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Herz aus Stein

von

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Die Erdanziehungskraft gilt für alle

VII. Die Erdanziehungskraft gilt für alle
 

Die Sonne hatte ihren Zenit schon überschritten, als Kunibert systematisch die Steinreihen ablief, beginnend mit der Ecke, an der sie sich getrennt hatten. Er zwang sich langsam zu gehen und immer wieder von links nach rechts zu blicken. Sicher, Kalteis mochte irgendeine Krise bekommen haben, über deren Ursache er nicht mal ernsthaft spekulieren konnte, denn seines Erachtens war eben nichts geschehen, was sie ausgelöst haben mochte, aber was wusste er schon. Außerdem hatte er Kalteis für eine Weile nicht im Blick gehabt. War er im Haus oder versteckte sich irgendwo? Dann würde er ihn in der Tat niemals finden und ging Kalteis mit seinem Gerufe wahrscheinlich gerade gehörig auf den Sack. Aber daran war nichts zu ändern. Nicht nur hatten sie eine Abmachung, über deren Einhaltung oder auch nicht Kunibert doch ganz gerne informiert wäre, auch bestand die Möglichkeit, dass hier wirklich etwas im Argen hing, wie seine innere Stimme ihm zuflüsterte. Oder bekam er jetzt auch schon Wahnvorstellungen? Nein, das war sein Bauchgefühl, vielleicht nicht besonders rational, aber ihn selten täuschend. War Kalteis Angst eventuell durchaus konkreter, als er gedacht hatte, und jemand war wirklich hinter ihm her – und hatte ihn jetzt gefunden? Eventuell hatte der sich an die Fersen von Kalteis‘ Ex-Freund geheftet und ihn dann hier ausgemacht?
 

Es mochte gegen drei Uhr sein, es war immer noch recht warm, doch der sonnige Frieden des Feldes erschien ihm trügerisch. Hoffentlich war Kalteis nicht in die Fänge irgendwelcher Möchtegern-Druiden geraten, die ihn zum Stargast ihrer nächsten Opferzeremonie machen wollten. Ach, was für ein Blödsinn, sie waren ja nicht bei Stephan King. Oder zielte Kalteis Dilemma etwa darauf ab, dass auch er etwas ziemlich Gruseliges getan hatte, als man ihn an seine Grenzen getrieben hatte? Er hatte von Schuld geredet… worin bestand seine Schuld? Wenn er die Internetseiten richtig verstanden hatten, fühlten sich Opfer von Gewalttaten häufig an dem mitschuldig, was ihnen widerfahren war – etwa aufgrund ihres provokanten Auftretens. Und nicht selten gab die spießbürgerliche Doppelmoral der meisten Mitmenschen solchen Ideen nur Vorschub, dachte man nur an all jene vergewaltigte Frauen auf Erden, die obendrein für das, was man ihnen angetan hatte, auch noch von ihren Familien, Clans, Gesellschaften verstoßen und bestraft wurden. Ein Schuldeingeständnis mochte obendrein zumindest eine Erklärung bieten, wo es eigentlich keine gab… War es das – oder hatte Kalteis vielleicht einen auf Rächer gemacht und jetzt hatte ihn die Gegenrache oder die Polizei ereilt? Nein… das hätte er doch irgendwie mitbekommen, so weit weg war er auch nicht gewesen, oder?
 

Dass Kalteis jemanden in die Weißglut getrieben haben mochte, konnte er sich durchaus vorstellen – diese spitze Zunge, diese außergewöhnliche Erscheinung und wohlhabend schien er ja auch zu sein von Geburt an, das gönnte einem auch nicht jeder – aber gleich so etwas…? Etwas mit solchen Folgen…?
 

„Kalteis… Kalteis… bitte antworten Sie! Meinetwegen auch, dass ich mich verpissen soll, bis es wieder geht… aber sagen Sie irgendetwas, wenn Sie mich hören können… Kalteis…“, hörte er sich selber rufen.
 

Er fühlte sich merkwürdig allein, wie er da so zwischen den Steinreihen entlang schritt auf der Suche nach seinem unfreiwilligen Gefährten. Aber das Feld wirkte seltsam leer ohne die fühlbare Präsenz seines Herren.
 

„Kommen Sie… bitte… ich will nur wissen, ob alles in Ordnung mit Ihnen ist! Bleiben Sie meinetwegen, wo Sie sind, aber sagen Sie etwas!“ forderte er etwas verzweifelt. Was sollte er machen, wenn Kalteis verschwunden blieb? Die Polizei anrufen? Aber was, wenn er verschwunden sein wollte…? Aber Rücksichtnahme kannte ihre Grenzen, gerade bei so etwas, da mochte sie mehr schaden als nutzen.
 

