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Dark Night's Kiss

von

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32. Kapitel

Er stand im Aufzug, die Hände in den Taschen der dunkelgrauen Anzughose vergraben und den Blick aus den blauen Augen auf den Boden gerichtet.

Draußen regnete es, deshalb waren seine Schuhe und auch seine Socken nass geworden, aber das spürte er eigentlich nur, wenn er die Zehen in dem teuren Leder bewegte. Er hätte sich schon in Kanada ein neues Paar kaufen sollen. Was ihm aber erst jetzt wieder einfiel, da es zu spät war.


Mit immer noch gesenktem Kopf sah er zur Anzeige neben der Tür und straffte sich etwas, als die Zahlen derjenigen näher kamen, zu der er wollte. 
Seine Lippen zuckten von einer Seite zur anderen und verursachen damit ein kurzes, ihm wohl bekanntes Ziehen, das ihm wie das Einzige erschien, das ihm außer der Erinnerung anderer noch von sich selbst geblieben war.

Schon seltsam. Alte Narben.


Sobald er das richtige Stockwerk erreicht hatte, stieß er sich lässig von der hinteren Wand des Fahrstuhls ab, richtete sich gerade auf und verließ schließlich den Lift, um sich in einer Etage wiederzufinden, die ihn an einen brummenden Bienenstock erinnerte. Jeder Anwesende saß in seiner keinen Wabe, fleißig über seine Arbeit gebeugt und nur wenige hatten offensichtlich selbst dafür Zeit, den Neuankömmling kurz zu mustern, bevor ihnen wieder Besseres einfiel.


Seine Schuhe quietschten bereits leise, als er das Vorzimmer erreichte, in dem eine sehr schwangere Frau gerade in das Telefon zischte. 
Er lächelte charmant. Der Blick der Sekretärin hätte an seinen Augen hängen bleiben können. Stechend blau, von den Kontaktlinsen noch unterstütz, leuchteten sie jedem Menschen neugierig und auffällig unter dem schwarzen Haar hervor entgegen. Dorthin hätte es ihre Aufmerksamkeit ziehen können. Doch die Dame sah auf seinen Mund. 
Das taten sie alle.


"O'Leary. Ich habe einen Termin für... jetzt."


Nur zur eigenen Kontrolle sah er auf seine große, silberne Uhr, die ihn jedes Mal wieder freute, wenn er sie ansah. Ein teures Spielzeug, bei dem er mehr für die Marke, als für die wirkliche Machart bezahlt hatte. Aber wen kümmerte es. Sie hatte Rubine im Zahnradgehäuse, die man unter den Zeigern hervor leuchten sehen konnte. Und manchmal ging Eleganz doch wirklich über bloße Funktionalität.


Außerdem... sah es cool aus.


"Mr. Calmaro hat Zeit für Sie. Gehen Sie einfach durch. Möchten Sie vielleicht Kaffee?"


Es war nett, dass sie versuchte, ihre Neugier in Zaum zu halten und ihm jetzt doch eher in die Augen zu sehen.


"Danke. Kaffee wäre sehr nett."


Er ließ sich selbst ins Büro, nachdem er kurz angeklopft hatte.


Mr. Calmaro kam ihm ein Stück entgegen und betrachtete seinen Besucher mit einem Blick, der wenig Spielraum für Interpretation offen ließ. Die Männer brauchten sich über ihre "Abstammung" nicht weiter zu unterhalten. 
Wobei das ja gerade der Grund war, aus dem er hier nach einem Termin gefragt hatte.


"Guten Morgen."


Er streckte dem Rothaarigen die Hand hin.
 

Cayden ergriff ohne zu zögern die Hand, um sie mit einem angemessen kräftigen Händedruck zu schütteln, ehe er sich wieder zurück zog.

Er war überrascht und das, obwohl es nur wenige gab, die ihn überraschen konnten. O’Leary gehörte definitiv dazu.

„Setzen Sie sich doch bitte.“, sprach er die üblich höfliche Floskel aus, während sein Blick noch einmal kurz über den Mund des anderen Vampirs glitt, ehe er sich selbst wieder hinter seinen Schreibtisch setzte.

