Knockin' on Hell's Door
Kapitel 18
Knocking on Hell's Door
Dass der Großteil von ihnen keinen ruhigen oder allzu erholsamen Schlaf gehabt hatte, sah man der Gruppe Menschen in dem Konferenzraum des mehrstöckigen BBA Gebäudes recht schnell an. Am Kopf des riesigen Tisches hatte Mister Dickenson Platz genommen, unmittelbar rechts von ihm Kai und die Reihenfolge setzte sich fort mit Tyson, Max, Kenny und einigen weiteren Mitgliedern der BBA Organisation. Links von dem rundlichen Mann saß Lee, sein Gesicht eine eher düstere Maske aus Besorgnis und klarer Verstimmung, seine pinkhaarige Schwester neben ihm wirkte eher verzweifelt und bestürzt. Weiter folgten überwiegend Polizeibeamte, denn mittlerweile wurde von einer Entführung ausgegangen, anders ließ sich Rays abruptes Verschwinden nicht erklären und auch die Fakten implizierten dies ziemlich stark.
"Sie schlagen doch nicht ernsthaft vor, dass wir einfach nur rumsitzen und nichts tun?", das war Lees Stimme gewesen, und der Kapitän der White Tigers klang alles andere als glücklich.
"Momentan können wir nicht viel anderes tun, Mister Wong," die Aussage kam von dem Kriminalbeamten, der vor seinem Notizblock aufsah, die Blätter davon bereits vollgekritzelt mit verschiedenen Aussagen und Details, die er für seine Ermittlungen als wichtig ansah. "Ohne Hinweise suchen wir hier die Nadel im Heuhaufen - unsere beste Chance ist es, auf Kontaktaufnahme und Forderungen von der Entführerseite zu warten."
"Falls sie überhaupt welche stellen werden," konterte Lee barsch und wendete sich dem BBA Vorsitzenden zu. "Mr. Dickenson, Sie können sich doch denken, wer dahintersteckt! Wo Tala ist, ist auch Biovolt nicht weit, da haben wir wohl schon die Richtung, in der wir suchen müssen!"
Angesprochener tupfte sich abermals an diesem Morgen seine kahle Stirn ab. "Schon, schon. Wir haben auch Kontakt zu unseren Zweigstellen in Russland aufgenommen, aber die Abtei existiert schon lange nicht mehr und auch sonst wurden nie irgendwelche außergewöhnlichen Aktivitäten in Verbindung mit Beybladen bemerkt. Wenn es wirklich Biovolt ist, könnten sie überall sein."
Nach dieser Aussage schlug Lee aus purer Frustration heraus mit der Faust auf die Tischplatte, was Mariah zum Aufzucken brachte, bevor ihr Bruder sich im Stuhl zurückfallen ließ, die Arme vor der Brust verkreuzt.
Der Kriminalbeamte tippte sich indes nachdenklich ans Kinn. "Die gesamte Vorgeschichte zeigt immer wieder auf, dass diese sogenannten... Bitbeasts im unmittelbaren Fokus jener Organisation zu stehen scheinen. Mister Kon besitzt meines Wissens nach ebenfalls eins dieser... Wesen?"
Tyson gab ein zustimmendes Nicken von sich. "Ja, Driger."
"Und ist dieses... Driger-Wesen in irgendeiner Weise besonders?"
Der Blauhaarige legte die Stirn in Falten. "Nicht, dass ich wüsste...", er blickte kurz zu Mariah, die nur hilflos den Kopf schüttelte. Soweit sie wusste, war Driger genauso ein Bitbeast, wie jedes andere und letztendlich war ein jedes Bitbeast nur so stark, wie sein Meister. Ray gehörte zweifelsohne mit zu den Besten, doch konnte es wirklich der Grund sein?
"Sie müssen verstehen, ich versuche, ein Motiv zu finden, denn wenn eins bekannt ist, kann es die Ermittlungen erleichtern. All ihren Aussagen nach war Mister Hiwatari der Erste, der dem vermeidlichen Entführer begegnet ist. Mister Granger und Mister Kon kamen nach, wenig später verließen Mister Hiwatari und Mister Granger den Saal aufgrund eines Missverständnisses wieder." Das 'Missverständnis' war dem Kripobeamten durchaus bekannt, aber auf eine Bitte hin hielt er davon ab, alle Details an die große Glocke zu hängen. "Seitdem hat niemand mehr Mister Kon gesehen. Das alles hat eine sehr hohe... Willkür- und Zufallsquote. Wenn es ein Plan war, war dieser entweder sehr gewitzt, sehr wagemutig oder überhaupt nicht vorhanden."
Lee verengte die Augen. "Es würde mich sowieso interessieren, warum sie nicht einfach Kai mitgenommen haben. Schließlich war er mit Tala allein, bevor Tyson und Ray auftauchten," die dunklen Augen des White Tigers Kapitäns bohrten sich in die rubinroten ihm gegenüber, die sofort bedrohlich aufblitzten.
"Was willst du damit sagen?" hackte der junge Russe scharf nach, auch wenn er wusste, dass der angedeutete Verdacht durchaus legitim war. Er war mit Tala allein, mehr noch, er war mehr oder weniger absolut überrumpelt gewesen; es wäre ein Leichtes für den Rotschopf gewesen, ihn auszuschalten und wohin auch immer mitzuschleppen. Was hat Tala davon abgehalten?
"Du hast mich schon verstanden," entgegnete Lee währenddes trocken. "Es würde mich auch nicht wundern, wenn du mit denen unter einer Decke steckst."
