ist die Ehe meiner Eltern daran und an der Trauer zerbrochen. Sie haben nie verwunden, dass ihr perfekter Sohn nicht mehr da ist.“

Kai seufzte tief.

„Wie wäre es, wenn wir das Selbstmitleid bis morgen begraben und uns jetzt nen richtig schönen Film anschaun?“

Enthusiastisch wandte Max seinen Kopf um.

„Oh klasse, ich hab American Pie 4 auf meinem Laptop. Warte, ich hol ihn kurz!“

Der Russe verdrehte die Augen, während der Blonde aufsprang.

Also, doch alles so wie immer....



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