Narben. Etwas das für seine Rasse nicht allzu geläufig war, wenn man als Vampir gut auf sich achtete, aber durchaus im Bereich des Möglichen. Und die hier, sahen auch nicht nach einem Unfall aus. Dafür hatte er sie schon zu häufig gesehen. In … vergangenen Zeiten.

Die Frage, ob er hier wirklich einem Artgenossen gegenübersaß stellte sich gar nicht erst. Man erkannte Seinesgleichen immer sofort, während Menschen den Unterschied meist erst feststellten, wenn es zu spät war.

Der Geruch alleine wäre ein deutliches Zeichen. Wer nicht schwitzte, transpirierte auch nicht und obwohl auch Vampire einen Eigengeruch hatten, war er so schwach, dass man schon sehr nahe dran stehen musste, um ihn zu erkennen. Ein so leicht aufgetragenes Parfum oder Rasierwasser wie es ihre Nase gerade vertrug, würde niemals den Schweißgeruch eines Menschen vollständig überdecken. Zumindest war das ein Erkennungsmerkmal. Die Augen oder die Art der Bewegung waren andere.

„Was führt Sie hier her, Mr. O’Leary?“, fragte er immer noch höflich, ohne jedoch irgendeinen seiner Gedanken durchblicken zu lassen.

Überflüssig zu erwähnen, dass der andere bestimmt nicht für einen Werbevertrag hier war. Zumindest hielt Cayden das für sehr unwahrscheinlich.

Bevor sein Gegenüber jedoch sprechen konnte, kam Stella herein und brachte ihm Kaffee. Es verstand sich von selbst, dass sie warteten, bis sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte.

„Also?“
 

Es war ihm ganz Recht, dass die persönliche Assistentin von Mr. Calmaro so schnell mit dem Kaffee auftauchte. Nicht etwa, weil er das Koffein im Moment so nötig gehabt hätte, sondern weil er in dem kleinen Moment, in dem er nicht offen mit seinem Gegenüber sprechen konnte, zumindest die Chance bekam, sich etwas in dessen Büro umzusehen.

Auf den ersten, kurzen Eindruck fiel ihm nur eines ein: beeindruckend. Aber beeindruckend steril.


Er schenkte der netten Dame noch ein schmales Lächeln, bevor sie hinaus ging. Fünfter Monat? Vielleicht auch schon der sechste. Ein Grund mehr diesen weiteren Schreibtisch im Vorzimmer nicht zu lange unbesetzt zu lassen. Immerhin schien die zweite Frau, die für Mr. Calmaro arbeitete schon einige Tage nicht im Büro gewesen zu sein.


"Nennen Sie mich doch Adam. Da ich vermute, Ihr Nachname ist genauso falsch, wie meiner, wäre es Blödsinn, sie zu benutzen."


Abwartend sah er den Rothaarigen an, dessen Augenfarbe wohl im natürlichen Zustand grün sein musste. Natürlich war an seiner Mimik nicht zu erkennen, was er dachte. Diese Zurschaustellung von unbeweglichen Masken hatten sie alle bis zur Perfektion gefeilt. Aber bis jetzt roch der Andere nicht nach Abweisung oder Aggressivität. Er wirkte noch nicht einmal sonderlich überlegen, obwohl das hier sein Revier war.


"Ich werde gleich mit der Tür ins Haus fallen, wenn es Recht ist."


Er lehnte sich in dem Besucherstuhl zurück, gab allerdings seine gerade Haltung nicht auf, sondern wirkte fast so, als wolle im nächsten Moment jemand ein Photo von ihm schießen.


"Ich bin vorbei gekommen, um Sie zu fragen, ob wir uns kennen."
 

Cayden blieb sitzen, wie er war. Nicht zu gemütlich, aber auch nicht so, als würde er im nächsten Moment aufspringen, um irgendetwas zu tun. Einfach in stoischer Wachsamkeit, ohne so wirken zu wollen.

