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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Keine Luft

Falk kniff die Augen zusammen. »Hört endlich auf damit!«, bat er. »Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ihr alle panisch im Kreis rumrennt!«

Es war noch ganz früh am Morgen, die Sonne war kaum aufgegangen. Sie standen zusammengedrängt in Bocks Behandlungszimmer, und auf dem mit einem Laken bedeckten Tisch in dessen Mitte lag eines der wichtigsten Mitglieder des Teams: Amboss. Trübe ließ er Schwanz und Pfoten hängen, und seine Augen waren beinahe geschlossen.

»Warum hast’n den über Nacht ausgesperrt?«, wandte Micha sich vorwurfsvoll an Eric Fish. »Was hat der Hund dir eigentlich getan?«

Eric schaute beiseite und kreuzte die Arme vor der Brust, wie er es immer tat, um Abstand zu signalisieren. »Wenigstens«, fauchte er, »habe ich nicht unsere wertvollste Waffe dem Feind ausgeliefert!«

Diese Feststellung ließ den Sänger von In Extremo verstummen, und er presste verdrossen die Lippen aufeinander. Sogar Micha wusste, wann Zurückfeuern aussichtslos war.

»Hört auf damit, das bringt doch nichts!«, tadelte Dr. Saltz. Gerade entnahm er mit einer dünnen Kanüle eine Blutprobe aus einer Vene in der rechten Vorderpfote des Hundes. »Wer auch immer Amboss vergiftet hat, weiß, wo wir hocken. Uns angreifen werden sie wohl nicht, da wir zu wehrhaft sind, aber sie wollen auf jeden Fall vermeiden, dass wir sie aufspüren.«

Falk schaute immer noch abwesend beiseite, da er offenbar vergeblich versuchte, einen Rettungsplan zu entwerfen. »Mir fällt einfach nichts Klügeres ein, als einfach radikal zu versuchen, das Nest zu finden. In Wuppertal haben wir es immerhin geschafft.«

»Nur viel zu spät«, murmelte Pfeiffer. »Es könnte auch dieses Mal zu spät sein.«

Vorsichtig wandte Fritz sich an die anderen, in der Hoffnung, sie beruhigen zu können: »Ich glaube nicht, dass sie Alea töten werden. Das hätten sie viel einfacher machen können. Sie haben ihn absichtlich entführt.« Leider erzählte er damit niemandem etwas Neues.

»Ja, das ist sicher«, seufzte Falk und rieb sich kummervoll den Bart. »Töten werden sie ihn mit Sicherheit nicht. Viel schlimmer! Alea ist ein Vexecutor, was ganz Besonderes … Es gibt so viele Gerüchte und Legenden um ihn, dass man damit Bücher füllen könnte. Vampire glauben, dass sein Blut süß wie Honig ist und immun macht gegen Sonnenlicht, gegen Natron, gegen Verbrennen, gegen Pfählen – ach, einfach gegen alles! Verstehst du, Fritz, sie werden ihn bis auf den letzten Tropfen aussaugen … Aber erst, wenn sie alles über ihn wissen, das man experimentell rausfinden kann!«

Lasterbalk stöhnte frustriert auf. »Ich hasse den Gedanken, dass sie sein Blut trinken werden!«

»Und ich versteh gar nicht, wie die sich den so einfach greifen konnten«, knurrte Micha in ohnmächtigem Zorn. »Bei diesem Kung-Fu-Scheiß, den er macht, sind die Techniken doch drauf ausgelegt, den Gegner zu töten, oder nicht? Er hasst doch Vampire! Wieso hat er denen nicht einfach mal richtig aufs Maul gegeben? Und diesen Energie-Rotz kann man sich wohl auch sparen, den haben sie ihm einfach abgedrückt, und das war’s mit Vexekutieren!«

Klaus Buschfeldt, der nur mit allerfinsterster, unbewegter Miene ganz hinten in dem engen Raum gestanden hatte, wandte sich zum Gehen. »Dann wisst ihr ja, was ihr zu tun habt. Bemüht eure eigenen Nasen, um das Nest zu finden und auszuräuchern. Und zwar schnell
 

Also brachen kurz danach sämtliche MIU-Mitarbeiter auf und verteilten sich in der Stadt.