Tysons Augen weiteten sich, Kais hingegen verengten sich fast zu Schlitzen. Seine Gesichtszüge froren in einer finsteren Maske ein, Körper angespannt. "Was hast du gesagt, du Made?" Die Tonlage war kalt und nachdrücklich, von einer Sekunde auf die andere war die Luft unangenehm negativ geladen.
"Es ist dein verdammtes Ex-Team!", fauchte der dunkelhaarige Blader ihm entgegen. "Und schließlich rennst du jedesmal auch sofort zu ihnen zurück, wann auch immer sie wieder aufkreuzen!"
"Du kleines-!"
"Kai, nicht!" Es war Tysons Hand, die rasch um seinen Oberarm griff und den Teamleader davon abhielt, aus seinem Sitz hochzuschnellen, um dann höchstwahrscheinlich quer über den Tisch nach Lees Kragen zu langen. Besagter Blader war gänzlich aufgesprungen, Mariah mit ihm.
"Hört auf!", hallte ihre verzweifelte Stimme im Raum wieder, als einer ihrer Arme um die Brust ihrer Bruders griff, ihn zurückhaltend. "Hört auf, euch zu streiten! Lee, bitte!"
Kai knurrte gefährlich, erlaubte es seinem Freund jedoch, ihn zurück in den Sessel zu ziehen, Lee seinerseits bedachte den Phönix mit einem vernichtenden Blick.
"Jungs, bitte, beruhigt euch!", appellierte auch Mr. Dickenson an die erhitzten Gemüter. "Wir werden Ray finden, das verspreche ich euch, aber es gibt keinen Grund, aufeinander loszugehen." Vielleicht war es besser, diese Versammlung langsam aufzulösen. Sie hatte schon gut ein paar Stunden gedauert und drehte sich nunmehr nur noch im Kreise, was alle Anwesenden unnötig belastete.
Lee und Kai trugen immer noch ein Starrduell aus, Tyson sah ziemlich unbeholfen aus und auch der Rest der Bladebreakers erschien viel bedrückter, als zuvor. Es hatte ja so kommen müssen... würde sich ihr Kapitän denn nie davon reinwaschen können, was Jahre über Jahre zurück lag? Sie glaubten an ihn, so felsenfest wie immer... doch was war mit dem Rest der Welt?
Mariah standen die Tränen in den Augen und sie kaute verstört auf ihrer Unterlippe herum, die Sorge, die Aufregung und kaum Schlaf überbeanspruchten ihre Nerven gerade gehörig und sie wusste, Lee hatte es nicht wirklich böse gemeint. Er war einfach nur genauso überstrapaziert, wie sie – es zeigte sich nur auf eine vollkommen andere Art und Weise. Als ihr Bruder sie dann in den Arm nahm, brach sie letztendlich in leises Weinen aus, die zerbrechlichen Schultern erschüttert von milden, unterdrückten Schluchzern.
Sie hatte so wahnsinnige Angst um Ray... allein die Erinnerung an seinen damaligen Beykampf mit Bryan, nachdem er, übersät mit Schnittwunden, auf einer Transportliege aus dem Beystadium gerollt wurde... Und die Schreckgeschichte mit Talas Cyberisierung war ihr ebenfalls bekannt... Wenn es wirklich Biovolt war, die Ray in ihren Fängen hatten, vermochte wohl keiner zu sagen, was sie ihm alles antun konnten... Sie hatte solche Angst.
"Vielleicht wäre es besser, wenn für den Moment alle wieder heimkehren und sich etwas ausruhen," steuerte auch der Kriminalpolizist zu Situationsentladung bei. "Wir werden alle weiteren, nötigen Schritte einleiten und melden uns sofort, wenn wir etwas Neues rausfinden. Sollte jemand von ihnen etwas hören oder sollte jemandem von ihnen irgendetwas einfallen, melden Sie sich bitten umgehend bei uns," damit deutete er auf die kleinen Visitenkärtchen, die neben den Wassergläsern an jedem Platz lagen.
Kai stand als erster auf, die Tür im Visier würdigte er niemanden mehr eines Blickes, als er rasch auf den Ausgang zusteuerte. Er musste hier raus und sich abreagieren, vor allem musste er Distanz zwischen sich und Lee bringen, bevor er es sich anders überlegen und ihm doch eine reinhauen würde. Natürlich... natürlich waren diese Vorwürfe nicht unbegründet, und vielleicht machte es Kai nur umso wütender. Er würde nie von diesen Erinnerungen wegkommen, nicht wahr? Sogar wenn Tala nicht da war, schaffte er es immer wieder, in sein Leben einzugreifen. Es war bitter... Es tat weh.
Tyson schnappte sich das kleine, rechteckige Stück Papier mit der Nummer des Ermittlungsbeamten vom Tisch und hastete dem Älteren hinterher, versäumte es aber nicht, im Vorbeigehen Max und dann Kenny an der Schulter zu tätscheln. Diese waren kaum später ebenfalls auf den Beinen, auf dem Weg raus aus dem Raum. Kai entdeckte der Mannschaftwirbelwind dennoch nicht mehr im Gang, sich fragend, wohin der junge Russe so schnell verschwunden war.
Statt dem Lift hatte Kai die Treppen genommen, um diese in einem lockeren Schritt rauf zu joggen, alle 32 Stockwerke hoch zum Dach. Eine Methode, die ihm immer half, sich ein wenig abzureagieren – sportliche Aktivität, egal, welcher Art. Seine körperliche Verfassung und Kondition waren top, deswegen schaffte er es ohne größere Anstrengung bis nach oben. Sein Atem ging schwer, doch das würde sich bald legen, und während er die Tür vor sich aufstieß, wischte er sich mit dem handschuhbedeckten Handrücken den dünnen Schweißfilm von der Stirn.
