Zum Inhalt der Seite

Tales of Agony

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Mukuro I: Sacrifice

Modica, Italien

Montag. 29. September 2014. 05:23 Uhr
 

So war es nicht geplant gewesen.
 

Die schrillen Alarmsirenen des Vendicare-Gefängnisses drangen durch den dichten Nebel und ließen Mukuro kaum die Worte von Ken und Chikusa verstehen, die sich anscheinend trotz allem natürlich gerade jetzt streiten mussten. Die beiden stützten ihn, denn nach Jahren in einer unterirdischen Hochsicherheitszelle des Vendicare ließen ihn seine Muskeln im Stich.

Der Kleine – Mukuro hatte den Namen seines Lehrlings schon wieder vergessen – war irgendwo vor ihnen, im Nebel kaum noch auszumachen. Chrome war hinter ihnen.

Mukuro drehte sich mehrmals um, konnte sie jedoch nicht mehr ausmachen. Und das erste Mal in seinem Leben verfluchte er diesen verdammten Nebel.

Lauft, hatte sie gesagt und war mit einer ungewohnten Entschlossenheit in dem blassen Gesicht stehen geblieben. Ich halte sie auf.

Mukuro hatte nicht laufen wollen. Oder können. Chrome war stark, sie hatte in den vergangenen Jahren viel dazugelernt, aber sie war noch lange nicht so weit, es mit den Wärtern des Vendicare aufzunehmen. Und sie würde es auch nie sein.

Ken und Chikusa waren panisch. Sie bemühten sich, die Fassung zu bewahren; immerhin hatten sie alle den Ausbruch über Monate hinweg geplant. Dass Mukuro den Kleinen dafür einspannen konnte, hatte er als Chance gesehen.

Aber er hatte sich verschätzt. Und jetzt blieb Chrome zurück, um sie alleine zu bekämpfen und Mukuro wusste, was das bedeutete. Er hatte es gewusst, als er damals zurückgeblieben war, damit Ken und Chikusa flüchten konnten. Und genauso wusste Chrome es auch. Und dennoch blieb sie. Dieses einfältige Mädchen. Sie blieb, obwohl sie wusste-

„Argh!“ Ken schrie auf und ging zu Boden. Einer der Vendicare hatte ihn erwischt. Mukuro, dessen linke Seite jetzt nicht mehr gestützt wurde, sank auf ein Knie und sah sich um. Ken lag im taunassen Gras und hielt sich die Seite, keuchend vor Schmerz.

Chrome blieb hinter der dichten Nebelwand hinter ihnen verschwunden.

Chikusa versuchte Mukuro wieder auf die Beine zu hieven, doch mit wenig Erfolg. „Ken, steh wieder auf“, rief er ungewohnt forsch zu seinem Freund herüber. „Wir müssen hier weg! Ken!“

Aber Blut quoll aus einer Wunde in Kens Seite und ließ ihn von Sekunde zu Sekunde schwächer werden.

Mukuros Augen huschten von Ken zu Chikusa, dann wieder zu Ken, hinter dem eine hochgewachsene vermummte Gestalt gemächlich auf sie zuschlenderte, dann drehte er den Kopf, um nach hinten zu sehen – noch immer keine Spur von Chrome. Und der Nebel schien noch dichter zu werden.

Das war's dann, dachte Mukuro und lächelte matt, die Augen halb geschlossen. Er konnte nicht mehr. Er hatte seine folgsamen kleinen Anhängsel für nichts und wieder nichts in den Tod geführt. Sein Kopf wurde schwer und er senkte den Blick. Die Erde und das Gras unter ihm waren feucht vom morgendlichen Tau. Vielleicht würde das das Letzte sein, was er in den nächsten fünfzig Jahren zu sehen bekam. Gar nicht mal so schlecht, dachte er resigniert.

Die Dramatik wurde dann jedoch jäh von einer monotonen Stimme unterbrochen. „Hast du was verloren oder warum starrst du auf den Boden, Meister? Wenn du betest, lass dich nicht stören.“

Ein reißendes Geräusch war zu hören und Blut spritzte. Mukuro hob den Kopf gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Vendicare, der hinter Ken gewesen war, in hohem Bogen nach hinten flog und dabei die Hälfte seiner Innereien verlor. Offenbar war er von oben bis unten aufgeschlitzt worden.

„Ich habe nicht gebetet“, erklärte Mukuro dem grünhaarigen Jungen sachlich und nutzte all seine verbliebene Muskelkraft dazu, ihm ein Steinchen an den Kopf zu werfen. Fran trug derzeit noch keinen Froschhut, weil er kein Mitglied der Varia war.

„Aua“, kommentierte Fran unberührt die grausame Rache seines Meisters. „Das ist nicht nett, Meister. Jedenfalls sollten wir jetzt vielleicht mal gehen. Mit einzelnen Wärtern werde ich fertig, aber wenn die gleich alle auf einmal auftauchen, wäre das ein bisschen unpraktisch.“

Ken hatte sich inzwischen wieder einigermaßen aufgerichtet, auch wenn der Blutfleck auf seiner Kleidung immer größer wurde.

„J-Ja, wir sollten gehen“, stimmte er zu und biss vor Schmerzen die Zähne zusammen, als er in die Knie ging, um Mukuro wieder aufzuhelfen. Dieser sah sich nur abermals um.

„Was ist mit Chrome, Kleiner?“

„Mein Name ist Fran, nicht Kleiner. Und ich weiß es nicht.“

Sie konnten nicht warten. Mukuro wusste es, aber dennoch war er drauf und dran, selbst zurück zu gehen, um sie zu holen. Er wollte nicht zulassen, dass seinem Lieblingsspielzeug etwas passierte. Denn mehr war sie nicht. Das sagte er sich immer wieder. Mehr war sie nicht.

Ken und Chikusa drängten ihn jetzt, weiter zu gehen. Sie mussten sich beeilen, denn die Wärter kamen jetzt schnell näher und es wurden immer mehr. Der Nebel bot Mukuro und den anderen Schutz, doch nahm er ihnen gleichzeitig die Möglichkeit, abzuschätzen, wie weit ihre Verfolger noch von ihnen entfernt waren. Oder wie weit sie noch gehen mussten, bis sie den Wald am Rande des riesigen Geländes des Vendicare erreicht hatten.

Mentale Kontaktaufnahme mit Chrome war fast unmöglich. Mukuro war so schwach, dass er sich selbst kaum noch bei Besinnung halten konnte. Dennoch bekam er zumindest etwas davon mit, was sie getan hatte; und es gefiel ihm gar nicht.

„Gleich da vorne fängt der Wald an“, verkündete Fran und klang wie ein deprimierter Reiseführer.

Mukuro hörte kaum hin. Chrome hatte sich mithilfe ihrer Illusionen in sein Äußeres gehüllt. Offenbar wollte sie sich als Mukuro einsperren lassen, damit man ihn nicht länger verfolgte. Dummes Mädchen, dachte er und spürte zum ersten Mal seit Langem einen Anflug von Wut in sich aufkeimen. Du willst dich doch nicht wirklich einsperren lassen. Das kann nicht...

Sie hatten den Wald erreicht, das bekam Mukuro noch mit. Doch dann blendete er die Realität fast gänzlich aus. Seine Gedanken waren bei Chrome, die alles gab, die offenbar ihre letzten Kräfte einsetzte, um ihre Mukuro-Illusion aufrecht zu erhalten, anstatt zu flüchten.

Er konnte es nur von Weitem mitverfolgen und auf ihn wirkte es wie ein entferntes Echo. Sie hatten sie eingekreist.

Chrome ging in die Knie, immer noch in Gestalt von Mukuro.

Chikusas Stimme überdeckte kurz das Geschehen. „Ich glaube, er ist ohnmächtig.“ Mukuro konzentrierte sich auf Chrome. Lös sie auf, rief er ihr in Gedanken zu, doch er war nicht sicher, ob sie ihn hören konnte. Lös die Illusion auf! Chrome. Lös sie auf. Nagi! Die Wärter kamen auf sie zu, doch sie zeigte keine Angst. Sie ließ sein Gesicht überlegen lächeln. Es reicht, Nagi. Sie lachte ein leises 'Kufufufu'. Lös sie auf! „Könnt ihr ihn tragen?“, fragte Fran eher beiläufig. „Obwohl – die scheinen uns gar nicht mehr zu folgen. Vielleicht haben sie jetzt Schichtwechsel oder so.“ Lös sie auf! 'Mukuro Rokudo, wir werden deinem Leben jetzt ein Ende setzen', verkündete die eisige Stimme eines Vermummten. 'Hast du irgendwelche letzten Worte?' Chrome kniete vor ihm, keuchte erschöpft und ließ das Gesicht Mukuros abermals lächeln. LÖS SIE AUF! 'Kufufufu, ja.' Ihr Blick wurde kalt. 'Fahrt zur Hölle.'

