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Und es regnet...

von

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Es war irgendwann kurz nach drei Uhr morgens. So schnell und gleichzeitig vorsichtig wie möglich stieg Yukihiro aus dem Bett und ließ seine Frau allein weiter schlafen. Früher hatte er das getan, weil er sie nicht hatte wecken wollen. Wenn er schon so früh aufwachte, wusste er, dass er nicht so leicht wieder einschlafen würde. Er würde sich sowieso nur im Bett herumwälzen. Aus Rücksicht hatte er sich also angewöhnt, sich entweder aufs Sofa zu legen oder schon zur Arbeit zu fahren. Im Bad lag immer frische Kleidung bereit, die er sich stets am Abend zuvor zurechtlegte. Inzwischen tat er es jedoch nicht mehr nur aus Rücksicht. Er hielt es kaum noch neben ihr aus. Er flüchtete jeden Morgen. Und obwohl es ihn schmerzte, war er zumindest zum Teil doch froh, wenn sie sich den ganzen Tag lang nicht sehen mussten. So war es auch an diesem Morgen. Wie immer stellte er sich unter die Dusche und zog sich anschließend an. Sein Frühstück bestand aus einer Tasse Kaffee mit Milch. Als er sich leise an den Küchentisch setzte, fiel sein Blick eher zufällig auf den Kalender an der Wand und für einen winzigen Moment setzte sein Herz einen Schlag lang aus.

Ein Monat. War es tatsächlich schon einen ganzen Monat her, seit er jene Entdeckung gemacht hatte? Er konnte gar nicht glauben, wie schnell die Zeit doch verging. Vor einem Monat hatte er erkannt, dass seine Frau eine Affäre hatte. Anzeichen hatte es schon lange gegeben, er hatte sie nur nicht wahrhaben wollen. Im Nachhinein hatte er sich sogar über sich selbst gewundert. Wie hatte er all die Wochen so blind sein können? Das wollte ihm bis heute nicht richtig in den Kopf. Doch was sollte es bringen, darüber nachzudenken? Es gab Dinge, die die Menschen im Allgemeinen nicht sehen wollten, wenn sie nicht unbedingt mussten. Außerdem konnte er es ihr nicht einmal verübeln. Er war Musiker und damit viel unterwegs oder im Studio. Er hatte nie viel Zeit für sie gehabt. Er lebte für seine Arbeit. Nur darin ging er richtig auf. Verdammt, er vergaß sogar das Essen über sein Spiel! Wenn Tetsuya nicht ständig darauf achten würde, dass sich sein Schlagzeuger nicht selbst zerstörte, wäre genau das sicher schon längst passiert. Doch sie wusste das. Sachi hatte das von Anfang an gewusst. Und sie hatte sich auf ihn eingelassen. Yukihiro hatte wirklich geglaubt, mit ihr hätte er sein Glück gefunden. Und nun? Nun war alles kaputt.

Seufzend legte er den Kopf in die Hände. Er sollte aufhören, ständig daran zu denken, sagte er sich selbst immer wieder. Gleichzeitig wusste er aber, dass das leichter gesagt als getan war. Egal, was er tun oder wohin er gehen würde, etwas würde ihn stets daran erinnern. Irgend etwas - und sei es noch so banal. Und eine winzige Sache verdoppelte seinen Schmerz zusätzlich. Es war kein Fremder, dem sich Sachi zugewandt hatte. Ganz im Gegenteil, es war Ken. Ken, ihr Gitarrist und einer seiner besten Freunde. Wenn nicht sogar der eigentlich beste Freund. Und wieder fühlte er sich gleich doppelt betrogen. Wäre es irgend jemand gewesen, den er nicht kannte, hätte er ihn dafür vielleicht hassen können. Doch Ken? Nein, Ken konnte er trotz allem nicht hassen. In gewisser Weise war er ihm sogar dankbar, dass er sich um sie kümmerte. Nun war sie nicht mehr so allein und sicher viel glücklicher als mit ihm. Eine Sekunde lang hatte er ihr fröhlich lachendes Gesicht vor Augen, wie sie sich mit Ken an diesem einen Abend, an dem er bei ihnen zu Besuch gewesen war, unterhalten hatte. Und dann diese Blicke, die sie sich ab und zu zugeworfen hatten...

