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DQ8: Il Santuario in Cielo

Das Heiligtum im Himmel
von

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Der Mann in der Dunkelheit

Das Schnaufen hatte aufgehört. Marcellos Wimpern vibrierten, dann hob er sie. Die Erkenntnis der zwar lange missenden, doch nicht vergessenen Zimmerdecke über ihm bewegte ihn sichtlich; kurz darauf drehte er sein Haupt auf dem Kissen und blickte unmittelbar in das grinsende Gesicht Angelos. „Du bist ja richtig erträglich, wenn du schläfst!“

Komplett aus der Umarmung des Schlafes gerissen, wich sein Halbbruder auf den Knien zurück an die Wand. „Was machst du in meinem Zimmer?! Geschweige denn in meinem Bett?!“

„Ich muss dich korrigieren, Bruder: Das hier ist das Bett des Hauptmanns der Templer und damit nicht länger das deine. Ich habe dich lediglich darin schlafen lassen, weil du krank bist.“

„Krank?“

„Die vergangene Zeit war selbst für dich etwas zu viel, hm? Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe nach einem Arzt schicken lassen. Dir wird es bald wieder besser gehen.“

Wut vertrieb die Verwirrung aus dem matten Antlitz des Ex-Offiziers. „Rede nicht mit mir wie einem Kind! Ich werde nicht hier bleiben!“

Angelo schob sich vom Laken. „Ich fürchte, du wirst keine Wahl haben. Sieh mal!“

Vom Tisch am Fußende des Bettes brachte er ihm die Kiste mit dem Schrott… den Überbleibseln aus der väterlichen Villa. Marcello interessierte sich sofort für die über die Kante ragende Porzellanpuppe im schwarzen Kleid.

„Erkennst du sie?“

„Das Zeichen!“

„Was ist damit?“

„Ich habe es schon einmal in einem Buch gesehen… Hier. Sieh es dir an.“

Er nahm das Mädchen mit dem starren Konterfei entgegen. „Habe ich bereits. Mir sagt es nichts. Meinst du, es könnte für uns relevant sein? Vermutlich handelt es sich bloß um das Siegel des Herstell…“

Das Rauschen von Stoff und Marcellos hinter den Raumteiler flitzendes Bein. Angelo fuhr auf, ließ die Puppe auf das Bett fallen und hetzte ihm hinterher. Als der Kranke gerade nach der Türklinke fasste, packte er ihn, wirbelte ihn herum und ließ ihn auf den langen Tisch hinter ihnen krachen. Marcello, mit dem Rücken auf dem Pult, stierte ihn an wie jemanden, dem soeben gleißende Schwingen aus dem Rumpf geschossen sind, dann erwehrte er sich des unerbittlichen Griffes gleich einem tollwütigen Stierstar! Es dauerte, bis sein physischer Zustand ihn notgedrungen beschwichtigte. Der Templerhauptmann war über ihn gebeugt, seine Arme auf das Holz nagelnd, derweil seine Beine über die Platte hinaus an den Flanken von Angelos Taille hingen. Dessen Mimik war zu entnehmen, wie wenig versessen er darauf war, demnächst die zahlreichen blauen Flecken an seinem Leib zu untersuchen.

„Ich bin nicht stärker geworden“, erriet er den Grund für die Verblüffung des Älteren und überließ diesem die logische Schlussfolgerung.

Wie als Geste der Inakzeptanz gegenüber dem sich allzu aufdrängenden Fakt startete er einen weiteren Versuch, sich aus den Fängen zu winden. Letztlich stemmte sich Angelo gegen den Rand des Tisches und klemmte die widerspenstigen Beine zwischen ihren Rümpfen ein.

„Könntest du endlich aufhören, mich wegen Umständen zu hassen, die ich nicht einmal kenne?!“, ächzte er unter einem sich in seinen Magen bohrenden Knie.

„Du weißt genau, weshalb…!“

„Ja ja!“ Er befand sich nicht in der Stimmung, dieses Thema abermals mit seinem sturen – ja – besessenen Halbbruder durchzukauen. „Wir alle werden jubeln und tanzen, sobald du uns verlässt – nicht nur du – aber in deiner Verfassung lasse ich dich auf keinen Fall gehen!“

Marcellos Augen wollten ihn töten. „Ich werde dir das Leben in der Abtei zur Hölle machen!“

„Wie du willst, aber mach es von deinem Bett aus.“

„Ich werde dich und alle hier mit der Pest infizieren.“

„Du hast bloß Fieber, Marcello…“

„Und wenn du schläfst, werde ich dir ein Messer in dein naives Herz rammen.“

„Meinetwegen.“

Er wollte ihm die Decke überziehen, doch Marcello schlug seine Hände aus der korpulenten Korona seines enormen Egos. Trotzdem empfing ihn die Weichheit des Bettes, aus welcher sich zu befreien bekanntlich problematisch ist – selbst für einen Marcello. Einen kranken Marcello, wohlgemerkt.

„Templer Gladio wird sich nachher einmal deine Wunden ansehen. Und: Versuche nicht wieder, wegzulaufen. Ich bin überall!“
 

Vor der Tür begegnete er nicht zufällig Jessica. „So widerlich der wieder ist, scheint er wohl bald auf die Beine zu kommen.“

„Es tut mir Leid, Jessica, aber in seinem Zustand kann ich ihn unmöglich sich selbst überlassen.“

„Ich verstehe. Er ist dein Bruder. Ich versuche mein Bestes, ihn nicht mehr ganz so doll zu hassen. Dir zuliebe. Aber habe Geduld mit mir.“

Er zog sie in seine Arme. „Danke, dass du es immer noch mit mir aushältst, Jess.“

„Dafür mit dir leben zu dürfen ist mir schier alles wert. Ich habe mit den Kindern gesprochen. Weißt du, wie sie ihren Tageslauf schildern? "Angelo singt mit uns". "Angelo erzählt uns Gruselgeschichten". "Wenn Angelo kocht, geht das meistens in die Hose, aber er ist dabei immer lustig". Warum hast du es vorgezogen, diese Seiten vor mir zu verheimlichen? Es gibt vieles an dir, was ich noch nicht zu kennen scheine!“

„Ich fürchte, ich verberge nicht nur reizvolle Seiten“, wisperte er gegen ihre Lippen.

„Perfekte Menschen sind nicht charmant.“ Sie vollendete den Kuss.

Erfüllt von Jessica begab er sich anschließend in das Dormitorium der Kinder, um dort für sie beide ein provisorisches Lager zu bereiten. In seiner eigenen Räumlichkeit würde er nämlich nicht nächtigen können: Marcello würde sich dort ein kuscheliges Kastell, ein bauschiges Bollwerk errichten, aus dem er den Verhassten die ganze Zeit anfinstern konnte, bis der überraschend tot umfiel. Das machte nichts. Die Kinder freuten sich wie Kopfjäger darauf, von ihm vor dem Einschlafen neue Abenteuer von der Reise der Ritter Ramias zu hören.

