Sein Magen zog sich plötzlich vor Eifersucht zusammen.
Kai blickte ihn völlig ausdruckslos an, als er schließlich von ihm abließ.
Verdammt, was hatte ihn da bitte geritten?
Haha, von wegen Kai nicht überfordern.
Wobei er gerade nicht wirklich überfordert aussah. Eigentlich war gar nichts aus seiner Miene zu lesen und gerade das bescherte ihm Schweißausbrüche.
Verdammt, warum reagierte Kai denn nicht? Er starrte ihn nur an, als schien er genauestens zu überlegen, wie er Takao nun die Hölle heiß machen sollte.
"Scheiße, jetzt reagier doch irgendwie, selbst wenn du mir eine reinhaust, Mann!", brach es schließlich aus ihm heraus, während er mit der Faust gegen den Fensterrahmen schlug.
Kais Blick nahm plötzlich etwas Berechnendes an, etwas Anrüchiges.
Verdammt, er sah einfach aus wie das heißeste Miststück, das Takao je gesehen hatte, als er einen tiefen Zug von seiner Zigarette nahm und eine ringförmige Wolke ausstieß, wobei er den Kopf leicht schief in den Nacken legte.
Verführerisch.
Dann schnippte er seine Zigarette aus dem Fenster und Takao riss die Augen auf, als er im nächsten Moment zwei Hände spürte, die ihn grob am Revers packten und näher zogen.
Dann schmeckte er zum ersten Mal richtig Kais Geschmack, rauchig, bittersüß, schwindelig machend wie eine verdammt geile Droge, und Takao, der nicht die geringste Lust verspürte, passiv zu sein, griff dem Russen seinerseits grob an die Handgelenke, um sie ihm, noch während sie ihre Münder grob aufeinander krachen ließen, seitlich vom Körper wegzustoßen, nur um ihn dann zum Sofa zu dirigieren.
Kai dachte sich nicht das Geringste dabei. Takao hatte schließlich angefangen, er zeigte ihm nur, wie man es richtig machte, verdammt.
Er grinste in sich hinein, nur um kurz darauf verblüfft aufzukeuchen, als dieser ihm die Arme wegriss. Zugegeben, es überraschte ihn, Takao so obsessiv zu erleben, aber gleichsam wie es ihn überraschte, machte es ihn an. Der schien nämlich ganz genau zu wissen, was er tat.
Und er gab ihm das Gefühl, begehrt zu werden. Ein Gefühl, dessen er sich auch jetzt nicht erwehren konnte, soviel Eitelkeit war ihm bei allen Selbstzweifeln noch geblieben.
Ihm schwindelte bereits leicht, als er spürte, wie Takao ihn auf die Couch schubste, er gab Widerstand, doch nur um den Schein zu wahren, und kurz darauf war Takao auch über ihm.
Kai keuchte leise auf, als Takao ihm die ersten Knöpfe seines Hemdes aufriss und ihm in die Schulter biss. Ja, der Schmerz, der verdammte, geile Schmerz, der tat gut und auf den Biss folgte saugen und lecken an ebenjener Stelle, so heftig, dass er irgendwann ein leises Stöhnen nicht mehr unterdrücken konnte.
Verdammt, machte ihn Kinomiya gerade wirklich geil? Scheiße, ja. Zugegeben, es war nicht schlecht, außerdem schien es dem ja nicht wirklich anders zu gehen.
Er schmeckte besser, als er es sich in jedem verdammten feuchten Traum ausgemalt hatte. Viel besser. Kai war die pure Versuchung und da er es zuließ, schien es ihn ja offenbar nicht abzuschrecken, dass er ein Kerl war. Beste Voraussetzungen.
Die eine Seite von Kais Hals war irgendwann tiefrot, leichte Bissspuren zeichneten sich darauf ab und am nächsten Tag würde er dort sicher mehr als nur einen leichten Knutschfleck vorfinden.
Takao grinste bei dem Gedanken daran, dass das sein Zeichen war, das nun dort so unverschämt auf Kais blasser Haut prangte.
Er war längst erregt, aber schlafen wollte er mit Kai nun nicht. Nein, das was sie hier taten war mindestens genauso geil.
