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Herz aus Stein

von

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Mont Saint-Michel

XXII. Mont Saint-Michel
 

„Merde!“ fluchte Cedric, dass Kunibert hochschrak. Sie saßen am Küchentisch und gönnten sich ihr Frühstück. Eine weitere Woche war ins Land gezogen, arbeitstechnisch kam er gut voran, ansonsten umwaberte sie diese seltsame Ruhe des winterlichen Steinfeldes, die irgendwie in ihren Gemütern ihren Widerhall fand. Seine Gedanken kreisten noch immer, aber es wurde besser. Er war jetzt hier. Alles andere würde sich finden.
 

„Was ist denn?“ fragte er Cedric, seinen Ausruf als Aufforderung wertend.
 

Jeden Tag kam Post. Inzwischen hatte er mitbekommen, dass es Briefe von Cedrics Mutter waren, mit denen dieser recht flugs jedes Mal nach oben verschwand. Las er sie? Oder verfütterte er sie an die Ratten, die Biester fraßen ja alles und überlebten das auch – inklusive des kalten Giftes einer Madame Kalteis wahrscheinlich? Ab und an war auch eine Rechnung dabei, aber die veranlassten Cedric nicht zu Geschrei. Irgendwo war vor ein paar Tagen ein Kontoauszug in der Küche herum geflattert. Kunibert hatte, ohne zu wissen, was das war, darauf geschaut, und dabei fast einen Ohnmachtsanfall erlitten. Oh Gott, so viel Geld… und das war nur Cedrics Konto für die täglichen Ausgaben gewesen… Cedric kam echt von einem anderen Stern. Er neidete es ihm nicht und gierte auch nicht danach, aber es erschien ihm irgendwie beängstigend. Für das Geld müsste er ewig arbeiten – und Cedric hatte keinen Handschlag dafür getan. Allerdings begriff er so Cedrics Angebot besser, das war wirklich etwas, das er konnte.
 

„Meine Familie“, knirschte Cedric auf einen außerplanmäßigen Brief starrend.
 

Kunibert wurde hellhörig. „Was?“ fragte er aufmerksam und legte sein Brötchen zurück auf den Teller.
 

„Sie fechten meine Erbschaft an, da ich aufgrund meines Gesundheitszustandes nicht in der Lage sei, mich angemessen darum zu kümmern“, fasste Cedric zusammen und starrte das Schreiben brodelnd an.
 

„Das können sie doch nicht… Du kannst mit deinem Geld doch machen, was du willst, du giltst doch offiziell als gesund? Was stellen andere „Gesunde“ denn mit ihrer Kohle an?“ wunderte sich Kunibert.
 

„Schrecklichen Stoff kaufen, um daraus Nachtgewänder zu nähen? Nein, sie können mir nichts. Nicht jetzt. Aber die lauern nur und klopfen bereits an. Die lassen nicht locker. Meine Mutter will mich in der Anstalt, mein Vater bekommt Krämpfe, dass ich mein Erbe nicht großartig investiere, die Pachten erhöhe, Land gewinnbringend verkaufe““, erklärte Cedric.
 

„Dein Vater ist da… so?“ fragte Kunibert vorsichtig.
 

„Ja, seines Zeichens Erzkapitalist, daher hat ihn mein Opa ihn der Erbfolge auch übergangen, was das Land anging. Mein Vater hätte darin nur Kapital gesehen. Er ist dennoch nicht leer ausgegangen und hatte ein Händchen für sowas… Großindustrieller trifft es wohl. Mehrere Fabriken für alles, was Kohle bringt, inzwischen in Fernost, wo die Löhne schön niedrig sind. Meine Mutter hatte auch ordentlich was beizusteuern, das war Liebe auf den ersten Blick… auf die Kontodaten eventuell. Einzige Tochter eines in Aachen ansässigen Automobilteilebonzens… Ich glaube, mein erstes Wort war „Rendite“, gefolgt von „Gucci“. In deren Augen bin ich der totale Griff ins Klo“, beichtete Cedric.
 

„Hast du noch Geschwister?“ wollte Kunibert wissen und sah ihn an.
 

„Nö. Ich bin der Kronprinz. Die haben mich zwar brav Literatur studieren lassen, aber eigentlich wollten die schon, dass ich den ganzen Budenzauber eines Tages übernehme. Bei dem Gedanken war mir damals schon ganz schlecht, daher habe ich lieber auf die Kacke gehauen, solange es noch ging – mit bekanntem Ausgang. Jetzt bin ich nicht nur eine verhinderte Literatur-Schwuchtel, sondern auch noch ein unfähiger Kohlescheffler, das geht natürlich gar nicht!“ ereiferte sich Cedric, sich unter seinen Sommersprossen etwas rötlich verfärbend.
 

„Wie passt das denn mit den Entmündigungsversuchen deiner Mutter zusammen?“ fragte Kunibert ratlos.
 

„Mmm… ich glaube inzwischen fast, dass die mich ernsthaft reparieren lassen wollte. Die besten, teuersten Spezialisten bekommen doch jeden Schrott wieder hin. Aber sie können nicht Tote wieder lebendig machen, das haben die leider nicht auf dem Plan!“ giftete Cedric.
 

„Du bist doch nicht tot!“ protestierte Kunibert.
 