Fritz und Micha, die Rhynern schon am Vortag nahezu vollständig durchkämmt hatten, intensivierten ihre Bemühungen. Das Wetter war unverändert gut; aus dem Polizeipräsidium waren keine neuen Meldungen eingetroffen.

Da es keine anderen Anhaltspunkte gab, kehrten sie auf direktem Wege in die ruhige Wohngegend zurück, wo die Sonnenbrillenträger Alea aufgegriffen und verschleppt hatten. Sie fanden das Haus wieder und sogar noch die trockenen Blutstropfen im Gras, die Micha verloren hatte, als der schallgedämpfte Schuss ihn vom Dach gefegt hatte.

»Schwarz«, stellte Fritz überrascht fest. »Dein Blut ist wirklich schwarz. Ich dachte, das wäre nur eine Metapher.«

»Vampirblut ist eigentlich genauso rot, wird aber schwarz, wenn Sonnenlicht drauf fällt«, erklärte Micha, während er an der Hauswand emporblickte. »Bock kann dir erklären, wieso das so ist … Ist mir zu kompliziert.« Er ließ seine Hand über den kalten, weißen Putz gleiten. »Erinnerst du dich noch, welchen Weg die genommen haben?«

Fritz, der die Flucht der vier Vampire noch genau vor Augen hatte, zeigte ihm die Querstraße. »Es war irgendwo hier …«

»Hmmm, unser Bereich ist hier zu Ende. Ab da hinten ist Lex zuständig. Lass uns mal gucken, was der so macht. Ist ja alleine unterwegs, wie immer.«

Während sie der Straße folgten, glitt die Sonne hinter den Wolken hervor. Micha blinzelte und wandte sich ein wenig vom Licht ab, doch dank der Tarnlinsen vergingen die Probleme schon nach Sekunden. Prüfend nahm er eine Hand aus der Tasche und streckte sie aus, um zu sehen, ob etwas passierte.

»Kein Azathioprin genommen?«, fragte Fritz.

»Doch … Aber ich muss mich manchmal überzeugen. Ist wie so ’ne Paranoia, wenn man es gewohnt ist, von Sonnenlicht hammer gefickt zu werden.« Er steckte die Hand wieder ein.

Fritz fuhr fort: »Manche Vorurteile über Vampire stimmen, andere überhaupt nicht. Woher kommt das?«

»Naja, Vampire verstecken sich ja vor Menschen, schon immer. Die Leute haben Ideen. Irgendwann kann man denen, die anders sind, alles andichten.«

»Schlaft ihr normalerweise wirklich in Särgen?«

»Boah, nee. Aber das fragen echt alle. Weißt du, Menschen sehen wie tot aus, wenn sie zu Vampiren transformiert werden. Viele sind dann eben fertig verwandelt in Särgen aufgewacht … und haben sich zum Schlafen wieder reingelegt, weil sie nichts anderes mehr hatten. Aber freiwillig macht das bestimmt keiner. Glaub ich nicht. Ich meine, ich kann überall pennen, aber in einem Sarg … da wird’s doch bestimmt irgendwann stickig drin, und unbequem ist es auch. Oder?«

»Woher soll ich das wissen?«, gab Fritz zurück. »Ich weiß gar nichts über Vampire. Was ist mit Silber? Schadet das?«

»Nee. Guck mal.« Micha nahm einen seiner Ohrringe zwischen zwei Finger. »Die sind aus Silber, und meine Ohren sind noch dran. Silber ist okay.«

»Und Weihwasser?«

»Ist auch okay. Und bevor du weiterfragst: Kirchen sind auch okay. Schöne Fenster und so, schöne Akustik. Lex tritt gerne in Kirchen auf, Subway auch. Kreuze sind auch kein Ding, findet man ja überall. Und Knoblauch …«

Fritz schluckte hart. »Das weiß ich schon. Ihr esst ihn sogar.«

»Oh ja.« Trotz allem rang Micha sich ein schwaches Lächeln ab. »Aber Lex’ Vorliebe für Knoblauch ist fast schon ein bisschen pervers.«

Sie erreichten einen Feldrand und gingen daran entlang. Hier im Süden war die Stadt sehr ausgedehnt, die Häuser nur noch vereinzelt. In der Sonne war es inzwischen so warm, dass Fritz seine Jacke öffnete und den Schal ein wenig lockerte.