Ja, in diesem Moment hatte es bei Yukihiro 'klick' gemacht. In diesem Moment hatte er alles verstanden. Die Blumen im Wohnzimmer, die immer häufiger aufgetaucht waren, die vielen Anrufe auf der Rechnung oder dass Sachi sich nicht mehr wirklich darüber beklagte, ständig allein zu sein. Einfach alles machte plötzlich einen Sinn und es hatte ihm das Herz gebrochen. Doch irgendwie hatte er es geschafft, so zu tun, als wüsste er von nichts. Theoretisch war das auch nicht allzu schwer. Sachi sah er sowieso so gut wie nie und wenn er mit Ken zusammen war, ging es meist nur um die Arbeit. Außerdem vergaß er eh alles, um sich herum, wenn er einmal mit spielen angefangen hatte. Das war wohl auch der Grund, warum er sich mehr in sein Spiel stürzte als bisher. Da er aber sowieso schon als Workaholic verschrien war, fiel das nicht gleich jedem auf. Somit konnte er die Fassade aufrecht erhalten und so tun, als sei alles in gewohnter, bester Ordnung. Und das, obwohl in ihm das Chaos tobte - eine Mischung aus Schmerz, Verzweiflung, Unglaube, Wut, Eifersucht und schlichter Unsicherheit, sowie Hoffnungslosigkeit.

Immer wieder stellte er sich eine Frage. Er wusste nicht, wie es langfristig weitergehen sollte. Im Moment konnte er sich irgendwie mit der Situation arrangieren und mehr oder minder gut damit leben, doch wie lange sollte das so weiter gehen? Wie lange konnte es auf diese Weise gut gehen? Er hatte absolut keine Ahnung. Doch auch, wenn er überlegte, wie er etwas ändern könnte, wollte ihm nicht eine einzige brauchbare Lösung einfallen. Natürlich könnte er die beiden einfach darauf ansprechen, doch was sollte er ihnen sagen? Wie und wann sollte er etwas sagen? Und was würde das bringen? In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so ratlos gefühlt. Zudem konnte er mit niemandem darüber reden. Selbst, wenn ihm da jemand einfallen würde, dem er seine Sorgen anvertrauen könnte, so wusste er, dass sein Mund doch geschlossen bleiben würde.

Wieder schüttelte er den Kopf und trank seinen Kaffee aus. Nur wenige Minuten später saß er im Auto und war auf dem Weg ins Studio. Dort angekommen begab er sich ohne Umwege zu seinem Drumset. Die wenigen Menschen, denen er in dieser Zeit begegnete, hatte er nur flüchtig gegrüßt. Er wollte spielen, einfach nur spielen und dabei alles andere vergessen. Seine Hände zitterten bereits vor Ungeduld, als er die Tür öffnete. Und da stand es: Sein geliebtes Schlagzeug. Das einzige, das ihm noch irgend einen Halt gab. Die einzige Sache, bei der er keine Angst haben musste, verraten und betrogen zu werden. Sein Instrument war ihm treu. Es würde immer bei ihm sein. Nachdem er seine Sachen abgelegt hatte, strich er zärtlich über die Trommeln und Becken. Er konnte sich nicht helfen, aber irgendwie hatte es etwas tröstendes an sich. Seufzend griff er zu den Sticks und setzte sich hinters Schlagzeug. Zunächst spielte er sich eine Zeitlang mit ein paar einfachen Rhythmen warm. Bald schon ließ er schnellere Kombination

en mit einfließen, bis er letztendlich vollkommen in seinem Spiel aufging. Er spielte und spielte, ohne zu merken, wie die Zeit verging und der Tag anbrach. Oder wie er sich scheinbar noch den letzten Tropfen Wasser aus dem Leib schwitzte.