„Ich nicht – aber der, den sie kennen und wollen, schon. Und ich will schlichtweg diesen Cedric nicht als Zombie wieder beleben lassen! Ich will in Ruhe mein Land an den hohlköpfigen Beauchamp und seinesgleichen zu einem Preis vermieten, als seien es die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts! Und ich will nicht der Herr über diese Sklaventreiberfabriken meines Vaters sein! Sollen sie’s in eine Aktiengesellschaft umwandeln und den Rest der Bill Gates Stiftung vermachen oder sich selbst in Gold gießen! Mir egal! Aber nix ist mit Cedric Kalteis Obermagnaten!“ tobte Cedric wild gestikulierend, dass Kunibert fast Angst um das Honigglas bekam. Okay… Cedric konnte also auch wütend sein, ohne eine Krise zu bekommen, jedenfalls keine durch sein Trauma bedingte.
 

Das waren ja Dimensionen… „Musst du doch auch nicht“, versuchte er Cedric zu beruhigen und zerrte dezent das Honigglas in Sicherheit. „Damit kommen sie doch nicht durch?“
 

„Natürlich nicht!“ schnaufte Cedric. „Solange ich als normal beknackt durchgehe, können die mir gar nichts. Ach übrigens… wie wär’s mit einem Ausflug!“
 

„Äh… was?“ fragte Kunibert überrumpelt.
 

„Ausflug! Wie ganz „normale“ Leute. Irgendwohin, wo man bemerkt wird!“ forderte Cedric, aber Kunibert war schon klar, woher der Wind wehte. Cedric hatte das Schreiben sehr wohl Sorge beschert, und jetzt wollte er sicher gehen, dass es Zeugen für sein „normales“ Verhalten gab. Es war witzig, solange man als normal galt, kam man mit der kränksten Scheiße durch, aber einmal als verrückt eingestuft, wurde einem schnell alles in dieser Hinsicht ausgelegt.
 

„Wo… wo willst du denn hin…?“ fragte Kunibert.
 

Cedric legte den Kopf schräg und überlegte. „Kino geht nicht… zu dunkel… Theater auch nicht… aber… warst du schon mal auf der Insel Mont Saint-Michel?“
 

Kunibert schüttelte den Kopf. „Nein“, gestand er. „Aber da wollte ich immer mal hin.“
 

„Wird dir gefallen, ohne Zweifel“, meinte Cedric und stopfte das Schreiben wieder resolut in den Umschlag.
 

„Da sind wahrscheinlich ziemlich viele Menschen“, wandte Kunibert vorsichtig ein.
 

„Ich weiß“, erwiderte Cedric und streckte den Unterkiefer trotzig vor. „Touries, Familien… das muss gehen, die hängen einem ja nicht direkt auf der Pelle, jetzt ist ja auch nicht gerade Hochsaison!“
 

„Okay…“, stimmte Kunibert zu. Cedrics anzuzweifeln schien ihm zwar nahe liegend, aber er wollte ihn garantiert nicht in diese Position der Schwäche drängen. Wenn er meinte, dass schaffen zu können, dann war das nicht nur aus purer Verzweiflung geboren, soweit kannte er ihn inzwischen doch. Er traute sich das zu. Kein kleiner Schritt. Aber er war ja da für seinen widerborstigen Freund. Irgendwie würden sie das schon hinbekommen, notfalls bekäme er ihn da auch wieder heraus.
 

Und außerdem… Mont Saint-Michel!
 

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Cedric linste zur Seite. Zu dieser Jahreszeit war es vergleichsweise leer, aber das reichte ihm schon. Sie mussten gesehen werden, und er konnte Stein und Bein darauf schwören, dass sie beide so schnell keiner vergaß. Kunibert war eine auffällige Erscheinung – und er war das auch. Im Doppelpack, gerade weil sie so sehr unterschiedlich aussahen, dürften sie sich so manchem in die Netzhaut brennen. Eine Kamera hatte er auch im Gepäck, um dieses Großereignis angemessen zu dokumentieren. Außerdem gäbe es noch datierte Tickets und Rechnungen. Auf ging’s.
 

Kunibert neben ihm starrte mit offenem Mund. Mont St-Michel war eine mittelalterliche Anlage, halb Kloster, halb Festung, die sich auf einer winzigen, nur bei Niedrigwasser zu Fuß erreichbaren, felsigen Insel im Ärmelkanal erhob. Über mehrere Ebenen des steil ansteigenden Felsens zogen sich Mauern, wanden sich wie das Gehäuse einer Schnecke, abweisend, lockend, fast wie das Gespinst irgendwelcher Filmemacher. Aber das hier war echt. Und es war alt.
 

„Geil!“ konstatierte Kunibert versunken.
 

„Dann wollen wir mal“, trieb Cedric ihn an.
 

Kunibert latschte vorwärts, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als hinterher zu wetzen. So mussten sich Dackel beim Gassigehen fühlen. Er wollte gar nicht wissen, was Kunibert beim Laufen in der Leichtathletik für Zeiten erzielen mochte. Aber leicht war er nun auch nicht gerade…
 

Kunibert schaffte es durch Vorweisen seines Uniausweises und Gestrahle wie ein Sonnenschein sie umsonst rein zu bringen, dass Cedric sich gezwungen sah, unbemerkt reichlich Kohle in der Spendenbox zu versenken. Dass man Kunibert umsonst rein ließ – nun gut. Aber ihn? Das ging ihm gegen den Strich, das kam ihm dreist vor. Aber sollte Kunibert nur stolz auf sein Verhandlungsgeschick sein. Die sich nach oben windende Straße war ziemlich unbelebt, die gelegentlichen Wanderstiefel-Touristen gingen, die hielten Abstand. Das Kopfsteinpflaster war vereist. Obwohl sorgfältig gestreut worden war, achtete man besser darauf, wo man hin trat. Aber weit kamen sie sowieso erst Mal nicht. Cedric gab Gas, bis er den mit leuchtenden Augen vor der Auslage eines Ladens festgewurzelten Kunibert erreichte. Er visierte das Geschäft kurz an. Voll gestopft mit nachgebildetem mittelalterlichem Zeugs. Kunibert sabberte das „original nachgeschmiedete“ Schwert eines Kreuzritters an. Würde ihm wahrscheinlich verflucht gut stehen bei seinen „Live Rollenspielen“ – Himmel, was für ein nerdiger Scheiß! Aber Kunibert würde damit nicht nerdig wirken – auch wenn er das sehr wohl war – sondern verteufelt echt, wenn er statt seines „I love Archeology“- Pullovers ein Kettenhemd trüge...
 