Abermals verschlangen sie sich gegenseitig und keiner von beiden konnte später sagen, wie lange sie das durchhielten, das einzige, was Takao wusste, war, dass er das erste Mal in seinem Leben allein vom Knutschen gekommen war.
"Großvater!"
Voltaire sah missbilligend auf, als er die piepsige Stimme seines sechsjährigen Enkels vernahm.
Er hatte gerade am Kamin gesessen und sich mit einer Lektüre beschäftigt.
"Was hast du denn jetzt schon wieder?"
"Stimmt es, dass Mama und Papa jetzt im Himmel sind? Beim lieben Herrgott und bei den Engeln?"
Voltaire zog die Augenbrauen hoch, als sein Blick auf das Kinderbüchlein fiel, das der Kleine in der Hand hielt. Es trug den, in seinen Augen, dümmlichen Titel 'Opa, ich kann Hummeln zählen'.
"Hast du den Unsinn aus diesem Buch?"
Kai nickte schüchtern. Eines der Hausmädchen hatte es ihm gegeben, sie hatte so großes Mitleid mit ihm gehabt.
"Das ist völliger Humbug. Deine Eltern sind tot, ihre Körper werden von Würmern zerfressen, bis sie zu Erde werden", lautete die ruppige Antwort.
Kai sah seinen Großvater irritiert und ein wenig bedrückt an. "Aber warum?"
Voltaire bemerkte jetzt schon wieder, wie ihm ein Nerv zu zucken begann. Ihm selbst saß der Tod seiner Tochter tief und mit Kindern hatte er noch nie umgehen können. Seinen Enkel hatte er sehr selten gesehen, eigentlich so gut wie nie, da er und seine Tochter eine lange Weile, bis hin zu ihrem Tode, kein Wort miteinander gewechselt hatten.
"Hör auf, dauernd diese saublöden Fragen zu stellen!", fuhr der alte Mann den kleinen Jungen an, welcher sichtlich zusammen zuckte. "Hast du nichts Sinnvolleres mit deiner Zeit anzufangen? Lern deine Vokabeln und gewöhn dir endlich diesen schrecklichen japanischen Akzent ab!"
"Aber ..."
"Kai, du hast mich verstanden, ich habe noch zu tun."
Kai senkte den Blick. Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. "Ja, Großvater."
Nein, Voltaire kam nicht in den Sinn, anstelle ihn zu schelten, ihn zu loben, dass er mit seinen gerade mal sechs Jahren schon perfekt Lesen und Schreiben konnte oder bereits jetzt begann, Latein und Englisch zu lernen.
Das war in seinen Augen nichts Besonderes, er erwartete es einfach. Und wenn Kai alt genug war, würde er ihn ohnehin in die Abtei schicken. Er rechnete mit nächstem Jahr.
"Von Würmern zerfressen ...", murmelte Kai zusammenhanglos und blinzelte, weil er zu lange an die Decke gestarrt und ihm die Augen begonnen hatten, zu brennen.
"Was hast du gesagt?"
Kai drehte den Kopf zur Seite. Er hatte wieder einmal vergessen, dass Takao ja hier war. Dieser saß gerade vor seinem Laptop.
"Nichts", erwiderte Kai, "ich musste nur gerade an eine Begegnung mit meinem Großvater denken, das ist alles."
Nun wandte Takao den Blick vom Laptop-Bildschirm ab. Wenn es um Kais Vergangenheit ging, wurde er immer neugierig.
Und außerdem war es eine gute Möglichkeit, Kai deutlich zu machen, dass er nach dieser Sache am Vortag keine speziellen Erwartungen an ihn hatte.
"Willst du es mir erzählen?"
"Lieber nicht."
"Was muss ich machen, damit dus tust?"
"Versuchst du gerade, mich zu bestechen?" Aus Kais Stimme war leichte Belustigung herauszuhören.
Takao drückte den Rücken durch und streckte sich. "Naja, irgendwie muss ich ja mal durch deine Psyche steigen."
Kai richtete sich auf und sah Takao an, dann sagte er gehässig: "Na, dann viel Erfolg."
