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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Fang mich doch

Früh am folgenden Morgen rüsteten sich die MIU-Agenten, um Hamm auf Vampirspuren zu untersuchen.

»Haben wir registrierte Vampire in der Stadt?«, fragte Buschfeldt beim Frühstück, als erst ein Teil des Teams zusammengekommen war.

Pfeiffer, dessen Laptop bereits lief, bejahte das. »Zwei, Boss. Einen Erschaffer mit Abkömmling. Wohnen im Stadtteil Uentrop. Sollen wir sie besuchen?«

»Ja. Du und El Silbador werdet das machen, dann kommt ihr wenigstens auch mal raus.« Buschfeldt streckte die Hand aus, bis ihm jemand die Butter reichte, und fuhr dann fort: »Die anderen Teams bleiben, wie sie sind. Falk und Lasterbalk …«

»… Lange und Flex …«, sagte Basti.

»… Ingo und Simon …«, ergänzte Simon.

»… Ich und niemand …«, kam es gespielt traurig von Dr. Saltz.

»Danke, ich sehe, ihr kennt eure Partner«, schnarrte Buschfeldt. »Wo bleiben die restlichen Vampire?«

Im selben Moment horchte Simon auf. »Pst, Alea kommt. Kein Wort mehr von Vampiren!«

Prompt schwiegen alle. Alea kam in die Küche spaziert, sich streckend wie ein kleiner Tiger, und sah dann verwundert in die Runde. »Ihr hört immer auf zu reden, wenn ich reinkomme«, bemerkte er.

»Ach, Blödsinn«, sagte Falk, der sich schnell eine Scheibe Brot zur Tarnung gegriffen hatte. »Sag mal, willst du mit auf die Stadtdurchsuchung, Alea?«

»Damit sich alle Vampire gleich verstecken?«, sagte Lasterbalk anklagend. »Unklug.«

»Ich würde aber gerne mitkommen.« Alea setzte sich neben ihn und nahm sich auch ein Stück Brot. »Könnte mich tarnen. Als Vampir vielleicht.«

»Du als Fakefang? Das ist, als würde man Mary Poppins als Darth Vader verkleiden.«

»Hör auf, dich über mich lustig zu machen«, gab Alea grimmig zurück.

»Ach, na gut. Trag eine Kapuze und rasier dir den Bart ab, dann klappt es vielleicht.«

Falk schüttelte ungläubig den Kopf. »Als ob die Bestien ihn nicht zehn Kilometer gegen den Wind wittern könnten!«

Sie stritten noch ein wenig weiter, bis im Laufe des frühen Morgens alle Männer eingetroffen waren und gegessen hatten; dann orderte Buschfeldt Team für Team kategorisch aus dem Haus, ohne auf individuelle Wünsche einzugehen. Ungeduldig versuchte Alea, einer Gruppe zugeteilt zu werden, um nicht untätig zurückbleiben zu müssen (»Dafür bin ich nicht den ganzen Weg hierher gefahren!«), wurde jedoch außen vorgelassen.

»Komm mit mir und Fritz mit, wir gehen nach Rhynern«, bot Micha ihm schließlich an; sicher nicht, um freundlich zu sein, sondern vor allem, um Buschfeldt in den Rücken zu fallen.

»Mach ich«, sagte Alea sofort zu und ignorierte die schwachen Proteste seiner Bandmitglieder.

Eric und Sugar Ray, von dem Fritz mittlerweile wusste, dass er Silvio hieß, bekamen den Ortsteil Heessen zugeteilt – und außerdem Amboss, der sofort hellauf begeistert war, sobald man ihm sein Reflektor-Halsband anlegte.

»Muss das wirklich sein?«, murrte Eric, als der Hund wedelnd um ihn herum sprang.

Buschfeldt gab sich verständnisvoll: »Du solltest wirklich mehr Zeit mit ihm verbringen, damit er besser an dich gewöhnt ist, Eric.« Eigentlich, das war unübersehbar, interessierte es ihn nicht die Bohne.