„Kalteis… Kalteis… Kalteis?! Ach du Scheiße!“ fuhr Kunibert hoch, als er in die nächste Steinreihe trat.
 

Der andere lag bäuchlings auf dem Boden, kaum sichtbar im tiefen Gras, friedvoll von Insekten umschwirrt, die sich an den üppigen Blühten rings um seinen Körper delektierten und an... Er raste auf ihn zu und griff ihm reflexartig an die Schulter, während sein Geist überschlug, was hier vorgefallen sein mochte. Kleine Süden bestraft der Liebe Gott sofort, pflegte seine Großmutter immer zu behaupten – und in diesem Falle schien sie Recht behalten zu haben. Cedric war wie er gestern aufs Maul gefallen, war wohl doch nicht immer so geschickt, wie er sich gab, aber wer war das schon. Er knallte selber schließlich auch nicht jeden Tag in den Dreck. Anders als er war Kalteis aber keinem Kuhfladen zum Opfer gefallen, sondern einem hervor rankenden Brombeergestrüpp, in dem sein rechter Fuß immer noch fest hing. Und anders als er war er nicht weich gefallen, sondern frontal gegen einen der Menhire gekachelt, bevor er den Grund geküsst hatte. Und das offensichtlich mit vollem Tempo, wie ein ziemlich unschöner Blutfleck auf dem ungerührt dastehenden Stein verriet, um den bereits die Fliegen schwirrten. Genauso wie um Kalteis Kopf, wie ihm jetzt klar wurde, wo es noch deutlich mehr zu holen gab, von wegen Idyll. Kunibert durchlief ein leichtes Würgen, während er nach dem Puls tastete. Eine Woge der Erleichterung klatschte über ihm zusammen. Nein, Kalteis hatte sein Leben nicht damit beendet, dass er seinen eigenen Steinen und seiner eigenen Flucht zum Opfer gefallen war. Aber wenn das passiert war, als er vor der Reiterinnen-Invasion in Deckung gegangen war, dann lag er hier schon ziemlich lange mehr oder minder besinnungslos, das war ganz und gar nicht gut. Mit zitternden Fingern griff Kunibert nach seinem Handy. Wie um Himmels Willen lautete der französische Notruf? Er hatte keine Ahnung. Die einzige brauchbare Nummer, die er hatte, war die der Pension im Dorf, also probierte er es dort, beschrieb so rasch wie möglich, was zu tun sei und wo sie seien, dann streifte er das Hemd ab, das war nun wirklich auch egal, und warf es als Markierung über den höchsten erreichbaren Menhir. Da mochte noch einer über sein Knallgelb lästern… aber der lästerte momentan nicht, ganz und gar nicht. Kunibert verjagte die Fliegen und blickte den anderen zähneknirschend an. Was tun? Der hatte eine Kopfverletzung, Gott sei Dank war er mit dem Kopf zur Seite gedreht gelandet, sonst wäre er zu allem Überfluss wahrscheinlich noch erstickt. Aber so jemanden bewegte man tunlichst nicht unprofessionell, vielleicht war auch noch etwas mit seinen Wirbeln. Sah übel aus, so wie das geblutet hatte, aber Platzwunden am Kopf wirkten häufig dramatischer, als sie waren. Die rostroten Haare waren völlig durchtränkt, das sommersprossige Gesicht hatte eine gruselige Bemalung erhalten. Er sah gar nicht mehr aus wie dieses giftspritzende Etwas, sondern wie jemand, den es wirklich übel erwischt hatte. Wahrscheinlich sah er jetzt nur auch äußerlich so aus, wie er auch innerlich war: völlig zermust und niedergestreckt. Er tat ihm einfach nur leid und machte ihm eine Scheiß-Angst. Es stimmte wohl, er hatte keine Ahnung, wie das sein mochte, sich so zu fühlen wie Kalteis.
 

Irgendwie verging die Zeit gar nicht und rasend schnell. Immer wieder kontrollierte Kunibert den Herzschlag, aber da tat sich nichts, sein Herz schlug immer weiter, er würde nicht drauf gehen – aber ob ihn das ernsthaft freuen würde? Was war, wenn er irgendwelche Schäden davon tragen sollte? Irgendwann hörte er die nahende Sirene, rief, damit sie sie nur schneller fänden, dann lag Kalteis plötzlich auf einer Trage, eine Notarzt war über ihn gebeugt. Kunibert wurde gefragt, was er über den Vorfall wisse, während er sich zurück in sein Hemd zappelte.
 

