Die magische Scheibe
Voller Verwunderung schaute er in die Truhe hinein. Zwischen hellblauen Samtkissen gebettet lag eine seltsam anmutende, runde Scheibe. Rufus beugte sich ein wenig weiter nach vorn, um sie sich näher besehen zu können. Dabei stützte er die Hände auf dem Rand der Truhe ab und seine Finger berührten den kühlen, aber doch weichen Stoff.
Die Schreibe war reichlich verziert. Er hatte das Gefühl als könne er ein Muster darin erkennen. Der Untergrund der Schreibe war ein strahlendes Königsblau. Etwas weiter links auf der Schreibe fand sich ein perfekter, runder Kreis, aus glänzendem Gold. Er bestand aus vier Teilen. Die ersten drei sahen aus wie Ringe, in die Zahlen eingraviert waren. Auf jeden der Ringe erkannte er die Zahlen Null bis Neun. Das vierte Teil war eine weitere kleine Scheibe, deren Rand ebenfalls mit den Zahlen versehen waren.
Unter dem goldenen Kreis befand sich ein länglicher Strich, der sich fast wie der lächelnde Mund eines Strichmännchens von links nach rechts zog. Auch er bestand aus purem Gold. Am Ende des Striches auf der rechten Seite war darüber ein halber Mond, dessen offene Seite nach links zeigte, zur Sonne, wie Rufus unweigerlich dachte. Zwischen all diesen drei Dingen waren golden Punkte angebracht. Wenn es eine Sonne und einen Mond gab, so waren das sicherlich die Sterne, dachte Rufus.
Er konnte nicht sagen warum, aber das Gebilde faszinierte ihn ungemein. Fast wie ein lachendes Gesicht sah es ihn an und lud ihn ein es zu berühren. Zaghaft streckte Rufus eine Hand aus. Seine Finger zitterten und er wusste, dass sich sein Leben für immer ändern würde, würde er diese Schreibe berühren. Kurz zögerte er noch, ballte seine ausgestreckte Hand zur Faust und haderte mit sich. Doch was hatte er zu verlieren? Es gab nur noch seinen Stiefvater, sonst niemanden. Er gab sich selbst einen Ruck und berührte die Schreibe. Ein Pulsieren schoss durch seinen Arm und vor Schreck stolperte rückwärts, fiel über seine eigene Beine und landete mit dem Hintern auf dem harten Dielenboden. Starr und mit schnellem Atem saß er da und lauschte in die Umgebung. Er befürchtete seinen Vater geweckt zu haben. Doch als nach einigen Minuten nichts geschah, wagte er sich wieder zu der Truhe, zu der runden Schreibe. Sie lag noch immer so da, wie er sie vor wenigen Augenblicken gesehen hatte und doch kam sie ihm verändert vor. Jetzt war es ihm als würde sie geradezu nach ihm rufen. Leise konnte er seinen Namen wispern hören. Eine sanfte, doch alte Stimme rief ihn in einer Sprache, die ihm nicht bekannt sein sollte, die er aber trotzdem verstand.
Mit zitternden Händen umfasste er die Schreibe und hob sie aus ihrem samtenen Gefängnis. Sie hatte ungefähr einen Durchmesser von 20 cm und fühlte sich wieder besonders schwer noch besonders leicht an. Wieder spürte Rufus das Pulsieren, doch dieses Mal schreckte es ihn nicht mehr, sondern gab ihm ein vertrautes, warmes Gefühl. Er bemerkte, dass die Ränder abgegriffen waren, als wäre die Scheibe schon Jahre oder gar Jahrhunderte alt.
Rufus Finger fuhren sacht über die Sonne, so wie den Kreis nun nannte. Er zeichnete mit der Fingerspitze erst den äußeren Ring nach, dann den nächsten, dann den dritten und zum Schluss über den letzten runden Teil. Was mochten die Zahlen bedeuten?, fragte er sich. Wieder fuhr er über den äußeren Ring und dieses Mal übte er ein wenig mehr Druck aus. Der Ring gab unter seinen Fingern kurz nach, kehrte dann aber in seine Ausgangsposition zurück. Also legte er Daumen und Zeigefinger gleichzeitig an und versuchte es noch einmal. Dieses Mal gelang es ihm den Ring zu drehen. Doch wohin sollte er ihn drehen? Er vollführte fast eine volle Umdrehung entschied sich dann aber dazu es so zu drehen, dass die eins direkt über dem Strich lag. Er versuchte es ebenso bei den anderen drei Teilen und dort gelang es ihm auch ohne Mühe. Er verstellte sie so, dass die Zahlen eins, acht, fünf und sechs in einer gerade Reihe lagen, direkt über der linken Seite des Halbkreises. Ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Wenn er es so sah, konnte es fast eine Jahreszahl sein und dann war es sein Geburtsjahr.
Doch kaum hatte er dies gedacht, wurden die Schreibe noch wärmer, ja fast heißt. Rufus wollte sie loslassen, aber irgendetwas brachte ihn dazu weiterhin daran festzuhalten. Plötzlich begann die Sonne hell zu erleuchten, darauf folgten der Strich darunter und anschließend der Mond. Es war ein so helles Licht, dass Rufus den Kopf wegdreht und die Augen schloss. Dennoch öffnete er ein Auge wieder und sah wie auch noch die Sterne hell zu strahlen begannen.