Bereits im Flur ergriff der Bluthund seine Leine mit den Zähnen und ruckte sie dem Teamführer aus der Hand. Eric seufzte und versuchte dann halbherzig, sie ihm wieder wegzunehmen, was den Hund dazu animierte, ein Fangspiel mit ihm anzufangen.

Fritz, der das mit ansah, befürchtete, Micha könnte sich zu dummen Kommentaren hinreißen lassen, und natürlich passierte das auch.

»Du solltest mehr Sport machen, Hecht«, sagte er trocken, als dieser den Hund ein drittes Mal verfehlte.

»Fang ihn! Mehr Power!«, schloss sich zu allem Überfluss auch noch Van Lange an, der, genau wie Micha, nur unbeteiligt an der Wand lehnte und nicht daran dachte, behilflich zu sein.

Eric warf ihnen finstere Blicke zu.

»Versuch’s mit ’nem Hechtsprung!«

»Jaah, jenau

»Ihr habt nichts zu tun, ist das so?«, fauchte Eric, visierte Amboss an und bekam ihn endlich mit einem harten Griff am Halsband zu packen, was das Tier mit einem verblüfften Quieken quittierte. »So, du blöder Köter, hab ich dich!«

Micha nahm sogar die Hände aus den Taschen, um ein Minimum an Applaus zu spendieren. »Nicht schlecht, Herr Hecht. Dann können wir ja jetzt gehen.«
 

Es war nur wenig bewölkt und auch nicht besonders kalt, als Fritz, Micha und Alea ihren Weg durch Hamm-Rhynern begannen. Wie immer ging Micha, die Hände in den Taschen, voran, als hätte er einen genauen Plan, obwohl das wahrscheinlich nicht der Fall war. Alea folgte ihnen in einigen Schritten Abstand. Fritz fiel auf, dass der Schrecken aller Vampire sehr aufmerksam seine Umgebung studierte und jedes Detail beim Vorübergehen in Augenschein nahm. Zu ihren Gesprächen wollte er nichts beitragen, das machte seine Distanz deutlich; er und Micha schienen auch nicht die besten Freunde zu sein. Trotzdem hatte Fritz keine Ahnung, worüber er in Aleas Nähe mit Micha reden sollte, denn alle Themen, die ihm einfielen, handelten von Vampiren – somit hatte Alea, ohne es zu wissen, ihnen auferlegt zu schweigen, während sie durch Hamms Straßen wanderten.

Schließlich wurde das ziellose Umherirren der drei durch einen Zwischenfall beendet: Zwei Polizeiwagen jagten jaulend um die Ecke, die sie gerade passiert hatten, und bogen in eine Gasse ein, die von Caféterrassen und kleinen Schaufenstern gesäumt war. Fritz war, wie die anderen, stehen geblieben und schaute neugierig hinterher; dann hielt ein drittes Auto unmittelbar neben ihnen, und er erkannte am Steuer den Polizisten, mit dem sich Eric und Sugar Ray im Präsidium unterhalten hatten.

Gestikulierend wandte der bärtige Mann sich an Fritz: »He, Sie sind doch von der MIU, erinnere ich mich recht?«

»Diese beiden auch«, antwortete Fritz in einem instinktiven Versuch, hinter den Dienstälteren abzutauchen. »Was … was gibt es denn?«

»Etwas, das Sie sich ansehen sollten.« Der Polizist winkte ihn und seine Begleiter energisch heran. »Kommen Sie, ich nehme Sie mit zum Tatort.«

Oh-Oh, dachte Fritz, als er die Autotür öffnete.

Der Streifenwagen folgte den beiden ersten mit demselben ohrenbetäubenden Sirenengeheul.

»Komisch«, sagte Micha stirnrunzelnd. »Ein Vampirüberfall am helllichten Tag?«

Alea, der in ihrer Mitte saß und sich nicht anschnallen konnte, weil der Gurt eingeklemmt war, hielt geistesabwesend die Lehne des Beifahrersitzes umfasst, während er vorgebeugt auf die Frontscheibe starrte. »Hmm …«, murmelte er und klemmte dann wie in Zeitlupe seine Unterlippe zwischen die Zähne.