Einer der Sanitäter wandte sich an ihn. „Kommen Sie mit?“ fragte er ihn, während Kalteis durch die Gegend geschleppt wurde, als sei er aus Porzellan. So sah er auch aus. Wie kaputtes Porzellan.
 

„Ich…“, stotterte Kunibert leidlich überfordert.
 

„Wenn nicht Sie, dann sollten Sie schnellstmöglich jemanden informieren, der ihm nahe steht. Jemand muss Auskunft geben – und Gegebenenfalls da sein, wenn er aufwachen sollte“, wurde er informiert, während er sich auf sich verselbständigenden Beinen dem Tross anschloss.
 

„Äh…“, stammelte er nur. Nahe stand? Nein, er stand Kalteis ganz gewiss nicht nahe. Das Problem war nur: niemand tat das anscheinend. Kalteis hatte sie alle fort gejagt. Und niemand war hier außer ihm. Was wusste er schon über Kalteis… Nichts als Vermutungen. Garantiert nicht seinen Versicherungsstatus oder seine Blutgruppe. Und er bezweifelte auch stark, dass Kalteis sich freuen würde, wenn er aufmunternd grinsend an seinem Bettchen säße, wenn… falls… er aufwachte. Aber irgendwer musste doch… eigentlich nicht er… Aber anders als Kalteis glauben mochte, ließ ihn nicht jeder kaltschnäuzig am Boden liegen und ging dann Fußball gucken. Er konnte sich nun wahrhaft Schöneres vorstellen, aber Kalteis einfach seinem Schicksal zu überlassen… das könnte dem so passen. Außerdem war der noch immer der Herr der Steine, auch wenn die seiner Autorität nicht gewichen sein mochten. Nein, da musste er wohl ran vorerst. „Okay“, murmelte er. „Aber… er hat ein Trauma oder so, glaube ich… Er kann die Gegenwart Fremder nicht ertragen.“
 

„Gut. Dann kommen Sie!“ wurde er aufgefordert.
 

Nein, gut war das gewiss nicht. Bei Cedric Kalteis war gar nichts gut.
 

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Schmerzen… Licht, das weh tat… oh, Gott… nein… neinneinnein… aber da war Licht… eine Frauenstimme… der Geruch… Krankenhaus… Krankenhaus… schon wieder… hörte das denn nie auf…
 

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„Herr…?“ fragte der Arzt.
 

Kunibert erhob sich, sich völlig deplatziert fühlend, von einem der zu kleinen, festmontierten Plastikstühle im Wartebereich. Hatten sie Kalteis versehentlich in die Kinderabteilung gesteckt? Wie ein Kind sah er nun wirklich nicht aus, auch wenn er so groß sein mochte, wie Kunibert selber mit zwölf. Aber er hatte auch immer in der letzten Reihe stehen müssen auf allen Klassenfotos – neben der Bank.
 

„Lerchenfels“, stellte er sich vor, wohl wissend, dass dieser Name eine Zumutung war für französische Zungen. Kalteis sprach ihn immer korrekt aus… aber sein eigener Name wirkte auch nicht gerade urfranzösisch, da mochten seine Wurzeln breit gestreut sein.
 

„Sie sind ein Freund von Monsieur Kalteis?“ wollte der Arzt wissen.
 

„Äh… eigentlich nicht. Ich habe auf seinem Grundstück mit seiner Hilfe Vermessungsarbeiten im Auftrag der Denkmalschutzbehörde durchgeführt. Monsieur Kalteis Grund beherbergt ein neolithisches Steinfeld, ich bin Prähistoriker von der Universität Kiel in Norddeutschland und promoviere darüber“, erklärte er etwas weitschweifig.
 

„Wissen Sie, wie wir jemanden ihm nahe Stehendes kontaktieren können?“ wollte der Arzt wissen.
 

„Nein“, gab Kunibert zu. „Soweit ich weiß, meidet Herr Kalteis jeden Kontakt, aber ich weiß auch nicht besonders viel. Ich bin kein Psychologe, aber er scheint sich ziemlich verkrochen zu haben, hat Angst vor anderen Menschen und meidet sie, weil ihm irgendetwas zugestoßen ist.“
 

Der Arzt nickte bedächtig, als würde für ihn plötzlich etwas Sinn machen. Kunibert wurde mulmig. „Kann ich irgendetwas tun?“ fragte er ein wenig hilflos.
 