Sein Blick wanderte über die Auslage, dann erstarrte er.
 

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Kunibert war fast außer sich vor Entzücken. Da hier war kein billiger Touristen-Scheiß! Einiges schon… aber das Meiste nicht. Das hier war der Hammer! Der ganze Laden voll damit! Und dieses Schwert! Kostete wahrscheinlich auch dementsprechend… aber fragen konnte man ja mal…
 

Cedric neben ihm zog scharf die Luft ein, dass er urplötzlich wieder auf den Boden der Tatsachen katapultiert wurde. Nein, er brauchte nun wirklich kein Schwert, sondern…
 

„Cedric!“ entfuhr es ihm. Der andere schnappte nach Luft und schien sich ziemlich ungesund zu verfärben. Oh Schande, was hatte das denn ausgelöst…? Hatte man Cedric mit einem mittelalterlichen Morgenstern bearbeitet, oder was?! Nein… der starrende Blick richtete sich nicht auf die Metallwaffen, sondern auf …

Oh Gott.
 

Er hastete vorwärts, ihm den Blick verbauend, und wiederholte: „Cedric! Cedric! Cedric! Alles okay! Das ist nur Nerd-Scheiße! Liegt nur im Schaufenster herum. Blöder Touristennepp…“
 

Cedric japste nach Luft. Seine Nasenflügel bebten. „Ich… weiß“, würgte er hervor.
 

Ohne sich recht zu besinnen schnappte sich Kunibert sein Handgelenk und zog ihn mit sich fort außer Sichtweite.
 

Oh Gott. Was hatten die mit ihm angestellt? Okay… man landete nicht halbtot in einer Mülltonne, weil jemand nur etwas Fieses zu einem gesagt hatte. Was immer sie ihm getan hatten… sie hatten ihm die Zähne ausgeschlagen… und ihn…?! Oder was?! Oh Gott. Er wusste durchaus, dass das zum Repertoire der Praktiken gehörte, die einige Menschen mochten, und solange es auf beiderseitigem Einverständnis beruhte – seinetwegen, aber das war bei Cedric nun gewiss nicht der Fall gewesen, jedenfalls nicht in dieser Situation und in diesem Ausmaß. Oh Gott.
 

Cedric starrte aus riesigen krachgrünen Augen ins Leere, in denen einfach nur der Schock stand. Was jetzt…? Er war Cedrics Freund…
 

„Cedric…“, hob er an und trat näher, seine Hand los lassend. Oh weh, hoffentlich machte er es nicht noch schlimmer… Aber… er wollte doch… Vorsichtig legte er seine Arme um Cedrics Rücken und zog ihn heran, drückte ihn gegen seine Brust, versuchte, sein Mitgefühl, seinen Drang zu trösten irgendwie wortlos durch sich zu ihm fließen zu lassen. Cedric wehrte sich nicht, sondern ließ es irgendwie geschehen. „Ist ja gut“, murmelte er, hob die Hand zu Cedrics Hinterkopf und presste ihn sanft streichelnd gegen sich. Er dachte an Fridas Pferde, wenn die mit den Nerven am Ende waren… „Ist ja gut… Ich bin da… Niemand kann dir was… okay…“, beteuerte er. Sicher konnte ihnen irgendwer sonst was, wenn der denn wollte, aber das war nicht der Punkt.
 

Cedric lehnte einfach nur schlaff gegen ihn, dann kam Spannung in seinen Körper, Kunibert beschlich kurz die Panik, dass er jetzt aufgrund der Berührung endgültig ausrasten würde, aber Cedric drückte sich plötzlich mit aller Gewalt an ihn, dass er sich austarieren musste, um nicht auszurutschen, und schluchzte tief auf. Cedrics Arme schlossen sich um seine Taille, dass er fast das Gefühl hatte, von einer Boa Konstriktor angefallen zu werden, sein ganzer Körper wurde geschüttelt, während Cedric weinte.
 

Etwas hilflos machte Kunibert weiter, kraulte etwas ungelenk das widerspenstige dunkelrote Haar und murmelte einfach immer und immer wieder: „Ist ja gut… ist ja gut…“
 

„Es hat so schrecklich weh getan!“ schluchzte Cedric. „Und ich konnte gar nichts tun… und sie haben gelacht und sich daran aufgegeilt… Ich habe geblutet wie ein Schwein, ich konnte nicht mal richtig schreien, sie hatten mich geknebelt… und ich bin einfach nicht in Ohnmacht gefallen…und sie haben immer weiter gemacht… und gelacht…“
 

„Cedric… Cedric… Cedric… Sie sind nicht hier… nur ich bin hier… nur ich und du… Und ich bin dein Freund, ich habe dich gern…“, versuchte Kunibert ihn zu trösten. Diese Scheißkerle! Diese elenden Scheißkerle! Wie hatten sie Cedric das bloß antun können… aber gäbe es diesen Cedric, den er mochte, überhaupt ohne sie… gewiss… irgendwo in ihm musste es doch immer gewesen sein… das nette Arschloch… tief drinnen…
 

Cedric löste sich ein wenig und sah ihn aus verweinten Augen an. „Warum tust du dir das an?“ wollte er wissen.
 