In ihrem Schlafraum angekommen, fand er Celino vor, der die Bücher von seinem Bett räumte. „Was tust du da?“

„Ihr könnt hier schlafen, Hauptmann Angelo. Es… es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr das tun würdet.“

„Ich hatte nicht vor, einem von euch seinen Platz wegzunehmen.“

„Das geht in Ordnung!“, versicherte ihm der Junge, sich durch die Spalten zwischen den Holzgestellen lavierend. „Ich schlafe bei Antonino!“

„Celino…“

„Keine Widerrede! Hab’ ihm das schon versprochen!“

Angelo musste schmunzeln. „Für Marietta hat der Mut wohl noch nicht ganz gereicht?“

„Wie… wie kommt Ihr darauf?“

„Du hast sie doch ziemlich gerne, habe ich nicht Recht?“

Ertappt! „Nein! Wieso? Ich?! Natürlich nicht! Bäääh!“

„Schon gut!“, besänftigte er ihn mit einem Kichern in der Stimme. „Vielleicht verfügst du über ein sensibleres Gespür für den richtigen Zeitpunkt, einer Lady näher zu kommen. Ich habe ihn in meiner Vergangenheit oftmals verfehlt. Hach ja… Jessica wird dann auch in diesem Bett schlafen. Bist du damit einverstanden?“

Celino nickte und war offenkundig erleichtert über den Themenwechsel. „Ihr schlaft doch hier, weil dieser Herr… dieser bestimmte Klavierspieler in Eurem Zimmer ist, oder?“

Der junge Abteivorstand erfasste geschwind die Absicht des Nachwuchspianisten. „Ja. Bedauerlicherweise weist sein Wesen nicht annähernd das Feingefühl seiner Finger auf; darum rate ich dir, ihn in Ruhe zu lassen.“

„Wollt Ihr sagen, dass er böse ist? Das kann ich mir nicht vorstellen! Einer, der so spielt, kann kein schlechter Mensch sein! Das glaube ich nicht!“

„Ich ja auch nicht“, gab Angelo zu, dem Knaben dessen Kissen hinüberwerfend. Leider war Marcello in dieser Hinsicht so etwas wie ein Wunder.
 

Auf dem Korridor begegnete ihm Templer Gladio, welcher gerade aus dem Amtszimmer trat.

„Gibt es etwas, über das ich informiert sein sollte?“

„Eine Wunde am Arm ist entzündet, Hauptmann; alles andere sind Kratzer. Wenn der Heiler bald kommt, braucht Ihr Euch zumindest darum keine Gedanken zu machen.“

„Worum sonst?“

Der Kahlkopf drehte sich einmal zu beiden Treppen, als wollte er sicherstellen, dass sie zwischen den geschlossenen Türen der Schlafräume unter sich waren. „Hauptmann – die Templer sind geteilt über die Anwesenheit von Hauptmann Marcello und verlangen zu wissen, wie mit ihm weiter verfahren wird. Sie sind unsicher, wie sie nach allem mit ihm umgehen sollen und ob es nicht gefährlich ist, dem Papstmörder und Demagogen Obdach zu gewähren.“

„Verständliche Sorgen“, gestand sich sein Vorgesetzter ein. „Doch wisst: Der Oberste Hohepriester fahndet noch nach ihm, weil man es von einem Mann seines Amtes erwartet, aber in Wirklichkeit ist er ganz und gar abgeneigt, Marcello noch mehr zu bestrafen als es durch die Exkommunikation und seinen persönlichen Ruin nach Neos ohnehin schon geschehen ist. Vor Savella brauchen wir uns absolut nicht zu ängstigen – wir haben es schließlich nicht länger mit den Rittern der Neuen Welt zu tun! Marcello wird definitiv hier bleiben und zwar in größter Sicherheit – dafür seid Ihr zuständig.“

Gladio nickte. „Was soll ich den Templern sagen?“

„Richtet ihnen aus, sie sollen in ihm nicht ihren Kommandanten, sondern einen Pilger sehen, dem – denn dies gebieten uns unsere Statuten – wir Unterkunft, Verpflegung sowie Schutz zugestehen. Marcello ist kein Bruder, sondern Gast der Maella-Abtei, und so ist er auch zu behandeln. Ihr habt zwischen ihm und den Männern eine besondere Stellung inne, Templer Gladio.“

„Ich habe verstanden, Hauptmann.“

Er stieg in das Erdgeschoss hinab. Der Respekt vor dem einstigen Hauptmann steckte einigen der Brüder noch tief in den Knochen; andere wiederum waren ihm inzwischen feindlich gesinnt, nachdem sie die Wahrheit über seine Initiation zum Obersten Hohepriester erfahren hatten. Es war ein Risiko, alle unter demselben Dach wohnen zu lassen, und er würde sich mit Fragen, Zweifeln sowie Vorwürfen skeptischer Templer auseinandersetzen müssen, als wäre Marcellos nicht existente Bereitschaft zur Kooperation nicht bereits Onus genug.

Erholung von seinen Kontemplationen fand er – wie so oft – in der Beichtstunde. Eigentlich bedurfte die Beichte eines geweihten Klerikers, doch Angelo gereichte den Sündern zur Ehre, ihm höchstselbst ihre seelischen Wehwehchen anvertrauen zu dürfen. Angelo liebte die Beichtstunde: Leute labern einen voll und alles, was man dazu sagen muss, ist Ja und Amen. Eine herrliche Gelegenheit zum Ausspannen! Zugleich lernte er seine diskreten Brüder viel besser kennen. Hinter einem dicken Vorhang, der eine der Kapellenapsiden teilte, machte er es sich auf zwei Stühlen bequem. Nicht überraschend befand sich Theophilus Natale unter den heutigen Büßern. Der Mönch gab zu, geträumt zu haben, einer Nonne ihren Gebetskranz stibitzt zu haben, bloß um sie auf sich aufmerksam zu machen, was die Diabolik seiner vergangenen Beichte – nämlich heimlich etwas Schokoladenglasur vom Kuchen genascht zu haben – wahrlich überflügelte. Celino kletterte auf den Hocker und gestand – ohne zu ahnen, wem – heute gegenüber Hauptmann Angelo etwas unehrlich gewesen zu sein. Übrige Beichten beinhalteten Bierbagatellen in Simpleton oder Schwertschwünge auf dem Innenhof vor achtzehn Uhr – Regelverstöße, über welche der Templerhauptmann leicht hinwegzusehen vermochte. Schließlich wünschte noch jemand, seine Seele zu entlasten. Die Stimme jenseits des Vorhanges fuhr Angelo durch Mark und Bein. Unverkennbar: Marcello!

„Hört Ihr mir zu?“

Ihm deuchte, sterben zu müssen, wenn sein Halbbruder entdeckte, wer auf der anderen Seite des Stoffes zurzeit versuchte, mit dem Boden zu verschmelzen! Was im Namen der Göttin hatte Marcello hier zu suchen?!

„Heiliger Vater, ich habe gesündigt. Es handelt sich nicht um den Mord am Obersten Hohepriester oder meine Intrigen, denn dies alles sollte inzwischen auf der gesamten Welt bekannt sein. Nein – es gibt da jemanden, dem gegenüber ich nicht ehrlich bin. Ich verschweige ihm die Wahrheit… die Wahrheit über unsere Beziehung zueinander. Ehe das göttliche Gericht über mich urteilt, will ich sie jedoch ausgesprochen haben.“

Ein gemessener Atemzug – fast ein Seufzen.

„Angelo…“

Eben dessen Finger krampften sich um die Stuhlzarge. Was sollte das…?!

„Einmal trennte er uns voneinander, dann brachte er uns wieder zusammen. Wir wurden Brüder in dieser Abtei, ohne uns als Brüder zu fühlen, obschon wir beide das Blut desselben Mannes teilten. Viele Jahre lebten wir nicht mit-, sondern nebeneinander, und aus seinem Antlitz gebar sich unser Erzeuger wieder. Es verhärtete mein Herz und zwang mich, voreingenommen gegenüber seiner Entwicklung zu sein. So war ich stets der Überzeugung, er sei ein dummer, unbrauchbarer Schürzenjäger. Doch dann…“

Atmosphäre eines intimen Gebets.

„Unvermutet hat er mich erneut gefunden, und jene Spanne – seit unserem Aufeinandertreffen im Gemach eines Königs bis hin zum heutigen Abend – hat mir gezeigt, dass ich mich geirrt habe…“

Wie still es hinter dem Vorhang geworden war, wurde erst bewusst, als Marcello schlagartig hinter Angelo auftauchte und ihn kraft eines Blickes vernichtete! „Er ist ein TÖRICHTER, ÜBERFLÜSSIGER PARASIT!