Und Mukuro sah, sah mit Chromes Augen, wie der vermummte Wärter des Vendicare auf sie zuging und er hörte ihre Stimme in seinem Kopf.

Es tut mir leid, Mukuro.

Bitte verzeih mir.

Und alles wurde dunkel.

Squalo I: Infection

Monreale, Sizilien, Italien

Freitag. 10. Oktober 2014. 15:54 Uhr
 

Squalo hatte einen Filmriss.
 

Das war definitiv nicht normal, dachte er sich, denn so etwas war ihm noch nie passiert. Er war auf einer Mission unterwegs gewesen, hatte irgendjemanden getötet – jedenfalls ging er davon aus, denn sein Schwert war voller Blut –, aber wie genau er dies vollbracht hatte, ob es einen Kampf gegeben hatte, ob es leicht oder anstrengend gewesen war, konnte er nicht sagen.

Er erinnerte sich schlichtweg nicht mehr daran. Von dem Zeitpunkt an, da er das Anwesen verlassen hatte, bis hin zu dem Moment vor gut fünf Minuten, als er wieder in der großen Eingangshalle der Varia-Residenz stand, war alles weg.

Wahrscheinlich bin ich einfach übermüdet, sagte er sich in Gedanken, zog seine Schuhe aus und warf sie achtlos in die Ecke. Irgendein Hausmädchen würde sie schon wegräumen.

Das war einfach nicht seine Woche.
 

Erst am Montag war Fran überraschend in dem Anwesen aufgetaucht. Fran, den er bisher nur aus 'Erinnerungen an eine mögliche Zukunft', wie Belphegor es genannt hatte, kannte. Dieser dreiste, grünhaarige Junge, der ohne den Froschhut überraschend klein wirkte, hatte einfach plötzlich während des Mittagessens vor ihrer Tür gestanden und geklingelt wie ein Pfadfinder, der Kekse verkaufen wollte.

Freilich trauten sich Pfadfinder schon lange nicht mehr in diese Gegend, wo laut Gerüchten, die in der Stadt herumgingen, Verrückte hausten.

Lussuria war zur Tür getänzelt und hatte sie mit einem verzückten Ausruf geöffnet. „Aber das ist doch nicht etwa Fran?“

„Und ich hatte gehofft, dass wir in dieser Zukunft von ihm verschont bleiben“, hatte Leviathan gemurmelt, während Squalo sich in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte, um durch den Flur zur Tür sehen zu können. „VOOOI, Lussuria! Mach die Tür zu, bevor das nervige Balg reinkommt und-“

„Charmant wie immer“, bemerkte Fran, der ohne Aufforderung das Haus betrat und den Flur durchquerte. „Sehr sympathisch, Kommandant. Sehr sympathisch.“ Drei Messer flogen knapp über seinen Haarschopf hinweg. Fran zuckte nicht einmal mit der Wimper.

„Ich trage keinen Hut, in dem die Messer steckenbleiben könnten, dummer Prinz.“

Belphegor, der beim Essen die Hälfte seiner Pasta auf der Tischdecke verteilt hatte, lachte leise. „Shishishi, dann setz' einen auf. Sonst ziele ich das nächste Mal direkt auf deinen Kopf.“

„Immer diese überschwängliche Wiedersehensfreude“, bemerkte Fran trocken, als sich Lussuria wieder hinsetzte und Levi ihm weiterhin Todesblicke zuwarf.

Gerade holte der Älteste der Varia Luft, wahrscheinlich, um Fran zum Essen einzuladen, als Squalo die Stimme erhob. „VOI, Scheiß auf deine dämliche Wiedersehensfreude! Was willst du hier?!“

Xanxus – ja, der saß auch am Tisch – ließ sich derweil nicht stören und aß ruhig seine Pasta weiter. Xanxus liebte Pasta. Fast so sehr wie Whisky. Allerdings ließ Squalos Stimme etwas in seinem Gesicht zucken, sodass Belphegor sicherheitshalber ein wenig von ihm wegrückte; nur für den Fall, dass er wieder den Tisch umwarf.

Mammon, die auf Bels anderer Seite saß, zischte ihm ein kaum hörbares „Feigling“ zu.

„Willst du Plätze tauschen?“, fragte der Blonde leise, worauf der Arcobaleno nicht antwortete. Es wurde sich jedes Mal vor dem Essen darüber gestritten, wer rechts neben Xanxus sitzen müssen würde. Links saß eigentlich immer Squalo, der großspurig behauptete, keine Angst vorm Boss zu haben.

„Ich wollte mal fragen“, begann Fran ohne Umschweife, „ob ihr in der Varia Verwendung für mich habt.“

Sein Blick blieb kurz an Mammon haften, die so tat, als bemerke sie ihn gar nicht. Dann sah er mit mildem Interesse in die Runde, ohne jemand Bestimmtes in die Augen zu blicken. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt und wippte leicht nach vorn und hinten, während er geduldig auf eine Antwort auf seine plumpe Bewerbung wartete.

„Wir haben schon einen Illusionisten!“, platzte Squalo heraus und fuchtelte mit seiner Pastagabel in Mammons Richtung.

„Eine Illusionistin“, korrigierte ihn Mammon leise. Es ging ihr auf die Nerven, dass die Leute sie für einen Mann hielten, nur weil sie in der Varia war. Deshalb achtete sie seit einiger Zeit sehr penibel auf solche Sachen.

„Was auch immer“, knurrte Squalo und stopfte sich Pasta mit Soße in den Mund, ehe er sich wieder an Fran wandte. „Jedenfallsch brauchen wir disch hier nisch', alscho verschieh disch!“

Fran sah Squalo einige Sekunden lang dabei zu, wie dieser sein Essen hinunterschlang, dann nickte er knapp. „Alles klar. Aber sagt Bescheid, falls ihr mal einen Illusionisten braucht.“ Er wandte sich zum Gehen. „Oh und – wenn ich euch essen sehe, wird mir schlecht. Ehrlich, das ist schon ein bisschen abartig. Bye bye!“ Und mit einem Winken war er hinter dem Holz der schweren Mahagonitür verschwunden, in der einen Sekundenbruchteil später einige Messer vibrierten.

„Was denkt der sich eigentlich?“, fragte Levi empört, sobald die Tür zu war.

„Vielleicht vermisst er uns nur“, merkte Lussuria an, der sich jetzt Zeit nahm, den anderen beim Essen zuzusehen, um festzustellen, ob Fran recht hatte. Und – oh ja, er hatte. Die Varia benahm sich bei Tisch wie ein Haufen Schweine; Xanxus ausgenommen, denn der hatte zumindest noch ein wenig Würde. Lussuria schüttelte den Kopf und nahm sich vor, zukünftig nicht mehr auf das Benehmen der anderen zu achten. Zu helfen war ihnen da eh nicht mehr. „Oder vielleicht ist er einsam.“

„Da kommen einem ja die Tränen“, bemerkte Belphegor hämisch. „Wenn er so einsam ist, kann er ja zu den Vongolas gehen. Die brauchen doch einen Illusionisten, wenn ich mich recht erinnere.“

Das Grinsen auf seinem Gesicht erlosch sofort, als Xanxus neben ihm mit lautem Klirren sein Geschirr auf den Tisch knallte und aufstand. Erst jetzt – reichlich spät – fiel Bel auf, dass er die Vongolas vielleicht lieber nicht hätte erwähnen sollen. Wenn er einen schlechten Tag hatte, reagierte Xanxus immer noch aggressiv, wenn man Vongola, Ring-Kampf, Japan, Sawada oder Eis sagte.

Allerdings schien der Boss gerade keine Lust zu haben, sich aufzuregen. Er verließ ohne ein Wort den Raum und die anderen schwiegen, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.