Kunibert lächelte: „Habe ich doch schon gesagt.“
 

„Ich kann das alles gar nicht begreifen. Warum die? Warum du?“ stieß Cedric hervor.
 

Kunibert hatte auch keine Antworten. „Manchmal ist das Leben komisch, ohne witzig zu sein“, murmelte er schließlich.
 

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Es war wunderschön hier, ohne Zweifel. Postkartenhausen hoch zehn. Cedric hatte keine Ahnung, wie lange er da gestanden hatte, sich irgendwie in Kunibert verkriechend, als sei er das Steinfeld. Keiner hatte sie dumm angemacht, aber wer würde schon einem muskelbepackten Zwei Meter-Hünen krumm kommen, auch wenn das vielleicht ziemlich… kuschelig ausgesehen hatte, was es allerdings nicht gewesen war? Aber das hatte für ihn in diesem Augenblick keine Rolle gespielt, das war nicht irgendein Typ gewesen, sondern Kunibert, egal in welcher Form, sei es auch die einer Pygmäenfrau, egal, Kunibert. Schwul zu sein war eventuell leichter, wenn man so wenig den Klischees entsprach wie Kunibert. Oder schwerer. Wer wusste das schon, Kunibert war jedenfalls keiner von der Sorte, die er schon tausend Mal erlebt hatte. Kunibert mochte wie er schwul sein, aber das spielte keine Rolle. Kunibert war sein Freund, darauf beharrte sein geschütteltes Hirn vehement. Jemand, der für ihn da war. Jemand, für den er da sein konnte. Sexualität war nicht alles, das hatte Kunibert doch behauptet? Davor kam so viel mehr, das sein Kopf gar nicht kannte, aber das zunehmend an Bedeutung gewann, wie das andere sie verloren hatte. So konnte man auch leben.
 

Er wünschte, er könnte mehr zurück geben als seine verdammte Kohle, die Kunibert Bauchschmerzen bereitete. Nein, Kunibert war nicht käuflich. Nicht mit Geld, nicht mit Charme oder Inszenierung, und er war auch nicht manipulierbar. Jedenfalls wollte er ihn nicht manipulieren. Kunibert sollte exakt so sein, wie er eben war, Spongebob und Krümelmonster inklusive. Er hatte schon immer eine fatale Schwäche für dominant wirkende Muskelkerle gehabt, aber bei Kunibert zeitigte das ganz andere Auswirkungen. Es diente nicht der Bestätigung der eigenen Macht, sondern war irgendwie beruhigend. Die Nase an dieser Brust zu vergraben… hatte ihm irgendwie irrational Sicherheit gegeben. Ein völlig fremdes Gefühl, das er noch nie bei einer Berührung empfunden hatte. Wenn die von damals wieder auftauchten… Kunibert würde sie fertig machen, bevor sie ihn hätten, flüsterte ihm sein Unterbewusstsein. Komisch, war ja nicht so, dass Etienne nicht auch geholfen hätte, wenn er zur Stelle gewesen wäre… aber Etienne hätte notfalls eher die eigene Haut gerettet so wie er auch, meinte er zu wissen. Bei Kunibert war er sich nicht so ganz sicher. Er selbst war so ein erbärmlicher Schwächling… aber nichts an Kunibert verriet etwas davon, dass der das genauso sah. Wenn seine Eltern ihn sähen… oder sein altes Ich, wie er heulend in der Öffentlichkeit an diesem nerdigen Deutschen hing, der ihn tröstete als sei er drei und habe ein blutendes Knie… Schäm dich… Nein… vergesst es. Mache ich nicht. Brauche ich nicht. Haut ab! Aber es war lange her, dass es so an die Oberfläche geschossen war… nicht als Panikattacke, sondern als Heulkrampf…? Das war irgendwie neu… nicht unbedingt angenehmer, aber anders…
 

Jetzt saß Kunibert ihm gegenüber in einem ziemlich leeren Touristenrestaurant, mit dem er sich leidlich abfinden konnte, nachdem er sich wieder schamvoll hatte beruhigen können. Der Reflex, die Segel zu streichen und wieder zurück zum Auto zu hetzen, um schleunigst wieder nach Hause zu kommen, war stark gewesen, aber er durfte nicht einklappen, er durfte einfach nicht, denn sonst… sonst hätten sie doch Recht, was ihn anging. Nein, nein, nein! Ihm war zwar noch immer etwas übel, aber wenn er auf seine Atmung achtete und sich konzentrierte, dann ging es irgendwie. Immer daran denken, was Kunibert gesagt hatte… sie waren hier, es drohte keine Gefahr, alles war ganz „normal“… bloß nicht nachgeben… Kunibert vertilgte derweil seine zweite Portion Muscheln mit Fritten, nachdem er ihn aufgeklärt hatte, dass die erste keinesfalls die Vorspeise gewesen war. Kuniberts Blondschopf stand nach dem ganzen Wind da draußen völlig zu Berge, aber das war irgendwie… nett.
 

„Ihr solltet die Muscheln besser füttern“, kritisierte er. „Die sind definitiv zu mager!“
 

„Willst du vielleicht nicht doch lieber das Touristen-Menü mit Schnitzel?“ schlug Cedric vor.
 

Kunibert verzog das Gesicht. „Niemals!“ beharrte er, obwohl er nach Cedrics Erachten ziemlich gierig glotzte. Aber so ein Kerl wollte erst einmal gefüttert werden, davon konnte er mittlerweile ein Lied singen. Am Ende würde er auch noch verfetten wie Kuniberts Ex. Allmählich war ihm ziemlich klar, wie das geschehen sein mochte.
 