„Sieht nicht so aus… Wir bräuchten seine Krankenunterlagen…“, grübelte der Arzt.
 

Kunibert schluckte. „Wie… wie geht es ihm?“ fragte er vorsichtig.
 

„Ich kann Ihnen keine genaue Auskunft darüber geben, das tut mir leid. Er wird es überstehen. Haben Sie irgendeine Idee, wo wir nachfragen könnten?“ fragte der andere Mann.
 

Kunibert zwang sich nachzudenken. Wer wusste etwas über Kalteis? Die Leute im Dorf, sicher, die Familie, zumindest Teile davon, waren dort schon lange ansässig. Er räusperte sich und teilte dem Kittelträger seine Vermutung mit, ihm gleich die Nummer der Wirtin mit aushändigend.
 

Dessen Miene hellte sich ein wenig auf, auch wenn er erschöpft aussah.
 

„Und was soll ich jetzt…?“ fragte Kunibert ratlos.
 

Der andere musterte ihn kurz. „Sie mögen zwar kein Freund Monsieur Kalteis‘ sein – aber ein Bekannter sind Sie, wenn auch flüchtig, sehe ich das richtig?“ hakte er nach.
 

Kunibert nickte.
 

„Wäre es in Ordnung für Sie, wenn wir sie kontaktierten, wenn er aufwacht und bis dahin niemand anderes hier auftaucht? Wenn er Probleme mit Fremden hat, wäre das eventuell eine Erleichterung für ihn?“ meinte der Arzt.
 

„In Ordnung“, stimmte Kunibert zu. „Kann ich machen.“ Musste er nicht. Aber konnte er. Was wäre wohl, wenn Kalteis wieder aufwachte und sich hier wieder fand? Weckte das dann Erinnerungen an einen anderen Krankenhausaufenthalt…? Was hatte der Arzt so komisch verstehend geschaut…? Kalteis mochte zwar ganz und gar nicht scharf darauf sein, ihn zu sehen – aber er wäre immerhin ein nicht völlig unbekanntes Gesicht, das in jenem eventuellen vorherigen Szenario keine Rolle gespielt hatte. Hoffentlich sähe Kalteis das genauso…
 

Aber bis dahin… Hier hatte er wohl nichts mehr zu tun… Abwarten, Tee trinken, Steine fotografieren… Die würden sich schon melden… oder auch nicht… aber Kalteis würde wieder werden, immerhin. Zumindest physisch.
 

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Ihm war übel. Kotzübel. Kotzspeiübel. Irgendwie schaffte er es, sich auf die Seite zu rollen, bevor es losging.
 

Er hörte Schritte, Stimmen, jemand griff nach ihm… eine Frau… Gott sei Dank… nicht dass Frauen weniger übel waren… aber sie waren es nicht gewesen… sie konnten nicht…
 

„Monsieur Kalteis?“ wurde er angesprochen.
 

Er konnte nicht antworten, war leider zu sehr mit reihern beschäftigt, die Welt drehte sich, als sei er im Vollsuff, ein Riese kloppte fröhlich mit einem Hammer auf seine Rübe ein. Ein Riese… hatte etwa… nein… Was war…?!
 

Ein kühler, nasser Lappen legte sich auf sein Gesicht, er wurde sauber geputzt wie ein Breilein sabbernder Zweijähriger und wieder zurück in die Horizontale befördert, ohne dass er sich hätte zur Wehr setzen können. Aber das kannte er ja schon. Sie dokterten an ihm herum, während er da lag und sich fragte, was der Quatsch denn solle. Die Mühlen des Systems, wer hier landete, wurde wieder zusammen geflickt, ob er wollte oder nicht. Allerdings wollte er keine Schmerzen haben… und er wollte auch nicht abnippeln, er feiger Blödmann. Dann musste er das wohl einfach durchstehen. Einfach auf Durchzug schalten hieß da die Devise, solange es irgend ging.
 

„Monsieur Kalteis?“ kam es erneut.
 

„Wasispassiert?“ krächzte er mit trockener Kehle, während die Welt weiter mit ihm Schlittschuh lief, und er sich nicht ganz schlüssig war, ob er es überhaupt wissen wollte. Aber dieses Mal tat ihm nur die Rübe weh, nicht der… Rest.
 