Erst die strenge Stimme Tetsuyas konnte ihn losreißen. Ein wenig verwirrt sah er sich um, während sein Leader auf ihn zu kam. Er legte ihm führsorglich ein Handtuch um die Schultern und drückte ihm eine Flasche isotonischen Wassers in die Hand. Er musste schon gar nichts mehr sagen, damit Yukihiro trank. Der Schlagzeuger fühlte sich wieder einmal ertappt, doch war er im Grunde doch froh, dass Tetsuya ein wenig auf ihn achtete. Er selbst war da schließlich ziemlich nachlässig, wenn er ehrlich war. Und das auch nicht erst seit der Sache mit Sachi. "Hast du heute schon was gegessen?", fragte Tetsuya, als Yukihiro die Flasche wieder abgesetzt hatte. Dieser sah nur wieder zu ihm auf, ohne etwas zu sagen. Sein Blick reichte vollkommen. "Abmarsch.", tadelte Tetsuya ihn streng, "Hideto ist wahrscheinlich noch in der Küche und freut sich bestimmt über Gesellschaft." Yukihiro stand immer noch schweigend auf und trottete mit gesenktem Haupt davon. Zurück blieb lediglich ein ratloser Tetsuya, der nur den Kopf schütteln konnte. "Was soll ich nur mit dir machen?", murmelte er in den inzwischen leeren Raum hinein.

Als Yukihiro die Küche betrat, musste er feststellen, dass Tetsuya recht hatte. Hyde saß noch immer am Tisch und ließ sich ein Bento schmecken. Als er sich setzte, musste er einen Augenblick daran denken, dass dieses Bento liebevoll von Megumi zubereitet worden war. Dieser Gedanke hinterließ einen leicht säuerlichen Nachgeschmack. "Guten Morgen!", begrüßte Hyde ihn für seinen Geschmack etwas zu fröhlich und übermotiviert. Außerdem flog ihm ein wenig Reis entgegen. "Morgen...", murmelte er und wischte sich kurz übers Gesicht, während Hyde sich den Mund weiter mit seinem Frühstück vollstopfte. Nun war er hier, doch er hatte noch immer keinen großen Appetit. Nein, er hatte eher das Gefühl, würde er auch nur einen Bissen zu sich nehmen, müsste er postwendend aufs Klo rennen. "Willst du nichts essen?", fragte Hyde schließlich, nachdem er diesmal - glücklicherweise - alles ordentlich hinunter geschluckt hatte, "Oder willst du Tetsuya unbedingt reizen?"

"Nein...", nuschelte Yukihiro und stand wieder auf, um in den Kühlschrank zu schauen. Es hatte sich schon irgendwie eingebürgert, dass Tetsuya ihm immer etwas mitbrachte. So zog er ein kleines Päckchen hervor, setzte sich damit an den Tisch und packte es aus, um es anschließend vollkommen lustlos zu essen. Zeitgleich ließ er sich von Hydes Stimme beschallen. Er erzählte von Megumi und seinem Sohn, von zuhause und überhaupt alles, was ihm sonst noch so in den Sinn kam. Yukihiro hörte nicht so genau zu. Nein, ihm schwirrten ganz andere Dinge im Kopf herum. Seine Gedankengänge, sowie Hydes Redefluss wurde erst unterbrochen, als Ken seine Nase durch die Tür steckte. "Morgen!", grüßte er die beiden. "Guten Morgen, Ken!", antwortete Hyde sofort. In diesem Moment hätte Yukihiro ihn für seine unverschämt gute Laune schon fast verfluchen können. Ja, er spürte deutlich, wie leichte Aggressionen in ihm aufstiegen.