Bitte nicht, betete Fritz. Kein Blut. Bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte nicht.

Das Auto hielt dort, wo auch die anderen beiden mit Warnblinklichtern am Straßenrand parkten. Vor dem Reihenhaus tummelten sich Beamte in der Uniform der Schutzpolizei, aber auch Zivilträger und ein Tatortfotograf, dem eine Spiegelreflexkamera um den Hals hing.

Der Polizist, der sie gefahren hatte, führte Fritz, Micha und Alea direkt in das Haus, ohne sie den vielen Ermittlern vorzustellen. »Die Methoden der MIU sind uns bekannt«, sagte er bedeutsam. »Wir werden Sie gern in dem Raum allein lassen.«

Und dann sah Fritz das Zimmer. Und blieb im Türrahmen stehen. Er wäre dort noch wesentlich länger stehen geblieben, wenn Micha ihm nicht mit den Worten »Los, rein da« einen Stoß über die Schwelle versetzt hätte.

Es handelte sich um ein kleines Appartement ohne Flur. Küche und Wohnzimmer waren eins, nur eine Schlafnische und ein kleines Bad zweigten separat ab – eine Tatsache, für die Fritz absolut kein Auge hatte, denn Wände und Fußboden des Zimmers beanspruchten alle seine Sinne.

Der Raum war voller Blut. Es klebte großzügig an allen Flächen, rot und leimig und mit scharfem, metallischem Geruch. Dicke Tropfen waren von den Wänden auf den Teppich gerollt und hatten breite Schmierstreifen gezogen.

Alarmiert von Farbe und Geruch der Körperflüssigkeit sackte Fritz sofort zusammen. Micha, der noch immer hinter ihm stand, fing ihn unerwartet sanft auf und setzte sich wortlos mit ihm auf den Boden. Alea jedoch stieg über Fritz hinweg in das Zimmer. Aufgeregt zuckte der Blick seiner weit geöffneten Augen von einer Ecke zur anderen, und seine Lippen kräuselten sich.

»Pssst«, machte Micha dicht an Fritz’ Ohr. »Sonnenscheinchen spürt es. Die haben es wieder gemacht. Wollen Angst vor Vampiren verbreiten.« Obwohl er kaum hörbar sprach, verstand Fritz jedes Wort durch den schillernden Schleier drohender Ohnmacht. »Hör zu, du musst Alea hier rausschaffen. Kannst du das?«

Mühsam schüttelte Fritz den Kopf.

»Pass auf, ich geb dir Starthilfe. Mach einfach irgendwie, dass er nicht reinkommt, solange ich drin bin. Okay?« Dann erhob Micha die Stimme und wandte sich an Alea: »Hey, kannst du mal mit anfassen? Fritz hat ein kleines Problem mit Blut. Wir legen ihn am besten mal im Treppenhaus hin. Kannst aufpassen, bis er wieder munter ist.«

Alea wirkte nicht begeistert, doch natürlich konnte er sich nicht verweigern und half Micha, Fritz hochzuheben. Fritz, dem es langsam besser ging, staunte, wie viel Kraft in dem kurzen, drahtigen Mann steckte. Als er rücklings auf dem kalten Steinboden im Treppenhaus lag, wurde es wieder besser. Fritz schaute vorsichtig von einer Seite zur anderen – ohne unnötig einen seiner schlaffen Muskeln zu bemühen –, und lauschte auf die Geräusche, die von draußen hereindrangen. Alea hockte neben ihm, halb über ihn gebeugt, und sah unzufrieden beiseite.