Er fühlte sich merkwürdig schwer, das kalte Würgen immer noch tief in der Kehle, aber das hier… sie, ein paar ganz normale Touristen… Kunibert und seine Muscheln… das war es… das Hier und Jetzt, er, das bisschen Leben, das er noch hatte und das er auch nicht rausrücken würde… koste es, was es wolle.
 

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Als sie aus dem Restaurant hinaus in die winterliche Kühle traten, streckte Kunibert reflexartig die Hand aus. Cedric musterte sie kurz stumm, dann griff er ihn am Handgelenk. Er mochte sich zwar wieder beruhigt haben, aber vielleicht gab es ihm trotzdem Sicherheit. Ein wenig grün um die Nase war er immer noch. War nur ein Angebot.
 

Cedric konnte so knallhart sein – aber zugleich suchte er nach Schutz, im Schatten der Einöde, der Steine, seines befestigten Hauses und wohl auch ein wenig in seiner Gegenwart, wie auch immer das geschehen war. Jeder Mensch tat das ein wenig, war es nicht das, was man einander gab neben vielem anderen, wenn man befreundet war? Kunibert wusste selbst, das sein Erscheinungsbild diese Möglichkeit ausstrahlte. Mochte Cedric daraus zehren. Er würde niemals jemanden aus Jux und Dollerei schlagen, aber wenn es zum Äußersten käme… Er war trainiert, koordiniert und besonnen. Gnade demjenigen. Gnade dem, der seinen Eltern, Frida oder… Cedric etwas antun wollte, solange er zur Stelle war. Gegen Feuerwaffen hatte er auch nichts zu melden, aber ansonsten… Zumindest der Wille war da, auch wenn das häufig auch nichts brachte.
 

Sie kletterten den Berg weiter hinauf, der spiralförmig verlaufenden Straße folgend. Oben wurden Führungen durch das Kloster angeboten, dessen Gemäuer bis ins 10. Jahrhundert zurück gingen. Sie schlossen sich einer kleinen Gruppe an, Frauen und Senioren, das bekam Cedric hin, lauschten und sahen sich um, ohne dass Cedric ihn losgelassen hätte, obwohl er ansonsten Distanz wahrte. Aber das war schon okay, das alles war ein immenser Schritt für Cedric. Cedric sah so wacklig aus, dass ihn wahrscheinlich alle für seinen ängstlichen Cousin aus Irland hielten. Aber die wussten auch nicht, wie viel Kraft Cedric in seiner Hand hatte… Die Sonne stand schon tief, als der Rundgang im an der höchsten Stelle des Berges gelegenen Kreuzgang endete. Bei klarem Wetter konnte man von hier aus die englische Küste erkennen, heute war es zu bewölkt.
 

Cedric ließ ihn los, trat an die Bögen des Kreuzganges und blickte hinaus übers winterliche Meer gen Britannien. Der Himmel war wolkenlos klar, dass die Luft nur so klirrte vor Frost. Irgendwie schien die Zeit still zu stehen, kalter Wind brauste, gelegentlich schrie ein Vogel, sonst – nichts.
 

„Oh Scheiße!“ entfuhr es plötzlich Cedric mit einem Blick über die Mauer zum Wasser hinab.
 

„Was?“ fragte Kunibert alarmiert, der auch ein wenig versunken gen Horizont gestarrt hatte.
 

„Die Flut steigt! Wenn wir zurück zum Auto wollen, müssen wir rennen!“ verkündete Cedric pragmatisch und sprang wieder auf die Füße.
 

„Oh weh!“ fiel Kunibert ein und wandte sich auch hastig um. Über die ganze Sache und diesen Anblick hatten sie komplett die Zeit vergessen. „Nichts wie ab durch die Mitte!“ spornte er sie an.
 

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Die gute Nachricht war: nein… es gab keine gute Nachricht. Sie saßen fest. Er war zwar auch verflixt schnell, aber seine Beine waren einfach nicht so lang und hier konnte er nirgends Haken schlagen und Abkürzungen benutzen. Außerdem war der Weg nach wie vor verdammt rutschig, wovon Kunibert jetzt ein Lied singen konnte, war er doch mit voll Karacho auf den Allerwertesten gedonnert. Wie zwei Ölgötzen glotzen sie am Fuß des Berges gen Festland, während das Wasser fröhlich weiter stieg.
 

„Tja, ist wohl leider echt eine Insel“, bemerkte er stumpf.
 

„Ach, aber inzwischen für Touristen. Wir finden schon was!“ gab Kunibert den Optimisten. Es würde Stunden dauern, bis der Pegel wieder fiel, da konnte man sich keinen Illusionen hingeben: Sie steckten fest über Nacht, die kleinen Boote, die im Sommer pendelten, fuhren nicht bei diesem eisigen Wetter über die unruhige See.
 

„Außerhalb der Saison?“ zweifelte Cedric.
 

„Die werden uns schon nicht auf der Straße erfrieren lassen“, baute Kunibert sie halbwegs auf. „Mist, ich habe mir die Hose beim Hinknallen aufgerissen. Jetzt sehe ich nicht nur aus wie ein Teenager aus den Achtzigern, sondern friere mir auch noch im wahrsten Sinne des Wortes den Arsch ab!“
 

„Ganz großes Kino“, ächzte Cedric. „Verdammter Mist. Wie spät ist es jetzt?“
 

Kunibert spähte auf seine Armbanduhr, obwohl die diese Bezeichnung nur bedingt verdiente. Sie sah aus, wie aus einer MacDonalds Juniortüte gefallen. „Halb Sieben“, verkündete er, seine lädierte Hose mit einer Hand notdürftig zurecht zupfend. Immerhin war sie nicht quer über seinen Hintern gerissen, sondern ganz unstylisch am unteren Ansatz der rechten Seite. Sah wirklich eher aus wie eine böse Modesünde.
 