Es gab kaum etwas, das er mehr hasste. Er wollte diese negativen Gefühle nicht haben. Sie hatten stets so etwas Zerstörerisches an sich. Das passte einfach nicht zu ihm. So versuchte er, sich wieder ein wenig zu beruhigen, während sich Ken und Hyde heiter miteinander unterhielten. Die beiden so fröhlich und glücklich zu sehen, half ihm dabei jedoch nicht unbedingt. Vor allem, wenn er daran dachte, dass der eine mit der eigenen und der andere mit seiner Frau glücklich war. Er fühlte sich nur noch elender. Daher legte er die Stäbchen weg und packte den Rest seines Essens wieder ein, um es zurück in den Kühlschrank zu legen. "Bist du etwa schon satt?", wunderte sich Hyde und sah ihn überrascht an. Yukihiro vermutete, dass der Sänger es absolut nicht verstehen konnte, wenn jemand - ganz anders als er selbst - wenig aß.

"Ja.", antwortete er knapp, "Wenn ich noch mehr esse, kommt es mir nur zu den Ohren wieder raus." Als er sich zu den beiden umdrehte, zwang er sich zu einem Lächeln. Sie sollten nichts bemerken. Sie durften nichts bemerken! "Ihr kennt mich ja, so ist das eben mit mir..." "Allerdings.", nickte Ken, "Nichts als Sorgen mit dir..." Der Schlagzeuger lächelte weiter etwas matt. "Entschuldigt... Ich versuche, mich zu bessern." Er ging auf die beiden zu, konnte Ken auf den letzten Metern aber nicht mehr ins Gesicht sehen. "Ich geh mir noch ein wenig die Beine vertreten.", meinte er schließlich, als er an den beiden vorbei ging und den Raum verließ, "Wir haben ja noch etwas Zeit." Er hielt es keine Sekunde länger aus. Ja, er flüchtete.

Es zog ihn auf das Dach des Gebäudes. Dort sah er sich um, erblickte die Stadt, die gerade wieder zum Leben erwacht war, und ließ sich den Wind um die Ohren wehen. Er musste es sich eingestehen: Der Zufluchtsort Studio war nur so lange ein Zufluchtsort, wie er dort auch allein sein konnte. Doch es half alles nichts. Er musste seinen Kummer und seinen Schmerz hinunter schlucken. Er musste sie vor den anderen verstecken. So sah er weiter auf die umliegenden Häuser und atmete mehrere Male tief durch, bis er sich wieder im Griff hatte. Er ging zu den anderen zurück und sie konnten mit ihrer Arbeit beginnen. Sie nahmen auf, diskutierten über Melodien und Text, studierten Stücke ein und machten bereits Vorschläge für die neue Tour. Alles schien wie immer. Und doch hatte Yukihiro immer mehr den Eindruck, in ihm würde eine Bombe ticken. Eine Bombe, die, je mehr Zeit verging, nicht nur jeden Moment zu explodieren drohte, sondern auch immer gefährlicher und vernichtender zu sein schien. Er tat sein bestes, sich unter Kontrolle zu halten.

Der Schlagzeuger atmete innerlich tief auf, als der Tag vorbei war und der Rest der Band sich verabschiedete. Tetsuya erkundigte sich noch, ob er auf ihn warten sollte, doch er lehnte ab. Er gab vor, sich noch kurz ordentlich um sein Instrument kümmern zu wollen. So machte sich auch ihr Leader auf den Weg und Yukihiro blieb allein zurück. Es dauerte nicht lange, da ließ er seinen Tränen einfach freien Lauf. Es tat so weh, dass er ab und an einfach in den schalldichten Raum hinein schrie. Das war so eigentlich nicht seine Art, doch es befreite. Auf eine seltsame Weise tat es gut. Als er diese Phase nun auch überwunden hatte, machte er sich noch einmal auf den Weg nach draußen. Es war bereits dunkel, die Stadt wurde durch Laternen, Fenster, Autoscheinwerfern und Werbetafeln erhellt. Er ging allein durch die Straßen. Kaum ein Mensch achtete auf ihn. Als er zu einer Brücke kam, unter der eine Schnellstraße entlang führte, entschied er sich, dort stehen zu bleiben und den Strom aus Lichtern zu beobachten. So stand er da, immer noch einsam, und starrte ausdruckslos auf die fahrenden Autos hinab.