„Ich glaube, da bist du gerade knapp dem Tod entronnen“, sagte Mammon heiter zu Belphegor.

Er schubste sie leicht, ohne die Absicht, ihr wirklich wehzutun. „Halt bloß die Klappe, Illusionist.“

„Illusionistin“, murrte sie, wurde aber geflissentlich ignoriert.

„Jedenfalls könnte Fran zu den Vongolas gehen“, wiederholte Belphegor und stocherte mit der Gabel im Essen herum, „wo dieser Rokudo doch tot ist.“

Wenn er denn wirklich tot ist“, warf Lussuria ein und begann, die Teller zusammen zu sammeln. „Ich würde mich darauf nicht verlassen. Vielleicht ist er mit diesem süßen Dokuro-Mädchen durchgebrannt. Die ist doch angeblich verschwunden.“

„Warum sollte er nicht tot sein?“, fragte Bel gelangweilt. „Die Vendicare haben doch bekannt gemacht, dass er fliehen wollte und sie ihn daraufhin erledigt haben. Die lügen doch nicht.“

Lussuria zuckte nur mit den Schultern. „Wer weiß.“

„Schwachsinn“, sagte Belphegor herablassend. „Wenn die das sagen, dann haben die das auch gemacht. Es gibt nicht gerade viele Leute, die die Vendicare täuschen könnten. Und er selbst hätte keine Kraft dazu.“

Damit stand er auf und verließ den Raum. Mammon folgte ihm nach wenigen Sekunden. Die beiden würden jetzt wahrscheinlich bis zum Abendessen irgendwo faulenzen.

„Und was sagt ihr dazu?“, fragte Lussuria an die zurückgebliebenen Squalo und Levi gewandt.

„VOOOI, ist mir doch scheißegal!“, verkündete Squalo genervt und erhob sich.

Das Ganze interessierte ihn tatsächlich kein Stück – schließlich betraf es nicht ihn.

Bis jetzt.
 

Nachdem Frans plötzliches Auftreten Squalo gehörig die Laune verdorben hatte, weil er diesen vorlauten Jungen einfach nicht ausstehen konnte, war er am Mittwoch plötzlich aus dem Hinterhalt angegriffen worden, nachdem er sich von einer Mission zurück zum Anwesen schleppte.

Es ging ihm ohnehin schon schlecht – aber das lag nicht am Gegner sondern an einer stinknormalen Grippe, die ihm seit einigen Stunden zunehmend das Leben schwer machte. Und dann – als er das große, prunkvolle Haus, in dem die Varia lebte, schon sehen konnte, brach plötzlich eine Gestalt seitlich aus dem Gebüsch und fiel ihn mit einem spitzen Gegenstand an. Im Nachhinein kam ihm das Ganze vollkommen willkürlich vor.

Sein Angreifer, den er aus irgendeinem Grund einfach nicht erkennen konnte, holte in Sekundenschnelle mit dem metallen glitzernden Gegenstand aus und im nächsten Moment spürte Squalo nur noch einen stechenden Schmerz im Arm. Dann lief die Gestalt auch schon davon.

Zuerst hatte er gedacht, die Spitze sei vielleicht vergiftet gewesen, aber die kurz darauf folgende ärztliche Untersuchung ergab nichts dergleichen. Auch war die Wunde nicht besonders tief. Umbringen konnte man damit einen Superbi Squalo ganz sicher nicht.

Wozu dieses schwächliche Attentat also? Was sollte das Ganze?

Um nicht wie ein unaufmerksamer Anfänger dazustehen, hatte er behauptet, sich die Wunde während der Mission zugezogen zu haben. Das wirkte auch weniger weit hergeholt als ein nicht erkennbarer Fremder, der ihn plötzlich aus dem Gebüsch heraus anfiel.

Es störte Squalo, dass er seinen Angreifer nicht einmal hatte erkennen können. Nur zu gerne wollte er sich rächen und denjenigen fragen, was zur Hölle der Scheiß überhaupt sollte. Ihm kam in den Sinn, dass vielleicht jemand mit Illusionen nachgeholfen hatte, aber mit dieser Theorie ergab das Ganze auch nicht mehr Sinn.
 

Und nun das.

Heute war Freitag. Squalos Grippe war schlimmer geworden und er hatte einen verdammten Filmriss.

Hustend öffnete er die Tür zur Küche, um irgendetwas Essbares aufzuspüren. Das Erste, was er allerdings vorfand, war ein offenbar schlecht gelaunter Xanxus. Das und ein Chaos aus Dosen, Flaschen und allen möglichen Lebensmitteln, die überall auf der Arbeitsplatte, dem Tisch und dem Boden verstreut lagen.

„Was zur-“, begann er perplex und starrte seinen Boss an.

„Ich kann keinen Whisky finden“, erklärte dieser überraschend sachlich, obwohl sein Blick mörderisch war.

Stille erfüllte den Raum.

Dann räusperte Squalo sich und erhob erneut die Stimme. „Voi, bist du bescheuert?! Lussuria bewahrt den ganzen Alkohol im Keller auf!“

Xanxus starrte ihn lange an. Lange und wütend. Verdammt wütend. Dennoch schien er sich zu beherrschen, um besagter Wut nicht hier und jetzt Luft zu machen. Stattdessen stapfte er durch das Durcheinander am Boden auf Squalo zu, schubste ihn grob beiseite und verließ den Raum, höchstwahrscheinlich, um in den Keller zu gehen.

Squalo setzte zu einem erneuten 'VOI' an, als er so unnett zur Seite geschubst wurde, bekam aber stattdessen einen Hustenanfall und lehnte sich an die Wand, um nicht umzukippen.

Anschließend hob er eine Packung Chips auf und hinterließ die Küche ansonsten so, wie er sie vorgefunden hatte. Sollte jemand anders den Mist wegräumen.

Squalo wollte sich in das kleine Privatkino setzen, das kaum von ihnen genutzt wurde, weil normaler Weise kaum einer von ihnen die Geduld für einen ganzen Film hatte, aber als er vor dessen Tür stand, hörte er Belphegors Lachen und drehte gleich wieder um.

Er ging zum Aufenthaltsraum und aß auf dem Weg schon ein paar Chips. Wenn er schon keinen Film auf einer riesigen Leinwand gucken konnte, wollte er sich zumindest etwas im Fernsehen anschauen. Allerdings war die Tür halb geöffnet und er konnte sehen, dass Levi sich eine Nachmittagstalkshow ansah. Also ging Squalo weiter.

Er ging zur Küche, weil seine Chipstüte inzwischen schon fast leer war, doch dort war Lussuria jetzt am Aufräumen. Squalo stöhnte genervt auf und ließ die Tüte vor der Tür fallen. Lussuria würde sie schon finden und wegräumen.

Jetzt blieben dem Hai der Varia nicht mehr viele Möglichkeiten. Er hatte keine Lust, in sein Zimmer zu gehen, weil er dafür Treppen gehen müssen würde. Und selbst dazu fühlte er sich im Moment zu schlapp. Er wollte sich doch einfach nur irgendwo hinsetzen und sich kurz ausruhen. War denn das so schwer?

Während er so missmutig im Flur herumstand und seine Laune immer schlechter wurde, kam Xanxus gerade aus dem Keller zurück. Entweder hatte er lange gebraucht, um den Whisky zu finden oder er hatte sich unten schon etwas davon genehmigt und deshalb so lange gebraucht.

Als Xanxus seinen Kommandanten sah, verfinsterte sich seine Miene sofort. Er schloss die Kellertür hinter sich und sah auf die beiden Flaschen in seiner Hand hinab, als dachte er darüber nach, ob er eine davon opfern wollte, um sie an Squalos Kopf zu werfen.

„Wage es ja nicht, Arschloch“, knurrte Squalo.

Xanxus hob langsam den Kopf und sah ihn an. „Ich werde das Zeug bestimmt nicht an dich verschwenden, Schwachkopf“, schnaubte er und machte sich auf den Weg zur Treppe.

Squalo blieb genau dort stehen, wo er war. Neben der Tüte Chips vor der Küchentür. Und er folgte Xanxus mit den Augen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Irgendwie verhielt er sich heute anders. Fast so, als sei er beleidigt.