Die Sonne war noch nicht allzu hoch am Himmelszelt, was die Umgebung in ein mildes Morgenlicht tauchte, die Luft war frisch und der sanfte Wind fühlte sich sehr angenehm auf der erhitzten Haut an. Das Dachplateau war umringt von einer kniehohen Randabgrenzung, ansonsten war nichts auf dem grauen Beton, auf dem Kai ein paar Schritte vorwärts machte, um dann den Blick umherschweifen zu lassen.
"Es ist dein verdammtes Ex-Team!"
Ja... Ja, das war es. Sein wortwörtlich verdammtes Ex-Team. Was wollten sie nur? Und warum ausgerechnet Ray? Absicht? Zufall? Irgendein verdrehtes, teuflisches Schemata?
"Es würde mich sowieso interessieren, warum sie nicht einfach Kai mitgenommen haben."
Ehrlich gesagt interessierte Kai das auch. War es zweckorientiert gewesen? Damit Zweifel an Kais Loyalität gesät wurden, damit andere anfingen, ihn schief anzublicken und sich zu fragen, ob er diesmal wohl auch den Rückfalltäter spielen würde...? Ja, das passte zu Balkov oder seinem Großvater, falls wirklich beide oder einer von ihnen hinter all dem steckte. Er seufzte. Dies würde ihm noch viel Kopfzerbrechen bereiten, das wusste er jetzt schon...
Die nächsten zehn, zwanzig Minuten vergingen unmerkbar für ihn. In eine Vorstellungswelt eingetaucht, schlich die Zeit behäbig an ihm vorbei, die Ruhe und die Stille hier oben waren wie Dünger für Gedankengut; Ideen, Vermutungen und Vorahnungen, die meisten davon nicht gerade schön, sprossen bereitwillig aus den Tiefen des Bewusstseins. So bemerkte er auch nicht, wie aus der Tür hinter ihm eine wohlbekannte Gestalt austrat, zumindest nicht, bis selbige Gestalt ihre Stimme hob.
"Ах вот ты где," sprach Tyson durch ein Grinsen aus. Die Phrase hatte er sich, wie so manch eine andere, beim gemeinsamen Schauen russischsprachiger Filme – selbstverständlich noch mit Untertitel – gedanklich notiert und sie passte gut zur Situation, warum also nicht das Gelernte mal anwenden.
Das entlockte Kai ein ausgelassenes Auflachen, als er sich zu dem Jüngeren umdrehte. Tyson hatte einen absolut niedlichen Akzent, wenn er versuchte, Russisch zu sprechen, wobei er aus den meisten alleinstehenden oder aufeinanderfolgenden Konsonanten instinktiv Silben bilden musste und so manche russische Laute, die es im Japanischen zum Teil auch gar nicht gab, in der Aussprache lieblich verkorkste. Es war immer noch ein kleines Kunststück, ihn zu verstehen, doch er machte gute Fortschritte, was sehr erfreute.
"Кто ищет, тот всегда найдёт," antwortete er amüsiert, während der Andere näher trat und neben ihn stehen blieb.
"Heißt?"
"Wer suchet, der findet," versorgte er seinen kleinen Lehrling auf dessen Frage hin mit der Übersetzung des Idioms und verbrachte die nächsten paar Minuten auf Tysons Bitte hin damit, die Redensart und einzelne Wörter daraus klar und langsam zu wiederholen, bis der Blauhaarige eine relativ akzeptable Aussprache des Satzes hinbekommen hatte – ein ziemlich spaßiges Unterfangen, für sie beide.
Das allein stehende, scharfe 't' rollte von Tysons Zunge einfach nicht ohne einen Hauch von 'o' und 'e' hintendran, wenn er's nicht gerade mal ganz verschluckte. Wieso mussten auch so viele russische Worte damit enden? Und dann noch dieser Unterschied zwischen weich- und scharfgesprochenen Konsonanten, da wurde es für den gebürtigen Japaner überhaupt ein Zungenbrecher. Wann man noch so tolle Laute wie 'ы' und die für ihn kaum zu unterscheidenden 'ш' und 'щ' reinwarf, dann... Na ja. Er versuchte trotzdem sein Bestes und letztendlich war das Beste, was er aus "Kto ischet, tot vsegda naidjot" machen konnte, so was wie "Kuto ischite, too useguda naideyoto."
Woraufhin Kai skeptisch meinte, der zweite Teil des letzten Wortes höre sich sehr nach 'idioto' an und deswegen waren sie beide gerade herzhaft am Lachen.
Mittlerweile hatten sie auch in einer Position zusammengefunden, die sie als Paar anscheinend favorisierten: irgendwann im Laufe des Gesprächs hatte Kai seinen Freund zu sich gezogen, oder eher gesagt vor sich, um seine Arme von hinten um dessen schlanke Taille zu schließen und Tyson schön fest und nah bei sich zu halten. Somit spürte er auch die leichten, durchs Lachen ausgelösten Vibrationen, die durch den gut gebauten Körper des Jüngeren gingen und auch das leichte Anspannen der Bauchmuskeln, als er den Oberkörper dank all demselben Lachen etwas nach vorne beugte. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, lehnte Tyson sich auch sogleich wieder gegen seinen Phönix zurück, legte dann den Kopf in den Nacken und somit auch auf Kais Schulter. Der kleine Größenunterschied zwischen ihnen schien hier auch perfekt zu passen.