Ein freudiges Lachen ließ ihn ein wenig zusammen zucken. Er sah sich um und erblickte ein Paar. Sie war umwerfend schön und selbst ohne ihr Lächelnd wäre sie bezaubernd gewesen. Er erwiderte das Lächeln die ganze Zeit und versprühte einen gewissen Charme. Er hatte einen Arm um ihre Hüfte gelegt und sie spazierten gemütlich über die Brücke. Wahrscheinlich hatten sie gerade eine Verabredung gehabt. Eine wundervolle Verabredung. Er beobachtete sie weiter ein wenig und als sie am ihm vorbei gegangen waren, wandte er sich zur anderen Seite und sah ihnen weiterhin zu. Und wie diese beiden Menschen so von hinten betrachtete, sah er auf einmal Sachi und Ken in ihnen. Nun starrte er diesem völlig fremden Paar nach. Wie vertraut und glücklich sie wirkten. So, als seien sie für einander geschaffen. Wieder einmal brach ihm das Herz. Und wie aus dem Nichts begann es zu regnen, als er ihnen weiter nachsah. Er konnte gerade noch erkennen, wie der Mann seine Jacke auszog und seiner Begleiterin über den Kopf legte. Er schloss die Augen und ließ das Wasser einfach über sich laufen. Letztlich wollte er nicht wieder nach Hause fahren. Er entschied, wieder ins Studio zu gehen. Und so machte er es sich in einem der Schlafräume bequem und verbrachte die Nacht dort, nachdem er sich umgezogen hatte.
 

Weitere vier Wochen waren ins Land gezogen. Yukihiro hatte sich zunehmend an die Situation gewöhnt. Er war kaum noch zuhause, hatte sich noch mehr in sich zurück gezogen und lebte wirklich nur noch für die Musik. Zudem aß, trank und schlief er sehr unregelmäßig. Man konnte deutlich sehen, dass er sich selbst zerstörte. Tetsuya versuchte immer wieder, mit ihm zu reden, doch er blockte stets ab. So war Tetsuya auch bald mit seinem Latein am Ende. Er wusste sich einfach keinen Rat mehr. Oft hatte er mit ihm reden wollen, hatte den Grund für alles erfahren wollen. Doch Yukihiro schwieg beharrlich.

Als Yukihiro doch einmal wieder sein Haus betrat, fand er es leer vor. Er wollte sich lediglich frische Kleidung holen und nach der Post sehen. So gesehen kam es ihm doch ein wenig entgegen, dass niemand da war. So betrat er das Schlafzimmer und suchte sich Hosen, Hemden und alles andere, was er noch brauchte, zusammen. Anschließend ging er ins Wohnzimmer, denn dort sammelte Sachi seine Post in einer Schublade der Schrankwand. Er nahm die Briefe hinaus und sah sie kurz durch. Als er wieder gehen wollte, fiel sein Blick auf einen Haufen Infoheftchen auf dem Tisch. Ein wenig neugierig trat er näher und nahm eines davon in die Hand. Es war für ihn ein Schock, als er erkannte, worüber die Zettelchen informieren sollten: Abtreibung. Verwundert runzelte er die Stirn. War Sachi schwanger? Das konnte doch nicht sein, oder? Dabei wusste er genau, dass das sogar sehr gut sein konnte. Doch schon im nächsten Moment rief er sich wieder zur Ordnung. Diese Heftchen konnten doch auch für eine Freundin sein. Oder eine Verwandte. Oder für sonst wen. Sie mussten nicht zwangsläufig für sie selbst sein. Das bedeutete für Yukihiro: Er musste mehr herausfinden. Daher sah er alles durch, was er auf dem Tisch finden konnte. Ganz unten lag ein Ultraschallbild. Zögerlich griff er danach. Zuerst betrachtete er das Bild. Das Kind war kaum größer als ein Strich. Schließlich sah er auf den Namen, der unter der Aufnahme stand: Awaji Sachi.