Nun war es an Takao zu grinsen. "Glaub bloß nicht, dass du mich hier wegekeln kannst."
"Wart es ab."
Der Japaner stöhnte theatralisch auf. "Kai, ich bitte dich, ich weiß so gut wie GAR nichts über dich - wovor hast du Angst, dass ich vor die Tür gehe, mich mit einem Megafon in die Fußgängerzone stelle und jedem, der es wissen will, Wort für Wort das wiedergebe, was du mir gesagt hast?"
Kai rollte die Augen. "Meine Güte, als seine Eltern damals gestorben sind, ist Klein-Kai zu seinem Herrn Großvater gegangen, mit dem innerlichen Wunsch nach ein bisschen Zuspruch, aber der böse, alte Mann hat ihm vor den Latz geknallt, dass seine Mami und sein Papi bald völlig von Würmern zerfressen sein werden und, dass er anstelle so dumm nachzufragen, lieber seine Vokabeln lernen soll. Zufrieden? Gut, dann kann ich jetzt weitermachen mit nichts tun."
Kai ließ sich mit dem Rücken wieder auf die Couch sinken und Takao starrte verblüfft in seine Richtung. "Wow, also wenn wir dir deine triefend-ironische Ader dabei jetzt noch abgewöhnen können, wär das richtig genial. Dann könnten wir nämlich sowas wie ein richtiges Gespräch aufbauen."
"Du wolltest es doch wissen. Komm mit meiner Art klar oder lass es, aber geh mir nicht auf den Sack."
"Du musst nicht gleich rumzicken ..."
"Ich ZICKE nicht."
Kai stand nun auf und warf Takao einen bitterbösen Blick zu. "Ich gehe mir Zigaretten holen, falls du nichts dagegen hast!", sagte er sarkastisch und zog sich seine Schuhe an. "Und du könntest langsam mal was für dein Studium tun, anstelle hier nur blöd herumzuhocken und mich zu bemuttern!"
Wenig später knallte die Tür ins Schloss und der Japaner starrte Kai wütend hinterher.
Meine Güte, da war jede Schwangere ja nichts dagegen. Wie ätzend es wohl sein musste, immer mies gelaunt sein zu müssen. So sehr er Kai auch gerne schonen wollte, aber so langsam köchelte auch bei ihm etwas hoch. Wer wusste, wie lange er es noch schaffen würde, sich so zurückzuhalten.
"Gaaanz ruhig, er ist einfach nur krank", sagte er sich und versuchte, den aufkeimenden Ärger zu unterdrücken. Vor allem weil er extra wegen Kai ein Semester aussetzte, aber das wollte er diesem nicht unter die Nase reiben, da er es sicherlich nicht für gut befunden hätte und das gäbe sicher nur wieder Krach.
Eine Weile wusste er nichts recht mit sich anzufangen und er spielte schon mit dem Gedanken, ebenfalls etwas an die frische Luft zu gehen, als ihn plötzlich das Klingeln des Telefons zusammenzucken ließ.
Er presste kurz die Hand auf die Brust, "Meine Fresse" und lauschte dann auf das Klingeln und wie kurz darauf der Anrufbeantworter ansprang.
Eine Stimme begann schnell auf Russisch zu sprechen und sie kam Takao irgendwie bekannt vor, auch, wenn er gerade nicht darauf kam, woher.
Als sie jedoch plötzlich vom Russischen ins Englische wechselte, erkannte er sie wieder.
"... bis ich deine Telefonnummer rausgefunden hab, Alter, meld dich mal, verfickte Scheiße, wir müssen das endlich mal bereinigen ... "
Das war Yuriy Iwanov. Und seine verdammte Neugier war gerade geweckt worden. Wieso sollte Yuriy Kais Telefonnummer nicht haben? Und was gab es da, was sie bereinigen sollten?
War da etwa mal was gelaufen? Sein Magen zog sich plötzlich vor Eifersucht zusammen.
Oder gingen seine Gedanken in eine völlig falsche Richtung?