"Geht's dir wieder besser?", fragte er nach dem ganzen Spaß mit einer eher ernsten auch wenn distinkt sanften Note.
Kai drehte leicht den Kopf und blickte in besinnliche, rehbraune Augen, die den seinigen so nahe waren. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, die kurz darauf Tysons Stirn streiften. "Ja," eine simple Antwort, die nicht wirklich viel verriet - ganz Kai, eben.
Tyson ließ eine seiner Hände über Kais Armen, die um ihn lagen, ruhen und hob die zweite, um mit den Fingerspitzen sachte über die Wange des Älteren zu streicheln. "Denk einfach nicht zu viel darüber nach... Bestürzt oder nicht, er hatte kein Recht, das zu sagen." Tyson selbst versuchte ebenfalls, sich Lees Aussagen nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen. Wenn er sie damals gehört hätte, wären ihm jetzt sicherlich Rays Worte in den Sinn gekommen...
"Ihr seid jetzt zusammen, das heißt, egal was passiert, auch wenn es nur einen von euch betrifft, wird es Auswirkungen auf euch Beide haben."
Sicherlich traf es ihn immer, wenn jemand seine Teamkollegen anging. Doch mit Kai war es mittlerweile anders... mit Kai war es, als ob sich dessen Stimmung direkt auf Tyson übertrug, ob positiv oder negativ, ob Freude oder Schmerz, ob Motivation oder Selbstzweifel, ob Vertrauen oder Missfallen. Er wunderte sich, ob es diese berühmte Verbindung war, die Partner mit der Zeit zueinander aufbauten... Die Fähigkeit, den Anderen zu spüren, instinktiv zu wissen, wie es um ihn stand, ohne großartig viele – oder gar keine – Worte zu brauchen.
Von dem Teamchef war indes nur ein mildes "Hmm," zu hören.
Ob Lee nun das Recht oder einfach nur Recht gehabt hatte, Tysons Worte taten trotzdem gut. Überhaupt, all das hier, das bloße Zusammensein, die Nähe, das Gespräch, hatten eine sehr lindernde Wirkung auf Kai. Es war schön, es war angenehm, es beruhigte. Die Finger an seiner Wange krochen ein Stück weiter, griffen letztendlich sanft um seinen Nacken und zogen ihn zu dem Jüngeren runter. Eine stumme, liebevolle Einladung, der er ohne zu Zögern folgte und Tysons Lippen zärtlich mit den eigenen einfing. Ein gemächlicher, bedachter Kuss, den sie beide vollends auskosteten, eingehüllt in das sanfte Gold der ersten kräftigen Sonnenstrahlen, die über ihre Silhouetten streiften, als ob liebkosten sie dieses sinnliche Bild von zwei vollkommen voneinander eingenommen Menschen, die für ein paar wundersame, heilsame Momente nichts außer dem jeweils anderen um sich herum wahrnahmen.
Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, entkam Tyson ein wohliges Seufzen und er schloss kurz die Augen, sich gemütlich tiefer in die Umarmung einkuschelnd. "Ich hoffe, Ray geht's gut...", murmelte er und spürte, wie Kais Griff um ihn ein wenig fester wurde.
Der Ältere drehte den Kopf und drückte einen sachten Kuss gegen die Schläfe seines Freunds. "Das hoffe ich auch...", antwortete er leise, den Blick in die Ferne zu der aufgehenden Sonne gerichtet.
Zwar zweifelte Dranzers Meister nicht an der Tatsache, dass Mr. Dickenson und die BBA alles daran setzten würden, Ray zu finden, dennoch hielt ihm sein scharfer Verstand einen heranreifenden Plan vor, der ihn nachdenklich werden ließ. Er hatte Ray mehr oder minder in diesen Schlamassel rein gestoßen, demnach fühlte er sich für das, was seinem Teamkameraden passiert war, überaus verantwortlich - mehr noch, als er sich sowieso schon als Kapitän für jeden seiner jüngeren Teamkollegen verantwortlich fühlte. Es war ein Schuldbewusstsein, welches Lees Worte nicht gerade gemindert hatten. Davon abgesehen war der gebürtige Chinese natürlich auch ein langjähriger und enger Freund, den Kai so oder so nie im Stich lassen würde. Insofern... Hm.
Er beschloss, noch eine Nacht darüber zu schlafen und wenn er sich wirklich dazu entschließen würde, seinen Plan in die Tat umzusetzen, würde er es wohl kaum jemandem sagen, denn solche Konzepte arbeitete Kai doch lieber alleine aus und ab. Nichtsdestotrotz gab es nunmehr einen Menschen, den er höchstwahrscheinlich dennoch einweihen wollen würde – und diesen Menschen hielt er gerade in seinen Armen.
Es brachte ihn beinahe zu einem positiv resignierten Lächeln; positiv, weil die Resignation von der Seite der Unnachgiebigkeit, des Willen und des Stolzes, alles alleine schaffen zu wollen, kam. So fing Vertrauen an und ja, er vertraute seinem Drachen, auch darauf, dass dieser ihn problemlos verstehen und bereitwillig unterstützen würde. Immerhin, es war Tyson. Er würde alles tun und alles geben für das Wohl von Freunden und Familie... wie weit würde er dann gehen für den, den er liebte...? Wie viel opfern? Wie viel aufs Spiel setzten, wie viel überwinden, wie viel ertragen? Irgendwo hatte Kai das Gefühl... es würde mehr sein, als er selbst und Tala füreinander hatten geben, opfern, überwinden und ertragen können.