Dass ihre Namen alle falsch waren, stimmte zwar nicht hundertprozentig, aber in diesem Fall war es korrekt, weshalb er auch nichts weiter dazu sagte. Gerade wenn es um seine eigene Art ging, war Cayden äußerst vorsichtig, da er wusste, mit welchen Masken und anderen Täuschungen sie umzugehen wussten. Ebenso wie er wusste, dass sein Gegenüber genauso schnell körperliche Regungen abzulesen vermochte, wie er selbst.

Dennoch konnte er schon einmal sagen, dass es etwas ganz anderes war, diesem Adam gegenüberzusitzen, als zum Beispiel Tasken.

„Ich bin vorbei gekommen, um Sie zu fragen, ob wir uns kennen.“

Interessante Wortwahl. Ebenso aussagekräftig, wie nichtssagend. Der Vampir konnte alles Mögliche damit meinen. Von offenen, sehr lange zurückliegenden Rechnungen, die er begleichen wollte, obwohl Cayden sich nicht erinnerte, ihn schon einmal gesehen zu haben, bis hin zu etwas völlig anderem. Der Trick dabei war, seine Unsicherheit nicht zu zeigen, also gab Cayden seine Haltung doch etwas auf, in dem er sich zurücklehnte und auf eine Weise lächelte, die ebenso charmant, wie auch gefährlich war.

„Nein. Das Treffen eines 'Kollegen' wäre mir sicherlich nicht entfallen.“

Cayden stellte keine Fragen. Wenn man von ihm etwas wollte, musste man schon selbst damit kommen. In Vampirangelegenheiten hielt er sich gerne etwas zurück.
 

Ach, er hasste es, auf einen seiner Art zu treffen und erst einmal dieses ganze um einander herum schleichen absolvieren zu müssen. Jeder halbwegs intelligente und vor allem alte Vampir nahm zuerst einmal an, dass man ihm an die Gurgel springen und ihm das Herz rausbeißen wollte. Sicherlich war das ein Grund, warum diese Knacker so alt wurden, wie sie es nun einmal waren, aber Adam ging es auf die Nerven. Vor allem, weil er sich selbst oft dabei erwischte, wie er in solche Muster fiel, ohne zu wissen, woher sie kamen. Er nahm an, dass er auch recht alt war. Vielleicht ein paar hundert Jahre. Möglicherweise auch so alt, wie derjenige, der ihm gegenüber saß. Aber wenn er seinen Recherchen über Calmaro - oder wie immer er sich auch im Laufe der Jahre und Jahrhunderte nannte - glauben konnte, war das eher nicht der Fall.


Seine Nasenflügel zitterten kaum, als er versuchte, die Stimmung des Anderen zu erahnen, bevor sie in ein tosendes Gewitter umschlagen konnte. Calmaro wirkte ruhig und gelassen, aber seine Haltung hatte sich - genauso wie seine Mimik - ein klein bisschen verändert. Adam roch allerdings nichts, was ihn zu diesem Zeitpunkt beunruhigt hätte.


"Ich möchte Sie bitten, diese Antwort vielleicht noch einmal zu überdenken. Sollten Sie mich noch nie gesehen haben, ist das genauso in Ordnung, als wenn Sie einer ehemals offenen Fehde mit mir entgegen wollen. Ich bin nicht hier, um irgendwelche Schulden einzutreiben. Ich möchte nur..."


Es war ein Risiko, sich nach vorn zu lehnen. Adam wusste das. Trotzdem tat er es - langsam und mit den Augen nicht immer in scharfem Kontakt mit seinem Gegenüber. Er wollte ihn nicht angreifen. 
Immer schön die Ruhe bewahren.


"Ich möchte wirklich nur wissen, ob Sie mich kennen. Ob wir uns schon einmal begegnet sind oder ob Sie auch nur einmal in Ihrem Leben meinen Weg gekreuzt haben."


Seine Stimme war nur eine Spur eindringlicher geworden. Aber Adam besänftigte sein Gegenüber lieber mit einem dieser eigenartigen Lächeln, die bei ihm nie gerade geraten wollten.