Der Weißhaarige krachte von seinen Stühlen!

„Weshalb bist du im Kampf gegen Rhapthorne nicht gestorben, du Heuchler und Fluch?!“

Ihm, dem der Schock noch auf die Lungen presste, schleuderte den Zorn zurück: „Jetzt krieg dich mal wieder ein mit deinen Flüchen, Marcello! Du kannst nicht über meine Arbeit als Hauptmann urteilen, ohne den Templern zugehörig zu sein! Du hast alle Freiheiten eines ungebundenen Mannes, aber nicht die Rechte eines Schwursprechers, also halte dich gefälligst zurück!“

„Jene Wunde, die mir nur ein Spiegel offenbart, zeichnet mich auf alle Ewigkeit zum Templer“, hielt Marcello dawider mit jener Bitterkeit, welche charakteristisch für ihn geworden war seit ihrer Wiederbegegnung in Argonia.

Auf dem Rückweg über den Innenhof, im Schirm des Arkadenganges, verlangte ein Zufall von Marcello, die Besitzerin des feuerroten Schopfes zu passieren, auf deren besagtem Haupt das letzte Licht einzelne Punkte gleißend bestrahlte, als wären goldene Fäden darin verarbeitet worden. Ihr Antlitz – mädchenhaft von der Form, doch mit fraulichen Zügen – zog natürlich eine Schnute, sobald sie ihn im Schatten ausmachte. Weil ihr Abstand einerseits zur Mauer und andererseits zu den Säulen dem seinen fast exakt entsprach, kam es, dass sie sich Sekunden später gegenüberstanden – jeweils unwillig, dem anderen Platz zu schaffen, auch wenn ihre Pupillen ruhelos auf dem weißen Grund schwammen, da sie ihm in die Augen starrte und er ihr. Der Umfang seines Sichtfeldes zwang ihn dabei, solange er nicht kapitulierte, in den schmalen, tiefen Spalt ihrer wieder leidlich geschützten Brüste zu schauen, welche ihn aufgrund der geringen Distanz beinahe berührten. Und da sie für Minuten kompromisslos dort gestanden hatten, entwickelte sich ein seltsam reges Empfinden an einer Stelle, der er bisher wenig Beachtung geschenkt hatte und die ihn gerade deshalb ob ihrer Intensität, ihrer Wirkung auf ihn schier schreckte. Es war ein Schauer, konzentriert auf jene wenigen Prozente seines Leibes, heiß und kalt, und irgendetwas schien auch sein Gegenüber auf diese nicht zu kontrollierende Fehlfunktion aufmerksam zu machen, denn just öffnete sich Miss Alberts saure Miene in so etwas wie Verwunderung. In diesem Augenblick schob er sie grob zur Seite und stiefelte an ihr vorbei auf das Haus der Templer zu.
 

Als der Heiler in Maella eintraf, fand Angelo seinen Halbbruder nicht in seinem Bett vor. Er setzte jeden Templer, dem er auf seiner Suche begegnete, in Bewegung, sich selbiger anzuschließen. Doch die Panik hätte nicht sein müssen: Er entdeckte Marcello innerhalb jener auf einer lediglich über einen Steg zu erreichenden Insel ruhenden Kapelle, im Gemach des Abtes Francisco, welches seit dessen Ermordung durch Dhoulmagus kaum noch betreten wurde, aus einer Art tiefen Respekts heraus. Er sah den Kranken dort in einer für ihn seltenen Position: Knieend und mit gesenktem Haupt, als würde er beten. Angelo erschrak, da er ihm das Gesicht zuwandte. „Diese Bälger sind so laut, dass man keinen Schlaf findet“, erklärte Marcello, bevor ihm jedwede Spannung aus dem Körper wich.

Der Bader als eine Person, die ihm auf Anhieb suspekt war wegen ihres Erscheinungsbildes sowie der Gerüchte, die ihren Beruf umrankten wie damals Dornen Trodain, bestand darauf, seinen Patienten hinter geschlossener Tür zu untersuchen, doch Angelo setzte sich trotzig auf einen Stuhl innerhalb seines Amtszimmers, von welchem aus er die Handgriffe des unstudierten Heilers penibel verfolgen konnte. Der Kauz blinzelte konzentriert auf die Utensilien, welche er aus seiner Tasche wählte, und schien zu wissen, was er tun musste, aber alles vermochte seinen Beobachter nicht davon zu überzeugen, dass die Kenntnisse dieses Mannes genügen würden.

Der Fremde hörte Marcellos Herzschlag ab, schnupperte an seinem Atem, betastete seinen Hals, inspizierte seine Pupillen und schließlich die Wunde an seinem Arm, deren Verband einen teerigen Fleck aufwies. Daraufhin ließ er den Bewusstlosen zur Ader – das Blut, das in die Schale spritzte, war tatsächlich schwarz. Zuletzt – sein eigenes Gesicht war nass vor Schweiß – blätterte er in vergilbten Fachbüchern und überprüfte die Konstellation der Sterne.

Angelo wurde aus einem seichten Schlummer gerissen, als der Bader seine Werkzeuge verstaute und die Tasche schloss. Bar eines Wortes wollte er sich aus dem Staub machen – so allerdings ließ der Abteivorstand ihn nicht ziehen. „Möchtet Ihr uns das Herausgefundene gar nicht wissen lassen?“

„Meine Arbeit ist hier beendet!“

„Und Euer Lohn?“

Linkisch grapschte der Kauz nach der Goldmünze auf Angelos Handfläche.

„Nun?“

„Ich habe alles getan, was ich tun muss! Ich kann keine Auskunft geben! Und jetzt muss ich fort!“

Angelo ließ ihn los. Er stürzte wie vom Fürsten der Finsternis getrieben aus dem Gebiet der Abtei.
 

Die Flucht des Baders blieb mitnichten unbemerkt: Sie nährte die von Gladio angesprochenen Bedenken der Brüder. Der von Gebeten, Unterricht, Training und Handwerk dominierte Alltag unterlag keiner äußerlichen Veränderung, doch die ihn akkompagnierende Harmonie war verflogen, und das Lächeln eines Templers oder Mönches machte sich rar. Stattdessen: Anspannung, wohin Angelo auch trat – deutlich zu spüren während der gemeinsamen Mahlzeit. Die Stille der Speisenden, um jenem Bruder zu lauschen, der aus dem Wort der Mutter las, gereichte ihm zum Unbehagen. Ihm war, als würde jeder hier seiner Umentscheidung entgegenfiebern. Selbst Jessicas Blick, der den seinen suchte, wusste ihn nicht zu befriedigen.

Plötzlich schoss Celino von seinem Platz auf. Sofort erstarrte das komplette Refektorium. „Ich tu’s!“, rief der Junge, als wollte er sich opfern, eine besonders schwere Rechenaufgabe an der Tafel zu lösen. „Ich gehe zu ihm!“

Alle hielten die Luft in ihren Lungen.

„Nein“, ließ einer sie ehern entweichen.

Celinos Mimik drückte etwas aus, mit dem er seinen Mentor noch nie angesehen hatte. „Warum nicht?“

„Ich möchte nicht, dass du zu ihm gehst. Ich verbiete es dir.“ Aus den Augenwinkeln registrierte Angelo, wie Männer links und rechts vom Aufgestandenen ihre Gesichter zueinander drehten.