Dennoch, es war nur ein Gefühl oder eher eine Hoffnung. Hoffnung darauf, dass diese Beziehung wirklich stärker sein konnte, als die, die ein Mal so schmerzvoll in seinen Händen zur Asche zerfallen war. Er wollte nicht noch einmal 'Ich liebe dich' sagen, 'Ich liebe dich' hören, wenn es ihn wieder durch so viel Agonie und Torturen jagen würde... Er wusste nicht, bei all seiner psychischen und physischen Festigkeit, ob er stark genug war, noch einmal eine ähnliche Katastrophe durchzuleben, durchzustehen, wie die mit Tala.
Aber konnte es solch eine Sicherheit überhaupt geben...? Konnte das Vertrauen wirklich so weit repariert und gefestigt werden, dass es keine Angst, keine Zweifel mehr gab? War er überhaupt noch dazu in der Lage, jemanden so aufrichtig und bedingungslos zu lieben, wie er einst Tala geliebt hatte? Wenn zum schwankenden Vertrauen in die Liebe ein angeschlagenes Selbstvertrauen in die eigene Fähigkeit zum Lieben kam, gab es überhaupt noch Rettung? Konnte Tyson Kais Glauben daran wiederauferstehen lassen, ihn davon überzeugen, dass es sie gab - die Liebe, die für ewig hielt? Die nicht zu Bruch ging, die aufrichtige Versprechen nicht dazu zwang in Lügen und ins Leere zu laufen, die einen stark genug machte – die stark genug war – um alle Krisen zu überstehen?
Die Antworten auf all diese Fragen wusste Kai nicht. Diese Antworten konnte wohl keiner wissen und auch keiner geben... Nur die Zeit. Die Zeit würde es zeigen. Im Moment versuchte er nicht zu viel daran zu denken, sondern sich mehr darauf zu konzentrieren, dass sie Ray wohlbehalten wieder kriegten. Er hoffte wirklich, dem goldäugigen Tigerjungen ging es gut...
Nun, wie es Ray ging, konnte momentan wahrscheinlich nicht mal er selbst sagen. Als er wieder zu sich kam, war das erste, was er fühlte... Übelkeit, und ein sehr unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Sein Körper war schlaff, geschwächt; es bedurfte gewisser Anstrengungen, die Muskeln zum Kontrahieren und seine Gliedmaßen somit zum Bewegen zu bringen. Keine Sekunde später wurde er sich dessen bewusst, dass er in besagten Bewegungen eingeschränkt war: seine Arme waren hinter seinem Rücken an den Handgelenken mit etwas kaltem, festem zusammengehalten. Handschellen...?
Die Erinnerungen kamen schlagartig wieder. Die vermummte Gestalt und ihr Teamleader, der ihr hinterherjagte. Tala und Kai, sich küssend, Tysons erschütterte Reaktion. Seine eigene Konfrontation mit dem rothaarigen Russen, dessen Worte, der Schlag – erst der, den er ausgeteilt und dann der, den er eingesteckt hatte. Danach... nur noch schwarz. Der Bastard hatte ihn doch tatsächlich ausgeknockt.
Das verwunderliche daran war, dass solch ein Schlag normalerweise gar nicht in einem Knock-Out hätte resultieren sollen, angesichts Rays Training und ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Tala war... anders. Hinter seinem Angriff hatte eine beinahe unmenschliche Kraft und Präzision gesteckt, wenn er wirklich drüber nachdachte, war es fast schon... beängstigend. Doch das mal außen vor, die Frage, die ihn gerade viel mehr beschäftigte war: Wo war er jetzt?
Rays Augenlider flatterten zögerlich auseinander, wo auch immer er war, die Lichtverhältnisse hier waren spärlich, es herrschte Halbdunkelheit und er hatte den Sinneseindruck der Fortbewegung, nur dass es natürlich nicht seine Beine waren, die ihn vorantrugen. Zuerst sah er nur verschwommenes, teilweise schwärzliches Grau, doch die Bilder wurden zunehmend klarer. Sein Gehirn war schnell darin, die bekannten Empfindungen zusammenzufügen: er lag auf der Rückbank eines Autos und was ihn fortbewegte, waren wohl die Räder des Gefährts. Na ja, liegen tat eigentlich nur sein Oberkörper, seine Füße waren auf dem Wagenboden. Ein leises Stöhnen passierte seine Lippen, als er versuchte, sich aufzurichten.
"Wieder wach?"
Die Stimme kam von links, war schmerzlich bekannt und sie zu hören erfreute Ray überhaupt nicht. "Wo bin ich...?", seine eigene Stimme war rau und etwas brüchig, er leckte kurz über seine trockenen Lippen, um sie etwas zu befeuchten. Wie lange war er ohnmächtig gewesen...?
"Glaub mir, das willst du gar nicht wissen. Sei einfach brav und mach keine Faxen, mir wär's lieber, wenn ich dich nicht noch mal ins Knock Out schicken müsste."
Der Schwarzhaarige schnaubte verächtlich, sollte das eine Drohung sein? Doch er war nicht so töricht, den eigenen schweren Nachteil nicht einzusehen und einen auf taff zu machen, deswegen versuchte er einfach nur weiterhin, sich aufzurichten. Überraschenderweise griff eine starke Hand alsbald um seinen Oberarm und zog ihn mit einer eher bemerklichen Leichtigkeit in eine aufrechte Sitzposition.
Nachdem er die Hand zurückgezogen hatte, verkreuzte Tala die Arme wieder vor der Brust und richtete den Blick seiner eisblauen Augen aus dem getönten Fenster. Damit erklärte sich wohl auch die Halbdunkelheit im Inneren des Wagens, nichtsdestotrotz waren Rays katzenartige, goldene Seen in der Lage, so einiges hinter dem verdunkelten Glas zu erkennen.