»Ich kann da nicht mehr rein«, jammerte Fritz und gab sich Mühe, seine Stimme noch schwächer und kläglicher klingen zu lassen. »Bitte, lass uns hier auf Micha warten.«

Alea nickte widerwillig. »Ja, okay, kein Problem.«
 

Vorsichtig beugte Michael sich über die halbgetrocknete Blutlache auf dem Fußboden und roch daran. Er musste zugeben, der Duft war noch immer betörend; lange konnte das Massaker, das hier stattgefunden hatte, nicht zurückliegen. Über einen halb umgekippten Tisch stieg er zur linken Zimmerwand und betrachtete die zähen Tropfen, die dort langsam erstarrten. Eigentlich glaubte er nicht, dass auch hier Musik und Stress im Spiel gewesen waren, doch er hatte die Pflicht, das zu überprüfen. Mit einem argwöhnischen Blick in alle Richtungen vergewisserte er sich, dass kein Polizist in der Nähe war, dann beugte er sich vor und leckte verstohlen eine Zungenlänge Blut von der Tapete. Es schmeckte gesund. Micha kannte sämtliche Geschmacksrichtungen, die Blut bei abnormen Gesundheitszuständen annehmen konnte, und hier fand er nichts Ungewöhnliches: Angst, natürlich, aber nicht anomal viel, außerdem Zucker und einen leicht zu hohen Cholesteringehalt. Nichts Unnatürliches, gar nichts.

Nachdenklich trat er von der Wand zurück und wartete, bis dort, wo er das Blut aufgeleckt hatte, zäh neues nachgelaufen war und seine Spuren getilgt hatte. Er fragte sich, wie viel von der Leiche erhalten war. Sicherlich fehlte vor allem ihr Hals, sonst hätte die Polizei sich nicht so eifrig an Fritz gewandt. Jeder wusste schließlich, dass die KriPo sich nicht gern ins Handwerk pfuschen ließ.

Draußen im Treppenhaus kniete Alea gelangweilt neben Fritz, der seine Rolle als Todkranker entweder sehr überzeugend spielte oder tatsächlich noch immer ausgeschaltet war. Micha setzte sich einfach daneben, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und Alea nahm das zum Anlass, aufzustehen und leise zurück in das Appartement zu gehen.

Als er weg war, setzte Fritz sich auf. »Und?«, raunte er.

»Das Blut ist sauber. Kein Stress-Überschuss, keine Drogen, keine Krankheiten. Lecker.«

Er hatte erwartet, dass Fritz aufstöhnen und wieder zurückfallen wurde, und Fritz enttäuschte ihn nicht. »Wir – wir müssen uns da irgendwie einigen, wie wir das handhaben wollen, Micha … Ich komme einfach nicht damit zurecht, dir dauernd zuhören zu müssen, was B-Blut dir so alles mitteilt. Und du scheinst es irgendwie auch noch g-gut zu finden, diese ganze r-rrrote Soße.«

Immer dieses Gejammer. Dieses Unverständnis. Micha seufzte. »Fritz, tut mir Leid, aber ich bin ein Vampir«, sagte er, weil er das Gefühl hatte, dass Fritz das immer noch nicht kapiert hatte. »Ich mag Blut. Das ist meine Natur. Ich ekel mich nicht davor, im Gegenteil, ich finde, dass Blut schön aussieht und angenehm riecht und schmeckt. Das kann und will ich wegen deiner Phobie da nicht ändern. Ich sehe gerne Blut, ich fasse es gerne an und ich trinke es gerne. Zack, fertig, aus.« Fritz’ Blick wurde noch leidender, deshalb fügte er noch hinzu: »Ich fange bestimmt nicht an, mich dafür zu schämen. Dann werde ich ja wie Lex – so’n psychisches Wrack, das sich nicht traut, seine Zähne in irgendwas anderes zu stoßen als Vollkorntoast.«

Ja, Alexander Spreng war da ein furchtbar abschreckendes Beispiel. Er hatte jahrelang in Starre verbracht und sich danach wie ein Berserker gegen seine Vampirnatur aufgelehnt, als gäbe es da irgendetwas dran zu ändern. Mit dem Blutdurst zu ringen war etwas, das Michael lange als sinnlos aufgegeben hatte. Asp war, als die Begründer MIU auf ihn aufmerksam wurden, krank und fehlernährt gewesen; das war der Zeitpunkt der Gründung der MIU – 1940, ein Leben zuvor – und Micha erinnerte sich gut daran, wie sie Asp aufgepäppelt und ihm eingeredet hatten, Brot sei keine Lösung. Hyperborea war eine Lösung. Sogar im chemischen Sinne. Und Asp, der nicht vorgehabt hatte, sich je wieder in die Gesellschaft zu integrieren, fand plötzlich menschliche Freunde, mit denen er Träume teilen und seine Gefühle verarbeiten konnte.