Aber warum sollte er...? Squalo hatte die Frage nicht einmal zu Ende gedacht, da machte es in seinem Kopf klick.

Gerade, als Xanxus oben an der Treppe angekommen war und den Gang hinunter zu seinem Zimmer ging, stieß Squalo die Küchentür auf, öffnete den Mund – und hustete.

„Du meine Güte“, rief Lussuria und legte beide Hände an die hohlen Wangen. „Alles okay, Squalo?“

„Ich... huste nur meine Lunge... raus“, erwiderte er trocken unter weiterem Husten, „aber ansonsten... geht’s... mir kl... klasse.“

Lussuria stemmte die Hände in die Hüften. „Das ist nicht lustig, Squalo!“

Er winkte ab. „Egal jetzt. Welches Datum haben wir?“

„Wir haben den zehnten Oktober“, erwiderte Lussuria verständnislos. „Wieso?“

Squalo antwortete zunächst nicht. Er sah sich in der Küche um. „Lussuria... ich will einen Kuchen backen.“

Das war eine der erschreckendsten Äußerungen, die jemals über Superbi Squalos Lippen gekommen waren.

Xanxus I: Ignorance

Monreale, Sizilien, Italien

Freitag. 10. Oktober 2014. 17:49 Uhr
 

Niemand hatte daran gedacht.
 

Er saß hier in seinem Zimmer, alleine mit zwei leeren und einer halbvollen Flasche Whisky und niemand hatte daran gedacht.

Bisher war es früher oder später immer jemandem aufgefallen. Spätestens, wenn Timoteo anrief, um Xanxus zu seinem Geburtstag zu gratulieren – auch wenn sich dieser niemals dazu herabließ, auch nur den Hörer anzusehen, den ihm Lussuria oder eines der Hausmädchen entgegenhielt.

Aber Xanxus' Adoptivvater hatte sich bislang noch nicht gemeldet. Und das störte ihn. Es störte ihn, dass Lussuria keine Girlanden für ihn aufhing und dass Levi keinen Turm von Geschenken vor seiner Zimmertür aufbaute. (Xanxus wusste, dass Levi das nicht tat, weil er etwa alle zehn Minuten extra zur Tür ging und nachschaute.)

Überhaupt – warum hatte sich nicht einmal Levi daran erinnert, dass Xanxus am zehnten zehnten Geburtstag hatte? So schwer war das nun wirklich nicht.

Seine letzte Hoffnung war – und er hasste sich selbst für diesen Gedanken -, dass sie eine Überraschungsparty geplant hatten. Xanxus mochte keine Überraschungen. Und schon gar nicht, wenn er auf sie hoffen musste.

„Unterbelichteter Abschaum“, murmelte er vor sich hin und starrte das Glas Whisky in seiner Hand an. Nur der gute alte Jack Daniel's hielt zu ihm. Xanxus hob das Glas noch ein wenig. Auf uns, Jack. Dann leerte er es in einem Zug.

Was nun? Er hatte seinen ganzen Papierkram bereits am Vortag erledigt, um heute frei zu haben. Und jetzt saß er hier und hatte frei. Großartig.

Ein letztes Mal erhob er sich gemächlich und schritt zur Tür. Wenn da jetzt kein Geschenketurm von Levi stand, würde er sie einfach alle töten. (Ohne ihnen den Grund zu nennen, versteht sich.)

Xanxus streckte gerade die Hand nach der Klinke aus, als es klopfte. Wurde auch Zeit.

Er öffnete die Tür und Squalo starrte ihn an.

Xanxus starrte zurück, erst auf Squalo, dann auf den runden, mit Zuckerguss überzogenen Kuchen in seinen Händen. Dann hob er wieder den Blick. Seine Augen wurden kaum merklich schmaler.

Squalo schnitt eine Grimasse. „Ich hab dir 'nen Kuchen gebacken“, verkündete er widerwillig wie ein trotziges Kind.

Stille. Das war wahrscheinlich einer der peinlichsten Momente, die es je zwischen den beiden gegeben hatte.

„Welcher Geschmack?“, fragte Xanxus schließlich und musterte wieder den Kuchen.

Squalo sah ihn wütend an. „Kuchengeschmack! VOI!“ Und damit drückte er Xanxus die Glasplatte mit dem Kuchen in die Hände und stapfte hustend davon.

„Ignoranter Bastard verdammter...“ Man hörte ihn noch fluchen, als er die Küche betrat, um sich bei Lussuria weiter über Xanxus auszulassen.

Xanxus stand da, den Blick auf den Kuchen gerichtet, die Augenbrauen gehoben. Mit roter Lebensmittelfarbe waren unbeholfen ein paar Worte auf den Zuckerguss geschrieben worden: Buon compleanno, stronzo!

Der Boss der Varia starrte den Kuchen noch ein paar Sekunden an, dann machte er sich auf den Weg in die Küche.

„... total undankbar“, beschwerte sich Squalo gerade, als Xanxus die Tür öffnete und die Küche betrat, die dank seiner vorherigen Suchaktion immer noch reichlich zugemüllt aussah.

„Boss!“, flötete Lussuria glücklich, der gerade eine Dose Erbsensuppe zurück in den Schrank stellte. „Happy Birthday to you, Happy Birthday to y-“

Ein Blick von Xanxus ließ ihn verstummen. Lussuria warf ihm nur ein letztes herzliches Lächeln zu und widmete sich wieder den Lebensmitteln am Boden.

Squalo jedoch war nicht so leicht zum Schweigen zu bringen. „VOI! Willst du dich jetzt doch noch bedanken? Es war verdammt anstrengend, diesen Kuchen zu machen!“

Xanxus zuckte mit den Schultern. „Niemand hat dich dazu gezwungen. Außerdem“ - er hob den Glasteller ein wenig - „hasse ich Zuckerguss.“

Das war Squalo anscheinend zu viel. Er setzte zu einem langgezogenen 'VOOOOIII' an, doch Xanxus war darauf vorbereitet. Eine einzige schnelle Bewegung von ihm und der Kuchen landete in Squalos Gesicht.

„Herrje!“, rief Lussuria entgeistert aus, aber Xanxus steckte nur die Hände in die Hosentaschen und betrat den Flur. Das hatte gut getan. Hinter ihm fiel die Küchentür zu und er hörte Squalo husten und fluchen. Idiot.

Xanxus begab sich wieder in sein Schlafzimmer, bevor Squalo ihm folgen oder irgendjemand anders auf die bescheuerte Idee kommen konnte, ihm einen Kuchen zu schenken.
 

Kaum zehn Minuten später klingelte sein Telefon. Auch dafür wurde es allmählich Zeit. Timoteo hatte sich wahrscheinlich direkt in sein Zimmer durchstellen lassen, in der Hoffnung, seinen 'Sohn' diesmal doch persönlich zu erwischen.

Es klingelte zweimal, es klingelte dreimal. Viermal. Fünfmal. Xanxus starrte das Telefon von seinem Sessel aus an und gähnte. Sechsmal. Auf die Glückwünsche des alten Mannes konnte er verzichten. Nach dem siebten Mal war das Telefon wieder stumm.

Xanxus füllte sein Glas mit Whisky.

Dann klopfte es. Er bemühte sich nicht einmal zu antworten – und es war offensichtlich auch nicht nötig, denn Squalo riss ohne zu zögern die Tür auf.

„Voi!“ In seinem Gesicht klebte immer noch Zuckerguss. Das sah recht zweideutig aus und Xanxus wäre amüsiert gewesen, hätte er den Ernst in Squalos Gesicht nicht bemerkt. „Kannst du nicht mal an dein verschissenes Telefon gehen?!“

Xanxus hob die Augenbrauen und trank einen Schluck. „Wieso?“

„Nachdem sie dich persönlich nicht erreicht haben, haben sie unten auf dem Haupttelefon angerufen“, erklärte Squalo überraschend sachlich.

„Timoteo ist angegriffen worden. Er wird gerade operiert.und sie wissen nicht, ob er durchkommt.“

Xanxus runzelte die Stirn und stellte sein Whiskyglas ab. Na, das war doch mal eine gelungene Überraschung.

Tsuna I: Guilt

Namimori, Japan

Donnerstag. 16. Oktober 2014. 08:57 Uhr
 

Was war in Italien los?
 