Wieder einmal brach für ihn eine Welt zusammen. Natürlich konnte es nicht sein Kind sein. Es war Monate her, dass sie das letzte Mal miteinander intim geworden waren. Es konnte also nur von Ken sein. Mit einem schweren Seufzer legte er das Bild wieder auf den Tisch. Sachi war ungewollt schwanger geworden und wollte es nun wieder loswerden. Wahrscheinlich, damit ihr Mann nichts von alledem mitbekam. Einen Moment fragte er sich, ob sie es wohl behalten würde, wenn es nicht darum ginge. War die Verheimlichung der Affäre der einzige Grund? Falls ja, so würde dieses Kind vollkommen umsonst sterben. Ein trauriger Gedanke, wie er fand. Und mit einem Mal tat ihm dieses kleine Wesen sogar leid. Es hatte im Grunde nichts mit der ganzen Sache zu tun und musste doch im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf dafür hinhalten. Die Welt war ungerecht. Erneut griff er nach dem Ultraschallbild und betrachtete es eingehend. So klein und winzig war dieses Kind. Unschuldig und hilflos. Und vor allem dem Willen der anderen schutzlos ausgeliefert. Nach ein paar weiteren Minuten des Überlegens entschied er sich dafür, auf seine Frau zu warten und mit ihr zu reden.

Als Sachi das Haus betrat, war es bereits dunkel. Yukihiro hatte im Wohnzimmer auf dem Sessel gewartet, das Licht jedoch nicht angeschaltet. Daher erschrak sie fürchterlich, als sie den Lichtschalter betätigte und ihren Gatten dort entdeckte. Er sah sie direkt und ernst an. Sie legte sich eine Hand auf die Brust und versuchte, sich erst einmal wieder zu beruhigen. "Yuki...", seufzte sie, "Du hast mich zu Tode erschreckt." Er sah kurz weg. "Entschuldige.", murmelte er, griff dann aber gleich zu den Infoheftchen, "Kannst du mir sagen, was das hier soll?" Als sie sah, was er gefunden hatte, wurde sie bleich. "Oh, das. Das... ist nicht für mich." Yukihiro nickte nur leicht. "Gut. Dann ist das also nicht für das Kind, das du in deinem Bauch trägst?", fragte er und hielt die Aufnahme hoch. Darauf wusste sie keine Antwort. Sie stand nur weiter in der Tür und konnte ihn nicht mehr ansehen.

"Hast du es Ken schon gesagt?", fragte Yukihiro weiter. Nun schien sie noch verwirrter, als sie zu ihm sah. "Was?" "Dass du von ihm schwanger bist." Da wurde ihr Gesicht nur noch blasser, ihr Gesicht dagegen ernst. "Du...", begann sie leise. "Ich weiß es, ja.", bestätigte er. "Yuki, ich... es tut mir leid.", versuchte sie, sich zu erklären, doch er unterbrach sie. "Darum geht es mir nicht. Ich meine, es ist nicht so, dass es mich kalt lässt, aber ich denke, ich bin an der Situation auch nicht ganz unschuldig. Nein, ich möchte mit dir über dein Vorhaben reden. Sachi, warum willst du es loswerden?" Wieder war sie einen Moment sprachlos und sah ihn an, als hätte er ihr von kleinen, grünen Menschen erzählt, die über die Erde herfallen. "Ist das nicht offensichtlich?", fragte sie mit gerunzelter Stirn. Er nickte nur leicht. "Ich kann mir gut vorstellen, dass du das nicht gewollt hast, aber sehr viele Kinder kommen ungeplant. Was ich meine ist... wenn du es abtreiben willst, damit ich von allem nichts mitbekomme, dann ist das doch nun auch hinfällig. Verstehst du?"