„Okay… dann sollten wir uns mal erkundigen, wo wir hin können – und dann steht wahrscheinlich die nächste Fütterung an“, beschloss Cedric.
 

„Fütterung? Ich bin kein Gnu!“ protestierte Kunibert.
 

„Wohl nicht, denn das wäre bei der Aussicht auf ein Schnitzel mit Pommes wahrscheinlich nicht so erbaut“, lockte Cedric. „Oder willst du noch mehr Muscheln?“
 

„Nee… ich fühle mich von denen schon selbst ganz wabbelig“, gestand Kunibert. „Gibt es hier nur Muscheln und Schnitzel zu den Pommes? Wo bleibt die feine französische Küche?“ erkundigte er sich.
 

„Wir sind hier wahrscheinlich schon zu dicht an England“, gab Cedric zu bedenken, während er kehrt machte. Nach der Besichtigung ging es ihm wieder so halbwegs, auch wenn das hier wirklich nicht hätte sein müssen. Gott sei Dank hatte er Marx und Engels gut versorgt, die würden bis Morgen nicht verhungern. Die Insel war in der Tat mittlerweile fast wie ausgestorben. Die Läden einschließlich jenes prekären waren mit dem Verschwinden der Meute verrammelt worden, so dass er heil zurück gekommen war. Aber dennoch… nicht nach Hause zu können… stank ihm gehörig. Er würde es überstehen, immerhin war er nicht allein, aber in ihm sträubte sich so einiges dagegen. Ändern tat das bedauerlicherweise wenig. Er scheuchte Kunibert hinüber zur Touristeninformation, deren Herr und Meister sich wohl auch gerade aus dem Staube machen wollte.
 

Ein paar Minuten später kam Kunibert, immer noch unwohl an seiner Hose herum pfriemelnd, zu ihm zurück. „Es gibt eine Auffangstation für Deppen wie uns und Leute, die über Nacht bleiben wollen. Da zu dieser Jahreszeit nur relativ wenige Touristen kommen, hat nur ein Hotel überhaupt geöffnet, da sollen wir es versuchen. Vielleicht haben die da noch was, meinte er“, berichtete Kunibert.
 

„Na super“, schimpfte Cedric. „Vielleicht? Sollen wir ansonsten etwa in der Besenkammer pennen? Oder gleich in den Mönchszellen oben, natürlich gegen Extragebühr, weil das ja soooo ein Erlebnis ist, total authentisch bei Minusgraden!“
 

„Ach, die werden schon was haben“, blieb Kunibert auf Kurs und setzte sich in Bewegung.
 

Sie schlurften wieder bergaufwärts, bis sie das urige Hoffentlich-Quartier erreicht hatten. „Zum lachenden Mönch“… pfff… als sei das eine so witzige Beschäftigung gewesen auf dieser Insel am Arsch der Walachei… aber vielleicht war es auch ein verzweifeltes Lachen, gab es ja auch. Er positionierte sich neben der Tür, während Kunibert als Vorhut gen Rezeption schritt. Das Foyer war vollgestopft mit Ritterrüstungen, schweren Eichenmöbeln und gefälschten Gobelins, gusseiserne Leuchter verliehen dem Ganzen den letzten Schliff. Aus dem angrenzenden Speisesaal kamen Stimmen und Essensgerüche. Er sah zu, einigermaßen weit weg davon zu bleiben. Mittags war es gegangen, es würde auch wieder gehen, aber scharf war er nicht darauf. Aber immerhin Kunibert dürfte das Etablissement zusagen.
 

Nein, Kunibert war wohl doch kein Ritter. Nie im Leben hätte der in eine dieser Winz-Rüstungen gepasst. Realistisch betrachtet hatte wohl eher er die Figur eines durchschnittlichen Ritters. Wäre eigentlich ganz praktisch, so eine Rüstung, einfach das Visier runter…
 

„Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht“, riss ihn Kunibert aus seinen Träumereien.
 

„Wir kriegen echt die Besenkammer – aber die ist immerhin warm?“ tippte Cedric.
 

„Nicht… ganz“, murmelte Kunibert. „Wir können das allerletzte Zimmer haben, aber… es ist echt nur eins und…“
 

„Es ist scheißteuer, schon kapiert. Ich habe uns das eingebrockt mehr oder minder, also was soll’s“, tat Cedric sein Bestes, ihn abzuwürgen. Dennoch… ein Zimmer! Okay, sie hingen sich sonst auch rund um die Uhr auf der Pelle, und der Gedanke, in Kuniberts Nähe zu pennen, erzeugte ihm kein nacktes Grauen, nur ein etwas mulmiges Gefühl. War ihm ja daheim im Wohnzimmer auch ab und an halbwegs passiert, während Kunibert an seinem Kram rumdokterte, die Lektüre langweilig und das Kaminfeuer so warm war. Aber dennoch gab es Grenzen, zum richtigen Schlafen ging er doch hinauf in den ersten Stock, den Kunibert bis heute nie betreten hatte, und der doch eine gewisse Distanz gewährleistete.
 

„Äh, das ist der eine Punkt“, fuhr Kunibert fort und unterbrach seinen Gedankengang.
 

„Was denn noch? Kein Meerblick?“ fragte Cedric misstrauisch.
 

„Naja… es ist die Hochzeitssuite…“, beichtete Kunibert.
 

„Na, wundervoll, davon habe ich immer schon geträumt…“, ätzte er.
 

„Cedric, nimm das Zimmer, ich kann mich hier rumdrücken, hier ist es warm, das geht schon“, bot sich Kunibert an.
 