„Sie sind gestürzt“, wurde er informiert. „Sie haben eine Wunde am Kopf, die wir nähen mussten, und wahrscheinlich eine ziemliche Gehirnerschütterung. Damit hatten Sie wahrscheinlich noch Glück im Unglück.“
 

Aufs Maul gefallen, na klasse. Wie denn, was denn? Er konnte sich nicht erinnern, beim Denken wurde ihm nur noch übler. Das letzte, was er erinnerte, war der Gedanke: „Scheiß-Pferde-Tussis“.
 

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Zwei Tage waren verronnen, ohne dass Kunibert von seinem Gastgeber gehört hatte. Sie hätten sich gemeldet, und er war kaum in der Position vor Kalteis Zimmer herum zu lungern wie ein Familienmitglied oder Freund und stündlich nach seinem Wohlergehen zu fragen. Mal vorbei schauen würde er gewiss, aber wenn er gebraucht würde, würden die sich schon melden. Aber für Cedric Kalteis waren in erster Linie andere verantwortlich, die dieser jedoch offensichtlich nicht um sich haben wollte – wie eben niemanden. Aber würde es sie wirklich abhalten…? Bisher waren sie anscheinend ganz gut damit klar gekommen, immerhin versauerte Kalteis schon seit zwei Jahren hier. Oder war Kalteis so rabiat gewesen? Oder… kamen sie auch einfach nicht damit klar, was immer es auch sein mochte…? Sie sollten für ihn da sein, zumindest dieser Ex-Freund hatte das ja nach wie vor angeboten, und nicht er, ein Fremder.
 

Fast wäre er vor Entsetzen eingegangen, als plötzlich eine Stimme hinter ihm erklang. Einen Herzschlag lang war er fast der Überzeugung, dass Kalteis eine Wunderheilung hingelegt hatte – oder aus dem Krankenhaus getürmt war – und schon wieder hinter ihm stand wie eine nächtliche Erscheinung bei Tageslicht.
 

Aber die Stimme war weiblich. „Wer sind Sie, und was treiben Sie hier?“ wurde er angefahren.
 

Bibbernd blickte er hinab gen Grund. Eine zierliche Frau stand vor ihm, die vielleicht gerade mal eins fünfzig groß sein dürfte. Sie war nicht mehr die Allerjüngste. Ihre Kleidung sprach von gediegenem Wohlstand. Eine Flut von Sommersprossen zierte ihr zartes Gesicht, ihre Haare schienen hellbraun gefärbt, aber Kunibert wäre jede Wette eingegangen, dass auch sie einst rostrot gewesen sein mussten. Ein Paar giftgrüner Augen starrte ihn verdrossen an, verstörend, sie in einem anderen Gesicht zu sehen. Da hatte Kalteis das also her… seine Mutter, jede Wette.
 

„Lerchenfels! Kunibert Lerchenfels!“ stellte er sich vor und bemerkte, dass er kurz davor war zu salutieren wie vor seinem Offizier beim Bund. Aber der war persönlich ganz freundlich gewesen, was er von dieser Frau irgendwie nicht vermutete. Sie hatte eine merkwürdige Ausstrahlung, irgendwie kalt. „Ich bin mit offizieller Beauftragung der Denkmalschutzbehörde hier!“ rechtfertigte er sich automatisch und begann hektisch in seinem Rucksack zu wühlen, um ihr das Schreiben vor die Nase zu halten.
 

Sie ließ ihn gewähren mit dem kritischen Blick einer sehr strengen Grundschullehrerin – oder eines Flottenadmirals. Wortlos schnappte sie sich das Schreiben, von der Ängstlichkeit ihres Sprösslings keine Spur. Teure Ringe blitzten an ihren schlanken Fingern. Ein Smaragd von der Farbe ihrer Augen blinkte an ihrer rechten Hand. Die war es gewohnt, dass jeder nach ihrer Pfeife tanzte, ohne sich auch nur Fragen erlauben zu dürfen. Der Tonfall kam ihm doch bekannt vor… aber hier diente er nicht in erster Linie der Fassade.
 

„Nun gut“, beschloss sie nach eingehendem Studium. „Estelle Kalteis. Sind Sie das, der meinen Sohn ins Krankenhaus gebracht hat?“
 

Er überging die Doppeldeutigkeit ihrer Frage. Wollten die ihn hier etwa beschuldigen oder was? Das konnten die sich sauber abschminken. „Ich habe ihn gesucht, gefunden und den Notarzt gerufen, nachdem er verunglückt war“, erwiderte er so ruhig, wie er konnte.
 