Aleas Rückkehr riss Micha aus seinen Überlegungen.

»Ich bin sicher, dass es Vampire waren«, sagte er.

»Das ist doch Quatsch. Vampire trinken Blut, die schmieren nicht alles damit voll.« Jedenfalls würde ich das nicht machen, dachte Micha angewidert. Was für ’ne Verschwendung, tut einem ja in der Seele weh!

Alea zuckte die Schultern. »Denk, was du willst. Ich weiß, wie sich eine Vampir-Aura anfühlt.«

Von diesem Aura-Scheiß hielt Micha so gut wie nichts, doch er gab Aleas Beharrlichkeit nach, weil er keine Lust zum Diskutieren hatte. »Wie viele?«, fragte er.

»Fünf oder sechs.«

»Hmmm. Das passt sogar zu der leer getrunkenen Putze.«

»Putze?«, fragte Fritz und riss die Augen auf. »Leer getrunken? Ihr habt mir nicht erzählt, dass sie mehr als einen Biss hatte!«

Alea wandte den Blick ab. »Wir dachten, das beunruhigt dich nur. Du bist doch so ängstlich.«

»Uff!« Fritz rieb sich die Augen. »Jetzt bin ich also derjenige, dem nichts erzählt wird«, nuschelte er, und Micha warf ihm sofort einen warnenden Blick zu.

»Wir sind hier fertig«, sagte der Vampir, um ein entstehendes Gezanke schon im Keim zu ersticken. »Fritz, wenn du dich fit fühlst, gehen wir Bericht erstatten.« Er stand auf, reichte seinem Partner die Hand und zog ihn schwungvoll auf die Füße.

»Wir melden uns«, versprachen sie dem Polizeibeamten, der vor dem Haus stand und ein Funkgerät in der Hand hielt.

Fritz atmete auf, als sie an der frischen Luft waren; er war bestimmt aufs höchste erfreut, dem Geruch von Blut nicht länger ausgesetzt zu sein.

Was mache ich nur mit dem?, fragte Michael sich wieder einmal und schlug missmutig den Weg Richtung Künstlerviertel ein.
 

Yellow Pfeiffer und El Silbador saßen in der Küche einer kleinen Dreizimmerwohnung in Uentrop und tranken Weißen Tee aus geblümten Tassen. Ihre Gastgeberin, die offensichtlich nicht allzu oft Tee kochte und sich mit der notwendigen Menge an Blättern ein wenig verschätzt hatte, beobachtete sie schüchtern. Sie war alt, bestimmt fast siebzig, und wirkte müde. Wie jeder normale Vampir, der nicht notwendigerweise umerzogen worden war, hätte sie den Tag lieber bis zur Dämmerung verschlafen.

»Reicht es an Zucker?«, fragte sie ihre Gäste behutsam.

»Ja, danke«, antwortete Boris. Es war ihm ein wenig unangenehm, dass die Dame sich sofort Umstände machte, um sie zu empfangen. Sie hatte auch angeboten, ein Rosinenbrot aufzubacken, doch dieses hatten die Männer abgelehnt.

»Ich habe noch nie Probleme mit den Behörden gehabt«, sagte die Vampirin leise und nestelte an ihrem Spitzenkragen. »Ich dachte, mit der Registration wäre alles in Ordnung. Ich trinke nicht von Unfreiwilligen, wissen Sie, ich habe einen großen Kreis an Freunden, die es erlauben …«

»Dagegen ist nichts einzuwenden, wir sind gar nicht Ihretwegen hier, Frau Schenk«, beeilte sich Elsi richtig zu stellen. »Wir möchten ganz allgemein von Ihnen wissen, ob Sie jemals Kontakt mit Vampiren hatten, die … naja … sich anders verhalten.«

»Oh, ich habe keinen Kontakt zu einem Nest oder einer Gemeinschaft«, antwortete Martha Schenk sofort. »Wir scheinen die einzigen Vampire in Hamm zu sein. Ich habe nur Jürgen, und wir sind allein sehr glücklich.«

Jürgen war ihr Abkömmling, ein Mann vom selben Alter. Er saß schweigend in einer Ecke der Küche, eine breitkrempige Kappe über den Augen. Aufgrund eines Hirndefekts konnte er nicht sprechen, doch seine Frau deutete jede seiner Gesten mühelos.