Mist, hätte er das doch jetzt bloß nicht gehört. Vielleicht sollte er Kai fragen, wenn der später nachhause kam, aber ob der ihm eine schlüssige Antwort geben würde, bezweifelte er.
Schlecht gelaunt stapfte Kai durch die Straßen, ohne zu wissen, was genau ihn nun eigentlich so zur Weißglut getrieben hatte. Dabei war er schon an zwei Zigarettenautomaten vorbeigekommen.
Irgendwann verlangsamten sich seine Schritte und er blieb unschlüssig stehen. Was war eigentlich sein Problem? Konfus fuhr er sich durch die Haare.
Irgendwie war ihm jetzt nach einem Drink. Aber bis auf das Geld für die Zigaretten hatte er nichts bei sich. Aber sich zuhause volllaufen zu lassen, wo einem zudem noch ein gewisser Kinomiya im Nacken saß, war auch irgendwie lame.
Kai sah zum Himmel, wie als könne dieser irgendetwas für seine Misere (die er sich nicht erklären konnte, wohlgemerkt) und fluchte leise etwas auf Russisch.
Dann sollte er sich wohl doch langsam auf den Weg nachhause machen.
"Ich frage mich wirklich, wie du mir jetzt noch unter die Augen treten kannst, Kai. Sieh dich doch an - du siehst aus wie ein ... Stricher. Schämst du dich eigentlich nicht? In deinem Alter. Aus dir sollte eigentlich mal was werden und nicht so eine Missgeburt wie dein Vater."
Kai presste die Lippen aufeinander.
Er hasste sie. Hasste sie so sehr. Die Zeit, die er bei seinem Großvater verbrachte. Ab und an, einmal im Jahr, dann, wenn die normalen Kinder Sommerferien hatten, dann und nur dann, holte er ihn nachhause. Immerhin sollte Kai später mal das Biovolt Imperium erben und da musste er ihn von Zeit zu Zeit unter seiner Fuchtel halten.
"Bist du jetzt fertig?", brummte der Vierzehnjährige und schämte sich kein Stück, wie es sein Großvater sich wohl erhoffte.
Dieser hob drohend den Zeigefinger. "Oh nein, ich fange gerade erst an. Nur weil du jetzt zu alt bist für die Abtei heißt das noch lange nicht, dass jetzt das schöne Leben beginnt.
Ich warne dich. Wenn ich dich noch einmal mit solchen ... Fetzen ... oder in der Begleitung dieses Iwanovs erwische, dann Gnade dir Gott, Kai, dann mache ich dir das Leben zur Hölle."
Nun verzog der Junge doch in einem Anflug von Spott das Gesicht. "Schlimmer als in der Abtei? Das schaffst sogar du nicht, Großvater. Wenn wir schon dabei sind. Weißt du eigentlich, was er da mit uns gemacht hat? Er hat uns gef-"
Eine schallende Ohrfeige brachte ihn zum Verstummen. "Ich will deine pubertären Lügen nicht hören!"
Der alte Mann sprühte Speichel beim Sprechen, dabei hatte er den Finger erhoben.
"Verschwinde auf dein Zimmer, wir werden morgen weiterreden. Und keine Widerworte. Jetzt geh mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr sehen."
Kai hatte keine Widerworte gegeben. Und jetzt ging er folgsam in sein Zimmer, seelenruhig.
Wo er die Tür hinter sich schloss, lauschte, dann zu seinem Fenster schlich, es öffnete und nach unten spähte. Niemand da.
Mit einem abfälligen Schnauben, das besagte 'Wenn der Alte wüsste' schwang er seine Beine über das Sims und kletterte aus dem zweiten Stock am Pflanzengitter herunter. Den letzten Meter sprang er und der Kies knirschte unter seinen Stiefeln, als er aufkam.
Die Nacht war kühl, aber nicht kalt. Er lief ein paar schnelle Schritte, wusste, welchen Weg er nehmen musste, um nicht auf die Überwachungskameras zu gelangen und wie er schließlich außerhalb des Geländes des Anwesens kam.
Dort lief er ein paar Schritte. "Das hat ja lange gebraucht", begrüßte ihn eine spöttische Stimme. "Was hast du gemacht, dir vorher noch einen von der Palme geschüttelt?"