„Dennoch wird es meinem Sohn kaum recht sein, dass Sie sich ihm aufgezwungen haben“, entgegnete sie ungerührt. „Er ist… empfindlich. Er möchte keine Gesellschaft“, stellte sie klar.
 

Kunibert zog die Augenbrauen zusammen. Das wusste er ja durchaus. Und auf eine Gesellschaft wie diese Dame da hätte er an Kalteis Stelle auch gut verzichten können, aber vielleicht bekam er das nur in den falschen Hals. Dennoch hatte er Probleme, sich diese Frau als eine Mutter vorzustellen, die ihren Sohn im Arm hielt und tröstete – vielmehr als eine, die ein paar teure Therapeuten bezahlte, die das für sie erledigen sollten. Wahrscheinlich war er da ungerecht – aber sie war ihm grundunsympathisch, Punktum. So ähnlich sie ihrem Sohn erscheinen mochte, ihr fehlte dessen Zwiespältigkeit, Verletzlichkeit. War Kalteis vor seinem Unglück etwa auch so gewesen?
 

„Ich respektiere seinen Wunsch nach Zurückgezogenheit“, sagte er steif. Zumindest graduell… Aber wenn er Kalteis in Ruhe gelassen hätte, hätte er weder gelacht noch gereimt… und wäre eventuell auch gegen den Stein geklatscht, ohne dass ihn jemand gefunden hätte. Okay, das mochte eine billige Rechtfertigung sein für das, was er hier trieb, aber deswegen ließ er sich noch lange nicht als Grobian charakterisieren, das hing ihm nämlich ziemlich zu den Ohren raus.
 

Sie sah ihn sinnend an, irgendwie merkwürdig prüfend.
 

„Wie geht es ihm überhaupt?“ fragte Kunibert tastend.
 

„Der Arzt sagt, es hätte schlimmer sein können. Platzwunde, Blutverlust, Gehirnerschütterung. Wenn Sie mit meinem Sohn zu tun hatten, wissen Sie wahrscheinlich, dass er… psychische Probleme hat?“ fragte sie bohrend.
 

Er nickte nur stumm.
 

„Er lebt hier ganz allein… Es wäre besser, wenn er Hilfe bekäme…“, fuhr sie vorsichtig, etwas lauernd fort.
 

„Sie wollen ihn einweisen lassen?“ fragte er direkt, innerlich in Habachtstellung. Mal wieder typisch… Warum hielt er nicht einfach mal das Maul?
 

„Ich möchte, dass das Beste für meinen Sohn getan wird. Freiwillig wird er nicht gehen…“, fuhr sie fort.
 

Kunibert schluckte. Ihm dämmerte, dass sie versuchte, ihn vor ihren Karren zu spannen. Sollte er etwa behaupten, Kalteis sei mit blutunterlaufenen Augen mit einer Axt hinter ihm her übers Steinfeld gejagt? Nein, so deutlich würde die sich nie ausdrücken. Aber da war es wieder, das Bauchgefühl. Sie mochte ernsthaft das Beste für ihren Sohn wollen – aber doch nicht so! Das ging ihn doch alles gar nichts an… Die Steine für ihn, Cedric Kalteis dafür sicher und warm in der Klapse? Nein, so lief das nicht.
 

„Dann sollte man ihm vielleicht seinen Willen lassen, denn er ist frei“, sagte er nur.
 

„Natürlich!“ bestätigte sie, als sei da nie etwas im Busche gewesen. Hatte er sich das etwa doch nur eingebildet? Zu viel Kalteis auf einmal war ansteckend? Nein… Bauchgefühl war Bauchgefühl.
 

„Wann kommt er denn… nach Hause?“ fragte er, wieder das Niveau einer harmlosen Konversation ansteuernd.
 

„Schwer zu sagen. Er wird noch ein paar Tage im Krankenhaus liegen müssen… aber dann… schwierig… er will sich ja nicht helfen lassen…“, seufzte sie.
 

„Na ja“, murmelte er und lächelte sie möglichst sonnig an. „Das dauert ja noch. Schön, dass er auf dem Wege der Besserung ist! Bis dahin kann Ihr Sohn sich ja auch selber etwas überlegen! Grüßen Sie ihn von mir!“
 

Sie kniff die Lippen zusammen. Hatte er es sich doch gedacht, Kalteis wollte Mama nicht an seinem Krankenbettchen sitzen haben. Und irgendwie konnte er ihm das nicht einmal verdenken.



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