»Gab es jemals Angriffe, Zwischenfälle, irgendetwas?«, fragte Boris hoffnungsvoll, ehe er noch einen Schluck des faden Tees nahm.

»Nein, Herr Pfeiffer, ich kann mich da an nichts erinnern. Allerdings …« Sie beugte sich verschwörerisch zu ihm vor. »… hat mir Jürgen, als er gestern von der Rückengymnastik nach Hause kam, berichtet, dass er in Rhynern zwei Männer gesehen hat, die, wie er, am Tage Sonnenbrillen aufhatten … und sie hätten sich auf einer ganz komischen Sprache unterhalten. Jürgen war Lehrer für Englisch und Französisch, bevor er diesen Unfall hatte, er kennt viele Sprachen … aber diese nicht. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«

Boris sah sich nach El Silbador um; der Jüngere erwiderte seinen Blick beunruhigt.

»Dieser letzte Hinweis hilft uns vielleicht weiter. Wir sind Ihnen beiden dankbar für die Information«, sagte Pfeiffer freundlich. »Oh, und für den Tee auch. Es tut uns Leid, dass wir Sie so früh am Tag gestört haben.«

»Oh, das macht doch nichts!«, versicherte Fr. Schenk eilig. »Ich hoffe, Sie lösen Ihren Fall. Kommen Sie gut heim!«

Als sie gegangen waren, sagte Elsi zögernd: »Wow, ich hab noch nie vorher mit kultivierten Vampiren geredet. Außer unseren.«

»Solche Leute haben sich unter Kontrolle und machen uns keine Probleme.« Pfeiffer ignorierte den schneidenden Wind auf seinem Gesicht. »Die Frage ist nur, wer’s stattdessen tut. Die Beobachtung des Mannes lässt doch sehr auf Eff Eff schließen.«

»Hmmm.« Elsi nickte unbehaglich.

Um einen Hinweis auf Fiacail Fhola reicher, traten sie den Rückweg zur Unterkunft an.
 

Zu Fuß war der Weg zum HQ doch ziemlich weit. Fritz erreichte schließlich, dass er und Alea sich unterwegs etwas zu essen holen durften, woran Micha offenbar keinen Gedanken verschwendet hatte. Den Vexecutor irritierte es zwar sichtlich, dass Micha behauptete, nicht hungrig zu sein, aber eine Erklärung über nervöse Magenbeschwerden speiste ihn ab.

Es war schon Nachmittag, als sie wieder auf dem Weg waren, und die Sonne hatte zu sinken begonnen. Gemächlich trotteten die Drei durch eine wenig belebte Wohngegend, als plötzlich ein Junge mit einem Packen Zeitungen unter dem Arm an ihnen vorbeihastete und, sich hektisch über die Schulter umsehend, über einen nahen Gartenzaun sprang.

»Was ist denn jetzt los?«, fragte Micha die leere Luft und blieb stehen. Irgendetwas versetzte ihn in Spannung, und Fritz sah, dass auch Alea – den er als Vampirindikator zunehmend schätzen lernte – sich nicht rührte.

»Ist da was? Ich höre nichts.« Fritz hatte nicht die geringste Lust auf eine Szene wie jene mit dem Kleinkriminellen, den sie im Dunkeln aufgegriffen hatten, doch dann fiel ihm wieder ein, dass Micha vor Aleas Augen wohl kaum einen Gangster beißen würde, egal wie sehr der blutige Tatort seinen Appetit angeregt hatte.