„Lass uns erst mal nachsehen… vielleicht geht es ja irgendwie… immerhin dürfte es nicht das Format der Besenkammer haben…“, schlug Cedric vorsichtig vor. Die Lage erst mal sondieren, genau.
 

„Okay, aber das ist echt kein Ding…“, versuchte Kunibert ihm klar zu machen.
 

„Ja ja… Bevor ich dich hier rum hängen lasse wie den letzten Penner können wir ja wenigstens einen Blick rein werfen… ob uns das Blumendekor gefällt… ob der Champagner auch richtig temperiert ist…“, murmelte Cedric und flitzte Richtung Treppe.
 

„Äh Cedric…?“ stoppte ihn Kunibert. „Ich glaube, ich muss erst mal zusagen…“
 

„Ach ja: Und lass dir schön zur Vermählung gratulieren, hier die Karte“, erwiderte er und drückte Kunibert eine seiner Kreditkarten in die Hand. Kunibert rannte zur Rezeption, gerade als zwei mögliche Konkurrenten, ein älteres amerikanisches Ehepaar der Sprache nach, durch die Eingangstreppe gepoltert kamen, flitzte mit der Abrechnung zurück, Cedric unterschrieb – die nahmen hier vom Vollen, wer hätte es gedacht – Kunibert rannte erneut, dann kam er endlich mit dem altertümlichen Schlüssel zurück. Sollte wahrscheinlich romantisch sein, wirkte aber gewollt und total hinterm Mond. Wie auch immer, die Amis schauten in die Röhre, wer zuerst kam…
 

Ihr Quartier befand sich im obersten Stockwerk. Es hätte auch einen Lift gegeben, aber das hatte diesen Hauch des Eingesperrtseins, der Cedric ganz und gar nicht gefiel. Außerdem hatte er Beine, also wozu der Quatsch, er war ja nicht neunzig. Hatte er vorher nicht so gesehen, aber da wäre er auch einer Sänfte nicht abgeneigt gewesen, die ihn zum Fitnesstraining gebrachte hätte. Wie hatte Opa Alain es so schön formuliert, als er als Kind rum gequengelt hatte?: Lauf, du fauler Sack! Er war wirklich voll Weisheit gewesen.
 

Ein hektisches Zimmermädchen kam gerade aus dem Zimmer gewieselt, dass sie sich das Aufschließen sparen konnten.
 

Sie traten ein.
 

„Krass!“ kommentierte Kunibert beeindruckt. Das war wirklich Mittelalter-Romantik-Terror pur: grob gemauerte Wände, winzige Fenster zur See hin, ein Kamin, in der der daheim drei Mal gepasst hätte nebst pittoresk gekreuzten Fake-Schwertern darüber und Möbel, die allesamt die Steigerung von „rustikal“ waren. Das Hochzeitsbett war mit einem von gedrechselten Pfeilern gehaltenen Baldachin versehen, aber es gab auch eine Couchecke mit Fernseher – igitt, aber er war ja aus – und eine Bar, auf der der befürchtete Sektkühler frisch hin drapiert stand. Auf das glückliche Paar… juhu…
 

Cedric horchte in sich. Bett und Sofa… okay… der Abstand war einigermaßen weit… dennoch… wild darauf war er nun nicht, aber nach allem, gerade heute, würde er Kunibert gewiss nicht ins Foyer verbannen – oder in die Badewanne.
 

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„Okay“, sagte Cedric. „Ich nehme das Sofa. Du bist zu lang dafür, also keine Widerrede.“
 

Kunibert nickte stumm. Eines hatte er gelernt: Reite bloß nicht darauf herum. Erwische den richtigen Augenblick, wenn es dennoch notwendig oder hilfreich sein könnte. Hoffe, dass du recht hast damit. Lass Cedric machen, aber sei da…
 

Besser das Naheliegende tun. „Ich habe Hunger“, stellte er klar.
 

„Bestell was beim Zimmerservice. Ich will auch das Schnitzel. Mir reicht’s für heute mit der Aushäusigkeit. Aber immerhin… über einen Mangel an Zeugen kann ich mich jetzt nicht mehr beschweren, jetzt habe ich sogar eine Hotelrechnung“, stellte Cedric fest und schlurfte gen Klo.
 

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Es war die reinste Tortur, das zu hören. Cedric jammerte leise vor sich hin im Schlaf, aber jetzt zu ihm rüber und ihn wach rütteln…? Ganz schlechte Idee… es war hell im Raum, Cedric hatte wortlos alle Lichter angemacht, es roch ungewohnt nach altem Holz. Nach dem Essen hatten sie so einigermaßen versucht, ihr übliches Gehabe fortzuführen, Cedric auf dem Sessel, er am Kamin, aber sie waren nun mal nicht im Haus am Feld. Den Champagner hatten sie verkommen lassen, sein Geschmack war das sowieso nicht, und Cedric trank ja nichts. Ganz kurz hätte er im Tran beinahe der Fernseher angestellt, hatte sich aber noch stoppen können. Wenn er etwas sehen wollte, konnte er das in seinen Zimmern am Laptop über Kopfhörer machen, störte ihn nicht sonderlich, aber Cedric hatte ihm ja gesagt, warum er jede Art von medialer Beschallung ablehnte. Musste ein merkwürdiges Gefühl sein in der Zeit allgegenwärtiger Bedröhnung seine Tage mit völlig anderen Dingen zu verbringen. Aber man gewöhnte sich wahrscheinlich daran. Der Großteil der Menschheit war Jahrtausende lang auch gut ohne ausgekommen, ohne prinzipiell in Trübsinn zu versinken.
 

