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DQ8: Il Santuario in Cielo

Das Heiligtum im Himmel
von

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22. September

Eine bekannte Schwerelosigkeit trug Jessica in einem Sprung über die Welt. „Die Teleportation?!“

„Nachdem die Menschen der Göttin wieder Glauben schenken“, erklärte Angelo, „findet auch Empyrea zu ihrer alten Stärke zurück und gewährt uns, das volle Potenzial unserer Magie auszuschöpfen. Das ist dir gar nicht aufgefallen, hm? Du große Zauberin, du!“

Sie fassten Fuß auf der verborgenen Hochebene. Friedliche Einsamkeit nahm sie in Empfang. Eine Idylle.

„Wie schade, dass kaum jemand diesen Ort kennt.“

„Wahrscheinlich ist es besser so, Jessica. Stell dir nur vor, hier wäre alles voller Leute! Er würde seinen Reiz ganz schnell verlieren, und Egeus’ Geschenk an die nachfolgenden Generationen würde von niemandem mehr gewürdigt werden. Überlassen wir Menschen ihn den Monstern – die haben seit jeher pflichtbewusst auf ihn aufgepasst.“

„Du klingst, als würdest du glauben, dass Menschen und Monster irgendwann völlig friedlich nebeneinander existieren könnten.“

„Ist das ein so abwegiger Gedanke?“

„Nicht wir greifen die Monster an – die Monster greifen uns an!“

„Weil wir damit begonnen haben, unsere Wohnungen inmitten ihrer Reviere zu bauen.“

„Reicht das als Grund, um uns ewig böse gesinnt zu sein?“

„Den Konflikt sehe ich eher darin, dass die beiden Rassen sich jenseits des Dreieckstals nie darüber ausgetauscht haben.“

„Mit Monstern kann man ja auch nicht kommunizieren!“

„Ich konnte mit Monstern bereits besser kommunizieren als mit so manchem Menschen.“

Sie gelangten an den Tümpel, welcher aus einer hohen Höhle wie eine flüssige Zunge reichte. An seinem Gestade führte ein Steg direkt zur Tafel jenes Weisen, der hier vor Äonen Zeugnis von sich selbst hinterlassen hatte.

Die Magierin verschränkte die Arme. „Redest du von diesem Monster?“

Ein Blitz fuhr durch seine Eingeweide. Gewissermaßen war es das, woraufhin er gefiebert hatte, und doch war die Erkenntnis, dass tatsächlich er es war, auf den das Dunkelbaum-Blatt gedeutet hatte, wie ein Schlag ins Gesicht. „Aber was… was hat das zu bedeuten?“

„Du wolltest hier hin!“, warf Jessica es ihm geradezu vor, ohne dass er begriff, weshalb sie es tat. „Also finden wir es jetzt auch heraus!“

Marcello zeigte ihnen den Rücken. Seine Aufmerksamkeit schien gänzlich der Tafel zu gehören, welche in die Felswand der Höhle eingelassen war. Er berührte sie wie das Gesicht eines Kindes. Dass er sich durchaus ihrer Anwesenheit bewusst war, ergab sich ihnen, da sie ihm nahe genug kamen, um seine Worte zu hören: „Der jüngste der sieben Weisen, Egeus. Er ist mir erschienen. Kurz bevor ich den Schrein betreten habe, um meine Ansprache zu halten, materialisierte sich sein Abbild aus nichts als der Luft vor mir und sprach zu meinem Gewissen. Egeus… Der Vorfahre von Abt Francisco…“

Seinen jüngeren Halbbruder irritierte die Redseligkeit. Jessica bedrängte ihn mit einem Blick. „Na los!“

„Marcello?“

Keine Reaktion.

„Marcello?“

Keine Reaktion.

„Seid Ihr taub geworden oder was?!“, hielt es die Albert-Tochter doch nicht aus, ihren Rosenwurz nicht dazuzugeben. Angelo wandte sich ihr mit beschwichtigend erhobenen Händen zu, doch da schwang Marcello bereits herum. Seine Pupillen trafen auf die Jessicas, indes er an ihnen vorbeizog, und für die Spanne von Sekunden kam sich der Vorstand von Maella ausgeschlossen vor von der eigenartigen Elektrizität, die zwischen den beiden bestand. Als der Ex-Templer dann seinen Blick nach vorne richtete, schnappte das Mädchen nach Luft. Angelos Miene wollte sich nach seinem Befinden erkundigen, aber es antwortete ihm nicht. Seine sich verdüsternden Augen folgten nur Marcello.

„Ich komme mit“, verkündete der. „Doch lediglich bis nach Simpleton.“

„Simpleton?“

„Ja. Ich muss dort etwas über meine Vergangenheit in Erfahrung bringen.“

„Dann begleite ich dich! Deine Vergangenheit ist auch meine Vergangenheit!“

Es war ihm offenbar gleichgültig. Bar eines weiteren Wortes oder Blickes schritt er den Steg entlang.