Sie konnte es scheinbar immer noch nicht so ganz fassen. Prüfend sah sie ihn an. "Du willst, dass ich ein Kind behalte, das nicht von dir ist?" "Warum nicht?", entgegnete er sogleich, "Ein Kind ist auch nur ein Kind und es hat ein Recht auf sein Leben. Ja, vielleicht hast du... haben wir Fehler gemacht, aber dieses Kind kann nichts dafür. Statt es für unser Handeln zu bestrafen, sollten wir nicht eher die Verantwortung übernehmen?" "Und wie stellst du dir das vor? Was willst du tun?", verlangte sie zu erfahren. Sie wirkte ein wenig hilflos, der Situation ausgeliefert und dadurch ziemlich reizbar. "Da richte ich mich ganz nach dir.", antwortete er ruhig, "Sag mir nur, was du willst. Wenn du das Kind nach der Geburt weggeben willst - gut. Wenn du es behalten und mit mir großziehen willst, bin ich dabei. Wenn du dich von mir scheiden lassen und es mit Ken zusammen aufziehen willst, dann steh ich dem nicht im Weg. Es liegt an dir."

Die folgende Stille, in der Sachi ihn einfach nur ansah, war nur eines: Erdrückend. "Es ist dir also egal, was aus uns wird.", fasste sie mit einem leichten Nicken zusammen. Ihre Stimme klang dabei ein wenig enttäuscht und anklagend. Zumindest wirkte es auf ihn so. Aber er konnte sich das ja auch einbilden. Jedenfalls tat es weh, dass sie so über ihn und seine Gefühle, vor allem aber seine Liebe zu ihr dachte. Kaum merklich schüttelte er den Kopf. "Nein, das ist es nicht. Glaubst du, ich gebe unsere Ehe gern auf? Ganz bestimmt nicht. Ich will dich nicht verlieren, aber wenn ich das schon längst habe, sehe ich keinen Grund, warum ich dich zu etwas zwingen sollte, das du gar nicht willst. Das wäre grausam, nicht wahr?"

Inzwischen hatte er sich vom Sessel erhoben und ging auf sie zu. Sein Blick war noch immer ernst, hatte zudem jedoch freundliche und gütige Züge angenommen. "Es liegt an dir.", wiederholte er sanft, "Ich bin mit allem einverstanden, solange du nur dafür sorgst, dass du dann auch glücklich bist." Bei diesen Worten war Sachi den Tränen nahe, das konnte er ihr sofort ansehen. Er kannte sie doch recht gut und wusste, dass ihr nun wahrscheinlich ihr eigenes Verhalten noch mehr zu schaffen machte. Immerhin wusste sie, was sie getan hatte und dass es falsch gewesen war. Dass Yukihiro in dieser Situation nur ihr Bestes wollte, hatte sie scheinbar nicht erwartet. Sie schluckte schwer und nickte. "Gut.", sagte sie schließlich mit hauchdünner Stimme, "Ich denke über alles nach."

Damit hatte er erreicht, was er wollte und verabschiedete sich von ihr. Als er ging, drehte er sich nicht noch einmal zu ihr um und bemerkte daher nicht, dass und wie sie ihm hinterher sah. Er kehrte zum Studio zurück und verbrachte dort eine sehr unruhige Nacht. Immer wieder musste er an die Situation und ihr Gespräch zurück denken. Ständig fragte er sich, was nun geschehen würde. Wie würde sich Sachi entscheiden? Und vor allem: Wie sollte er nun mit Ken umgehen? Er war sicher, sie würde ihm erst einmal erzählen, was vorgefallen war. Und dann? Er wollte nicht, dass ihr Umgang miteinander komplizierter wurde. Schon allein wegen der Band nicht. Die wollte er nicht aufgeben und ohne Ken wäre es auch nicht dasselbe gewesen. Im Laufe der Zeit würde Yukihiro mit dem Ende der Geschichte schon zurecht kommen, da war er sicher. Nur Ken musste da noch mitspielen...