"Deine Mutter hat sich einen von der Palme geschüttelt. Hast du Kippen?"
Ein Päckchen wurde ihm hingehalten. "Reiß keine Witze über meine Mutter", kam dabei der halbernste Konter und Kai spürte einen Knuff in die Schulter.
Er lächelte und während er Rauch auspustete, meinte er: "Wohin?"
Yuriy steckte die Hände in die Hosentaschen. "Keine Ahnung. Wir könnten zum Schrottplatz, die wollen da heute 'ne kleine Privatparty machen. Mit Nutten und dem ganzen Kram."
"Also ist deine Mutter doch da." Er konnte es nicht lassen.
"Ich geb dir gleich deine Mutter", erwiderte Yuriy und gab ihm eine leichte Kopfnuss.
"Und du lügst, da sind bestimmt keine Nutten."
"Na gut, erwischt. Aber dafür hab ich dich ja dann da, oder?"
"Ob ich mich dafür bezahlen lasse, ist die andere Sache."
"Ivan hat dafür ein bisschen Stoff besorgt. Er meint, es würde richtig knallen."
"Klingt nicht schlecht, ich hoffe, er hat nicht gelogen, ich brauch nämlich dringend was, um diesen Scheiß für 'ne Weile hinter mir zu lassen. Ganz ehrlich, wenn ich noch länger das Gesicht dieses vertrockneten, alten Sacks sehen muss, dann laufe ich irgendwann noch Amok."
"Wundert mich, dass dus nicht schon längst getan hast, Mann."
Ein ironisches Grinsen zuckte in Kais Mundwinkeln. Tja, es hatte immer einen simplen Grund gegeben, warum er nie Amok gelaufen war, wie er es damals ausgedrückt hatte.
Trotz allem wollte er von seinem Großvater geliebt werden, hatte eine Familie sein wollen.
Um zu verdrängen, dass es das nie geben würde, hatte er sich regelmäßig mit seinen Jungs auf dem "Schrottplatz" getroffen.
Der Schrottplatz war nicht bloß ein Schrottplatz. Er war ein Zufluchtsort für alle, denen es so ging wie ihnen. Kein Zuhause, keine Eltern, die sich kümmerten, oder Eltern, die sie misshandelten. Dort kamen sie alle zusammen, rauchten gelegentlich einen Joint zusammen und bemitleideten die Fixkinder, die schon viel zu früh an der Nadel hingen und dort auf die Freier warteten, die um diesen Platz und die Verzweiflung wussten, und diese Jugendlichen waren es dann auch, die wohl niemals ihr fünfzehntes Lebensjahr erreicht hatten.
Irgendwie eine traurige Erinnerung. Traurig, weil die Nächte, die er dort verbracht hatte, teilweise betrunken, zugekokst oder zugedröhnt von irgendwelchen anderen Drogen, die wärmsten seines Lebens gewesen waren. Denn da hatte er mit Yuriy zusammen sein können.
Yuriy. Der ihm soviel versprochen und gegeben hatte, nur um es ihm im Moment, in dem es am intensivsten geworden war, jämmerlich zu entreißen und ihn vor einem Nichts zurück zu lassen.
Mit trüber Stimmung schloss er später die Wohnungstür auf. Das halbe Zigarettenpäckchen war bereits aufgeraucht. Ärgerlich brummte er. Er sollte das Rauchen aufhören. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gegessen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Wenn Takao etwas gemacht hatte, dann hatte er nicht viel davon angerührt.
Achja. Takao. Da war ja noch was. Der Quälgeist, der sich bei ihm eingenistet hatte. Und betrunken war er immer noch nicht, was bedeutete, dass er ihn in seiner ganzen Natürlichkeit ertragen musste.
Als er ins Wohnzimmer lief, sah er im Vorbeigehen eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter aufblinken. Gleichgültig beschloss er, sich später darum zu kümmern und stiefelte in die Küche. Wenn er Glück hatte, dann war die Flasche Rotwein, die er vor Ewigkeiten mal gekauft hatte, noch irgendwo.