„Angelo!“ Dass Jessica ihn zuletzt geliebt hatte, schien Tage her zu sein. „Verlier nicht unser eigentliches Anliegen aus den Augen! Wir sind nicht hier, um für ihn Touristenführer zu spielen!“

„Ich weiß: Das Dunkelbaum-Blatt hat auf ihn gezeigt.“

„Er spielt ein falsches Spiel!“

„Mir ist bewusst, dass etwas nicht stimmt, Jessica!“ Er schaute ihm nach. „Und es lässt mir keine Ruhe. Er zieht nicht über mich her, er redet über seine Vergangenheit und sein Ziel ist Simpleton… Er ist so endgültig.“

Des Rotschopfes Seitenblick stach wie eine Giftnadel. „Vielleicht soll uns das auf eine falsche Fährte führen.“

„Mir ist klar, was von uns abhängt. Indem wir sein Vertrauen gewinnen, kommen wir eher hinter etwaige andere Absichten, also lass uns ihn eine Weile begleiten. Sei mir gegenüber doch nicht so skeptisch!“ Er griff nach ihrem Arm. Sie zuckte zusammen. „Du zitterst!“

Ihr Antlitz wandte sich ab, der emporkletternden Sonne entgegen, sodass es ihm schwer fiel, es im glühenden Licht auszumachen. „Ich kann mir nur so viele Orte vorstellen, an denen ich jetzt lieber wäre“, glitt es aus ihr, und dabei drehte sie gedankenverloren den Göttinnenring an ihrem Finger.

Angelo tat es Leid, sie augenblicklich nicht trösten zu können.
 

*
 

Simpleton. Die Zeit schien diesen Weiler zwischen den Hügeln nicht zu kennen. Im Grunde war die Bezeichnung "Dorf", seit das Anwesen des Fürsten bis auf das Fundament niedergebrannt war, unzutreffend für jene Ansammlung weniger Häuser, die schon fast vom umstehenden Wuchs verschlungen wurden, und die Personen, auf welche man hier traf, veränderten sich nie. Angelpunkt dieser Siedlung und früher auch Angelos einziger Anlass, hierherzukommen, war die Taverne. Zwei Stockwerke Unbeschwertheit. Es war befremdlich, nun zu sehen, wie ausgerechnet Marcello auf selbige zusteuerte, argwöhnisch beäugt von den Waschweibern auf der gegenüberliegenden Seite. Der Dorfälteste, der immer auf der Terrasse saß und abends blau wie ein Flügelbüffel war – tagein, tagaus, jahrein, jahraus, ohne jemals zu sterben – identifizierte den hohen Mann sofort.

Marcello setzte sich auf den freien Stuhl.

„Der Fürst aus der Villa“, begann der Greis zu erzählen, „der dieses Nest früher mal regierte, war ein wirklich schlechter Mensch… Ja. Durch und durch schlecht.“

„Ich habe ein privilegiertes Leben genossen“, erwiderte er. „Es fehlte mir an nichts, und ich erhielt eine erstklassische Ausbildung im Reiten, Fechten und Klavier.“

„Schlechte Väter“, brummte der Alte in seinen Bart, „erziehen schlechte Söhne, spricht der Volksmund.“

„Der Volksmund ist nur dazu da, um Vorurteile am Leben zu erhalten. Ich biete Euch an, mich persönlich kennenzulernen.“

„Dann stellt Euch vor.“

Er lenkte den Blick auf seine Erinnerungen. „Obwohl mir stets verschwiegen wurde, dass die Frau des Fürsten nicht meine leibliche Mutter war, hegte ich jedes Mal eine merkwürdige Empfindung, wann immer ihr Dienstmädchen und ich flüchtigen Augenkontakt hatten. Es machte mich neugierig, allerdings wurde genauestens darauf geachtet, dass ich nie mit ihr allein war.“

„Das Band zwischen einer Mutter und ihrem Kind ist mächtiger als jede Lüge.“

Seine Züge verfinsterten sich. „Die Hausherrin war eine Hexe in der Maskerade eines Engels.“

„Sie war eine stolze Frau, deren Lebenssinn darin lag, im Mittelpunkt zu stehen. Sie wurde gezwungen, den Bastard an ihre Brust zu lassen, doch der Bastard zerstörte sie.“

„Mein Erzeuger hat sie zerstört, nicht ich!“, verteidigte er sich. „Sie bestrafte mich für all das, was er begann, ihr vorzuenthalten!“

„Weil er dem Zauber Marozias unterlag.“

Marcello blies seine Wut besonnen hinaus. „Könnt Ihr mir etwas über Marozia erzählen?“
 

„Natürlich kannte ich Marcello!“

Das ungeschlachte Antlitz der Wirtin hellte auf, als hätte Marcello irgendetwas an sich, das Grund dazu gab.

„Wir vom Pöbel haben den älteren Sohn des Fürsten zwar so selten zu Gesicht gekriegt wie Wanderer einen Metallschleim, doch die wenigen Besuche des Dorfes von ihm in Begleitung seines Vaters oder eines Erziehers, die ihm demonstrieren sollten, was aus ihm werden würde, wenn er nicht anständig lernt, habe ich nicht vergessen! Ein adrettes Kind, kann ich Euch sagen! Bescheiden und schüchtern!“

Angelos Augenbrauen hoben sich. „Verzeihung, gute Frau, aber seid Ihr sicher, dass wir von einer und derselben Person sprechen?“

„Natürlich doch! Es gibt keinen anderen Marcello in Simpleton!“

„Na fein… Wisst Ihr vielleicht noch etwas über ihn, außer dass er bescheiden und… schüchtern war?“

„Die Villa ist doch abgefackelt worden!“

„Ja, das ist mir bekannt.“

„Und vorher wurde sie geplündert!“

„Auch das wusste ich bereits, bevor ich durch diese Tür gekommen bin.“

Ihr Zeigefinger, so breit wie sein Daumen, hob sich zwischen sie. „Aber wusstet Ihr auch das?“

„Was?“

„Bevor die Villa geplündert wurde, was ich ja vorhergesehen habe, bin ich noch mal hin und habe ein paar Sachen eingesteckt!“

„Ist das nicht Diebstahl?“, warf Jessica ein.