Micha hob die Nase und schnupperte. »Hmm … Hier stimmt aber was nicht.«

»Was ist?«, wollte Fritz alarmiert wissen. »Vampire?«

»Weiß ich nicht …« Sich unaufhörlich umsehend verließ Micha den Pfad und ging auf die Wiese, auf ein kleines Waldstück zuhaltend, hinter dem sich wieder Häuser befanden.

Fritz merkte, dass er gar nicht wusste, was sie tun würden, wenn sie das Vampirversteck tatsächlich fanden. Natürlich konnten sie mit dem Handy den anderen bescheid geben, doch bis die eingetroffen waren … würden sie was tun? Warten? Beobachten? Sich in der Nähe verstecken?

Am nächsten Baum blieb Micha stehen und beroch ihn auf Armhöhe von allen Seiten.

Fritz fand dieses Verhalten sehr befremdlich. »Was machst du da?«

»Marker lesen.«

»Was sind Marker?« Fritz dachte an dicke Filzstifte in leuchtenden Farben.

»Wenn einer von uns alleine unterwegs ist«, erklärte Micha, »muss er eine Spur legen. Die Vampire können dann dem Weg folgen. Das macht man so.« Er hob die Hand und strich wie beiläufig mit der Innenseite des Gelenks über die Baumrinde. »Hält bis zu drei Stunden, bei gutem Wetter. Körperteile mit mehr Schweißdrüsen, also Lende oder Achselhöhlen, geben bessere Marker, aber so unter Leuten ist das ’n bisschen zu auffällig. Heute waren wir ja nur auf Spurensuche, das ist fast Routine, deshalb sind die Marker auch weit auseinander.«

Fritz entschied sich, besser nichts dazu zu sagen. Dass Vampire sich zuweilen an Gerüchen orientierten wie Hunde, war ihm irgendwie unangenehm.

Micha ging indes weiter in das Wäldchen hinein, und nur wenige hundert Meter später begann er zu rennen. Laub flog auf, als er unter den Ästen hindurch in die dichtere Baumgruppe abtauchte. Rot und gelb spiegelte sich das Sonnenlicht auf den wenigen Blättern, die sich noch an den saftlosen Zweigen der Espen und Eichen festklammerten.

»Warte!«, rief Fritz und folgte ihm stolpernd. Er sah, dass der andere stehen geblieben war und einen dicken Baum hinaufstarrte. Fritz folgte seinem Blick – und erschrak bis auf die Knochen.

Sie hatten Asp gefunden. Man hatte ihn an einem der höheren Pappelzweige aufgehängt wie an einem Galgen, und sein Schal dienste als Strick. Er hing still; seinen starren Körper konnte der mäßige Wind kaum bewegen, nur sein Mantel flatterte sanft.

»Oh Gott!«, schrie Fritz auf und brach schlotternd zusammen. Seine Knie sanken in weiche Erde. Nicht schon wieder, dachte er voller Entsetzen, jetzt ist es einer von uns, wir hätten uns nicht trennen dürfen, jetzt wird es gefährlich, jetzt zeigen sie uns, dass sie den Kampf nicht scheuen, jetzt – …!

»Hmmm«, machte Micha in besorgtem Ton. »Das ist nicht gut. Aber auch eigenartig..«

»Eigenartig?«, echote Fritz fassungslos. »Nicht gut? Wie kannst du so ruhig bleiben? Die haben einen von uns umgebracht

Micha drehte sich zu ihm um und zog die Brauen hoch. »Du weißt gar nicht, was da los ist, oder?« Er deutete vage den Stamm hinauf. »Du denkst jetzt, er ist tot. Keine Angst, der lebt noch, alles nicht so schlimm.«

Fritz hatte keinen Grund, etwas anderes zu erwarten, als dass Asp tot war, und wartete mit entgleister Miene auf eine Erklärung, die Micha ihm zum Glück auch postwendend lieferte.

»Ich erklär’s dir. Die haben ihm einfach die Luft abgedrückt und ihn hier rumhängen lassen. Zur Abschreckung. Ein Vampir, der nicht atmen kann, stirbt nicht, sondern fällt in eine … so ’ne Totenstarre, sag ich mal. Bock nennt das Thanatose. Wir nennen das … Freeze.« Mit einem freudlosen Lächeln nahm Micha die Hände aus den Taschen und kletterte ohne Mühe den Baum hinauf, wobei er, je höher er kam, sichtlich vorsichtiger wurde, da die Äste unter seinem Gewicht unheilvoll knarrten. Als er den schwarzen Schal, mit dem man Asp stranguliert hatte, endlich zu fassen bekam, zog er ihn mit einiger Mühe ob des Gewichts zu sich heran und warf die Fangzähne aus, um den provisorischen Galgenstrick mit einem einzigen, sauberen Biss zu kappen.