Ob das jede Nacht so war? Oder war das nur die Anstrengung des heutigen Tages, die unverhofft wieder aufgerissenen Wunden? Jedenfalls standen ihm von Cedrics Schlaflauten die Haare zu Berge.
 

Er atmete tief durch und rief so sanft und laut er es hin bekam: „Cedric!... Cedric…!... Cedric…!“
 

Es dauerte eine Weile, aber irgendwann wurde Cedric ruhiger und verfiel wieder in tiefen Schlaf.
 

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Sie waren da… sie waren da… er hing fest, baumelnd, hilflos, bewegungslos… gleich…
 

Cedric…
 

Gleich… gleich…
 

Cedric…
 

Nein… das Feld… er lief… Bienen… Blumen… die Ratten… ein großer blonder Typ, der voll Freude zwischen Nichtigkeiten herum sprang…
 

Cedric…
 

Ein warmer Brustkorb… kein Sex… sein Freund…
 

Er sank wieder tiefer.
 


 

Die Sonne stand nicht am Himmel, aber der Uhrzeit nach war bereits Morgen. Er konnte Kuniberts tiefe Atemzüge hören. Draußen mochte es finster sein… aber hier lag alles im künstlichen Licht… es gab keinen Frieden in der Dunkelheit… in der Finsternis lag nur das Warten… Warten…
 

Vorsichtig rappelte er sich auf, der Ruf der Natur lockte ihn gen Sanitäranlage. Er riskierte einen Blick zur Seite. Kunibert hatte sich frei gestrampelt, trug aber nach wie vor Jeans wie Unterhemd, ganz offensichtlich ihm zuliebe, denn bequem konnte es nicht sein. Er sah so ganz anders aus im Schlaf als sein nerdiges waches Ich es aufdrängte. Himmel… was für ein wunderschöner Mann. Schade, dass er das nicht mehr schätzen konnte. Aber… irgendwie konnte er wohl schon, ansonsten wäre es ihm irgendwie wohl nicht aufgefallen. Kuniberts blondes Haar hing zerwusselt in seiner Stirn und leuchtete im Licht, die hellen Wimpern, die schlanken hohen Wangenknochen, die breiten Schultern und die kräftigen im Verhältnis dazu dennoch schmalen Hüften, die endlos langen Beine, durchtrainiert ohne Ähnlichkeit zu einem Storch, die relativ zarten Füße, die dennoch wahrscheinlich mindestens Größe vierundvierzig hatten… schlafend war Kunibert wirklich ein ganz anderer… Wirklich wie so ein Märchenritter…
 

Aber ein wenig war er das ja schon. Die zeitgemäße Nerd-Version, denn wo wäre er jetzt ohne diesen verqueren Trottel?
 

“Ich hab dich gern“, flüsterte er leise zu sich selbst, und verbat es sich, sich dabei idiotisch vorzukommen, denn es war nicht idiotisch. Es war die Wahrheit. Er hatte ihn wirklich gern. Irgendwo, irgendwie war dieser aufdringliche Vollidiot in seine Festung einmarschiert, die er für verschlossen und besiegelt befunden hatte.
 

Kunibert strahlte Schutz aus, und das war wahrscheinlich ein Pflaster auf seinen Horror. Aber Kunibert brauchte auch ihn, es war etwas Beidseitiges. Machte das Freundschaft aus? Eine Tendenz zur gegenseitigen Selbstlosigkeit? Was wäre, wenn wer Kunibert jetzt ernsthaft etwas drohte, würde er nicht alles tun… nur damit dieser Mensch weiter so bliebe… Egoismus und Altruismus in einer unentscheidbaren Umarmung?
 

Wie auch immer, auch dies war etwas Irrationales. Er mochte Kunibert. Er fühlte sich sicher, er fühlte sich gut, wenn er da war. Das war erbärmlich, unvernünftig, aber dennoch… gut.
 

So war es. Versteh das mal einer.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Salix
2011-12-13T12:12:36+00:00 13.12.2011 13:12
Hui,

schön beschrieben. Hab Bilder von Mont Saint Michel gesehen, deine Beschreibungen sind richtig schön bildlich.
Es ist richtig schön, dass Cedrig sich traut so einen Ausflug zu machen und Kunibert für ihn da ist.
Super ist auch, dass du Cedrig Zeit lässt seelisch zu heilen, also sehr realistisch schreibst.
Kurze Historikerumweg, die heute noch erhaltenen Rüstungen sind Zierrüstungen, welche auch in ihrer Zeit nicht getragen wurden. Die Rüstungen, welche die Ritter trugen sind sehr harten Bedingungen ausgesetzt gewesen und wurden, wie sehr vieles, wenn sie kaputt waren "recycelt", d.h. eingeschmolzen und das Metall für etwas anderes verwendet, war ja schließlich ein teurer Werkstoff.
Und die Menschen des Mittelalters waren etwa ähnlich groß wie wir heute auch, kam aber auch z.T. auf die Ernährung an und Ritter dürften meist gut genährt gewesen sein.

Liebe Grüße
Von:  chaos-kao
2011-12-12T23:31:29+00:00 13.12.2011 00:31
Cedi taut auf <3 Und er lässt sich jetzt umarmen und reagiert auf Zuruf - auch wenn seine Version von 'Händchen halten' wohl anders ist als die anderer Leute xD Aber süß - zuckersüß. Und ich finde es gut, dass es sich so langsam entwickelt. Bei anderen wären sie spätestens jetzt übereinander hergefallen oder sonstwas. Aber das passt einfach und ist einfach nur super zu lesen!
Ich freu mich schon unheimlich auf das nächste Kapitel! ^^
Lg
Kao


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