„Ja, aber wieso?“

„Ich bin dir keinerlei Begründung schuldig! Ich verbiete es dir und damit basta!“

„Warum?! Ich will doch bloß beweisen, dass die Gerüchte falsch sind!“

Er wischte Jessicas Hände weg. „Sei nicht so widerspenstig!“

„Dass seine Krankheit überhaupt nicht gefährlich ist!“

„Celino!“

„Merkt Ihr denn gar nicht, was hier vorgeht?! Alle behandeln ihn wie einen Aussätzigen, und jeder hat Angst, aber keiner Ahnung! Wenn Ihr mich jetzt nicht zu ihm lasst, dann seid Ihr genauso wie die anderen hier: Feige und dem Siegelring von einem Templer nicht würdig!“

Angelo sprang auf, schmetterte seine Fäuste auf den Tisch, und die an ihm Sitzenden zogen ihre Köpfe zwischen die Schultern, als würde die Schneide einer Bann-Bardiche über sie hinwegsausen. „RUHE JETZT!

Der Junge zuckte zusammen, aber er weinte nicht. Statt Tränen funkelte eine grimmige Enttäuschung in seinen Augen, und die ließ Angelo sich zehn Jahre jünger fühlen – wie ein Kind. „Du hast uns immer etwas anderes beigebracht“, flüsterte Celino, bevor er seinen Stuhl ordentlich an den Tisch rückte, sein Geschirr abräumte und den Raum – ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen – verließ.

Später brachte der Templerhauptmann etwas zu essen in sein Amtszimmer, doch Marcello starrte die Wand an. „Werde zu deinem Vater. Setze mich einfach aus.“
 

Die Nacht war schrecklich.

Da Marcello endlich in den Schlaf fiel, schien es bereits zu spät für Angelo zu sein, es ihm gleichzutun, denn sein momentan einziger Lichtblick ragte gerade durch den Spalt der leise geöffneten Tür, und er plierte in zwei große, abendsonnenrote Augen.

„Angelo…?“

Er rang sich ein Lächeln ab, stellte die Schüssel mit den Lappen auf das Pult und kam zu ihr. Ein langer, entschuldigender Kuss wünschte den beiden einen Guten Morgen. „Verzeih mir, dass ich nicht bei dir war.“

„Verzeih du es mir auch.“

Er glitt von ihren Lippen. „Es war besser so. Den Anblick hätte ich dir nicht zumuten wollen.“

„Angelo… Ich bin kein Burgfräulein!“

„Nein, wirklich. Es war… scheußlich.“

„Was fehlt ihm?“

„Keine Ahnung. Aber wenn ich ehrlich bin, so bezweifle ich, dass es etwas Vorüberziehendes ist.“

Jessicas Augen weiteten sich. „Was meinst du?“

„Ich sah meine Eltern sterben… Ich war dabei, als der Tod sich über ihr Leben legte wie ein Schatten… Als sie eingingen wie… verdorrte Pflanzen…“

„Du willst damit sagen, er…?!“

„Ich kann es zumindest nicht ausschließen.“

Ihm war klar, dass es nicht das war, was sie hören wollte. Ihr Blick bohrte sich in ihn, als hätte er ihr den Tod bereits ins Foyer bestellt. Die Bedrohung durch ein jedes Partikel in der Luft, deren Einlass in ihre Kreisläufe sie bisher arglos geschehen ließen, drängte sich auf, dass an Atmen kaum noch zu denken war.

„Jessica. Wenn du gehen willst, kann ich das…“

„GEHEN?!“, explodierte sie! „Was denkst du von mir?! Ich lasse dich ausgerechnet jetzt doch nicht hängen!“

„Du hast aber Angst. Das kannst du nicht vor mir verbergen.“

Um ein Haar schlug ihm ihre Mähne ins Gesicht, als sie das ihre herumschwang – anscheinend ahnend, welcher Teil von ihr sie verriet. „Ist das nicht verständlich? Dieser Typ ist krank, Angelo! Hast du den Heiler gesehen? Wie der weggerannt ist? Hier passiert etwas, für das wir keine Erklärung haben – noch nicht!“

„Dieser "Typ" ist mein Bruder“, korrigierte er sie.

„Darum geht es doch überhaupt nicht!“

„Dann bezeichne ihn nicht derart abfällig! …Und jaaa“, versuchte er sich zu mäßigen, „er ist krank, und wir wissen nicht, was es ist. Deshalb verstehe ich es doch, wenn du gehen willst!“

„Ich will ja nicht gehen!“

„Weshalb verlangst du dann mein Verständnis dafür?“

„Weil du mir meine Angst vorwirfst!“

„Wann bitte habe ich…? Ich will doch nur, dass du sie dir eingestehst!“

„Als würde dir das alles gar nichts ausmachen!“

„Mir macht es etwas aus! Mehr als die Krankheit meines Halbbruders dein Weggehen von mir!“

Theophilus Natale war die Stufen hinaufgestiegen und blieb mit schrägem Kopf an der Treppe stehen, aber niemand beachtete ihn.

Ich gehe weg?!“, protestierte die Albert-Tochter, sich dem Größeren entgegenreckend. „Dir geht es doch immer mehr bloß um diesen Marcello! Marcello, Marcello, Marcello! Seit er wieder in dein Leben getreten ist, hängst du an ihm wie eine Knastkatze und scheinst das nicht einmal zu bemerken! Du strebst vergeblich, Angelo! Und du wirst dich entscheiden müssen: Für ihn oder für die Templer, Mönche, Kinder – und mich! Ich lasse mich nicht von ihm verdrängen, Angelo, merk dir das!“

Sie schlug ihm eine Faust ins Gesicht. Theophilus schrak von selbst zur Seite, da sie an ihm vorbeistampfte, und die Stufen stöhnten unter ihrem fest auftretenden Schuhwerk. Der Mönch erkundigte sich nach dem Befinden seines Priors. Der lächelte mit zwar pochender Nase. „Nichts, was Eurer enormen Sorge wert wäre, Bruder Theophil. Ich habe jedoch eine Bitte an Euch: Würdet Ihr wohl auf meinen Halbbruder achtgeben, bis ich zurück bin? Ich werde für eine Weile außer Haus sein müssen. Danke, mein Freund!“

Das ohnedem blasse Konterfei verlor an Farbe, doch Angelo hatte augenblicklich nicht die Möglichkeit, auf die Sensibilität des jungen Mannes Rücksicht zu nehmen. Er wusste, dass Gladio sich bedingungslos bereiterklären würde, mit seinem Hauptmann Maella zu verlassen, und wahrscheinlich wäre dies der vernünftigste, umsichtigste, uneigennützigste Befehl, den er erteilen konnte, doch Angelo ließ seinen Halbbruder sich nicht verziehen. Stattdessen sprang er auf seinen Schimmel und galoppierte Richtung Ascantha, wo er einen Arzt des Monarchen um eine zweite Diagnose ersuchen wollte. An der Weggabelung zu Simpleton wurde er jedoch aufgehalten: Eines der Waschweiber winkte ihm; er drosselte das Ross, ohne anschließend abzusteigen.

„Angelo“, trat die Alte mit sorgenbleichem Gesicht an ihn heran. Die Linie ihres Mundes hatte die Form eines Rundbogens: Lang und abfallend. Der Ritter Ramias sah ein, dass es sich bei dem, was sie von sich geben, ausnahmsweise nicht um Gewäsch handeln würde. „Ist es wahr, was man sich erzählt? Ist es wahr, dass sich das Grauen von vor über zehn Jahren wiederholt?“

Es musste der Bader gewesen sein, der das Gerücht, an sich haften habend, bis hierher getragen hatte.

„Angelo!“, klagte das Weib. „Ist es wahr, dass die Pest zurückkommt?“

Für den Pokerspieler stellte es keine Schwierigkeit dar, die Frau mit hohlen Worten zu besänftigen: Nein, die Pest kehrt nicht zurück; sie ist ausgestorben; sie kommt nicht einfach so wieder; nicht hier, nicht in Maella, nicht bei Marcello… Daran, sich selbst zu täuschen, scheiterte er.