"Selbst wenn ich einen Grund hätte, Ihnen Stunk zu machen. Oder wenn ich Ihnen irgendwann vor hundert Jahren auf den Schlips getreten bin."


Jetzt setzte er sich schneller auf und erntete für diese Ungehörigkeit ein Zucken ins Calmaros Augenwinkel.


"Ich weiß es nicht. Und das müssen Sie schon deswegen glauben, weil sonst niemand auf die bescheuerte Idee käme, mit so einer albernen Geschichte zu Ihnen zu kommen."
 

Mit der gelassenen Eleganz eines Raubtieres, das sich seiner Überlegenheit in seinem Revier sicher war, blieb Cayden still sitzen, horchte Adams Ausführungen aufmerksam zu, während er weder zustimmend nickte, noch sonst irgendein Zeichen von Regung gab. Er behielt ihn lediglich im Auge.

„Im Gegensatz zu anderen unserer Art, die gerne offene Rechnungen pflegen, anstatt sie zu begleichen, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich mit Ihnen keine besitze, da ich sie allgemein abzuschließen versuche, sobald sie entstehen. Sie können sich also sicher sein, wenn ich mit Ihnen noch eine offene Rechnung hätte, wüsste ich davon und das tue ich nicht. Ich habe bisher auch noch nie von einem Adam O’Leary gehört, was aber nicht verwundern dürfte. Solche Namen nutzen sich schnell im Laufe weniger Jahre ab.“

Cayden setzte absichtlich eine eindeutig nachdenkliche Miene auf. Er spürte einfach, dass von dem anderen keine Gefahr aus ging. Schließlich wurde man im Laufe der Zeit nicht nur ein guter Menschenkenner, sondern konnte auch den ein oder anderen Vampir schneller durchschauen. Und selbst wenn er sich irren sollte, er blieb trotzdem immer vorsichtig im Umgang mit seinesgleichen. Unter Vampiren musste man sich Vertrauen erst verdienen.

„Was Ihre alberne Geschichte angeht, macht sie mich neugierig. Ich frage mich, warum Sie hier her kommen und mich fragen, ob ich Sie kenne, obwohl Sie es doch selber wissen müssten. Zumindest hätte ich bis heute noch von keinem unserer Art gehört, der an Alzheimer gelitten hätte. Oder handelt es sich hierbei um eine Form von Amnesie?“
 

Diesmal verzog Adam keine Miene. Er rührte sich keinen Millimeter, während er sein Gegenüber betrachtete und ein bisschen mit der Spannung spielte, die sich zwischen ihnen aufbauen konnte. Aber irgendwie tat sie es nicht. Entweder hatte Calmaro etwas in der Hinterhand oder Adam war es gelungen, auf einen Mann zu treffen, der zumindest seinen eigenen Intuitionen in Sachen "Menschen"kenntnis folgte, anstatt immer vom Schlechtesten in neuen Bekannten auszugehen. Damit wäre er speziell - und für Adam in soweit interessant, dass Calmaro ihm vielleicht andere Kontakte verraten konnte, wenn er selbst die Wahrheit sagte.


Mit einem Seufzen - da er genau von Letzterem ausging - fuhr er sich durch die kurzen, dunklen Haare und lächelte dann leicht bitter, bevor er anfing zu erklären.


"Nein. Kein Alzheimer. Das wäre mir in den 65 Jahren, die ich nun schon unterwegs bin, wohl nicht entgangen."


Zumal man in Zeiten von Internet und Google, das ihn immer wieder aufs Neue faszinierte, ja locker eine passende Eigendiagnose erstellen konnte.


"1945 bin ich in der Schweiz, in einem kleinen Wäldchen, zu mir gekommen. Mit einem unglaublichen Durst, was ich zuerst für mein Pech hielt. Aber so bin ich zumindest sehr schnell hinter meine Natur gekommen."


Und das war weniger grausam gewesen, als manch Anderes, das er auf seiner anschließenden Reise durch Europa hatte miterleben müssen.


"Tja. Und wie sie schon sagten."