„Und was danach kam? War das etwa keiner? Wenn der ganze Plunder doch eh geklaut wird, warum dann nicht von mir? Dann weiß ich immerhin, wo er landet!“

Marcellos Anverwandter seufzte durch die Nase. „In der Tat: Überaus vorausdenkend von Euch… Aber wo befindet sich Eure – ähm – "Beute" denn nun? Würde es Euch etwas ausmachen, sie für uns hervorzuholen?“

„Ich weiß nicht… Immerhin verberge ich den Kram jetzt schon seit mehr als einem Jahrzehnt! Womöglich zerbröselt er zu Staub, wenn ich das tue!“

„Handelt es sich etwa um Papiere?“

Sie nickte, wobei das sackartige Kinn ihren Brustansatz kontaktierte. „Auch!“

„Dann muss ich sie sehen! …Bitte.“

Jessica blieb keine Wahl denn zu beobachten, wie sich die Züge ihres Geliebten entspannten und ihm, während er sich über den Tresen lehnte, die ihr verhasste Maske des Herzensbrechers aufsetzten.

„Ihr junge, holde, zarte Fee. Mir ist klar: Ich bin ein einfacher Mann und darf mir nicht anmaßen, Euch in Versuchung zu führen, sie mir auszuhändigen, und dennoch kann ich nicht widerstehen und appelliere an Euer warmes Herz in meiner tiefen Verzweiflung sowie meinem innigen… Begehren.“

„Hach, Angelohoo… Ihr kennt meine Schwachstellen nur zu gut! Ihr wisst, dass ich Euch einfach keine Bitte abschlagen kann! Also gut – will ich mal nicht so sein! Ich hole die Kiste! Muss nur gucken, wo ich sie hingepackt habe…“

„Widerlicher Aufschneider!“ Sobald die dralle Dame in ihr Hinterstübchen verschwunden war, traf Angelo ein erbarmungsloser Schlag gegen das Schulterblatt. „Du hast keine Ahnung von Frauen! Ich kenne deinen Zwang, vor jedem Mädchen herumzubalzen, dass Fremdschämen zu einer größeren Tortur wird als der Versuch, Rhapthorne auf den Schoß zu nehmen, aber jetzt sag mir um Göttinnenwillen nicht, dass alte Frauen wie diese auch in dein Jagdschema fallen!“

Er zuckte bloß mit den Schultern. „Gut, dann behalte ich es eben für mich.“

Sie gab einen Laut von sich, als hätte sie nichtsahnend in Drachenkot gebissen. „Angelo! Das ist ja ekelhaft! Du bist ekelhaft!“

„Sei doch nicht eifersüchtig!“, lachte er.
 

„Niemand wusste, woher sie kam, als sie plötzlich – allein und völlig mittellos – in Simpleton auftauchte. Sie war auch nicht gewillt, irgendjemandem von sich zu erzählen. Alles, was sie wollte, war Arbeit, und so verwies ich sie an die Villa des Fürsten. Ich kannte ja seine Marotten und ahnte: Eine Frau wie sie würde er auf gar keinen Fall wegschicken. Sie war bezaubernd schön mit ihren nachtschwarzen Haaren und den smaragdgrünen Augen. Natürlich nahm der Tunichtgut sie sofort in seine Dienste, und es dauerte nicht lange, da kreisten im Dorf die Gerüchte, sie würde sich auf seine Anmachen einlassen und das sogar herausfordern, um ihre Stellung in dieser Festung auf dem Hügel auszubauen. So entstand die Rivalität zwischen ihr und der Hausherrin. Dass diese kein Kind bekommen konnte, war ein offenes Geheimnis. Doch der Fürst verlangte einen Stammhalter. Und weil sie es nicht wagen wollte, von ihm verstoßen zu werden, beugte sie sich schließlich der Zusammenkunft ihres Gemahls mit Marozia. Sie war sehr jung, als sie Euch zur Welt brachte.“

„Was geschah dann?“

„Die Frau des Fürsten setzte alles daran, zu ehemaliger Position zurückzugelangen. Nichts scheute sie, um doch endlich fähig zu werden, ihm ein Kind zu gebären. Der lebende Beweis für ihren Erfolg kam heute mit Euch in unser kleines Nest. Kurz darauf stellte sie ihn vor eine Wahl, deren Ausgang uns genauso bekannt ist.“

„Sobald Angelo auf der Welt war, änderte sich die Beziehung des Fürsten zu mir. Es kostete ihn keine Träne, seine Affäre mitsamt ihrem Bastard vor die Tür zu setzen.“

„Wir wären unter anderen Umständen bereit gewesen, sie aufzunehmen. Aber sie hat es seit jeher vorgezogen, ein Geheimnis aus sich zu machen. Wir wussten ja nicht, was uns widerfahren würde, hätten wir sie unter unseren löchrigen Dächern nächtigen lassen. Außerdem hat sie nicht mal gefragt.“

„Sie war zu stolz, um in dieser Gegend zu bleiben.“

„Darf ich Euch eine Frage stellen? Habt Ihr Euch jemals gewünscht, sie wäre noch am Leben?“

„Haltet Ihr mich für gefühllos?“
 

„Angelo.“

„Ja?“

„Heute Morgen, da…“

„Jessica, was ist?“, hakte er, ernst werdend, nach.