Sofort ritt er zurück. Einen königlichen Arzt zu konsultieren, um ihn womöglich mit der gleichen Diagnose zur Festung gehen oder rennen zu lassen, setzte seine Abtei der Gefahr einer lückenlosen Isolation aus. König Pavan würde zu dieser Maßnahme gezwungen sein. Niemand würde Maella dann noch betreten oder verlassen können, bis sie alle tot wären. Die Kinder… Jessica. Angelo betete, dass der Bader und dessen Panik nicht bis in die Hauptstadt vordringen konnten. Es wäre eine Lüge zu behaupten, der junge Templer wüsste, was er nun tun sollte.

Und die Anhäufung der Probleme nahm einfach kein Ende: Auf der Flussinsel angelangt, erfuhr er, dass Marcello flugs nach seiner Abreise Theophilus entwischt und seitdem nicht mehr auffindbar war. Der tränenäugige Mönch verwies auf Jessica, welche zuletzt beim Kranken gewesen sein sollte, doch deren Antworten erschienen ihm so kryptisch wie ihr jähes Interesse, Marcellos Gesellschaft zu suchen.

„Dieser Mann ist deine Fürsorge nicht wert“, sagte sie entschieden. „Dieser Mann ist unfähig zu lieben; das Beste für ihn und alle ist sein Tod, und wenn du ihm jetzt nachläufst, Angelo, wirst du damit rechnen müssen, mich für immer zu verlieren.“

Er tat es. Seine Luftröhre brannte, und der Schweiß klebte die Uniform an seinen Leib, als er die Ruinenreste von Häusern erreichte, die Simpleton angehörten zu einer Zeit, da hier noch ein Fürst neben einem Abt regiert hatte. Fernab des Pfades ragten sie zwischen grünen Hügeln und dicht siedelnden Bäumen vergessen aus dem Grund. Die nachmittägliche Sonne funkelte durch die formenvielfältigen Spalten der Blätter riesigen Ringelreigen. Pollen und Partikel tanzten im falben Schimmer einen gemächlichen Walzer. Es knisterte in den Kronen. Die Gräser nickten lautlos. Und Marcello stand inmitten allem wie eins geworden mit der Natur. Die Schatten des Spieles von Licht und Laub musterten den Rücken seines hellen Hemdes, und es wirkte, als hätte auch er hier Ruhe gefunden.

„Ich bin wertlos“, sprach er, gerade als Angelo angesetzt hatte. „Alle stoßen mich nur noch ab und hassen mich. Ich habe kein Zuhause. Ich habe keinen Sinn. Ich habe keinen Wert.“

„Ich hasse und stoße dich nicht ab“, erinnerte Angelo ihn. „Andersherum: Du hasst und stößt mich ab.“

„Du zählst nicht. Ich bin dein Halbbruder und die einzige Familie, die du noch hast.“

„Göttin sei Dank vermag ich daran etwas zu ändern“, stöhnte der Jüngere, der es just bereute, ihn gesucht – ja – ihn überhaupt erst aufgenommen zu haben. „Soll ich dich hier ein bisschen dich selbst bemitleiden lassen? Versprichst du mir dann, dass du anschließend zurück zur Abtei kommst, ohne dass ich erst wieder alles nach dir abforschen muss?“

„Geh nur. Heuchle keine Sorge um mich. Geh zu deiner Dirne und verschwende keinen Gedanken an mich, wenn du ihr beiliegst.“

Abermals stöhnte Angelo und drehte sich um.

„Allerdings werde ich nicht mehr in die Abtei zurückkehren.“

Er blieb stehen.

„Ich kann es nicht. Hörst du nicht, was sie flüstern? Hörst du es nicht? "Die Pest", flüstern sie. "In der Abtei geht die Pest umher".“

Wäre er bloß nicht hergekommen.

„Die Pest, Angelo. Weißt du, was das ist? Vor nicht allzu vielen Jahren raffte sie die Menschen und die groß gepriesene Nächstenliebe gleichermaßen hinweg.“

Was für eine Frage… Seine Eltern waren ihr zum Opfer gefallen wie auch die einstige Abtei. Doch war es denkbar? Hielt der Schwarze Tod wahrlich wieder Einzug in dieses Land?

„Sie hängen es mir an, verstehst du? Sie hängen mir die Pest an, Angelo. Sie halten sich fern von mir, als würde mein Anblick allein sie anstecken!“

Wie er diese Stimme hasste. Er wollte sie nicht mehr hören. Marcello spielte sich als sein größtes Problem auf, dabei war Jessica wütend auf ihn, weil er vor ihr für ihn Partei ergriffen hatte. Wegen ihm hatte er in der letzten Nacht kein Auge zugetan, und nun dankte er ihm all das mit nichts als seiner göttinverdammt schlechten Lau…

Angelo!

Ein Ruf gleich einem Eiszapfendolch. Die Gräser erstarrten, und der Wind versteckte sich hinter den Baumwipfeln. Die glänzenden, grünen Augen des ehemaligen Templerkommandanten visierten ihn.

„Diese Todesangst… Diese stumme Bitte in ihren Augen… Sie flehen mich an, doch endlich zu krepieren – ich sei doch bereits an das Jenseits verkauft. Ihr weigert euch, mich anzusehen; ihr weigert euch, meine Luft zu atmen – du wagst es ja nicht einmal, deinen Mund zu öffnen, um mir irgendetwas zu antworten!“

„Marcello“, flüsterte Angelo und suchte nach Worten, die hundertprozentig nicht falsch zu interpretieren waren.

„Doch all das ist in Ordnung! Wen kümmert es denn schon, wenn ich sterbe?! Ich habe keine Verbindungen! Es gibt niemanden, der um mich trauern oder mein Recht, zu leben und gesund zu werden, verteidigen wird! Ich kann nicht einmal behaupten, dass ich zur untersten Klasse gehöre, weil ich überhaupt nicht mehr zur Gesellschaft zähle! Ich bin kein Monster, das man tötet; ich bin kein Mensch – ich bin wie Staub, den man zwar zur Kenntnis nimmt, doch nichts mit zu tun hat!“ Das Hemd haftete an den Konturen seines Körpers, der sich mit jedem Luftzug deutlich schwellte. Das Fieber nässte seine Augen, und die fahlen Hände zuckten, schienen eine Tat begehen zu wollen, welche er nur mit äußerster Anstrengung verhindern konnte. Neben ihm würde den in königsblauer Uniform gekleideten Hauptmann niemand für eine und dieselbe Person halten.

„Du bist krank“, bemühte sich der jetzige Hauptmann um Ruhe. „Dein Fieber ist gestiegen. Ich bringe dich zurück.“

„Du denkst es also auch, wie?“

„Dass du krank bist? Sieh dich an. Willst du es verleugnen?“

„Dass es die Pest ist.“

„Darüber denke ich nach, wenn ich Zeit habe. Für mich ist nur wichtig, dass du krank bist und dass ich etwas dagegen unternehmen werde.“

„Wirst du das?“

„Das weißt du doch.“

„Du kannst es nicht.“

„Lass es mich versuchen. Du hast nichts zu verlieren, wenn ich es versuche, oder?“ Er schnaubte in einem Anflug von Belustigung. „Na, außer vielleicht mich. Aber ich bin dir ja eh nicht so wichtig, nicht wahr?“

Marcellos Arme erschlafften.

„Darf ich näher kommen?“

Ein unsicheres Nicken.

Eine Nuance von Jessica reizte sein Geruchsorgan, sobald er nahe genug war, doch er versuchte, jetzt nicht daran zu denken. Ein Metallschleim ist nicht zu fangen, der die Bedrohung wittert. „Gehen wir nach Hause.“

Wieder nickte sein Gegenüber und streckte eine Hand aus.