Er tippte sich an die Schläfe.


"Nichts. Absolute Leere. Vor diesem Tag 1945 kann ich nichts von meiner Vergangenheit fassen. Ich kann mich nicht erinnern. Und deshalb... besuche ich diejenigen, die sich vielleicht an mich erinnern können."
 

„Ein sehr riskantes Vorhaben, wenn Sie mich fragen. Es könnte Sie schnell einen Kopf kürzer machen, wenn Sie einfach so bei anderen unserer Art aufkreuzen.“

Aber das war nur eine Spekulation und musste nicht unbedingt immer gleich der Wahrheit entsprechen. Aber wenn Adam zum Beispiel bei Tasken aufgekreuzt wäre, würde er sich garantiert schon bald wünschen, lieber unwissend gewesen zu sein. Der Kerl hatte so seine Methoden einem in den Wahnsinn zu treiben und dabei musste er dafür nicht einmal unbedingt Gewalt anwenden.

„Ich kann Ihnen allerdings auch nicht weiterhelfen. Ich hege nur wenige Kontakte zu anderen von uns und werde diese nicht einfach an eine mir völlig fremde Person weiterleiten. Und unter uns gesagt…“

Nun war Cayden es, der sich nach vor lehnte und die Augen des Vampirs fixierte.

„…warum machen Sie sich die Mühe nach Ihrer Vergangenheit zu forschen? Sie wären überrascht, wie viele sich von uns häufig wünschen, sie könnten einfach mal so ihr ganzes Leben auslöschen und von vorne beginnen. Warum in der Vergangenheit bohren, wenn es doch vielleicht nur Schmerzliches zu Tage fördern könnte?“

Cayden richtete sich wieder auf und fuhr in einem weitaus unpersönlicherem Tonfall fort: „Wie dem auch sei, ich kann Ihnen nicht weiter helfen. Dennoch…“

Aus einem ihm unerfindlichen Grund musste er den anderen jedoch warnen, alles andere wäre einfach gegen jeden Gerechtigkeitssinn, der in ihm steckte und der war durchaus ziemlich groß.

„Halten Sie sich am besten von Calvin Tasken fern. Er könnte Ihnen zwar helfen, herauszufinden, wie alt Sie wirklich sind, aber glauben Sie mir, den Handel wollen Sie nicht eingehen. Der Preis würde den Gewinn niemals rechtfertigen.“
 

Adams dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen, doch ansonsten konnte man in seinem Gesicht kaum etwas lesen.


"Haben Sie sich schon einmal überlegt, wer Sie wären, ohne Ihre Vergangenheit? Welche Menschen und welche von uns sie einfach aus ihrem Kopf und ihrem Herzen radieren würden, wenn sie diese Jahrhunderte einfach aufgeben würden?"


Diesmal schwang deutlich Wut in Adams dennoch fester Stimme mit.


"Und dann ist es immer noch ein Unterschied, ob man sich selbst dazu entscheidet. Ich denke, ich wäre klug genug gewesen, meinem jetzigen Ich zukommen zu lassen, dass es besser war, sich selbst aufzugeben."


Als er sich in dem Stuhl nach hinten in die Polster drückte, die Arme auf den Lehnen ausgestreckt, umlief ein ziehendes Kribbeln seinen Mund. Es ließ ihn wieder ruhiger werden.


"Sie mögen Recht haben. Vielleicht wäre es besser, die Suche aufzugeben. Aber ganz ehrlich..."


Er grinste schief.


"Bei dem, was ich bis jetzt herausgefunden habe, würde ich zumindest sagen, dass ich ein guter Kerl bin."


Wieder erschien das Grübeln auf seinen Zügen und er zog die Arme zu einer gemütlicheren Haltung an seinen Bauch.


"Von diesem Tasken habe ich gehört. Er soll sich ein bisschen wie der wahnsinnige Professor aufführen, wenn man den Geschichten glauben darf. Stimmt es denn, dass er einen Supervampir erschaffen will?"