Asp fiel auf den laubbedeckten Waldboden wie ein schwerer Stein. Ein Stoß bunter Blätter wurde aufgewirbelt und tanzte über ihm in der Luft.

»Na los«, forderte Micha Fritz auf, ehe er dazu ansetzte, vom Baum zu springen. »Kneif ihn, am besten vorne an der Brust, da laufen viele Nerven zusammen. Dann wacht er wieder auf.«

Fritz kniete sich zu Asp, dessen Augen einen kleinen Spalt weit geöffnet waren und nur den weißen Glaskörper erkennen ließen. Mit zitternden Fingern beeilte er sich, den Schal vom Hals des Sängers zu lösen. Der Stoff hatte sich so festgezogen, dass die Haut darunter wund und aufgerieben war und das Blut sich bläulich gestaut hatte – typische Würgemale, wie Fritz sie im Laufe seiner Karriere schon an einigen Leichen gesehen hatte, sehr zu seinem Leidwesen. Vorsichtig drehte er Asp auf den Rücken – was nicht ganz leicht war – und schob die Hand unter sein Shirt. Sobald er Daumen- und Zeigefingernagel fest um eine Hautfalte geschlossen hatte, ging ein Ruck durch den Körper des Vampirs. Er schlug die Augen auf und begann zu husten, wobei er hektisch aufsprang und wieder umfiel, einmal und noch mal, bis er, röchelnd und um Atem ringend, auf die Hände gestützt hocken blieb. Völlig erschöpft fing er Fritz’ Blick auf erklärte krächzend: »Das ist ein echtes Scheißgefühl … wenn die Lungen sich wieder entfalten …« Er hustete noch ein wenig mehr und spuckte zähen, blutigen Schleim auf den Waldboden.

Inzwischen war Micha zu ihnen getreten, kniete sich hin und rieb Asp den Rücken. »Na, geht’s wieder?«

»Hmmm … Muss wohl.« Asp fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. Einige schwarze Haare hatten sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst, aber abgesehen davon sah er jetzt wieder ganz gesund aus, hatte Farbe im Gesicht und einen wachen Blick. »Ach, verdammt, Micha. Ich hatte fast keine Chance gegen die. Ich bin so alt, und das waren nur vier, aber ich konnte trotzdem nicht viel machen.«

Micha nickte nur. »Warum haben die dich nur gefreezt und nicht gekillt?«, wollte er wissen.

Asp wandte den Blick ab und rappelte sich mühsam hoch. »Ich weiß nicht«, murmelte er und begann, das Laub von seinem Mantel zu wischen.

»Doch, das weißt du, das seh ich«, insistierte Micha. »Vergiss nicht, ich kenn dich, seit wir bei diesem Drecksladen gelandet sind, der sich MIU nennt.«

»Micha … Bitte lass es gut sein.« Asp sah ihn beinahe flehentlich an. »Ich rede mit dir darüber, ein anderes Mal. Aber nicht jetzt. Bitte.«

Fritz glaubte, dass es an seiner Anwesenheit lag. Diese beiden Männer kannten einander schon lange, und er, Fritz, gehörte nicht in diesen Kreis.

Micha beließ es mit einem resignierten »Na gut« dabei und fragte stattdessen, ob Asp Hinweise auf das Versteck gefunden hätte. Asp verneinte das; er sei der Gruppe, die aus vier Vampiren bestand, zufällig begegnet und habe sie fast eine Dreiviertelstunde lang unbemerkt verfolgt, bis sie zuletzt doch auf ihn aufmerksam geworden waren.

»Das war ein kurzer Kampf«, erklärte er niedergeschlagen.