Es war Alea, der sich zuerst in Bewegung setzte. »Haltet euch bereit, da sind Vampire in der Nähe!«

Erzähl mir was Neues, dachte Fritz und wunderte sich, wie Micha und die übrigen MIU-Vampire sich gegen Aleas Gespür wappneten. Vielleicht fühlte er nur die Anwesenheit von Bestien? Für Fritz ein Rätsel.

Als Alea, den beiden anderen voran, zuerst in eine Seitenstraße bog, sah Fritz nur noch, wie zwei Arme ihn ergriffen und beiseite zerrten. Alea gab ein überraschtes Keuchen von sich und fing an heftig zu zappeln, jedoch dauerte seine Unkoordiniertheit nur Sekunden an, dann fiel er in eine Art gut trainierten Kampfmodus. Sofort war Micha an Fritz vorbeigesprungen, um einzugreifen, doch es schien nicht mehr nötig zu sein. Fritz spurtete hinterher um die Ecke und sah, wie Alea sich ziemlich mühelos aus dem Griff eines bulligen Mannes befreite, der trotz des bewölkten Himmels eine Sonnenbrille und außerdem eine nietenbeschlagene Weste trug. Jedoch war der Mann nicht allein: Als Micha ihn angriff, sprangen zwei weitere scheinbar aus dem Nichts herbei, ebenfalls Sonnenbrillen tragend, und hielten ihn fest.

»Vampire!«, schrie Alea und bleckte die Zähne wie ein Raubtier. Blanker Hass spiegelte sich in seinen Augen. Er fixierte die Gegner und spannte seine Muskeln, doch der Massige, der ihn zuerst gepackt hatte, ließ ihm keine Zeit zur Konzentration, sondern griff sofort wieder an.

»Töte ihn!«, rief Micha und rang vergebens mit den beiden anderen Männern. »Na los!«

Der stämmige Angreifer stürzte wie ein Rammbock auf Alea zu, doch dieser schlug einen Haken und entwischte mit einem Satz, der den Vampir alt aussehen ließ. Noch einmal versuchte der Sänger, aus der Entfernung heraus seine tödliche Fähigkeit zum Einsatz zu bringen, doch da erschien hinter ihm lautlos ein vierter Mann, groß und dünn und völlig haarlos, und hob beide Arme in bedrohlicher Langsamkeit.

Ehe Fritz eine Warnung ausstoßen konnte, hatte der Dünne zugepackt. Ein Arm schloss sich um Aleas Brust und Schultern, die andere Hand presste er, zu Fritz’ Verwunderung, auf die Stirn des Vampirhenkers.

»Töte ihn!«, schrie Micha noch einmal.

Alea hatte jetzt die Angst gepackt; er konnte seine Arme nicht befreien und rollte wild mit den Augen wie ein in die Enge getriebenes Stück Beute. »Ich kann nicht!«, rief er schrill. »Er blockiert mein Qi!« Vergeblich versuchte er, durch ruckartige Kopfbewegungen seine Stirn zu befreien.

Der magere Mann hinter ihm lachte mit einer hellen, krepppapierdünnen Stimme. »Jetzt haben wir dich, a Lámh Dé. Du wirst büßen für das, was du unseren Brüdern und Schwestern angetan hast – jede Sekunde deines Lebens, die von jetzt an folgt!« Genüsslich ließ er die Fangzähne vorschnappen und biss Alea ins linke Ohr.

Alea stieß einen wütenden Schrei aus und kämpfte weiter, doch es half nichts, er kam nicht frei. Endlich jedoch gelang es Micha, seine beiden Kontrahenten niederzustrecken und sich nach Fritz umzudrehen. »Was stehst du so blöd in der Gegend rum, Mann?!«

Fritz zuckte zusammen. Bis eben war er ein unbeteiligter Zuschauer gewesen; erst jetzt fiel ihm ein, dass auch er einen Platz in dieser Szenerie einnahm. Seine schweißnasse Hand fischte die Natron-Kanone hervor, aber viel zu spät. Die vier Männer hatten sich um den festgesetzten Alea versammelt, nahmen ihn in ihre Mitte und traten den Rückzug an. Erst jetzt sah Fritz, dass sie allesamt barfuß waren. Gemeinsam trugen sie ihren Fang mit Leichtigkeit und so schnell, dass man ihnen mit dem Blick kaum folgen konnte, zur nächstbesten Hauswand und rannten dann einfach an ihr hinauf. Fritz spürte, wie bei diesem Anblick eine der Schrauben, die seine heile Welt zusammenhielten, aus ihrem Gewinde sprang.