Tsuna saß im Hörsaal, starrte die Tafel an und sah sie doch nicht. Gokudera hatte ihm inzwischen einige SMS geschrieben, in denen er in allen möglichen Variationen seine Besorgnis kundtat und fragte, ob es Tsuna gut ginge, weil er in den letzten Tagen so bedrückt wirke.

Als wäre das verwunderlich.

Tsuna befand sich gerade in einer Schuldrechtvorlesung. Vielleicht auch Strafrecht. Oder vielleicht hatte er sich auch aus Versehen in die falsche Vorlesung gesetzt. Wäre ohnehin nicht das erste Mal.

Er saß hier in der Universität von Namimori und sollte lernen, wo doch in Italien die halbe Mafiawelt unter Strom stand.

Vor zwei Wochen erst hatten sie vom Tod Mukuros erfahren. Getötet bei einem Ausbruchsversuch. Und Tsuna war schuld. Er hatte es niemandem erzählt, aber er wusste, dass es seine Schuld war.
 

Nur wenige Wochen zuvor hatte Chrome ihn aufgesucht. Hatte ihn gebeten, sich ihr Anliegen anzuhören; und natürlich hatte er das getan, hatte gesagt, dass er ihr gerne helfen wollte. Keiner der anderen hatte etwas mitbekommen.

Sie hatten sich draußen unterhalten, im Park. Chrome wollte mit ihm alleine sprechen. Er hatte ein paar vertrocknete Blätter von der Bank gewischt, sich gesetzt und ihr angeboten, sich neben ihm niederzulassen. Doch sie wollte nicht. Sie war so nervös.

Es dauerte einige Minuten, bis sie ihre Bitte äußerte.

Tsuna sah sie ungläubig an, schluckte und fragte nach: „E-Ein Ausbruch?“

Chrome nickte. Ihr Gesicht wirkte ungewöhnlich hart. „Ken und Chikusa wollen Mukuro am liebsten ganz alleine befreien. Aber selbst mit Frans Hilfe wird es schwer werden.“

F-Fran? Von der Varia? Aber wie...“

„Er ist nicht bei der Varia“, korrigierte ihn Chrome geduldig. „Aber er ist Mukuros Schüler.“

Tsuna klappte seinen noch immer offenstehenden Mund zu. Ja, natürlich. Der Shoichi aus dieser Zeit gehörte inzwischen ja auch zu seinem Freundeskreis und unterstützte ihn in mafiösen Angelegenheiten, wo er nur konnte. Er hätte eigentlich auch schon selbst darauf kommen können, dass Fran, auch wenn er Mammon nicht bei der Varia ersetzen konnte, dennoch bei Mukuro in Lehre gehen würde. Wieder schluckte Tsuna. Mukuro. Sie wollten ihm bei einem Ausbruch helfen. Und zwar ausgerechnet aus dem Vendicare-Gefängnis.

„Ich halte das für keine gute Idee.“ Tsuna sah zu Chrome hinauf. „Tut mir leid.“

Chromes Blick hätte nicht enttäuschter sein können und es kostete Tsuna all seine Willenskraft, nicht einfach doch ja zu sagen.

„Als zehnter Boss der Vongola Famiglia kann ich dir einfach nicht helfen“, erklärte er, nicht zuletzt, um sich selbst zu überzeugen, „denn dann würden sich die Vendicare gegen die gesamte Vongola stellen. Das musst du doch verstehen.“

Sie nickte, doch ihre Augen wirkten glasig. „Ja, ich... ich verstehe das.“

Chrome war gegangen und Tsuna hatte nicht einmal versucht, ihr die Sache auszureden. Nur ein schwächliches 'Tut mir leid' hatte er auf den Lippen gehabt, keine Worte der Ermutigung, keine des Widerspruchs.

Er war so wie immer gewesen, so, wie er sich am meisten hasste. Meinungslos, ängstlich.

Und dann war Mukuro gestorben und es war Tsunas Schuld. Und Chrome war verschwunden.
 

Als sei das nicht schon genug, traf prompt am Montag die nächste Hiobsbotschaft ein. Sie waren gerade dabei gewesen, Reborn seine Geburtstagsgeschenke zu überreichen, als auf einmal Iemitsu, Tsunas Vater und Boss der CEDEF, vor der Tür stand.

Timoteo sei am Freitag angegriffen worden. Er befinde sich noch immer in sehr schlechtem Zustand, doch immerhin lebe er. Immerhin.

Doch das bedeutete nicht viel.

Im Hauptquartier der Vongola stehe alles kopf, denn Nono sei im Gebäude angegriffen worden, mitten auf dem Gang. Doch niemand habe etwas gesehen. Es herrsche Verwirrung, erklärte Iemitsu, und niemand wisse, was genau vor sich gehe.

Er sei, sobald er konnte, nach Japan geflogen, um vor Ort zu sein, für den Fall, dass sich derselbe Angreifer auch auf den nächsten Boss stürzen wolle.

Vielleicht würden Tsuna und seine Wächter bald nach Italien fliegen müssen, aber das würde man noch entscheiden.

Auf die Frage, ob der Angriff etwas mit Mukuros Tod zu tun haben könnte, hatte Iemitsu nur den Kopf geschüttelt. Man könne das nicht sagen, man könne noch gar nichts sagen.

Doch Tsuna ließ der Gedanke nicht mehr los. Wenn die beiden Vorkommnisse wirklich nicht zusammenhingen, hoffte er zumindest, dass nicht noch mehr solcher bösartigen Zufälle folgten.
 

Erst einmal sollte alles seinen gewohnten Gang laufen. Tsuna ging in die Uni. Das war, wie er fand, eine ziemlich dämliche Idee, denn jetzt konnte er sich noch weniger auf sein Jurastudium konzentrieren als irgendwann sonst.

Seit dem Auftauchen seines Vaters, der seit seiner Ankunft wieder bei ihnen wohnte und Tsuna kaum aus den Augen ließ, erschien ihm sein alltägliches Leben unwirklich. Es war schwer genug gewesen, sich damals nach ihrer Rückkehr aus der Zukunft wieder einzugewöhnen, aber da war es vorbei gewesen.

Was jedoch jetzt geschah, fing gerade erst an.

Tatsächlich hatten Tsuna die Nachrichten der Geschehnisse in Italien so aus der Bahn geworfen, dass er am Dienstag seinen eigenen Geburtstag vergessen hatte.

Den riesigen Kuchen, den er am Morgen des vierzehnten Oktober in der Küche vorfand, hielt er schlichtweg für ein weiteres Ergebnis der Koch- und Backwut, die seine Mutter jedes Mal befiel, wenn Iemitsu nach Hause zurückkehrte.

Erst, als Reborn versuchte, ihn mit Luftschlangen zu erwürgen und ihm im selben Moment einen schönen Geburtstag wünschte, dämmerte es ihm. Festliche Stimmung kam trotz aller Bemühungen nicht auf; dafür war die Lage zu ungewiss. Man rechnete immer noch jederzeit mit einem Angriff auf den nächsten Boss der Vongola Famiglia.

Später am Tag, als sich Tsuna in der Mensa der Universität mit seinen Freunden traf, lachte er das erste Mal seit der Nachricht von Mukuros Tod.

Kyoko hatte ihm einen Glücksbringer gebastelt. Sie tat das ein paar Mal im Jahr zu allen erdenklichen Gelegenheiten. Tsuna hatte schon mindestens dreißig von diesen Dingern und freute sich über jedes so sehr, als wäre diese Idee nicht vollkommen überholt.

Er bekam also diesen Glücksbringer und war zumindest für den Moment glücklich. Das war doch schon mal etwas. Vielleicht würde doch alles gut werden. Vielleicht würde der Angreifer bald geschnappt werden und Chrome würde wieder auftauchen und ihm sagen, dass Mukuro die Vindicare nur irgendwie ausgetrickst hatte und auf der Flucht war... Ja, und dann würde er Kyoko endlich seine Liebe gestehen, bla bla.

Tsuna war erwachsener geworden. Nicht viel, aber doch genug, um zu wissen, dass es in der Regel vergebens war, auf das perfekte Happy End zu hoffen. Er hatte Chrome seine Hilfe verweigert und jetzt war sie verschwunden und Mukuro tot. Jemand hatte im Vongola-Hauptquartier nicht aufgepasst und jetzt war Timoteo schwer verletzt. Er war zu feige, Kyoko nach all den Jahren seine Liebe zu gestehen und jetzt waren sie immer noch nur Freunde.