Es war ihr abzulesen, dass sie, was immer sie tatsächlich hatte sagen wollen, verwarf. „Ich bestehe nur auf meine Meinung, dass wir hinter Marcellos Geheimnis kommen müssen.“

„Wir sind dabei.“

„So schnell wie möglich“, versetzte sie.

„Jessica! Er hat uns doch überhaupt nichts getan!“

„Nein!“ Sie baute sich vor ihm auf. „Fang jetzt bloß nicht so an! Muss denn erst etwas passieren, damit du begreifst, wie prekär er ist?“

„Ich frage dich: Muss man jemandem, der einmal Verbrechen begangen hat, diese bis in alle Ewigkeit nachtragen?“

„Das kommt ganz auf die Verbrechen an!“

„Du standest selbst unter dem Einfluss des Zepters! Und verstehst ihn doch offensichtlich am wenigsten!“

„"Verstehen"?! Ich soll Verständnis für ihn aufbringen?! Erzähl gerade du mir doch nicht, er sei vorher ein Lamm gewesen! Rhapthorne selbst hat gesagt, dass Marcello ihm eigenständig den Obersten Hohepriester aus dem Weg geräumt hat!“

„Rhapthorne würde alles erzählen, um seine Feinde auseinanderzubringen!“

„Du schirmst vehement einen Bruder, der dich schon immer verabscheut hat, vor einem Vorwurf, den er nicht einmal selbst bestreitet! Auf wessen Seite stehst du eigentlich?!“

„Jedenfalls nicht auf Rhapthornes!“

„Auf meiner allerdings auch nicht!“

Du bist es doch, die sich immer weiter von mir entfernt!“

„Und du weißt genau, aus welchem Grund!“

„Das kannst du nicht von mir verlangen!“

„Ich muss und möchte einiges tolerieren an dir, Angelo! Doch manches ist einfach zu viel! Am Schluss wird es darauf hinauslaufen: Entweder er… oder ich.“

„Herr Angelo! Fräulein Jessica! Ahnte ich doch, dass ihr es seid!“

Schreckend aus ihrem Blickduell, erkannten sie hinter sich ein liebreizendes Konterfei. Es gehörte Emma, der Magd in der Festung des ascanthischen Königs Pavan, und anscheinend hatte sie nichts vom Streit mitbekommen.

„Na sowas!“, schlug Angelo gleich einen anderen Ton an. „So weit entfernt von der Hauptstadt hätte ich mir Euch gar nicht vorstellen können! Nun sagt mir nicht, dass Ihr Euch freigenommen habt!“

Verlegenheit zupfte an Emmas Mundwinkeln, als sie den blonden Schopf senkte. „Nun ja… Man hat mich nicht vor die Wahl gestellt, kann man sagen. Vielleicht mutet es seltsam an, aber Seine Majestät scheint viel bekümmerter darum zu sein, dass ich mir einige Tage Auszeit gönne als dass er rundum gut versorgt ist.“

„Zum Glück. Wie ich Euch kenne, würdet Ihr Euch sonst noch krank arbeiten.“

„Was verschlägt Euch nach Simpleton?“, wollte Jessica wissen.

„Ich kaufe und tausche Lebensmittel für meine Großeltern ein und plaudere ein wenig mit den freundlichen Dorfbewohnern hier. Am Fluss ist es stets friedlich, und das ist gut so, aber manchmal fehlen mir doch die Gespräche mit anderen. Und ihr?“

„Oh“, machte Angelo, als hätte er mit dieser Frage überhaupt nicht rechnen können. „Wir betreiben – nun – Ahnenforschung.“

„Ehrlich? Ich habe nicht erwartet, dass ihr solche Menschen seid. Ihr wirkt alle sehr stark und so, als würdet ihr stets nur nach vorne schauen. Aber es ist keine Überraschung, die mich enttäuscht. Im Gegenteil: Man sollte niemals vergessen, wo seine Wurzeln sind. Die Familie ist doch das Allerwichtigste, nicht wahr?“

„Ja…“, hauchte Jessica und dachte an ihren Bruder, an ihre Mutter.

Und Angelo dachte an den Einzigen, der ihm geblieben war.