"Wir sind nicht mehr in Japan, nicht wahr...?", fragte er leise.
"Nein," war die knappe Replik, die er erhielt.
Na das war ja großartig... Ray schloss erschöpft die Augen, er fühlte sich ziemlich angeschlagen. Wenn er nicht mehr in Japan war, wo war er dann? Russland? Er hatte es nicht wirklich gut erkennen können, aber die paar Straßennamenschilder und Werbeplakate schienen mit kyrillischen Buchstaben geschrieben zu sein. Doch Russland war ein riesengroßes Land und auch nicht das einzige, das sich kyrillischer Schrift bediente. Man hatte ihn doch tatsächlich verschleppt. Doch wohin genau? Und wozu? Wer genau steckte dahinter? Fragen über Fragen, doch irgendwo hatte er die ungute Vermutung, dass er keine baldigen Antworten kriegen würde, wenn er diese überhaupt wirklich wissen wollte... Unwohl war ihm selbstverständlich sehr, das ein oder andere Fünkchen Angst flackerte auch irgendwo unter der soweit eher ruhigen Erscheinung.
Wie lange sie unterwegs waren, vermochte er nicht zu sagen, doch langsam dämmerte es hinter den Fensterscheiben. Das Auto hielt schließlich irgendwann an, Tala stieg aus. Ray konnte hören, wie der Andere um den Wagen herum ging, bis er an seiner Beifahrertür ankam und diese aufmachte.
"Steig aus," lautete die Anweisung, der Ray auch folgte, eine andere Möglichkeit hatte er ja nicht wirklich.
Talas Hand fand einmal mehr um seinen Oberarm und er zog Ray mehr oder minder mit sich; noch etwas benommen fiel es dem Ex-White-Tiger schwerer, mit dem forschen Tempo des jungen Russen schrittzuhalten. Sie waren im Vorhof eines großen Gebäudes, das nicht sonderlich hoch – nur drei Stockwerke – dafür aber unheimlich groß und in einer Art Rechteck gebaut war. Hinter ihnen gingen die mächtigen Einfahrtstore langsam wieder zu, bestehend aus dicken, langen, schwarzen Eisenstäben, die, an der Spitze speerartig geformt, gebieterisch in die Luft ragten. Ansonsten schien das gesamte Grundstück von einer ungefähr drei Meter hohen, dicken aber dennoch hübschen, aus rotem Backstein gebauten Mauer umschlossen zu sein.
Von bebautem Gelände eingekreist war eine eher attraktive Szenerie: breite Treppenstufen führten hoch zu einem bepflasterten, weiträumigen Vorplatz in dessen Mitte eine von weißem Marmorrand umringte Fontaine stolz ihre klaren Wassermassen in den Bassin darunter regnen ließ. Links und rechts von dem Vorplatz – Blumenbeete, ansonsten überwiegend sauber gemähte Grünfläche mit dem ein oder anderen mächtigen Baum, die das Gebäude zusätzlich vor Einblicken schützten. Irgendwo war das alles schon fast... idyllisch. Sie überquerten den Vorplatz und fanden sich vor einer weiteren treppenbebauten Anhöhe. Die Stufen raufgestiegen, ging es die paar Meter weiter, die eine Reihe von Glastüren, getrennt von tief-grün gestrichenen, metallischen Rahmen von ihnen entfernt waren.
Ein paar besagter Glastüren fuhr einladend auseinander, als sie bei ihnen ankamen. Der Eingangsbereich war groß und erinnerte irgendwo an den einer Schule oder eines Amtsgebäudes, massive Steinsäulen hielten die Decke sicher über ihren Köpfen, Treppen führten links und rechts hoch, die Mitte war mit Bänken versehen und in den Ecken standen ebenfalls Sitzgelegenheiten in Form von Sesseln und kleinen Sofas. Zu jeder Seite von jeder Treppe führten lange Gänge weg.
Die gegenüberliegende Wand war genauso verglast und vertürt, wie die, durch die sie gekommen waren, dahinter lag wohl so etwas wie ein großer Garten und wenn ihn nicht alles täuschte... auch so etwas wie Sportplätze. Alles war pikobello sauber und glänzend, alles hatte einen gewissen elitären Flair, fast wie ein Hochschulinternat. Hier hauste doch nicht wirklich Biovolt...? Verglichen mit der eingemauerten, grauen Tristheit der Abtei wäre das Ganze hier ja eine beinahe schon evolutionäre Umstrukturierung... Was wieder die Frage aufkommen ließ: war es überhaupt Biovolt, oder steckte etwas oder jemand ganz anders hierhinter?
"Was ist das für ein Ort...?", huschten die Worte, an Tala gerichtet, über Rays Lippen. Zugegebener Weise staunte er nicht gerade schlecht, die eigene missliche Lage momentan vergessen.
Der Rothaarige gab zuerst ein undefinierbares Schnauben von sich, und setzte dann mit einem kaltblütig emotionslos ausgesprochenen Wort einen sehr krassen Kontrast zu der prächtigen, peniblen Aufmachung um sie herum: "Die Hölle."
Ray blinzelte zuerst verwirrt, doch mit einem Male erschien die Umgebung sehr viel weniger freundlich und angenehm. Tala nahm ihm die Handschellen ab und er rieb sich kurz die Handgelenke, die einen schwachen Abdruck der metallischen Ringe trugen. Er schätzte, der Andere sah keine Gefahr mehr und er hatte wohl auch Recht, Ray konnte ihm wohl kaum mehr abhauen.