Was sich in gewisser Weise interessant anhörte. Wenn man denn einen funktionierenden Verstand hatte und solche Sachen damit nicht ernst nehmen konnte.
 

Diese Ansicht konnte auch nur jemand vertreten, der keine Ahnung hatte, wie es war, an vielen Leben teilgenommen zu haben, die nun nur noch Erinnerung waren. Doch darüber ließ sich bekanntlich streiten und dafür hatte Cayden heute wirklich keine Zeit. Nicht, wenn er es zumindest heute Abend noch fertig bringen wollte, mit Emma zu telefonieren.

Als er an sie dachte, erfüllte ein sehnsüchtiges Ziehen ihn und lenkte ihn einen Moment von seiner Aufmerksamkeit ab, doch Tasken war wie immer genau das richtige, um sofort in den Alarmbereitschaftsmodus zu wechseln.

„Was auch immer er vor hat, seine Taten sind nicht heroisch, so wie er es gerne andere glauben machen will. Es mag ja sein, dass unsere Rasse ihre Probleme damit hat, den Erdball so sehr zu übervölkern wie die Menschen, aber das rechtfertigt sein Vorgehen keinesfalls. Ich auf jeden Fall, meide ihn so gut es geht und Sie sollten das auch in Erwägung ziehen. Wenn das dann alles wäre… Ich habe noch zu tun.“

Es war kein unhöfliches Hinauswerfen, sondern entsprach viel mehr der Wahrheit. Sie hatten schon lange genug gequatscht für einen Termin, der eigentlich absolut nichts mit dem Geschäft zu tun hatte.

„Wenn Sie sonst noch etwas wollen, machen Sie einen neuen Termin.“
 

***
 

Der Tag wollte und wollte einfach nicht vorüber gehen. Oder besser gesagt, der Tag neigte sich rasant dem Ende zu, ohne dass die Arbeit aufhören wollte. Obwohl Cayden immer genervter wurde und bereits ständig auf die Uhr schaute, wenn seine Klienten nicht hinsahen, war es inzwischen ziemlich spät, als er endlich seine Schuhe auszog, seine Krawatte auf dem Weg zum Wohnzimmer lockerte und sich schließlich mit seinem Handy auf die Couch warf.

Er atmete einmal tief durch, um den ganzen Stress so gut wie möglich von sich abfallen zu lassen, doch es wurde zunehmend schwieriger, die Kopfschmerzen zu ignorieren und auch der immer größer werdende Durst.

Nächste Woche erst kam Vanessa von ihrer Shootingreise durch ganz Europa zurück, bis dorthin würde er ganz schön hart am Limit vor sich herum brüten, nun, da er niemanden mehr hatte, zu dem er ausweichen konnte. Natürlich könnte er auch einfach auf die Straße gehen und sich wie schon so oft in früheren Zeiten an vorbeigehenden Passanten laben, aber das war noch nie sein Stil gewesen, außerdem war das Risiko zu groß, aufgedeckt zu werden. Er würde es nur im absoluten Notfall in Betracht ziehen.

Um sich von seinem Blutdurst abzulenken, drückte er schließlich die Kurzwahltaste, um Emma anzurufen. Es war zwar schon spät, aber vielleicht hatte er Glück und sie war noch wach. Er musste unbedingt ihre Stimme hören.
 

Der Zettel sah aus, als hätte ein Kleinkind einen Kugelschreiber in die Hand bekommen und damit eine eigene Welt auf Papier erschaffen wollen. Ganz oben stand fein säuberlich auf der linken Seite 'pro' und auf der rechten Seite 'kontra'. Getrennt durch einen ordentlichen Strich, neben dem sich mehrere Punkte zuerst recht ordentlich getummelt hatten. Bis der erste Punkt sich umentschieden hatte und einem kleinen Pfeil auf die gegenüberliegende Seite der Tabelle gefolgt war. Ein Zweiter hatte es ihm gleich getan. Bloß um dann doch an seine ursprüngliche Position zu hüpfen und dort sehr vehement durchgestrichen zu werden. Dieses Schicksal hatte viele der Gedanken ereilt, die Emma auf das karierte Papier gebracht hatte. Aufgeschrieben, verschoben, durchgestrichen. Sie fühlte sich inzwischen nicht besser als bevor sie die Liste begonnen hatte und außerdem war sie noch unsicherer, was ihre eigene Meinung zu ihrer Schwangerschaft anging.