„Manche Freunde vergessen einander, und sogar Geliebte lösen sich. Doch das Familienband verbindet uns von Anfang an und bleibt irgendwie bis zum Ende bestehen, selbst wenn wir uns mittlerweile von unseren Verwandten entfernt haben.“

„Huuhuuuu!“, trällerte es, und um die Ecke tänzelte erstaunlich gewandt der Leib der Gastwirtin. Die Katze auf dem Sofa krächzte und hüpfte auf die Lehne, als würde sie sich dort in Sicherheit bringen wollen. Ihre Besitzerin haute eine spröde Holzkiste auf den Tresen, dass die sich darin befindenden Gegenstände staubblähend aufzuckten.

„Darf ich?“

„Aber bitte doch, Angelo!“

Er langte hinein. „Also gut, was haben wir hier…? Den Kristallbehang eines Kronleuchters, den Teil eines Bilderrahmens, ein splittriges Stück Holz, noch ein splittriges Stück Holz – beeindruckend – und hier eine verkokelte Keramikpuppe, ganz in Schwarz gekleidet. Also, wenn die meinem Vater gehört hat, breche ich auf dem Dachfirst dieses Hauses den aktuellen Rekord im Purzelbaumschlagen. Nicht einmal meine Mutter besaß so etwas. Fernab meines Zimmers beschränkte sich der Kitsch auf Gemälde von märchenhaften Landschaften und eben jenen Kronleuchter, von dem wir ein bezeichnendes Stück Fremdscham hier vor uns haben.“

„Sie fand ich auf dem Grundstück vergraben“, verriet ihnen die Wirtin.

Auf Jessicas Dekolleté bildete sich eine Gänsehaut. „Wer sie da wohl vergraben hat? Und warum?“

„Hier sind die Dokumente, die Ihr uns versprochen habt.“ Seine Brauen hoben sich. „Geburtsurkunden?“

„Von Euch und Eurem Bruder!“, bestätigte sie ihm. „Ist das nicht komisch? Die Geburtsurkunde eines Sohnes zu finden, der von seinem Vater totgeschwiegen wurde?“

Der Templer graste die Zeilen ab. Bei einer hielt er abrupt inne. „Aber das ist doch…!“
 

„Als ich erfuhr, dass meine angebliche Mutter ein Kind erwartete, empfand ich Freude. Ja: Aufrichtige Vorfreude.“ Er lächelte leer, während er die Erinnerung Revue passieren ließ. „Ich war so ungeduldig und versprach, mich lobenswert um den kleinen Bruder zu kümmern. Als er dann da war und in seiner Wiege schlief, betrachtete ich ihn lange, bewunderte seine Vollkommenheit. Damals wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, er würde mir einmal alles wegnehmen, was mir etwas bedeutete. Indem er nichts weiter tat als zu schlafen und vollkommen zu sein.“

„So ist es!“, gab der Greis dem letzten Satz Gewicht. „Er kann doch nichts dafür! Warum verstoßt Ihr ihn noch immer? Er hat Euren Hass nicht verdient.“

„Als er in der Maella-Abtei heranwuchs, wurde er eine grauenhaft korrekte Kopie seines Vaters.“

„Er sehnte sich nach Eurer Aufmerksamkeit.“

„Er wollte sie provozieren und musste eben lernen, dass man auf diese Weise nicht alles bekommt.“

„Und wie lange soll diese Lektion noch dauern, Marcello?“

„Ich lehre ihm nichts mehr, seit unsere Wege sich getrennt haben. Doch das gestattet mir nicht, ihn nun in die Arme zu schließen.“

„Ihr werdet ihm niemals vergeben?“

„Man sagt, dass man – wenn man jemanden liebt – sich seine Empfindungen eingestehen soll; dass man sich nicht verstellen und sie nicht verhehlen soll, um nicht von seinem Kummer aufgefressen zu werden. Verhält es sich denn mit dem Hass anders als mit der Liebe?“

„Das liegt wohl an den Folgen! Der Unterschied ist, dass offen gelebte Liebe keinen verletzt. Offen gelebter Hass hingegen schon.“

„Ich denke, es tut ihm weniger weh, wenn ich ihn ehrlich hasse, als dass ich vortäusche, ihn zu mögen.“

„Es gefällt mir, dass Ihr immerhin schon so denkt.“

„Missversteht mich nicht: Es zählt allein das bequemere Vorgehen für mich.“

Der Blick des Alten folgte dem Fürstensohn in die Höhe.

„Ich danke Euch für das Gespräch. Möge die Göttin Euch bis zuletzt hold sein.“

„Wo geht Ihr jetzt hin?“

„Zum ehemaligen Standort des Herrenhauses, um dort die letzten Antworten zu finden.“

„Marcello! Es hat etwas Gutes, dass Ihr in der Abtei aufgezogen worden seid. Durch sie ist aus Euch ein weitaus besserer Mensch geworden als Euer Vater je aus Euch hätte machen können.“
 