»Scheinen dieselben vier gewesen zu sein, die uns Alea weggeschnappt haben«, sagte Micha nachdenklich. »Aber das waren keine Babys, Lex, die konnten schon an Wänden hochlaufen wie Spider-Man.«

»Ich kann mich auch geirrt haben. Jedenfalls haben sie Irisch gesprochen, da bin ich sicher, und das tun nun mal nur irische Vampire. Auf dem europäischen Festland«, fügte Asp an Fritz gewandt hinzu, »sprechen Vampire untereinander meist Latein.« Er zuckte die Schultern. »Ich verstehe kein Gälisch, aber seit unserem Krieg gegen Fiacail Fhola hab ich diesen komischen Klang unauslöschbar im Ohr.«

Fritz überdachte das und schaute Micha an. »Du kannst Irisch, oder?«

»Ach, nicht gut«, wehrte Micha ab. »Ich hab es von Fírinne gelernt, über Rea Garvey. Kennst du den? Singt bei der Band Reamonn. Ist auch ein Vampir. Jedenfalls sagen die mir immer wieder, dass mein Gälisch für’n Arsch ist … vor allem die Aussprache. Aber, Mann, dafür kann ich nichts.« Düster fügte er hinzu: »Rate mal, wer von uns allen am besten Gälisch kann.«

Fritz brauchte nicht lange nachzudenken. »Eric, sonst würdest du nicht so gucken.«

»Ja, hast Recht.«

Zu dritt erreichten sie schließlich wieder die dichter besiedelte Wohngegend.

»Mein Viertel ist jedenfalls sauber«, sagte Asp. »Kein Hinweis auf das Versteck. Ich hoffe, die anderen hatten mehr Glück. Zu dumm, dass Amboss Rattengift gefressen hat. Wenn Bock ihn bloß wieder hinkriegt …«

»Bock kann das«, sagte Micha zuversichtlich.

»Wieso nennt ihr ihn eigentlich Bock?«, fragt Fritz, dem auffiel, dass er das gar nicht wusste. »Weil er schwul ist?«

»Ist Bock schwul?«, sagte Asp geheimnisvoll.

»Natürlich, er macht ja kein Geheimnis draus!«

»Na, dann nennen wir ihn wohl so, weil er ein geiler Bock ist.«

Micha lächelte dünn. »Wir nennen ihn so, weil er uns genau das gleiche gefragt hat … Er hat nämlich immer ›Bock‹ verstanden, wenn wir ›Doc‹ gesagt haben. So entstehen blöde Spitznamen.«

»Er ist, wie du schon gemerkt hast, nicht nur Allgemeinarzt, sondern auch Experte für Vampire. Er hält sich ein bisschen für einen zweiten Dr. Van Helsing. Mit dem Unterschied, dass er Vampire gut leiden kann und ihre Bedürfnisse kennt und versteht. Für die MIU ist es wichtig, jemanden wie den im Boot zu haben.«

»Stimmt. Und Bock denkt, dass Vampirbisse irgendwie gut für die Gesundheit sind. Will seit Jahren eine Studie darüber anstellen, aber es wird nichts.«

»Warum nicht?«, hakte Fritz nach, der nicht glaubte, dass jemand eine solche Studie bewilligen würde.

»Weil er keine Freiwilligen dafür findet.«

»Na so was! Versteh ich gar nicht!«

Jetzt grinste Micha. »Hey, du kannst ja richtig sarkastisch sein. Gefällt mir.«

Eine Weile lang gingen sie schweigend. Sie passierten eine Gruppe Jugendlicher, die ihnen neugierig nachsahen, und ertrugen unbehelligt die missbilligenden Blicke von Müttern mit Kindern, die aus dem Supermarkt oder vom Spielplatz kamen.

»Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie Fiacail Fhola Alea kidnappen konnten«, sagte Asp schließlich. »Sie wussten, dass sie es können würden, denn sie haben ja, so wie ihr es geschildert habt, keinerlei Angst gezeigt.«

»Nein, die waren rotzfrech«, murrte Micha. »Haben einfach sein … Stirn-Chakra oder so was zugehalten … Ich glaube, ich werfe da gerade alles durcheinander, hab keine Ahnung. Ich weiß noch, dass Alea früher mal gesagt hat, er würde seine Fähigkeit über so ’ne Art drittes Auge steuern. Als könnte er so ’nen unsichtbaren Arm nach dem Herzen von ’nem Vampir ausstrecken. Also den … Energiefluss in seinem Körper aus sich raus lenken, oder so.«

»Und eben das wird es sein. Es hat auch in der Vergangenheit schon Vexecutors gegeben. Fiacail Fhola haben sich anscheinend irgendwo gründlich kundig gemacht und wissen jetzt, wie sie ihn daran hindern, ihre Herzen anzuhalten. Sie unterbrechen einfach diesen energetischen Fluss durch ein Hindernis.«

Micha stimmte Asp durch mattes Nicken zu.