Angelos weiße Wimpern hoben sich. „Was…?“

„Wirst du mir helfen?“ Eine Frage, frei von Falschheit – fast ein Flehen. Ehrlich.

„Natürlich“, hauchte er erstaunt und ließ sich auf die Offerte ein. Verschränkt mit dem bisterbraunen Leder wirkten Marcellos elfenbeinfarbene Finger zerbrechlich. Im wahrsten Wortsinne hielt Angelo diesen Augenblick fest, aber rücksichtsvoll.

Dann packten sie zu. Ehe er sich versah, riss Marcello ihn an seinen erhitzten Leib und richtete mit der anderen Hand einen Dolch auf seine Kehle. „Templer Angelo! Auf diese List hereinzufallen! Entweder hast du deinen Feind unterschätzt oder dein mentales Training vernachlässigt!“

Der Gefährdete starrte auf das pittoreske Panorama und spürte die kalte Klinge. „Du… du bist nicht mein Feind!“

„Dieser eine Moment im Arkadengang ist selbst über die Aktualität eines Messers an deiner Hauptader erhaben?“, spottete der Ältere. „Wann wirst du endlich müde, dich an die Vergangenheit zu klammern?“

„Vielleicht, wenn sie…“ – er konzentrierte sich – „…Gegenwart wird!“ Der rote Templer wirbelte herum, holte mit der Faust aus, doch der Ex-Offizier fing den Schlag ab und nahm ihn erneut gefangen. Dieses Mal kämpfte Angelo.

„Ich werde dich töten!“, drohte Marcello ihm. „Ich werde dich töten und wieder von vorne anfangen! Als Oberster Hohepriester werde ich deiner Seele die Absolution erteilen! Und niemand stellt sich mir in den Weg!“

„Du halluzinierst! Krank und mittellos wie du bist, wirst du gar nichts mehr erreichen! Ich bin der Einzige, den du noch hast, Marcello, begreifst du das nicht?!“

„Ich kann alles schaffen!“

„Nein! Du bist am Ende, Marcello! Am Ende und allein!“

Alles!

„Marcello!“

„Aber ich will nicht so enden! Ich will nicht so enden wie sie!“ Marcello stieß ihn zu Boden. Als er sich gefangen hatte, registrierte er gerade noch, wie sein Angehöriger den Dolch auf seinen eigenen Hals zufahren ließ.

NICHT!

„Ich hasse dich!“ Doch das Messer hatte gestoppt. „Ich hasse dich! Ich hasse dich!“

„Marcello! Das ist doch keine Lösung!“

„Für dich nicht! Für mich ist es sie!“

„Du willst doch nicht so schmachvoll sterben!“

„Besser das als schmachvoll zu leben!“

„Du kannst dich doch jetzt nicht einfach umbringen!

„Ihr habt mir meinen Titel, meinen Rang, meinen Stolz genommen – warum sollte ich mir dann nicht das Leben nehmen?!“

Der Jüngere kalkulierte, wie es um seine Chancen stand, sie beide lebendig aus diesem Wahnsinn zu ziehen. Da er es mit jemandem zu tun hatte, der dieselbe Ausbildung durchlaufen hatte wie er, schätzte er sie gering ein. Seine einzige Okkasion sah er in dem sich intensivierenden Ringen seines Gegenübers mit dessen physischer Verfassung.

"Du hast keinen Bruder", vernahm er die beschwichtigende Stimme seines Vaters aus der Vergangenheit. "Du hast keinen Bruder". Wie ein Lehrsatz.

Dann ließ Marcellos Kraft für die Dauer eines Flügelschlages nach, und Angelo stürzte sich wie ein Springschackal auf ihn, ergriff seine Handgelenke und drückte sie auf den Rasen. Das Messer landete unweit.

„Ist das alles, was dir wichtig ist?! Dein Titel und dein Stolz?! Was ist mit den Menschen?! Was ist mit denen, die sich für dich eingesetzt haben oder es noch immer tun?! Sind die dir denn gar nichts wert?!“

Der unter ihm Liegende schien ihn erst jetzt wahrzunehmen.

„Antworte! Antworte, verdammt!

Verführerisch reflektierte in seinem Sichtfeld die Klinge das samtige Licht, und in Sekundenschnelle hatte er sie an Marcellos bleichen Hals platziert.

„Willst du sterben?! Willst du dich der Göttin widersetzen und dein Leben hinwerfen?!“

„Das… ist kein Leben…“

Ach nein?!“, brüllte er ihm ins Gesicht. „Wie sieht denn dann ein "Leben" für dich aus?! Und wer besitzt ein solches?! Vielleicht die vielen Kinder, die ich habe sterben sehen?! Die du hast sterben sehen?! Kleine Menschen, die nie das Privileg eines Ziehvaters wie unseres Abts Francisco bekommen haben?! Heul mir nicht die Ohren voll, du verfluchter Versager! Nicht nur dir geht’s schlecht! Aber gerade du solltest wissen, wessen Schultern das meiste Leid zu tragen haben! Templer! Abt! Hohepriester! Glaubst du im Ernst, dass du nur einem dieser Titel mit irgendeiner deiner Taten gerecht geworden bist?! Mit der Beseitigung des Obersten Hohepriesters vielleicht?! Oder mit deiner absolut genialen Idee, für diesen fetten Rolo die Beine breit zu machen?! Wie oft hat er dich durchgenommen, hm? Wie oft hast du ihn befriedigt? Und – rückblickend: Kannst du sagen, dass es sich gelohnt hat?!“

„Du weißt es…?“

Angelo blies seine Rage in einem schweren Seufzer aus. Dann warf er den Dolch weg. „Schon vergessen? Damals auf Neos; in jener Nacht, die auf unsere Begegnung folgte: Als meine Freunde schliefen, wollte ich dich einer Aussprache wegen aufsuchen, aber du… Ich fand euch in seinem Gemach, du vor ihm knieend…“

„Das hat nichts bedeutet!“, entzog sich Marcello abrupt. „Es war nicht mit Gefühlen verbunden! Es war wie das Unterschreiben eines Dokumentes bloß ein Akt, um an mein Ziel zu gelangen!“

„Du hast es gehasst“, widersprach er ihm. „Ich habe in deinen Augen gesehen, wie sehr du es hasstest. Damals bin ich fortgerannt, weil ich es nicht verstanden habe. Warum, Marcello? Wenn du es doch so sehr verabscheust, warum tust du es dann…? Später habe ich eingesehen, dass diese Handlung deine Ambition, mit der du dein Ziel verfolgt hast, eigentlich nur unterstreicht. Und ich hoffe, dass die Erkenntnis mir heute hilft, deine Verzweiflung nachzuvollziehen.“

Marcello schob ihn von sich und setzte sich auf, um dem jähen Schmerz in seiner Brust entgegenzuwirken. „Alles… fällt der Gleichgültigkeit… anheim. Ich werde sterben. Restlos fortgewischt… von der Zeit.“

„Du wirst nicht sterben! Ich werde herausfinden, was dich plagt, und dich heilen! Vorher werde ich dich nicht in Ruhe lassen, hast du verstanden? Mein Wort darauf. Wenn du dem deines Halbbruders nicht vertrauen kannst, dann versuche es mit dem eines Templers.“

„Du… vergeudest… deine Zeit.“

„Du bist sie mir wert“, entgegnete Angelo fest.

Der Kranke gab ihm die Chance. Er ließ sich zurück zur Abtei führen, wo – angekommen in seinem früheren Zimmer – er nach einem peinvollen Kampf in einen stillen Schlaf fiel. Sein Betreuer prüfte die dunkle Masse, welche seine Eingeweide vollständig zu füllen schien und die auch den Verband um seinen Arm wieder und wieder schwärzte, während hinter ihm das Kaminfeuer knisterte. Erwachen sollte er allein. Die Flamme war erloschen und das Bett verlassen. Da Angelo einfiel, dass er Marcellos nun eklatantes Täuschungsmanöver allein aufgrund einer Angewohnheit, von der der Ältere selbst nichts wissen konnte, sofort hätte durchschauen können, verwünschte er sich, rennend durch das Gebäude, aufs Heftigste. Die Stille!