Der Kapitän der Blitzkrieg Boys schloss trotzdem wieder seinen stahlharten Griff um den Oberarm des Jüngeren und steuerte dann die rechte Treppe an, welche sie bald in den ersten Stock hochschritten. Sie endete in einem breiten Treppenbereich, eine Seite davon war komplett verglast und bot einen netten Ausblick nach draußen, den Drigers Besitzer nicht verpasste. Es stellte sich heraus, dass das, was er vorhin gesehen hatte, nicht wirklich Sportplätze waren, sondern akkurat abgegrenzte Beyarenen inmitten eines sehr weiten Grünareals. Davon abgesehen war die Grünfläche geteilt mit bepflasterten Gehwegen an dessen Rändern braungestrichene Sitzbänke standen, meistens im Schatten von mächtigen Baumkronen.
Sein Blick schweifte dann über den Treppenbereich; links und rechts von ihnen gingen Glastüren weg und die Flure dahinter waren überraschenderweise mit Teppich ausgelegt: rechts königsblau, links weinrot. So wie es aussah, lag ihr Ziel im blauen Bereich. Erst, als sie sich der Glastür genähert hatten, bemerkte Ray den Mechanismus rechts davon, wie eine Art Gegensprechanlage.
Talas Hand, die nicht damit beschäftigt war, den Schwarzhaarigen festzuhalten, presste ihren Zeigefinger gegen den breiten Plastikknopf. Ein roter Punkt blinkte auf dem oberen Teil der Anlage, ein Kameraauge -etwas, was Ray nur vermuten konnte, aber was Tala wusste. Was er ebenfalls wusste, war, dass die schweren Türen, dessen eine Hälfte er nach einem kurzen surrenden Ton öffnete, aus Sicherheitsglas bestanden und dass ihre metallischen Rahmen überaus dick waren.
Er wusste auch, dass, sobald man die Schwelle übertrat und besagte Tür hinter einem zufiel, man aus diesem Bereich nicht mehr ohne weiteres rauskam. Der Grund dafür saß nicht sehr viel weiter an einem breiten Schreibtisch. Ein erwachsener, breitschultriger Mann, der kurz den Blick hob und die Ankömmlinge musterte. Da er nicht aufgestanden war, sah Ray nicht das, wovon Tala und jeder andere hier ebenfalls schon lange wusste: an dem Gürtel dieses Mannes war eine Feuerwaffe geschnallt und sie war gewiss keine Attrappe. Was der Rothaarige auch wusste – dieses Gebäude zählte nicht nur drei Stockwerke über, sondern auch genauso viele Stockwerke unter der Oberfläche. Und je tiefer nach unten es ging...
"Tala?"
Angesprochener blinzelte und fokussierte seinen Blick auf die Person, die ihn gerade leise aber bestimmt beim Namen gerufen hatte. Goldfarbene Augen schauten ihn aufmerksam an und er bemerkte erst jetzt die Spannung in den Gliedern und Sehnen seiner Finger, die sich viel zu fest in den Oberarm des Anderen verkrallt hatten. Er löste seinen Griff abrupt und gänzlich, schließlich würde Ray ihm nunmehr bestimmt nicht mehr weglaufen können.
"Komm mit," sprach er schroff aus und ging voraus, den schmalen, langen Gang zwischen zahlreichen Türen entlang. Alles war vollkommen - beinahe unheimlich - ruhig, es war schwer, zu sagen, ob sich in den Räumen hinter diesen braunen Holzplatten Menschen befanden oder nicht.
Schließlich blieb Tala vor einer dieser vielen Türen stehen und stieß sie auf. Mit einer kurzen Geste bedeutete er dem Schwarzhaarigen, einzutreten, was Ray auch tat, wobei der junge Russe ihm nicht folgte.
"Wenn ich du wäre, würde ich hier nicht rauskommen. Falls du unbedingt musst, Toiletten sind am Ende des Gangs."
Eine Chance, etwas zu erwidern oder zu fragen hatte Ray nicht, da die Tür nur einen Moment später wieder zufiel. Zwar gab es kein Geräusch von einem umgedrehten Schlüssel, doch nach Talas freundlichem Rat hatte er nicht wirklich das Verlangen, diese vier Wände zu verlassen und gegebenfalls in den nicht gerade gastfreundlich aussehenden Mann draußen am Eingangsbereich reinzulaufen. Stattdessen nahm er sich die Zeit, sich etwas umzusehen.
Nun ja, wirklich viel zu sehen gab es nicht. Gegenüber der Tür ein Fenster, links davon ein Bett, rechts davon ein Stuhl vor einem Schreibtisch, über welchem ein kleines, leeres Regal angebracht war und auf welchem eine volle Wasserflasche stand. Der Schrank in der Ecke rechts von der Tür war ebenfalls leer und mehr gab's auch nicht zu entdecken. Er trat zum Fenster und schaute hinaus, der Ausblick war eigentlich ganz nett, denn man konnte von hier aus die Fontäne sehen. Das Fenster an sich hatte jedoch keine Klinke oder Ähnliches, ließ sich also auch nicht aufmachen. Außerdem hatte Ray das Gefühl, dass das Glas ziemlich dick war. Um genau zu sein war es – so wie gut 95% solchen durchsichtigen Materials hier - Sicherheitsglas, aber das konnte er ja nicht wissen und momentan hatte er auch nicht vor, sich daran zu versuchen, es einzuschlagen.