»Es gibt nur sehr wenige Menschen, die das können, was Alea kann, richtig?«, fragte Fritz.

»Es gibt vielleicht nicht mal mehrere gleichzeitig«, antwortete Micha sinnierend. »Die Fähigkeit ist fast gar nicht erforscht. Bei Alea hat sich das durch dieses Tai-Chi-Zeug rausgebildet, muss aber veranlagt gewesen sein. Normalerweise kann nur einer einen Vampir so leicht kaltmachen, nämlich sein Erschaffer. Denn er kennt den Wahrnamen.«

»Den was?«

»Den Wahrnamen. Jeder Erschaffer gibt seinem Abkömmling einen Namen, der mit dem menschlichen nichts zu tun hat. Keiner außer dem Vampir selber und seinem Erschaffer kennt den.«

»Ooh.« Fritz begriff die Bedeutung dieses Umstands. »Und jeder hat einen Wahrnamen? Ihr auch?«

»Jeder von uns«, nickte Asp.

»Aber ihr kennt nur eure eigenen.«

»Wenn wir Abkömmlinge hätten, würden wir deren Wahrnamen auch kennen, aber wir haben ja keine.«

»Wozu ist der Wahrname gut?«

»Schwer zu sagen«, antwortete Micha. »Ich glaube, das hat was mit Macht über die Person zu tun. Der Erschaffer hat durch den Namen Einfluss auf seinen Abkömmling, denn, ich hab ja schon gesagt, der kann ihn problemlos töten. Einfach sein Leben beenden.« Demonstrativ schnippte er mit den Fingern. »So, zack … tot.«

Über Fritz’ Arme huschte eine Gänsehaut. »Einfach so? Das ist ja schrecklich!«

»Kein Erschaffer wird das machen«, versicherte Asp. »Ein Abkömmling ist wie ein Kind.«

»Genau, Fritz. Nur echt kranke Typen würden ihre Babys töten.«

»Verstehe«, murmelte Fritz. Während er darüber nachdachte, hielten sie schon wieder auf die Stadtmitte zu.

Micha wandte sich an Asp: »Wenn dein Viertel sauber ist und unsers auch … Wen gehen wir dann als nächstes besuchen?«

Die sind echt auf Ärger aus, dachte Fritz düster. Ist es etwa so reizvoll, von einer Überzahl skrupelloser Vampire niedergemacht und aufgehängt zu werden? Er wusste, dass er darauf keine Lust hatte – zumal der Zustand, in den er durch Erhängen verfallen würde, nicht durch ein simples Kneifen reversibel wäre.

Asp schien seine Meinung zu teilen. »Vielleicht sollten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass unsere Feinde sich außerhalb der Stadt verstecken«, sagte er bedeutsam.
 

Im Stadtteil Heessen nördlich des Zentrums standen Eric Fish und Sugar Ray im Schatten eines Wartehäuschens der Bushaltestelle Schafbusch. Finsteren Blickes examinierte Eric den Stadtplan, den die MIU im Stützpunkt hinterlegt hatte und auf dem schon eifrig herumgekrakelt worden war, teilweise mit ganzen Schriftzügen wie ›Und hier gibt es das beste Schnitzel der Stadt!‹ oder ›Meiden, das Bier schmeckt scheiße!!‹, welche wichtige Informationen wie etwa Straßennamen verdeckten.

»Idioten«, knurrte er. »Warum zum Teufel bin ich eigentlich der Einzige, der seine Arbeit ordentlich macht?«

Silvio Runge ignorierte sein leises Geschimpfe und starrte unverwandt einen Baum hinauf; dort sang ein Vogel, den er beim besten Willen nicht erspähen konnte, obwohl das Gezwitscher aus unmittelbarer Nähe kam.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Eric.

»Doch, schon.« Der Vogel blieb hartnäckig unsichtbar.