Ja, Tsuna hatte gelacht. Aber nicht lange. Die trüben Gedanken ließen sich nicht abschütteln. Sie ließen ihn nicht los.

Und jetzt saß er hier – immer noch. Der Dozent hatte sie gerade aufgefordert, einen Paragraphen nachzulesen, also schien er zumindest tatsächlich in der richtigen Vorlesung zu sein.

In seiner ersten Woche hatte er sich im Hörsaal geirrt, sich auf einen Platz ganz am Rand gesetzt und versucht, möglichst unauffällig zu sein. Er hatte stumm mitgeschrieben, bis ihm irgendwann auffiel, dass er in einer Vorlesung über Biochemie gelandet war. Im Nachhinein konnte er sich selbst nicht erklären, wie er das ganze dreißig Minuten lang nicht bemerken konnte.

Tsuna war ohnehin kein guter Student. Er war kein guter Schüler gewesen und war auch kein guter Student, für ihn war das von Anfang an völlig logisch gewesen. Aber alle seine Freunde studierten jetzt. Und Reborn sagte, juristisches Wissen könne für einen Mafiaboss nur von Vorteil sein. Im Nebenfach hatte ihm der Arcobaleno auch noch Politikwissenschaften aufgedrängt.

Tsuna verstand in keiner seiner Vorlesungen, worum es überhaupt im Grunde ging. Und er wollte es auch nicht verstehen. Es interessierte ihn nicht, aber er traute sich nicht, es Reborn zu sagen. Oder seiner Mutter. Oder seinen Freunden.

Sie alle studierten das, was sie wirklich interessierte. Bei Gokudera war es Astrophysik, bei Yamamoto Sport und Biologie auf Lehramt, bei Kyoko Ernährungswissenschaften und Haru studierte Modedesign in Tokyo. Haru war die einzige, die in die 'große weite Welt' hinausgezogen war, nachdem sie alle die Hochschule beendet hatten. Sogar Hibari studierte – auch wenn niemand wusste, was genau; jedenfalls wurde er hin und wieder auf dem Dach des Hauptgebäudes der Universität gesichtet.

Nur Ryohei studierte nicht. Er steuerte allerdings geradewegs auf eine Karriere als Profiboxer zu, was auch beeindruckend war.

Sie alle waren Teil der Famiglia - Tsunas Famiglia – und doch durften sie in einer Art Parallelwelt ihre Träume verwirklichen. Ihnen war es nicht bestimmt, ihr ganzes Leben der Mafia zu widmen, einer Organisation, die von Verbrechen lebt.

Oh Gott ja, Tsuna hasste es. Tsuna hasste es, dass Mukuro sterben musste. Er hasste es, dass Timoteo, dieser nette alte Mann, angegriffen wurde. Er hasste es, dass er in dieser Vorlesung sitzen musste und irgendwo draußen höchstwahrscheinlich jemand darauf wartete, ihn umzubringen.

Die anderen Studenten standen auf. Tsuna sah sich überrascht um. Die Vorlesung musste vorbei sein. Er war so in Gedanken vertieft gewesen, dass er nicht einmal auf die Uhr geschaut hatte – wo er das doch sonst alle fünf Minuten tat.

Seufzend packte er seine Sachen in die Tasche. Er hätte nicht hier zu sein brauchen. Er hatte ja ohnehin nichts mitgekriegt. Und wenn doch, hätte er es nicht verstanden.

Tsuna stand auf.

Ich hab genug von der Mafia, dachte er trübsinnig und dachte zum tausendsten Mal darüber nach, einfach auszusteigen. 'Reborn, ich will nicht mehr. Ich kündige.' Haha. Es würde Reborn egal sein, ob Tsuna nicht mehr wollte. Er würde ihn nicht mal ernst nehmen.

Ich sollte einfach abhauen. Tsuna senkte den Kopf, während er sich zwischen den Leuten auf dem Gang hindurch schob. Leuten, die studierten, was ihnen Spaß machte. Ich verlasse das Land, gehe nach Amerika oder so. Ich könnte-

„Tsuna!“

Tsunas Kopf schoss so schnell in die Höhe, dass sein Nacken hörbar knackte. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer schmerzhaften Grimasse, als er Kyoko anblickte. „Oh. H-Hi. Du auch hier?“

Kyoko, der Tsunas schmerzverzerrtes Gesicht entweder nicht aufgefallen oder schlichtweg egal war, lächelte liebenswürdig. „Ja, Tsuna, wir haben doch beide unsere Vorlesungen hier in Gebäude B, hast du das vergessen?“

„Natürlich nicht“, sagte er hastig. Kyoko sollte ja nicht denken, ihm sei so etwas egal.

Sie lächelte wieder, sah ihm direkt in die Augen.

Ein mulmiges Gefühl ergriff Tsuna. Er sollte sich nicht mit Kyoko unterhalten, wenn es ihm sowieso gerade nicht so gut ging. Aber jetzt einfach wegzugehen war auch schlecht.

„Tsuna...“

Kyoko sah ihn immer noch direkt an. „Würdest du bitte mit mir kommen?“

„Wohin?“ Nach Amerika?, fügte er in Gedanken hinzu. Ja, er sollte einfach mit Kyoko durchbrennen.

Sie lächelte immer noch, aber etwas an ihrem Blick schien sich verändert zu haben. Tsuna konnte es nicht richtig deuten. War sie... nervös? „Komm einfach mit, ja?“

Tsunas Mund stand halb offen. Jemand rempelte ihn an, aber er bemerkte es kaum. Seine Gedanken rasten. Was konnte Kyoko wollen?

„N-Nun ja...“ Er kratzte sich am Hinterkopf, wurde ein weiteres Mal angerempelt und ließ sein Buch fallen. „Äh...“ Hastig hob er es auf.

Als er sich wieder aufrichtete, nahm Kyoko auf einmal seine Hand und zog ihn mit sich.

„Kyoko... Wo gehen wir hin?“, fragte er verwirrt, ohne den Blick ein einziges Mal von ihrer Hand abzuwenden. Sie hält meine Hand.

Ein wirrer Gedanke schoss Tsuna durch den Kopf, etwas wie: Jetzt wird alles gut.

Sie antwortete nicht, zog ihn nur immer weiter, durch den Gang, die Treppen hinauf, durch Türen... und dann standen sie auf einmal auf dem Dach.

Tsuna sah sich um. „Was wollen wir hier?“

Er schrak zusammen, als die schwere Metalltür hinter ihnen ins Schloss fiel. Er sah sich um. Alles war gut, da war ein Türgriff. Kein Grund zur Panik.

Kyoko ließ seine Hand los und blieb mit dem Rücken zu ihm stehen.

„... Kyoko...? Was ist los?“

Er ging einen zögernden Schritt auf sie zu. Was sollte das Ganze? Wollte sie ihm etwas sagen? Wollte sie ihm gestehen, dass sie ihn liebte? Tsunas Magen machte einen Purzelbaum.

„A-Also, wenn du was auf dem Herzen hast...“, begann er in dem Versuch, ermunternd zu klingen. Er war ziemlich sicher, dass er kläglich scheiterte, denn Kyoko drehte sich immer noch nicht um.

Tsuna machte noch einen Schritt nach vorne.

Plötzlich setzte sich Kyoko wieder in Bewegung. Sie schlenderte wie selbstverständlich zum äußeren Rand des Daches. Erst einen Meter vor der Kante blieb sie stehen und drehte sich wieder zu ihm um. Sie lächelte. Es war dieses Lächeln, das er nicht deuten konnte.

„Du solltest nicht so nah an den Rand gehen“, warnte Tsuna sie zögerlich. „Du könntest fallen – es ist windig hier oben...“

Besorgt betrachtete er den weißen Stoff ihres Kleides, der um ihren schmalen Körper wehte.

Kyoko lächelte immer noch. Tsuna bekam aus irgendeinem Grund eine Gänsehaut.