Nichts deutete mehr auf das Kastell seiner Kindheit mit dem akkuraten Vorgarten hin, und dennoch wusste er exakt, wo es gestanden hatte. Er eruierte die Position seines Zimmers anhand des Blickes aus dem permanent klemmenden Fenster, und er erkannte, wo die Eisenstäbe des Tores über dem Boden geschwebt hatten wie anthrazitgraue, überdimensionale Wächter. Es war sonderbar, jene Schwelle nun zu übertreten, ohne dass etwas in seinem Weg stand. Zweifellos wäre er reich gewesen. Da, der Salon, welchen er deswegen dorthin zu ordnen vermochte, weil er von seinem Platz am Speisetisch aus, an der Gestalt des Fürsten vorbei, auf die Tür jenes Raumes hatte spähen können, den sie "Besenkammer" nannten und der sich direkt unter seinem Zimmer befunden hatte, denn von dort waren hin und wieder wundersame Melodien aus Klopfgeräuschen zu ihm gedrungen, die zu applaudieren schienen, wenn er am Piano spielte, oder ihn zu beruhigen, wenn er zu Bett ging. Er hätte alles unternehmen und besitzen können hinter diesen wuchtigen Wänden. Gram und Groll hätten seiner Erscheinung nicht die Jugend geraubt. Er hätte nicht Maria, aber eine andere Frau kennengelernt – oder mehrere. Fürst von Simpleton wäre er geworden, Herr und Witz der Dorfbewohner, womöglich Galan seiner eigenen Mutter. In diesem Haus wäre er gestorben – eventuell wie sein leichtsinniger Erzeuger an der Pest.

„Herr Marcello?“

Auf der goldbesprenkelten Wiese hinter ihm stand ein Fräulein mit blonden Locken. Seine Hände waren vor dem Schoß ineinander verschränkt – eine Geste, die dem Angesprochenen jemanden ins Gedächtnis rief.

„Darf ich Euch in das Dorf zurückführen? Euer Bruder Angelo wünscht Euch zu treffen. Es handele sich um etwas besonders Wichtiges, teilte er mir mit.“

„Ich komme sofort.“ Hier hatte er ohnehin nichts mehr verloren. „Ihr seid nicht von hier, gehe ich recht in der Annahme?“

„Ja. Ich wohne in einem bescheidenen Haus zwischen Simpleton und der Hauptstadt.“

„Am Fluss nahe der Kapelle, die man auch nur als die "Kapelle am Fluss" kennt.“

„Richtig. Ich heiße Emma und bin Dienstmädchen Seiner Majestät König Pavan.“

„Dienstmädchen.“

„Ja“, versetzte Emma perplex.

„Seid Ihr… seid Ihr glücklich damit?“

„Die Pflichten einer Magd können anstrengend sein. Aber darüber war ich mir schon immer im Klaren. Mein Herr ist überaus genügsam und rücksichtsvoll… Ja: Ich bin sehr glücklich, ihm zu dienen.“

„Wisst Ihr…“

„Ja?“

„Meine Mutter war…“

Stille. „Eure Mutter war…?“

„Ach, nichts.“

„Doch! Erzählt es mir. Vielleicht ist dies die günstigste Gelegenheit… um zu erzählen. Hier oben lauscht nur der Wind… und der Rasen. Und keiner von beiden versteht unsere Sprache. Was mich betrifft: Ich bin Euch so fremd wie Ihr mir. Weder einen Vorteil noch einen Nachteil zöge ich daraus, Eure geheimen Worte an irgendwen weiterzugeben.“

„Doch gewiss kennt Ihr Angelo. Jeder kennt Angelo – vor allem, wenn er eine junge, hübsche Frau ist.“

Das Haupt des Mädchens sank zwischen seine schmalen Schultern. „Ihr meint, Herr Angelo versteht sich auf den Umgang mit Frauen… Aber Ihr irrt: Eigentlich hat mir noch nie jemand ein Kompliment dieser Art gemacht. Na ja… Also bis soeben…“

„Das… war kein Kompliment!“, korrigierte er sie brüsk. „So sind nun einmal die Fakten!“

„Entschuldigt!“ Dieser Bitte zum Trotz brachte irgendetwas sie zum Kichern. „Ich bin es nicht gewohnt, dass… Ach herrje! Nun werde ich ganz rot im Gesicht!“

Bis zum nächsten Lidschlag sah er auf eine blaugewandete Göttinnendienerin, deren Antlitz schwoll.

„Durch meine Aufgaben habe ich nicht viel Zeit für dergleichen. Aber das macht mir nichts! Ich mag jene Menschen, mit denen ich es während meiner Arbeit zu tun bekomme.“

„Meine Mutter war auch Bedienstete.“

Etwas Komisches passierte. Sobald er erfahren hatte, dass dieses Fräulein als Dienstmädchen tätig war, hatte Marcello das Verlangen verspürt, es ihm mitzuteilen. Es war an sich bereits befremdlich genug, dass er sich gezwungen fühlte, eine derart persönliche, private Information preiszugeben. Was diese Deviation von probaten Prinzipien allerdings noch übertraf, war, dass er, nachdem er es getan hatte, plötzlich überhaupt nicht mehr wusste, weshalb. Und etwas war fast ebenso sonderbar: Er fühlte sich just um zehn Pfund leichter. Zehn Komma zwei.

Die blondgelockte Magd, welche für all dies verantwortlich war, geleitete ihn hinab, zurück in die Siedlung. Simpleton lag totenstill. Niemand war auszumachen, und selbst der Wind schien seinen Atem anzuhalten. Marcello merkte, dass er unruhig wurde. Unter seinem Umhang tastete er nach dem Griff des Merkurfloretts. Wenn Angelo ihn sehen wollte, sollte er besser auf alles gefasst sein.