Er schlug die Türen auf und hastete ins Freie. Der Schein des Mondes tünchte die Kuppel von Abt Franciscos Kapelle auf der anderen Seite des Stegs. Das Wasser glitzerte, als wären Sterne dort hineingefallen. An einer Stelle zeichnete sich noch knapp eine eigenartige Silhouette vom Hintergrund ab. Angelo geriet in Entsetzen.
 

*
 

Das fast schwarze Wasser verschlang den muschelweiß beschienenen Körper der seufzenden Jessica. Wie hatte sie das vermisst! In dieser Männerwirtschaft hatte es eine Dame wahrlich schwer, ihre Reinheit zu erhalten. Keine der Türen war zu verriegeln, und nicht einmal eine eigene Kammer für die Hygiene hatte sie finden können! Es war eine jener seltenen Situationen, in denen sie ihr kleines Anwesen in Alexandria dem Ort, an welchem sie gerade verweilte, vorzog. Nun musste sie sich mit dem Fluss zufriedengeben, aus dem die Abteiinseln ragten. Dessen Wasser war kühl, doch Jessica freilich auch nicht aus Labpulver! Immerhin sorgte die Nacht für ihr Alleinsein. Und sollte doch ein Grobian auftauchen, so wusste sie sich zu wehren.

Zu ihrem Leid ließ sich die Wut auf ihren Verlobten nicht abwaschen wie der Schmutz des Tages. Angelo hatte es tatsächlich gewagt, seinem Halbbruder nachzurennen, und ihn auch noch hierhergebracht – demzufolge musste sie es zumindest in Betracht ziehen, dass er sie nicht mehr schätzte. Vielleicht benötigte er sie lediglich noch zum Befriedigen seiner leiblichen Lust – wie die unzähligen Barhäschen, die er sicher gehabt hatte. Was sie betraf, so war sie Insassin seines Templerverlieses. Mochte sie noch so zornig sein, war ihr doch klar, dass es niemals genügen würde, um ihn wie die frühere Jessica Albert abblitzen zu lassen. Sein Charisma wirkte wie ein Tohuwabohu. Seine Erscheinung zog sie an. Sein Name: So treffend – doch gleißend bestrahlte Engel werfen einen besonders scharfen Schatten.

Eine Tür des Templerhauses öffnete sich. In der Montur für eine lange Reise stolzierte eine hohe Gestalt heraus. Jessicas Brauen senkten sich. Das konnte nur Marcello sein! Bis zum Schlüsselbein verschwand sie in den weichen Wellen, indes er auf den Steg zusteuerte, doch natürlich blieb sie nicht unbemerkt. Sie stierten einander an, als gäbe es sonst nichts auf der Welt, zu dem sie in der Lage wären. Seine jadegrünen Augen leuchteten finster.

„Wohin geht Ihr?“

„Ich folge dem Symbol.“

Sie interpretierte es so, dass er vorhatte, sie zu verlassen, und beschloss, ihn nicht aufzuhalten. Allerdings änderte er seine Richtung und schritt stattdessen auf jene Stelle des Ufers zu, welche ihrer Position im Fluss am nächsten war.

„Entweder seid Ihr tragisch naiv oder ausgesprochen gerissen, Euch auf dem Grundstück des Templer-Ordens zu entkleiden.“

„Eure Männer gehen mich in keiner Weise etwas an. Ich habe weder Angst vor ihnen noch bin ich an einem interessiert.“

Sein Blick verschärfte sich. „Und Angelo?“

„Ich liebe Angelo. Nicht als Templer – als Mensch.“

„Seit wann?“

„Schon bevor Ihr aus Eurem Loch gekrochen seid, um Euch zwischen uns zu drängen.“

„Und der Kuss?“

„Ist das hier ein Verhör?!“

„Ein Verhör ohne jedwedes Druckmittel, Miss Albert?“ Er wirkte ihr geradezu amüsiert zu sein. „Ich wundere mich lediglich: Eurer eigenen Aussage zufolge fand der Kuss statt, während Ihr Angelo – wie Ihr sagtet – "liebtet".“

„Ich habe Euch bloß vorführen wollen! Da war kein Gefühl! Ich habe nur mit Euch gespielt!“

„Also ein Luder“, schlussfolgerte er.

Noch rechtzeitig ermahnte Alistairs Schwester sich, dass er es nicht verdiente, sie aus dem Wasser steigen zu sehen, und musste deswegen darauf verzichten, sich vor ihm aufzubauen. „Maßt Euch gefälligst kein Urteil über mich an! Ihr seid ein Unmensch, Marcello! Ihr habt keine Gefühle! Ihr kennt keine Liebe!“

Just verhärteten sich seine Züge. „Ihr irrt. Ich weiß, was Liebe bedeutet. Ich wurde geliebt.“

Jessica lachte auf – erahnend, von wem er sprach. „Maria hat Euch nicht geliebt! Sie hat Euch doch überhaupt nicht gekannt, sondern nur diese leere Hülle, die Ihr wart, solange Ihr Euch nicht erinnert habt! Und glaubt mir: Wenn sie Euch wirklich gekannt hätte, hätte sie Euch auch niemals geliebt!“

Es überraschte sie selbst, dass er schlagartig das Gesicht eines Jemanden machte, der ihre Worte für die Wahrheit hielt, die Möglichkeit wenigstens in Erwägung zog. Doch genauso rasch erkaltete es wieder. Die intensiven Iriden spähten zwei absinthgrünen Monden an einem glaukblauen Himmel gleich auf sie hinab. „Jessica Albert. Ihr seid nichts weiter als eine Puppe. Angelos aktuelles Amüsement. Ihr werdet das Kleid, das Euer Gatte Euch tragen lässt, niemals ablegen können. Findet Euch mit Eurem Schicksal hinter dem Rücken eines Mannes ab.“

Das war genug.

Mit einem Mal erhob sie sich, dass das schwarze Wasser in Fällen vor ihrem Körper Reißaus nahm, und stand ihm vis-à-vis, wie die Göttin sie geschaffen hatte. Nicht für einen Lidschlag ließen seine Augen die ihren unbewacht, derweil sie Schritt für Schritt auf ihn zu setzte. Wie diszipliniert… Stoisch stand er da… Sie spürte ihren Puls pumpen, ihn ihren bloß vom Nachtschleier bedeckten Busen heben, den der Mondschein ihrem Gegenüber ungeniert enthüllte.

„Ihr messt einer Frau…“

Stets einen Hauch entfernt, strebte er erglühend dem beschützenden Bett seiner robusten Brust entgegen, die dampfte wie der Widerrist eines Hengstes nach ungestümem Galopp.

„…ja wenig Macht bei.“

Auch seine schwoll unter dem sich straffenden Stoff. Sie malte sich aus, wie sich die Muskeln darunter der Regung anpassten – und wie es wohl war, sie dabei zu berühren.

„Euer Verstand ist scharf…“

Er öffnete den Mund, um konzentriert zu atmen. Sie sah seinen Kehlkopf sich betätigen.

„…Euer Herz ist kalt…“

Ja… Das gefiel ihm…

„Ihr seid ein unnahbarer Mann…“

Wie reizend war doch der Ton seines widerwilligen Ächzens… Es prickelte ihr, und sie konnte nicht anders: Unter der Führung ihrer Finger fanden seine behandschuhten ihre weidlichen Wogen, um selbige zu wiegen, fasziniert deren Formen zu folgen und ihr wohlzutun.