Skeptisch lugte sie auf ihren Bauch, an dem noch überhaupt nichts abzulesen war und stellte sich kurz vor, wie es in ein paar Monaten aussehen würde. Wie es sein würde, wenn sie wirklich-


Das Summen des Handys ließ sie zusammen zucken und Emma griff so schnell nach dem Telefon, dass sie gar nicht nachsehen konnte, wer eigentlich anrief. Sie erwartete sowieso nur einen Anruf und als sich auch noch die Wärme vermittelnde Stimme meldete, schob Emma ihre Notizen einfach von sich und ließ sich gemütlicher in den Sessel sinken.


"Hi Du. Wie geht's dir?"


Sie musste auf die Uhr sehen, um festzustellen, dass nicht etwa Cayden früh dran, sondern sie schon ziemlich lange wach war. Und zwar ohne es wirklich mitbekommen zu haben. Sie wünschte bloß, es hätte irgendetwas gebracht.
 

„Hervorragend – sobald du wieder hier bist. Jetzt … ganz gut.“

Aber auch nur, weil er endlich ihre Stimme hören konnte, ansonsten hätte er eher auf mies bis noch weiter nach unten tendiert. Da Cayden jedoch gelernt hatte, dass es meistens nichts brachte, wenn man Schwäche zeigte, tat er es auch nicht. Stattdessen legte er die Füße auf den Couchtisch und ließ sich noch tiefer in die Kissen zurück sinken. Gott, er war so fertig und müde.

Normalerweise war er zu dieser Zeit noch putzmunter und zu jeder Schandtat bereit, aber im Augenblick wollte er nur drei Sachen. Mit Emma reden, danach – und hierbei war es egal, wie lange das Gespräch dauerte – duschen und dann ins Bett. Am besten gleich so lange, dass er den ganzen nächsten Tag verschlief und erst aufstand, wenn Emma kurz davor war, wieder hier zu sein. Er konnte diesen Augenblick kaum erwarten und das freudige Kribbeln puschte ihn dann doch wieder so weit auf, dass man seine Erschöpfung nicht in der Stimme mitschwingen hören konnte.

„Und wie geht’s dir? Wie war dein Tag?“
 

Emma schmunzelte und schob sich ein paar Haarsträhnen hinters Ohr.

"Morgen komme ich ja schon wieder. Nachmittags."

Sie wollte jetzt keine Uhrzeit nennen, weil sich das vielleicht so angehört hätte, als erwarte sie von Cayden, dass er dann Zeit für sie hatte. Emma hoffte schon sehnlichst darauf, dass sie abends ein paar Stunden mit ihm verbringen konnte. Auch noch den Nachmittag einzuplanen, dafür war sie dann doch zu realistisch. Zwischen hoffen und wissen war manchmal einfach ein himmelweiter Unterschied.


"Ich werde dann erstmal die Wäsche waschen, mich von der Fahrt auf der Fähre erholen und... sowas alles."


Ihr Schmunzeln wurde breiter und wandelte sich zu einem Lächeln, als Emma auffiel, dass sie gar nicht auf seine Frage geantwortet hatte.


"Mein Tag war..."

Nicht gerade erfolgreich.

"Ereignislos. Naja, wobei. Meine Mom und ich waren Kaffee trinken. Wir haben uns ein paar Gedanken über Weihnachten gemacht, weil wir gerade in der Stimmung waren. Irre, oder? Das ist noch sooo lange hin. Aber ich mag Weihnachten. Du auch oder bist du eher ein Weihnachtsmuffel?"
 

Schon wieder?