Missmutig begann Eric, die Karte unverrichteter Dinge wieder zusammenzulegen. Stadtpläne richtig zu falten war nur eins der vielen Talente, die ihm das Leben vielfach erleichterten. »Wenn wir mit der Linie R37 weiter bis nach Beckum fahren, haben wir den ganzen Norden des Viertels systematisch abgegrast. Es wäre sinnlos für Vampire, sich weiter außerhalb der Stadt anzusiedeln, wenn sich im Zentrum am unauffälligsten Beute schlagen lässt.«

»Gebe dir Recht«, nickte Sugar Ray, wortkarg wie immer.

Als der Bus kam, stiegen sie ein und nahmen etwa in der Mitte des halbleeren Fahrzeugs Platz. Die Leute, junge wie alte, starrten dumpf vor sich hin und redeten nicht. Eric ignorierte die neugierigen, jedoch völlig unspezifischen Blicke, die ihm und seinem Begleiter zugeworfen wurden; Subway To Sally mochten eine der bekanntesten Bands Deutschlands sein, doch hier am Rande Hamms erkannte sie keine Sau.

Die Haltestelle Westhusener Weg sah unauffällig aus. Kein Mensch wartete dort und nur ein kleines Mädchen mit Schulranzen stieg aus. Es folgte Schloss Oberwerries, wo die wenigen Leute, die noch mitfuhren, den Bus verließen. Die beiden Musiker stiegen ebenfalls aus. Ganz in der Nähe war die Schlossanlage zu sehen.

»Könnten uns das Schloss ansehen«, schlug Silvio vor. »Sieht zwar nicht so außergewöhnlich aus, aber wird nur noch repräsentativ genutzt, glaube ich.«

»Also nicht dauerhaft bewohnt«, schlussfolgerte Eric. »Gut, riskieren wir einen Blick.«

Sie folgten dem Wehrgang zur Backsteinmauer. Das Gebäude war zweiflüglig mit einem Hof im Inneren, der verlassen war. Während das Tor- und das Herrenhaus unzugänglich waren, stand eine Tür zum Marstall einfach offen.

Sugar Ray schnupperte. »Hm, keiner da. Oder?« Witternd drehte er sich auf der Stelle, um alle Windrichtungen auszukosten.

Eric wartete seinen Befund ab. »Und? Nicht mal Touristen? Nicht mal ein … Aufpasser?« Ihre Stimmen wurden von den roten Wänden, die den Hof begrenzten, zurückgeworfen, doch akustische Phänomene waren beiden Männern gut vertraut.

»Hmmm«, machte Sugar Ray. »Mit Amboss wären wir besser dran.«

»Wir sollten auch ohne einen Hubertushund unseren Job machen können«, erwiderte Eric verdrießlich.

»Hmmm …« Der Schwarzhaarige schaute sich erneut ratlos um. »Können mal reingehen. Tür steht ja offen.«

Drinnen war es dunkler als erwartet.

»Auch das noch. Siehst du was?«

»Kann die Linsen jetzt nicht rausnehmen.«

»Pff. Schon gut.«

Silvio schnupperte. »Glaube, das hier war ein Stall für Hunde. Riecht nach Stroh …«

»Stroh gehört hier nicht hin«, belehrte ihn der Sänger. »Das könnte ein Hinweis auf ein Vampirlager sein. Weiß der Teufel, warum Bestien Stroh so mögen.«

»Liegt sich eben gut auf Stroh«, bemerkte Silvio, wie um sich zu rechtfertigen, und witterte wieder. »Hm, alte Spuren. Wochenalt …«

Eric horchte auf die konzentrierte Stimme seines Vampirs, erpicht darauf, Hinweise zu bekommen, als jäh ein heller, gellender Schrei die beiden zusammenfahren ließ.

»Keiner hier, ach ja?«, schnaubte Eric, die Hand schon an seiner Natron-Kanone. Anders als die üblichen Waffen hatte sein eigener Colt ein vergoldetes Griffstück, was ihn unverkennbar machte. Vampire, die ihn kannten, mieden ihn.

Sugar Ray fasste ihn am Arm und führte ihn wieder nach draußen. »Entweder wurde diese Frau gerade gepfählt, oder ihr ist ein Nagel abgebrochen«, murmelte er, was überraschend viele Worte für eine Äußerung waren.

Sie eilten quer über den Hof; Silvio hatte die Quelle des Schreies geortet, und in Kürze folgten ein zweiter und ein dritter, jeder von ihnen lauter und spitzer als der vorausgehende.