„…aber ein… Mann…!“

Das Reiben des Leders entzündete ihre Zapfen, und es schmerzte – es schmerzte betörend. Verwirrtes Interesse in seinen Pupillen; scheue Andeutungen eines solchen wie Sterne, die allmählich sichtbar werden, wenn der Abend in die Nacht übergeht. Diese Augen… diese finster leuchtenden, stolzen Jadeaugen…

„Du kannst dich…“

Etwas loderte in ihnen auf gleich dem Licht eines Leuchtturmes, das über den ganzen, aufgewühlten Ozean ihres Leibes strich auf der Suche nach jenem fast versunkenen Schiff, tanzend in den wilden Wellen ihrer Wollust. Es antwortete ihm prompt mit einem flackernden Notsignal!

„…nicht ewig verstellen!“

Jessica verlor sich in den Mahlströmen tatsächlich verschiedenster Grünnuancen, welche sie in ihre Tiefen rissen. Eine Sintflut, heiß wie kalt, rollte über sie, und wenn der Mörder sie nicht halten würde, wie ein Verdurstender den Kübel Wasser hält, den man ihm zu entziehen droht, wäre sie gefallen. Mit allem, was flexibel genug war, bestürmten sie das feurige, feuchte Fleisch des anderen, als wollten sie jeglichen Likör aus ihm saugen. Ja, empfing Jessica triumphierend die Bestätigung. Jetzt war er erregt! In selber Sekunde, da sie das unmissverständlich spürte, ging etwas, das ihr nicht fremd war, in züngelnden Flammen auf, der Kitzel wurde unerträglich und forderte, beruhigt zu werden! Wie enttäuschend, dass nicht seine Blicke dies zu tun vermochten. Es war in Ordnung, sich mit dem Möglichen zufriedenzugeben, wenngleich ernüchternd, das Unmögliche abandonnieren zu müssen, doch die Erwartung auf etwas Festes, Greifbares besänftigte sie. Etwas von ihm sehnte sich danach, sich in ihren Garten zu senken, gleich dem Stößel im Mörser zu arbeiten, und sie sehnte sich danach, dieses Etwas zu besitzen, es zu liebkosen wie die Reliquie ihres im Krieg gefallenen Gemahls. Verzweifelt. Bettelnd. Unausgefüllt. Stöhnend unter seinen Überfällen langte sie nach seinem mageren Handgelenk und zwang die Finger auf den lechzenden Mund ihrer hungrigen Abgöttin. Doch ehe sie ihr Ziel erreichten, zog Marcello sie zu einer Faust zusammen.

Jessicas Antlitz drückte das Unverständnis einer Braut aus, deren Gatte sie in der Nacht ihrer Hochzeit abrupt abweist.

„Habt Ihr keinen Anstand? Keinen Stolz?“ Seine Stimme bebte. „Das ist es wohl, was Angelo und Euch verbindet: Die Überzeugung von einem lockeren, leichten Leben! Die Lust nach Lastern, welcher zu verfallen nur zu simpel ist, weiß man sich keinen honorablen Pflichten zu verschreiben! Das habt ihr beide gemein!“

„"Honorablen Pflichten"?!“, spie sie da aus. „Ihr sprecht nicht etwa von Euch?! Entschuldigt, aber ich kann einfach nichts "Honorables" daran finden, sich durch Korruption und Mord an die Spitze der Kirche zu schummeln!“

Er zog seine Hand zurück, doch sie hielt sie fest. „Ihr gebt euch euren Sünden hin, lebt eure Begierden aus – ohne Einhalt! Abschaum wie ihr muss geleitet werden, sonst pervertiert er die gesamte Welt!“

„Ihr seid verrückt und paranoid!“ Nun war sie es, die seinem Griff nicht entkam. Sie wollte klar bleiben, wollte den Kranken beschwichtigen – stattdessen kreischte sie, warf ihren Schopf herum und schlug vergeblich gegen seine Rippen.

„Ich bin berufen, das Leid der Leidenden zu beenden!“, herrschte er sie an, mit brennenden Wangen. „Die Göttin hat noch eine Aufgabe für mich – ich weiß es!“

„Ihr seid das Opfer Eurerselbst! Menschen wie Angelo und ich widern Euch bloß an, weil Ihr neidisch seid auf unser Vergnügen am gewöhnlichen Leben, unsere Fähigkeit zum Fühlen und Lieben! Danach habt Ihr bei Euch doch erfolglos gesucht, als Ihr Euch von jedem Kleriker in Savella habt durchnehmen lassen!“

Sein Blick wurde so scharf, dass sie annahm, er hätte ihr die Klinge des Merkurfloretts durch das Gesicht gezogen. Sie wollte einen Zauber wirken, doch seine Hand um ihr Gelenk schien ihre Magie zu unterbinden.

„Fünf? Zehn? Fünfzehn?!“, keifte sie trotzdem weiter. „Um sich bis zum Obersten Hohepriester hochzuschlafen, bedarf es bestimmt genug ach so keuscher Priesterschwänze in Euch, dass man meinen könnte, es würde Euch glatt Spaß machen!“

In seinem Inneren zerbrach etwas. Er stieß sie nieder – ein elektrisierender Schmerz jagte in ihre Glieder – und warf sich über sie, dass seine Hände und Knie jeden Fluchtversuch vereiteln würden. Aus seinen Augen drohte eine wahnsinnige Lust zu triefen, eine aggressive, schon animalische Gier, wie sie es niemals zuvor in menschlichen Augen gesehen hatte. Jetzt begehrte er ihn. Nicht sie – nur ihn: Ihren Körper. Und der begehrte seine Zuwendung, ganz gleich welcher Art. Obwohl es gerechtfertigt gewesen wäre, in Panik auszubrechen und um Hilfe zu brüllen, ermittelte Jessica nichts außer dem verhängnisvollen Verlangen jenes Fragmentes einer Frau, welches allein ein Mann zu vollenden vermag. Verzückende Versuchung, Verderben ihrer Unschuld… Wie eine Nonne schien sie gelebt zu haben, wenn sie nun an dieses Etwas dachte, das er ihr darbieten würde. Sie wollte sich ihm öffnen, wie sich eine Blüte jenem Tier öffnet, das nach Nektar dürstend bis an ihre Narbe dringt. Sie wollte ohne Sattel und Schabracke auf dem muskulösen Rücken des Mustangs reiten, bis sie beide glaubten, vor Ekstase ersticken zu müssen. Er sollte die Sturmsee sein, welche in brutalen Fluten über ihr Schiff hereinbrach, bis es zerbarst und jedweder Hilferuf verstummt war. Fleischgewordene Sünde, Inkarnation der Laszivität… Angelo hatte ihre Hand genommen und sie in jenes verbotene Reich geführt, von welchem sie vorher nur hatte träumen dürfen. Ihr waren Türen dort aufgefallen, durch die allerdings auch Angelo nicht schreiten konnte – oder wollte. Also hatte sie seine schützende Hand loslassen müssen, den vielverheißenden Schlüssel genommen und ihn vorsichtig, aufgeregt eingeführt… Er passte perfekt – sie umschloss ihn, erleichtert stöhnend, wie etwas, das sie seit Beginn ihrer Reife vermisst, auf das sie seit jeher gewartet hatte, das eigentlich schon immer ein Teil von ihr gewesen war. Ohne Liebe, aber voller Leidenschaft kehrte er heim, und sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, während er sein fieberndes Herz an ihres drängte, und schrie in die funkelnde Nacht, wie sehr sie ihn vergötterte, um ihn anschließend ganz leer zu trinken, mit ihm vereint in einer Explosion zu sterben.

…So stellte sie es sich vor.

„Tu es“, keuchte sie, in die Gegenwart zurückkehrend. „Tu es, als wolltest du mich töten, Marcello.“



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