Er hatte Glück. Während er in der Küche herumhantierte, hörte er nicht, wie Takao sich näherte.
"Du warst lange weg, dafür, dass du nur Zigaretten holen warst."
Kai fror in seiner Bewegung ein. "Habe ich etwas verpasst, oder muss ich mich seit Neuestem für alles, was ich tue, von dir abmelden?"
"Hey, das war nicht so gemeint", räumte der Japaner ein und hob beschwichtigend die Hände. "Ich meine nur, dass ich mir Sorgen um dich mache, ich meine, du..."
Kai schlug den Hängeschrank zu, nachdem er ein Rotweinglas herausgeholt hatte, und sah ihn böse an. "Dass ich was, huh? Von der nächsten Brücke springe?"
Energisch machte er sich an dem Verschluss der Flasche zu schaffen. "Komm schon, du verdammtes Ding", fluchte er dabei leise vor sich hin.
Takao raufte sich die Haare. "Scheiße, Mann, du machst es mir echt nicht leicht, weißt du das?"
Hörte er sich ungeduldig an? Hm, konnte gut sein. Schon krass, sie lebten nicht mal eine Woche zusammen und ertrugen sich nicht mehr.
Etwas, das Takao verdrängt und Kai vorausgesagt hatte.
"Wenn du dich daran erinnerst, ich habe dich nicht..."
"... Darum gebeten, das weiß ich, aber ich hab es mir verdammt nochmal zur Aufgabe gemacht - weißt du eigentlich, wie sehr mich das alles ankotzt?"
Plötzlich schlug er mit der Faust gegen den Türrahmen, sodass Kai leicht zusammenzuckte, weil er sehr lärmempfindlich geworden war.
"Es kotzt mich an, dass du dir nie helfen lassen wolltest und willst, es kotzt mich an, dass ich nie mitbekommen habe, was eigentlich mit dir los war, es kotzt mich an, dass ich nicht mal jetzt im Stande bin, dir zu helfen, obwohl ich sehe, wie schlecht es dir geht, es kotzt mich an, dass ich dieses verdammte, verdammte Bild nicht mehr aus dem Kopf kriege, wie du in meinen Armen hängst und dir die Eingeweide aus dem Körper kotzt. Weißt du eigentlich, wie es ist, dieses Bild nicht loszubekommen? Es kotzt mich an, dass du mich nicht an dich ranlassen willst - niemanden an dich ranlässt und es kotzt mich verfickt nochmal an, dass du nie, nie, nie zu uns gekommen bist mit deinen Problemen und dass du es so gut geschafft hast, das alles vor uns zu verbergen und dich GLEICHZEITIG noch um uns zu kümmern und weißt du, was mich richtig ankotzt?"
Er machte eine kurze Pause um zu Atem zu kommen, das Gesicht war leicht gerötet, weil er sich so in Rage geredet hatte.
Dann lachte er leise und nervös auf. "Es kotzt mich einfach nur an, dass ich wegen dieser Nachricht, die der Iwanov dir auf dem AB hinterlassen hat, total eifersüchtig bin und mir schon seit Stunden ausmale, was da verdammt nochmal zwischen euch gewesen ist."
Kai starrte Takao an. Lange. Alles andere als ausdruckslos. Der Blick war allerdings nicht zu deuten. Eine Weile starrten sie sich nur an.
Dann glitt ihm langsam die Rotweinflasche aus der Hand und sie zerschellte in unzählige Scherben, die blutrote Flüssigkeit verteilte sich in einer riesigen Lache auf den weißen Fliesen.
"Es tut mir leid", flüsterte Kai und ging in die Knie, um mit apathischem Gesicht zu beginnen, die Scherben mit der bloßen Hand aufzuheben.
Als müsse er sich für sein eigenes Ungeschick entschuldigen.
Eine kurze Weile sah Takao fasziniert zu, wie sich Kais helle Kleidung beim Knien auf dem Boden rot färbte, dann löste er sich aus seiner Starre und eilte zu ihm hin, um sich ebenfalls hinunter zu knien. Er packte ihn grob am Handgelenk, um ihn davon abzuhalten. "Dir ist schon klar, dass du dich schneiden kannst, oder?"