Kurz vor dem Herrenhaus lief ihnen der Verursacher des Lärms entgegen: Eine junge Frau mit wild zerzaustem, blondem Haar hielt auf sie zu und warf panisch die Arme hoch. »Sie stirbt!«, kreischte sie und musste sich wiederholen, ehe die Männer sie überhaupt verstehen konnten. »Sie stiiiiiiiiiiiiirbt, stirbtstirbtstirbt!!«

»Nun mal ganz ruhig«, sagte Eric souverän.

Die Frau achtete nicht auf seine Beschwichtigung, sondern machte kehrt und rannte los, wohl in der Hoffnung, dass die beiden einzigen Personen weit und breit ihr folgen würden.

Am anderen Ende des Haupthauses lag eine weitere Frau am Boden in einer Lache von Blut und versuchte zitternd, sich aufzurichten. Ihr beigefarbener Mantel war voller tiefroter Flecken und bot einen scharfen Kontrast zu ihrer kreideblassen Haut.

Automatisch streckte Eric den Arm aus, um Sugar Ray im Lauf abzufangen, der, konfrontiert mit dieser Szenerie, scharf Atem holte. Die letzten Schritte gingen sie langsam, auch wenn die kreischende Blonde weiterhin versuchte, sie zur Eile anzutreiben.

Betont ruhig kniete sich Eric zu der dunkelhaarigen Frau, die merklich mit der Ohnmacht kämpfte, und streckte die Finger nach ihrem Handgelenk aus, das sie hektisch wegzog. Das Blut rann in dicken Strömen aus einer klaffenden Wunde an ihrem Hals. »Heilige Mutter Gottes«, zischte Eric, der nicht religiös war. Seine eigene verheilende Bisswunde war unter einem Schal verborgen; er kannte Vampirbisse, und dies hier war keiner. Es sollte nur wie einer aussehen. »Silvio«, befahl er, »beiß sie.«

»Aber –«, protestierte Sugar Ray schwach.

»Das wird sie ruhigstellen und den Kreislauf stabilisieren.« Die Blonde hinter ihnen setzte zu einem noch lauteren, geradezu überirdischen Gebrüll an. Trocken fügte Eric hinzu: »Beiß die andere auch, damit sie mir nicht den letzten Nerv raubt.« Immer Ärger mit diesem Job, dachte er.

Silvio machte seine Arbeit und tat, wozu er angehalten war. Vampire konnten Menschenleben retten, ohne sich anzustrengen: Ihr Gift und ihr Speichel konnten Schmerzen betäuben, Panik beenden, Herzversagen abwenden und schlimmste Blutungen stillen – wenn man es zuließ. Wer mit Vampiren arbeitete, wusste diese beiden Säfte zu schätzen.

»Gut«, sagte Eric, als Sugar Ray fertig war. Inzwischen hatte er den Puls der verletzten Frau gefunden, und trotz des hohen Blutverlustes war er jetzt einigermaßen stabil.

»Wenn wir einen Arzt rufen, müssen wir das erklären«, murmelte Silvio und meinte damit die Tatsache, dass zwei Frauen reglos inmitten eines völlig menschenleeren Schlosshofes lagen – menschenleer bis auf sie beide.

Eric dachte angestrengt nach. »Müssen wir das? Die Polizei weiß, dass wir hier sind. Warum wir hier sind, weiß sie hoffentlich auch.«

»Die werden meine Spucke finden«, beharrte Sugar Ray, dem die Situation merklich unangenehm wurde, erkennbar daran, dass er plötzlich viel mehr redete, »weil gar kein anderer Vampir dran war. Ich bin registriert. Du weißt, was das heißt.«

Damit hatte er Recht. Bei der Registrierung wurde ein Schleimhautabstrich gemacht und die genetischen Daten gespeichert; es würde sich höchst seltsam anhören, dass Silvio der Verletzten mit dem Biss das Leben gerettet haben wollte. Leise seufzend beugte Eric sich diesem Umstand. »Gut«, sagte er wieder, »dann lösen wir das Problem erst mal auf unsere Art. Das hat einen Vorteil … Wir können die Damen sofort befragen, wenn sich die Gelegenheit bietet.«

Damit war Sugar Ray sicherlich auch nicht zufrieden, aber eine bessere Option war es allemal, und so widersprach er nicht länger, als Eric ihm mit einer Geste bedeutete, die blutüberströmte Frau vom Boden aufzuheben.



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