Die Frau hatte vielleicht Nerven! Als wäre Emma nur mal schnell einen Tag weggewesen und nicht eine ganze Woche lang. Aber vielleicht war das auch einfach nur albern von ihm, weshalb Cayden nichts dazu sagte. Ebensowenig wie zu den Aktivitäten, die sie noch machen wollte, bis er endlich im Büro fertig war. Und wann das sein würde, war bei der derzeitigen Auftragslage wirklich fraglich. Selbst an einem Freitag.

Wieder einmal, wollte Cayden einfach einmal alles hinschmeißen und wenn es nur für einen Tag wäre. Doch als Kopf eines ganzen Unternehmens, ging das nicht einfach, noch dazu, da er selbst darauf bestanden hatte, nur so viele der Arbeiten abzugeben, wie er eben doch nicht mehr bewältigen konnte. Vielleicht sollte er wirklich ein paar Leute mehr einstellen, die ihn unterstützten und somit für mehr frische Luft sorgten. Aber selbst wenn, würde das auch wieder dauern und noch mehr Stress mit den Einschulungen bedeuten.

Aber wer hätte auch ahnen können, dass es ihn so … erwischte…

Es war, als würde die Erde plötzlich still stehen, als Cayden sich etwas ganz deutlich bewusst wurde. Etwas, das er vielleicht vorher schon geahnt, aber über das er noch nicht genauer nachgedacht hatte.

Emmas Frage, bezüglich Weihnachten bekam er daher nur mit halben Ohr mit und er brauchte auch einen Moment, bis er wieder seine Fassung zurück gewann.

„Ich … feiere kein Weihnachten.“, war seine etwas seichte Antwort.

„Zumindest habe ich bis jetzt keinen Anlass dazu gesehen. Meistens ist sehr viel los, was Weihnachtsalben und -konzerte angeht.“
 

Emma holte einmal tief und halb entsetzt Luft, fasste sich theatralisch an die Brust und legte dann all ihre Emotionen in das geflüsterte "Cayden!", das ihr einfach nicht weniger dramatisch über die Lippen kommen wollte.

"Du hast keinen Anlass dazu gesehen? Mein Lieber, wenn es soweit ist, wirst du dir mit mir so oft sämtliche Versionen von "A Christmas Carol" von Dickens ansehen, dass du gar nicht mehr anders kannst, als in absolute Höhenflüge von Weihnachtsstimmung zu verfallen."


Sie setzte eine ernste Miene auf, die er natürlich nicht sehen konnte.


"Und keine Widerrede. Wenn es nur an der Arbeit und nichts weiter liegt, ist das keine Ausrede. Weihnachten ist... zu kitschig und wunderschön, um es an sich vorbei gehen zu lassen."
 

„Okay.“

Das war alles, was Cayden dazu sagen konnte. Denn es ließ sich schwer beschreiben, ein Fest nicht feiern zu wollen, weil es einem einfach absolut absonderlich vor kam, den Geburtstag eines Mannes zu feiern, der nur ein paar Jahre älter als man selbst und noch dazu bereits seit Ewigkeiten tot war. Zumindest war es nichts, was er Emma so einfach am Telefon erzählen könnte. Aber da sie sowieso entschlossen genug klang, um ihn in absolute Weihnachtsstimmung bringen zu können, wäre das auch vergebene Müh. Zudem würde er gerne mit ihr feiern, denn es bedeutete, dass sie noch zu Weihnachten zusammen sein würden.

Meistens dachte er für sein Privatleben nicht so weit im Voraus, aber bei Emma hoffte er es inständig und, dass es bis dorthin vielleicht keine Geheimnisse gab, die jetzt noch zwischen ihnen standen. Aber sich zu offenbaren verminderte die Chance auf ein gemeinsames Weihnachten.

Cayden würde darüber noch gründlich nachdenken müssen.

Doch vorerst telefonierte er lieber weiter mit Emma, bis ihm selbst schon die Augen zuzufallen drohten und er in seinen Klamotten beinahe mit ihrer Stimme am Ohr einschlief. Spätestens das war für ihn der Zeitpunkt, Gute Nacht zu sagen und ins Bett zu verschwinden.

Immerhin, je eher er ging, desto schneller würde er sie leibhaftig wieder sehen.



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