Seine Begleitung öffnete eine der Türen zur Taverne. Das Aroma von Verbranntem wich heraus, als wäre es vor etwas im schattigen Inneren auf der Flucht, und mahnte ihn zur angemessenen Achtung. Wo war Angelo? Er setzte den ersten Schritt hinein… „ÜÜÜÜÜÜÜBEEEEEEERRAAAAAAAAAAAASCHUUUUUUUUUUUUUUUUNG!“

Ein Schwall von Angreifern schwappte über die Theke! Er riss seine Waffe aus der Scheide. Das waren doch die Simpletoner! Wieso attackierten sie ihn?! „Zurück!“, wollte er dem Dienstmädchen zurufen, wollte die Gegner mit einer Windsichel auf Distanz halten!

Doch dazu kam es nicht.

Ein müßiges Klatschen zweier Hände.

An einem der dicht gedrängten Tische saß sein Halbbruder mit überschlagenen Beinen und jenem Grinsen, das jedes Mal seinen Hass auf ihn neu entzündete. Gegenwärtig jedoch musste der Hass der Irritation weichen, da auf einmal Angelos Attentäter anfingen zu applaudieren!

„Bürger Simpletons! Lasst uns den heutigen Tag feierlich begehen! Den Tag, an dem mein lieber großer Bruder geboren wurde! Alles Gute zum Geburtstag, Marcello!“

Der Betroffene verharrte in Regungslosigkeit, mit fiebrig zirkulierenden Gedanken, derweil um ihn her der Betrieb einsetzte. Wollte Angelo ihn bloßstellen? Stellte dies eine Falle dar?

Die Dame aus dem Gasthaus gegenüber brachte einen Kuchen, dessen Anblick allein schon Zahnschmerzen verursachte. „Euer Bruder hat mich gebeten, etwas für diesen besonderen Anlass zu backen! Ist er nicht herzallerliebst, Euer Bruder? Und ist er nicht herzallerlecker, dieser Kuchen? Na kommt schon!“ Sie klemmte seinen Arm mit dem ihren ein und zerrte ihn neben sich auf einen Platz an Angelos Tisch. „Ihr gehört doch zu uns! Ihr gehört doch hierher, nach Simpleton!“

Sogar die rothaarige Hexe war hier. „Guckt mich nicht so an“, brummte sie. „Das Einzige, was ich heute zelebriere, ist der Abschied zwischen Euch und Angelo, sobald dieser Tag vorüber ist.“

Während die Wirtin den Kuchen zerkleinerte und die übrigen ungeladenen Gäste Spirituosen spritzen ließen, fesselte Marcello das Augenmerk des an der Gaudi Schuldigen an sich. „Dafür bringe ich dich um!“

„Von mir aus? Du kannst mir gerne eine Geburtstagskerze in die Brust rammen oder meine Schädeldecke mit deinem Löffel zertrümmern, aber erst einmal schlagen wir uns die Bäuche voll!“

Tatsächlich aß Marcello sogar mit – wenn auch mit karmesinroter Nase und determiniert auf seinen Teller starrend, als würde er darauf den kleinsten Krümel zählen. Angelo war klar: Selbst wenn Marcello das Datum seines Geburtstages kennen würde, so würde er doch niemals etwas für ihn organisieren. Aber das verletzte ihn nicht. So war Marcello eben. Und was bedeutete schon irgendein Tag? Auf gewisse, unerwartete Weise vermochte der Vorstand der Maella-Abtei an jenem Abend – als er beobachtete, wie sein Halbbruder befangen Kuchen aß und der mitteilungsfreudigen Gastwirtin hilfloses Opfer war – auch seinen eigenen Geburtstag nachzufeiern.
 

Schwarz wurde die Feste des Himmels wie den Simpletonern vor den Augen, und so sah sich Emma schließlich verpflichtet, die Alkoholleichen zumindest in die Ecken zu räumen, dass man sich hier drinnen wieder bewegen konnte, wenn schon kaum atmen.

Angelo verfolgte, wie sein Halbbruder gerade seinen Teller leerte. „Wow. Ein ganzes Stück hast du weggeputzt.“

„Ich verabscheue süßes Zeug“, verteidigte er sich, das Geschirr von sich schiebend und seine Hände verschränkend. „Doch der Höflichkeit wegen muss man manchmal gewisse Risiken eingehen. Ich bin erstaunt, dass du noch gar nicht unter dem Tisch liegst.“

„Diese Phase ist vorbei. Jeder Mensch kann sich ändern. Jeder.“

„Erhoffst du dir etwa, dass ich dir eine zweite Chance gebe?“

„Bin denn wirklich ich es, der die zweite Chance benötigt?“

„Ich habe nie nach einer verlangt. Du bist es doch, der mir fanatisch hinterherrennt und mich mit Waffen und Geburtstagsfeiern zu bestechen sucht.“

„Betrachte dies alles als Beweise meiner Bereitschaft, dir zu verzeihen.“

„"Verzeihen"?“ Marcello erhob sich wie ein aus dem Boden schießender Pfahl. „Was denn "verzeihen"?! Dir gegenüber habe ich nichts falsch gemacht!“