„Komm – komm her und erzähl mir, was mit dir los ist, ja?“, er versuchte ein Lächeln, als er auf sie zuschritt und die Hand ausstreckte. „Komm von dem Rand weg.“

„Was hast du, Tsuna?“ Jetzt war Kyoko diejenige, die besorgt aussah. „Du siehst verängstigt aus.“

Tsuna neigte den Kopf ein wenig. „Ich habe Angst, dass du runterfällst.“

Sie lächelte wieder. „Fallen? Ich?“

„Ja.“ Tsuna wurde ernster. „Bitte komm hierher.“

„Warum denn, Tsuna?“

„Ich möchte nicht, dass du fällst.“ Er streckte ihr weiterhin die Hand entgegen.

Kyoko machte einen Schritt rückwärts. Der Wind zerrte an ihrem Kleid, an ihren Haaren. Sie lächelte.

„Kyoko.“ Tsunas Augen weiteten sich. Er näherte sich ihr vorsichtig. „Was tust du denn da?“

„Ich genieße den Herbstwind“, erwiderte sie und schloss entspannt die Augen, wie um dies zu beweisen.

„T-Tu das doch lieber von hier aus...“ Tsuna machte einen Schritt nach vorne, Kyoko machte einen zurück.

Sie war nur noch wenige Zentimeter von dem Rand entfernt. Tsuna konnte das Universitätsgelände im Hintergrund sehen. Dieses Gebäude musste mindestens fünfzehn Meter hoch sein.

„Kyoko, ich finde das nicht sehr lustig. Du könntest dir wirklich wehtun, du könntest sterben, wenn du da runterfällst...“

Noch immer mit geschlossenen Augen legte sie den Kopf schief. „Wehtun... sterben...“

Der Schweiß stand Tsuna auf der Stirn. Er hatte Angst, Angst um Kyoko. Er wollte sie zu sich ziehen, doch vielleicht würde sie zurückweichen, wenn er sich bewegte.

„Kyoko, ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber wir kriegen das sicher wieder hin.“

„Wir kriegen das hin?“

Tsuna nickte heftig. „Jaah, was auch immer es ist, wir kriegen das hin.“

Der Wind wehte stärker. Sie sah so schön aus in diesem weißen Kleid. So schön und so beängstigend zugleich am Rande dieses Abgrunds.

„Kannst du die Toten zurück holen?“

Tsuna stutzte. „Die Toten? Ich – nein, ich...“

„Das habe ich mir gedacht.“ Kyoko öffnete die Augen wieder, warf ihm ein letztes, warmes Lächeln zu. „Bis bald, Tsuna.“

Und dann ließ sie sich fallen.

Gokudera I: Transience

Namimori, Japan

Mittwoch. 22. Oktober 2014. 14:36 Uhr
 

Der Friedhof wirkte grau.
 

Der Himmel war bewölkt. Heute Morgen hatte es geregnet. Die Feuchtigkeit lag noch schwer in der Luft.

Gokudera trug einen schwarzen Anzug. Schwarz, weil er, wie alle anderen, Trauer ausdrücken wollte. Ironischerweise war es derselbe Anzug, den er in Kämpfen um Leben und Tod im Auftrag seiner Famiglia trug. Die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens haftete an ihm wie ein beißender Geruch, der nicht verschwinden wollte, so oft er den Anzug auch wusch.

Tsuna stand neben ihm und schluchzte. Decimo war ein starker Mann, keine Frage, und es gehörte zu seinen Stärken, Gefühle wie Trauer und Angst zeigen zu können.

Zögernd legte Gokudera ihm einen Arm um die Schultern. Tsuna lehnte sich dankbar an ihn, schluchzte wieder.

Gokudera sah sich um.

Er kannte nicht einmal die Hälfte der Leute, die sich hier versammelt hatten, um Kyoko die letzte Ehre zu erweisen. Sie schien viele Freunde gehabt zu haben – kein Wunder, sie war ein guter Mensch gewesen. Ein glücklicher Mensch, hatte Gokudera gedacht.

Aber das konnte nicht stimmen.
 

Gokudera war nur wenige Meter entfernt gewesen, als Kyoko auf dem Boden aufschlug. Er war von Gebäude D hinüber gelaufen, um Decimo zu besuchen.

Er war von rechts gekommen, hatte fast vor dem Eingang gestanden, als weiter links etwas vom Himmel fiel. Ein Angriff, war Gokuderas erster Gedanke gewesen. Jemand stürzte mit beeindruckender Geschwindigkeit vom Himmel herab und wollte ihn angreifen, um sich als Nächstes Tsuna zu schnappen.

Gokudera war schon halb in Angriffsposition, als das Etwas, das vom Himmel gefallen war, mit einem Grauen erregenden Geräusch auf dem Boden aufkam. Ein wenig Blut spritzte, Leute schrien.

Es dauerte nur wenige Sekunden, da zückten sie schon ihre Smartphones, machten Fotos und Videos. Eine halbe Minute später war die weiß-rote Masse, die einmal Kyoko gewesen war, in mehrfacher Ausführung im Internet zu finden.

Zu dem Zeitpunkt hatte Gokudera sie jedoch noch nicht als Kyoko identifiziert. Sein Blick schnellte nach oben - war diese Person geschubst worden oder selbst gesprungen? - und zu seiner Überraschung meinte er, einen braunen, zerzausten Haarschopf zu erkennen, der über den Rand des Daches ragte.

Decimo. Gokudera hielt sich nicht weiter mit der blutigen Masse am Boden auf sondern nahm den schnellsten Weg auf das Dach des Gebäudes B.

Oben angekommen fand er tatsächlich Tsuna. Verstört hockte er am Rand, mit weit aufgerissenen Augen, den Blick immer noch auf den Erdboden gerichtet.

Gokudera lief zu ihm. „Decimo! Ist alles okay?“

Tsuna hob den Kopf. Drehte sich um. Seine Augen starrten ihn an, fixierten ihn aber nicht. Er stand unter Schock. „Kyoko... Ist...“ Tsuna begann zu zittern. Gokudera half ihm, sich hinzustellen und führte ihn vorsichtig vom Rand des Daches weg. „Sie ist da unten... Geht es ihr gut?“

Gokudera, der sich recht schnell wieder im Griff hatte, nachdem ihm bewusst geworden war, dass der Menschenmatsch da unten Kyoko war, geleitete Tsuna zur Tür und zurück in das Gebäude. Er antwortete nicht auf die Frage.

„Was ist passiert, Decimo? Hat euch jemand angegriffen?“

Tsuna wurde jetzt schneller und Gokudera musste laufen, um mit ihm Schritt zu halten. „Sie ist... ist gesprungen. Geht es ihr gut, Gokudera? Es geht ihr doch gut, oder?“

„Warte, Decimo...!“ Gokudera biss sich auf die Unterlippe. Gesprungen. Er konnte es seinem Boss nicht sagen. Er wollte ihn aufhalten, ihm das Grauen ersparen, aber was würde das nützen? Es machte die Frau, die Tsunayoshi Sawada geliebt hatte, auch nicht wieder lebendig.

Und so wurde Hayato Gokudera langsamer, ließ Tsuna vorlaufen und trat erst in dem Moment durch die Eingangstür, in dem ein herzzerreißender Klageschrei über das Gelände hallte.

Es war der Schrei eines Jungen – eines Mannes –, dem etwas unschätzbar Wertvolles genommen worden war.
 

An diesem Morgen war etwas in Tsuna zerbrochen, Gokudera spürte es. Nichts würde je wieder so sein wie früher.

Die schönen Zeiten sind endgültig vorbei, dachte der Sturmwächter der zehnten Generation der Vongola betrübt und strich sanft über Tsunas Haar.

Er hatte ja keine Ahnung, wie recht er hatte.
 

Auf dem Heimweg von der Beerdigung sprach niemand ein Wort.

Die Frage, warum Kyoko gesprungen war, stand immer noch im Raum, aber in der letzten Woche hatten Tsunas Freunde so oft darüber diskutiert, dass es nichts mehr gab, was zu diesem Thema nicht schon gesagt worden war.

Tsuna freilich hatte nicht an diesen Gesprächen teilgenommen. Er hatte stumm daneben gesessen. Gokudera war nicht sicher, ob er überhaupt zugehört hatte. Tsuna redete seit dem sechzehnten Oktober kaum noch ein Wort, mit keinem von ihnen.

So gingen Tsuna, Gokudera, Yamamoto und Haru, die zur Beerdigung aus Tokio gekommen war, schweigend auf das Haus der Sawadas zu, während sich die Wolken über ihnen zusammenzogen.