Micha hatte keine Sekunde später seine Schuhe ausgezogen und folgte ihnen in langen Sätzen. Auch er konnte einfach an der Wand hochlaufen. Da er nichts zu tragen hatte, holte er die Flüchtenden schnell ein, doch ehe er sich den vordersten von ihnen greifen konnte, durchschnitt ein leises Geräusch wie von einem losgelassenen Schießgummi die gespannte Stille. Fritz sah ein paar Tropfen Blut aufspritzen und Micha stürzte vom Dach des Hauses auf die Rasenfläche direkt daneben.

Hol tief Luft, sagte Fritz zu sich. Gaaaaaanz ruhig. Er machte einen Schritt, dann noch einen. Als er bei Micha ankam, war der schon dabei, sich mühsam wieder aufzurappeln. Die Entführer waren längst geflohen; in der Ferne sah man sie mit dem sich windenden Alea von einem Häuserdach zum nächsten springen und schließlich über die Querstraße hasten.

Micha stieß einen rauen Zornesschrei aus und trat gegen den Gartenzaun in seiner unmittelbaren Nähe. Der Pfosten wackelte zwar, nahm aber keinen Schaden. Ein robuster Zaun.

Fritz wich zurück. »Micha, ich … Tut mir Leid …«

»Nein, es ist meine Schuld!«, schnaufte Micha. »Ich hab ihm gesagt, dass er mitkommen kann, und ich konnte nicht auf ihn aufpassen! Scheiße!«

»Und was … was machen wir jetzt?«

»Was schon? Zum Stützpunkt! Schnell! Wir müssen Alea zurückkriegen!«

Ironischerweise war das Künstlerviertel nicht mehr weit. Micha nahm zwei Stufen auf einmal, als sie im Treppenhaus ankamen, und polterte in das HQ wie ein Belagerer, der endlich das Tor zu einer Festung aufgesprengt hat.

»Scheiße, es ist was Beschissenes passiert!«, brüllte er, noch ehe er ganz drinnen war. »Fiacail Fhola haben Alea!«

Fritz hatte ihn noch nie so aufgelöst gesehen. Bis dato hätte er bestritten, dass Micha so etwas wie echte Angst kannte, doch jetzt war genau das in den Augen des Sängers zu sehen, als er das ganze Team zusammenschrie. Asp schaffte es, ihn zu beruhigen, indem er ihn mit beiden Händen an den Schultern packte und fest fixierte. Micha starrte zurück, während ihre Nasen sich beinahe berührten, und stellte endlich das Schreien ein, um stattdessen mit einem gepeinigten Stöhnen auf die Knie zu fallen.

»Du blutest«, sagte Asp ruhig und zeigte auf eine kleine Wunde an Michas Arm, die Fritz gar nicht bemerkt hatte. »Scheint aber nur ein Streifschuss zu sein.«

Bock, der durch den Aufruhr längst im Zimmer war, kniete sich zu Micha. »Ich kümmere mich darum. Ihr beratet euch, und zwar schnell. Der Chef wird ausrasten. Seht zu, dass er keine sperrigen Gegenstände in der Hand hat, wenn ihr es ihm sagt.«

Während all dessen wusste Fritz, dass Micha sämtliche Sanktionen abbekommen würde, konnte aber nichts dazu sagen. Mit hängendem Kopf stand er an der bunten Zimmerwand, völlig unbeachtet von allen anderen, und fühlte sich unendlich schuldig.


Nachwort zu diesem Kapitel:
a = irische Vokativpartikel, d.h. steht vor jeder Anrede Komplett anzeigen

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