„Du hast mich behandelt wie einen Verbrecher!“

„Und nichts anderes warst du!“

„Du hast mir körperlich wie seelisch wehgetan!“

„Ich bin niemals anders mit dir umgesprungen als mit einem der anderen Templer! Hast du mich je mit irgendeinem plaudern gesehen? Hast du mich je mit irgendjemandem spielen gesehen? Nein, hast du nicht! Doch in deiner Illusion der Einsamkeit und Eifersucht hast du es dir eingebildet! Du stelltest dir vor, dass die Templer eine geschworene Gemeinschaft seien und du ein Ausgestoßener, weil es allen anderen ja immer besser gehen müsse als dir; du hast dich abgewendet und demnach nie erfasst, dass der Templer-Orden tatsächlich eine Hierarchie darstellt, in der jeder für sich allein kämpft!“

„In erster Linie war ich dein Bruder!“

„Doch nicht in der Maella-Abtei! Dort warst du ein Templer!“

„Und jetzt?!“

Jessica und Emma achteten darauf, nicht zu merklich zu atmen. Angelo hatte die Arme seines Anverwandten ergriffen.

Der senkte die Lider. „Ich bin müde.“ Die Hände des Jüngeren glitten ab gleich Schnee, da er sich in Bewegung setzte, in Richtung der Tür, die nach draußen führte.

Angelo vermochte sich partout nicht daran zu erinnern, dass der Ex-Templer jemals von sich aus zugegeben hätte, müde oder erschöpft zu sein. Die drei Worte hatten etwas Bedeutungsträchtiges, aus dem Mund jenes Mannes. „Warte!“ Abermals fasste er nach seinem Arm. „Hör mir zu, Marcello: Ich wollte dir niemals irgendetwas wegnehmen!“

Er riss sich los.

„Komm herein, Angelo“, riet Jessica ihm. „Zeit heilt keine Wunden, aber sie reißt sie auch nicht weiter auf.“
 

Die beiden Frauen verstanden es, ihn ein bisschen zu ermuntern, wenn auch auf eine andere Art denn Frauen ihn früher ermuntern konnten. Dann verabschiedete sich Emma. Der Tag gab das Zepter an den nächsten ab, und Stunden später ging die Sonne über dem östlichen Kontinent auf. Keine Minute danach stieß Marcello Angelo aus dessen Schlummer.

„Du… du bist noch da?“

„Ich wollte dir erlauben, mich zum Eingang des Dorfes zu begleiten. Zieh dich an!“

Zweiter warf sich den roten Rock seines Habits über und rutschte in die Ärmel. „Marcello… Das sind vielleicht fünfzehn, zwanzig Schritte…“

Der Schwarzhaarige hustete. „Fünfzehn, zwanzig Schritte, binnen der du noch an mir hängen kannst. Komm jetzt.“

„Dann lass mich noch Jessica wecken. Ich möchte auch fort sein, ehe die ganzen Kater hier erwachen.“

Außerhalb der Taverne blieb Marcello stehen, hob seine rote Nase in die Luft und schöpfte selbige, als hätte er den ersten Schritt seit Jahren in die Freiheit gesetzt.

Jessica erahnte, wie ihr Geliebter sich fühlte. Er mochte ein Meister der Masken sein – sie kannte jene Stellen, denen sie Aufmerksamkeit schenken musste, um hinter sie zu spähen. Von ihr motiviert, verschränkten sich ihre Hände wie die zweier Schulkinder, welche gerade entdecken, dass sie etwas füreinander empfinden. Sie lächelte ihm zu. Und nach einem Zaudern lächelte er zurück.

Da schlug Marcello eine Hand vor seine Augen und gab merkwürdige Laute von sich. Angelo war sofort zur Stelle: „Was ist? Hast du Kopfschmerzen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Musst du niesen?“

„Angelo.“ Es war Jessica. „Lass uns schon einmal vorgehen, Angelo.“

„A-aber…!“

„Er kommt nach.“

Am Zaun, der die Grenze des Weilers zur von Monstern bewohnten Wildnis markierte, ließ sie von ihm ab. Erst jetzt begriff er und machte eine geschockte Miene.

„Es ist ein positives Zeichen“, beruhigte sie ihn. „Weinen bedeutet immer auch, sich über etwas klar zu werden. Ich glaube, er hat jetzt endlich loslassen können.“

Die Minuten verstrichen.

Nach zwölf davon trat Marcello zu ihnen, mit vertraut düsteren Zügen. „Ich bitte die Verzögerung zu verzeihen.“

Noch ehe sie die Weggabelung erreichten, die einerseits zur Maella-Abtei, andererseits nach Ascantha führte, brach Marcello bewusstlos zusammen.


Nachwort zu diesem Kapitel:

An dieser Stelle ein Einblick in weitere fiktive Geburtsurkunden der Helden aus "Dra-
gon Quest VIII": So wäre Angelo am 6. Januar dran; zu Beginn des Videospieles war
er 19 Jahre alt. Jessica 18 - ihr Geburtstag liegt im Sommer, ebenso Prinzessin Me-
deas: Im Juli. Aus dem Spiel wissen wir, dass sie genauso alt ist wie der Held, den
ich auf damals 17 schätze. Mit 24 Jahren wäre Yangus der Älteste (selbst inklusive
König Trode, der mich einkerkern lässt, falls ich etwas anderes schreibe).
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