Ryohei hatten sie nur kurz auf der Beerdigung gesehen. Auch er schien nicht mehr derselbe zu sein. Seine Energie schien verebbt, sein Enthusiasmus verflogen. Verdammt, er hatte nicht einmal mit ihnen geredet. Er hatte ihnen nur kurz mit ernstem Gesicht zugenickt und war bei seinen Eltern geblieben.

Das fand Gokudera verständlich, es war schon irgendwie eine Familienangelegenheit, aber dieser Blick... Ryohei hatte sie gesehen, sie alle, wie sie als Gruppe – als Freunde – zusammengestanden hatten, als Kyoko beerdigt wurde. Er hatte die ganze Gruppe angesehen, aber dann war sein Blick nur an Tsuna haften geblieben. Es war Tsuna gewesen, dessen Blick er erwidert hatte. Tsuna, dem er mit diesem verdammt ernsten Gesicht zugenickt hatte. Und dieser Blick konnte alles bedeuten. Gokudera kannte diesen Blick. Es war derselbe, den er in den letzten Tagen manchmal bei Tsuna beobachtet hatte. Er sah darin Verzweiflung, Wut ohne Ziel, Verwirrung, Entsetzen und Trauer, so viel Trauer. Menschen mit diesem Blick waren unberechenbar, Gokudera wusste das. Er hatte schon Leute mit demselben Gesichtsausdruck sich und anderen das Leben nehmen sehen.

An der Haustür der Sawadas erwartete sie bereits Iemitsu. Er stand da, in den Türrahmen gelehnt, die Arme verschränkt, Reborn auf seiner Schulter. Reborn hatte nicht an der Beerdigung teilnehmen können, weil er 'Dinge klären musste', wie er gesagt hatte. Diese Dinge schienen jetzt wohl geklärt zu sein und er und Iemitsu wollten ihnen jetzt sagen, was dabei herausgekommen war.

Gokudera atmete tief durch. Jetzt würde bestimmt alles gut werden. Iemitsu würde ihnen sagen, dass der Angreifer gefasst worden war und dass es Timoteo schon wesentlich besser ginge, dass Mukuro und Chrome in einem weit entfernten Urlaubsort gesehen worden seien und dass die Kyoko, die sich vom Dach gestürzt hatte, eine perfekte Illusion gewesen war und die echte gerade bei sich zu Hause aufgetaucht war.

Wann war er nur so optimistisch geworden? Gokudera zog die Augenbrauen zusammen. Vergiss es, die Welt ist nicht rosa, Hayato. Wahrscheinlich werden die beiden uns gleich sagen, dass wir nach Italien müssen – als ob Decimo noch nicht genug Probleme am Hals hätte, mit denen er klarkommen muss.

Das kleine Grüppchen blieb vor Tsunas Vater und Reborn stehen. Haru war die Einzige, die zur Begrüßung ein halbwegs freundliches Lächeln hervorbrachte, obwohl ihr Gesicht vom Weinen noch ganz rot und aufgequollen war.

„Es ist entschieden“, sagte Iemtitsu, ohne Zeit für eine anständige Begrüßung zu verschwenden. „Ihr müsst nach Italien und dort die Stellung halten.“

Gokudera klappte der Mund auf. Das kann doch nicht wahr sein. So sehr er den Mann, der immerhin der Vater von Decimo war, auch respektierte, das hier konnte er nicht einfach so hinnehmen.

Er öffnete gerade den Mund, als schon Yamamoto das Wort ergriff. „Ist das nicht ein wenig hart?“ Seine Stimme war ruhig. „Tsuna muss sich im Moment mit genug Sachen rumschlagen-“

„Das liegt nicht in deiner Entscheidungsgewalt“, unterbrach ihn Reborn. Er und Yamamoto sahen sich einen Moment in die Augen. Reborns Blick blieb hart. Gokudera sah aus dem Augenwinkel, wie sich Takeshis Hand zu einer Faust ballte, doch er sagte nichts mehr.

Stattdessen ergriff Gokudera das Wort. „Aber er hat recht“, fuhr er Reborn an. „Gebt Decimo doch zumindest die Gelegenheit, sich ein wenig zu erholen.“

„Wir haben keine Zeit für so etwas, Gokudera“, erwiderte Reborn scharf. „Timoteo ist außer Gefecht gesetzt und jemand muss die Führung in der Vongola übernehmen.“

„Aber doch nicht jetzt-“

„Die Vongola braucht ihn aber gerade jetzt“, erklärte Iemitsu in dem Versuch, ihn zu beschwichtigen. Er warf seinem Sohn einen kurzen Blick zu, doch Tsuna sah nur milde interessiert zwischen ihnen hin und her, als ginge ihn das Ganze gar nichts an. „Auch wenn es ihm gerade nicht gut geht, ändert das nichts daran, dass er eine Pflicht zu erfüllen hat-“

„Eine Pflicht, die er niemals auferlegt bekommen wollte“, mischte sich jetzt Haru ein. „Es ist nicht fair-“

„Schluss jetzt.“ Tsuna streckte seinen rechten Arm aus, um Haru aufzuhalten, die einen Schritt vorgetreten war und gerade dabei gewesen zu sein schien, sich in einen eifrigen Monolog über Ungerechtigkeit hineinzusteigern. „Ich gehe.“ Er drehte sich zu seinen Freunden um und wieder hatte er diesen Blick, der Gokudera solche Sorgen bereitete. „Ihr müsst nicht mitkommen, aber ich werde gehen.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (4)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Done
2011-08-17T21:21:41+00:00 17.08.2011 23:21
Decimo? XD
Ich muss zugeben, dass ich erst etwas verwirrt war, da ich nur das Juudaime gewohnt bin /D
Aber ist doch mal eine nette Abwechslung. Ich finde "Decimo" auch irgendwie...ja...'respektabler' als Juudaime.

Okay, was ich etwas 'schockierend' fand, waren die Foto, Videos, etc. von Kyoko. Ganz einfach, weil es eben _wirklich_ Leute gibt, die das machen .__.
Insofern finde ich das nicht "unwirklich" sonder schon realitätsbezogen. Auch wenn ich persönlich das nicht nachvollziehen kann.

Anyway, wieder ein tolles Kapitel :)

LG~
Von:  Done
2011-08-12T11:15:51+00:00 12.08.2011 13:15
Oh... Ähm... .__.

Okay, ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll /D
Einfach Mal drauf los:
Ich finde dieses Kapitel sehr...ja..."drückend"? Aber das hast du ja auch in der Beschreibung geschrieben. Man wird richtig depri, wenn man das so ließ Dx
Tsuna's Gedanken und Gefühle hast du sehr schön rüber gebracht. Auch, wenn er mittlerweile älter ist (wie alt sind die eig.?), ist er zwar auf der einen Seite erwachsener, auf der anderen aber immer noch der feige Tsuna, der er schon immer war.
Ich mochte die Dachszene besonders. Nicht, weil Kyoko gestorben ist (was mich sehr überrascht hat, da sie ja Selbstmord begeht), sonder weil ich das mit dem 'Fallen' so..."toll" fand. Tsuna hatte Angst, dass Kyoko fällt (unbeabsichtigt), Kyokyo dagegen nicht, da sie es offenbar geplant hatte, dass sie sich freiwillig fallen lässt.
Das ist so schwer zu erklären, ich kann so was nicht, ey /D

Auf jeden Fall sehr schönes Kapitel :)
Ah, was machen eigentlich Ryohei und Lambo? Die haben irgendwie gefehlt (mit Absicht?)

LG

Von:  Done
2011-08-09T18:40:29+00:00 09.08.2011 20:40
Hmm~
Also, ich habe die FF gerade gelesen und ih muss sagen, dass ich sie bis jetzt sehr interessant finde :)
Ich mag solche Geschichte, mit Datum, Uhrzeit, Ort, etc.
Die haben so was "apokalyptisches" an sich /D
Ich werde die FF weiter verfolgen~

>Kuchengeschmack! VOI!

Made my day XD

LG :)
Von:  Mii-
2011-08-09T11:13:00+00:00 09.08.2011 13:13
Ui XD
Dann kann ich ja später mal Kommis machn x33


Zurück