Er nahm einen willkommenen Schluck aus der so rücksichtsvoll zur Verfügung gestellten Wasserflasche, setzte sich auf die Bettkante und... Ja. Was nun? Er hatte nicht die geringste Ahnung, was das Ganze sollte, doch er hatte auch nicht wirklich Lust, es herauszufinden. Er klopfte seine Taschen ab und stellte zu seiner Überraschung fest, dass man ihm Driger nicht abgenommen hatte. Komisch... normalerweise waren Blades und Bitbeasts die Nummer Eins auf Biovolts Jagdliste. Waren sie es vielleicht doch nicht, oder hatten sie sich nur so radikal verändert? BEGA Zwei Punkt Null?
Behutsam strich er über das Emblem des weißen Tigers auf dem Bitchip und seufzte auf. Niemand störte ihn in seinem Einzelzimmer und letztendlich beschloss er, sich hinzulegen und vielleicht eine Mütze Schlaf zu kriegen. Zumindest würde er so ein wenig Zeit totschlagen, denn diese verging ermüdend langsam, wenn man nichts zu tun hatte, außer herumzusitzen.
Bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzte, entschied er sich, die von Tala zuvor erwähnten Toiletten aufzusuchen. Vorsichtig machte er die Tür auf und lugte in den Gang heraus: Totenstille, Menschenleere. Den Mann am Eingang ausgenommen, lebte hier überhaupt jemand? Und wo war Tala hin verschwunden? Ein tiefes Einatmen und Ray setzte einen Fuß über die Türschwelle. Bald war er auf dem Weg entgegengesetzt der Richtung, aus der Tala und er gekommen waren und zählte fleißig die Türen mit, damit er auf dem Rückweg ja nicht die falsche erwischte... Er würde es wirklich nicht begrüßen, bei jemanden unverhofft vorbeizuschneien, falls hinter diesen Türen tatsächlich andere Menschen hausen sollten.
Glücklicherweise waren die Toiletten mit einem kleinen Schildchen, das 'WC' verkündete, ausgezeichnet und er bemerkte beiläufig, dass sich im Zimmer direkt gegenüber anscheinend die Duschen befanden. Also mussten hier Menschen leben, zumindest genug, um mehrere Sanitäranlagen erforderlich zu machen. Die Toiletten waren sogar noch sauberer, als der Rest des Gebäudes, fast schon steril und ebenfalls leer; kein Laut zu hören, keine Seele zu sehen. War ihm ehrlich gesagt aber auch recht... Er erledigte schnell, wofür er gekommen war, wusch sich die Hände und machte sich schnurstracks auf den Weg zurück. Irgendwie behagte ihm diese ganze Atmosphäre nicht... Nein, sie war ihm ganz und gar nicht geheuer.
Kaum aus der Tür raus, stellte er fest, dass hier doch andere Vertreter der Homosapiens umherstreuten, weil er mit einen von ihnen fast frontal zusammenstieß. Es war ein braunhaariger Junge, etwa einen halben Kopf größer als Ray selbst, gekleidet in eine ausgewaschene, blaue Jeans und ein eng anliegendes, schwarzes Shirt. Dunkelbraune, fast schon schwarze Augen bohrten sich in den gebürtigen Chinesen, der hastig einen Schritt zu Seite und aus dem Weg des Anderen nahm.
Er murmelte eine Entschuldigung, ein wenig erschrocken von der plötzlichen Gesellschaft. Er hatte den Jungen weder hören noch kommen sehen, es war beinahe so, als wäre dieser aus dem Nichts aufgetaucht. Ray war sich auch nicht sicher, ob der Brünette ihn überhaupt verstehen konnte, vielleicht hätte er lieber auf Englisch schalten sollen aber nach so vielen Jahren in Japan war das 'gomen nasai' fast schon automatisch von seinen Lippen gerutscht. Er erhielt keine Antwort, sein Gegenüber bewegte sich überhaupt nicht, er blinzelte nicht einmal, nur jene onyxfarbenen Augen hafteten eindringlich auf Ray, sodass ihm unter diesem unverwandten Blick ziemlich unwohl wurde.
"Please excuse me," damit schlüpfte er letztendlich hastig an dem Größeren vorbei und schritt genauso hastig den Weg zurück zu seinem Zimmer, falls man dieses als 'seins' betiteln konnte. Der Andere folgte ihm höchstwahrscheinlich mit den Augen, denn er spürte diesen Starrblick allzu deutlich auf seinem Rücken brennen.
Endlich kam er an seinem Ziel an und verschwand schnurstracks im Zimmerinneren. Die Tür hinter sich zugemacht, lehnte Ray sich schwer dagegen und atmete geräuschvoll aus. Das eben, war definitiv gruselig gewesen. Einige Momente lang klopfte sein Herz schneller und lauter in seiner Brust, die katzenartigen Sinne geschärft horchte er in die Stille hinein, um sich zu vergewissern, dass draußen keine Schritte hallten und niemand ihm hinterher kam. Für einen Augenblick wünschte er sich, diese Tür ließe sich abschließen, ob von innen oder von außen war ihm egal... Er würde sich dann einfach nur etwas sicherer fühlen.
Nach einer Weile hatte er sich wieder beruhigt und sich schließlich, angezogen wie er war, auf das Bett gelegt. Entgegen seiner Erwartungen war es außerordentlich weich und bequem, das Kissen hatte den frischen, charakteristischen Waschmittelgeruch, die Decke war warm und flauschig – alles sehr gute Bedingungen für die Müdigkeit, die sich seiner auch sehr schnell bemächtigte. Seine Augenlider wurden immer schwerer, die Gedankengänge immer verworrener und unklarer und irgendwann schlief Ray letztendlich ein.