Kai ließ die Scherbe fallen, die er gehalten hatte, mit einem Klirren fiel sie zu Boden. Er hatte den Blick abgewandt und doch erkannte Takao plötzlich mit Erstaunen, dass er weinte. Die Schultern zuckten leicht, dann sah er ihn an und der Blick ging dem Japaner mitten ins Herz.
"Ich hab mich niemals gefühlt, als wäre ich ein Teil von euch! Ich hab für euch das verkörpert, was mein Großvater und Balkov für uns damals in der Abtei verkörpert haben - eine Person, die man gemeinsam hassen kann - das sichert den Zusammenhalt des Teams!"
Takao wich leicht entsetzt ein Stück zurück und so hockten sie sich beide in einer riesigen Rotweinlache zwischen Scherben gegenüber. Die Situation könnte nicht makaberer sein für so ein Gespräch.
"Ich hab ... niemals zu euch gehört. Nie."
Takao ließ die Arme sinken und starrte in eine Rotweinpfütze. "Das ist doch überhaupt nicht wahr."
"Ach, nein? Ich hab euch reden hören."
"Kai, niemand hat über dich geredet. Niemand hat sich gegen dich verschworen, aber du hast es uns immer so unendlich schwer gemacht, an dich ranzukommen, weil man bei dir immer gegen eine Mauer gelaufen ist. Mittlerweile weiß ich, dass mehr dahintersteckt, als reine Böswilligkeit, aber verdammt ... wir waren Kinder und ich vielleicht mehr als alle anderen, weshalb wir wohl immer aneinander geraten sind. Ich konnte dich einfach nie verstehen und ich habe jetzt wirklich eine verdammte Scheißangst, dass es längst zu spät dafür ist."
Er fuhr sich durchs Haar.
"Ich war in der Klapse."
"Was?"
"Das eine Jahr. In dem ... ihr nichts von mir gehört habt. Da war ich in der Klapse. Beziehungsweise in ... verschiedenen."
Takao blinzelte verwirrt.
"W-wie bitte?"
"Depressionen, Soziophobie, Wahnvorstellungen, Borderline. Nach der damaligen Weltmeisterschaft hatte ich dauernd das Gefühl, verfolgt zu werden von Personen, die gar nicht da sein konnten. Jeder dieser Ärzte hat eine andere Diagnose gestellt, ehe es meinem Großvater zu blöd wurde und er mich nachhause geholt hat, wo der ganze Alptraum von vorne losging. Also. Ich ... hatte wirklich ... einen triftigen Grund, euch davon nichts zu erzählen. Und ja. Vielleicht dachte ich, alleine damit klar zu kommen und ja, vielleicht wusste ich auch die ganze Zeit, dass ich das nicht kann. Vielleicht wollte ich auch selbst ausreizen, wie belastbar ich bin, ehe mein Körper und mein Verstand nicht mehr weiterkommen, ich weiß es nicht. Was ich aber weiß-"
Er brach ab und lachte kurz und rau auf. "Dass ich jetzt in meinem Leben wirklich an einem Punkt angekommen bin, an dem ich ... nicht weiter kann. Und dann kommst du und machst mir meinen letzten Ausweg auch noch kaputt."
Nun war er es, der sich durch die Haare fuhr. "Weißt du eigentlich, warum ich dich nie, nie ertragen konnte?"
Takao schüttelte stumm den Kopf.
"Weil du immer so verdammt ... stark warst. Und ich war so schwach. Immer. Dafür hab ich dich gehasst."
Kai hatte nicht bemerkt, wie Takao ihn in eine krampfhafte Umarmung gezogen hatte und ihn ebenso krampfhaft festhielt. Wie aus Angst, dass er sich ihm entwinden konnte.
Aber Kai machte keine Anstalten, er ließ es zu und sich vielleicht das erste Mal in seinem Leben fallen.
Was ist die Anziehung eines Planeten gegen die Schwerkraft der Fürsorge?
Was ist der Fluss der Zeit gegen ihr unergründliches Herz?
(Du Vines, 'Christina')