Der nächste Tag begann für alle recht früh. Die anderen drei kamen morgens an. Tetsuya musste wieder darauf aufpassen, dass Yukihiro etwas zu sich nahm. Natürlich bekam der Schlagzeuger wieder Ärger. Inzwischen bekam er jeden Tag Ärger, während Tetsuya massenhaft Nerven einbüßen musste. Als sie gerade ein neues Lied zusammen einstudierten, vibrierte Kens Handy in seiner Tasche. Da dies nun schon das zehnte Mal innerhalb kurzer Zeit war, blickte er fragend zu Tetsuya, welcher nur entnervt seufzte. "Geh schon ran. Dann machen wir eben alle eine Pause." Mit einem dankenden Nicken zog er das kleine Gerät aus der Tasche und verzog sich damit in eine Ecke. Noch bevor er dort ankam, nahm er ab und begrüßte die Person am anderen Ende.

Hyde und Tetsuya legten alles ab, was sie in der Hand hatten, und gingen in den Flur. Yukihiro blieb sitzen und beschäftigte sich in der Zwischenzeit damit, die Reihenfolge seiner Armbewegungen noch einmal zu verinnerlichen. Jedoch hatte er dazu nicht lange die Gelegenheit, die erzürnte Stimme seines Leaders schallte durch den Raum: "Yukihiro Awaji! Weißt du nicht, was das Wort 'Pause' bedeutet? Mach dich bloß von dem Schlagzeug weg!" In geduckter Haltung schlich er aus dem Raum. Da er nicht wusste, was er tun sollte, ging er wieder aufs Dach und sah sich die Stadt an. Schon bald zog er seine Zigarettenschachtel hervor und rauchte. Sanft verteilte sich der Qualm in der Luft und formte einige Gebilde, bevor er gänzlich verschwand.

So saß er da, lehnte an der Wand und hatte die Augen geschlossen. Da er sich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren wollte, ging er nun in Gedanken die Lieder und ihre jeweiligen Bewegungsabläufe durch. Erst als ein Schatten auf sein Gesicht fiel, sah er wieder auf. Ken stand vor ihm. "Ich hab dich gesucht.", erklärte er. Yukihiro nickte leicht. "Geht's weiter?", erkundigte er sich. "Eh... nein. Ich wollte mit dir reden." Wieder nickte er. "Sicher. Worum geht's?", fragte er, obwohl er es sich bereits denken konnte. Dennoch, er konnte sich ja schließlich auch irren. Doch allein, dass Ken nun schwieg, zeigte ihm, dass er wahrscheinlich recht behalten sollte. "Sag es einfach.", versuchte er, ihn zu ermutigen. "Ja...", murmelte Ken, "Es bringt wohl nichts, lange um den heißen Brei zu reden. Der Anruf war von Sachi. Und sie hat mir von eurem Gespräch gestern erzählt."

Wieder nickte der Schlagzeuger nur. "Das habe ich erwartet. Und?", hakte er nach einiger Zeit nach. "Und... es tut mir leid. Ich...", wollte sich nun auch Ken entschuldigen, doch er hob die Hand und unterbrach ihn. "Bitte, sag nichts. Lass es einfach gut sein. Ich möchte nichts darüber hören und nichts dazu sagen." Nun hatte er sicher etwas forscher gewirkt als er es beabsichtigt hatte. Doch er wollte wirklich auf keinen Fall darüber reden. Diese Sache hatte ihm schon genug Schmerzen bereitet. Noch mehr brauchte er nicht. Wenn Sachi sich entschieden hatte, wollte er mit alledem ein- für allemal abschließen und weiter leben, als sei nichts geschehen. Vielleicht war das nicht die beste Art, damit umzugehen, doch widerstrebte es ihm, sich noch sehr viel länger davon beeinflussen zu lassen. Er wollte sich sein Leben einfach nicht noch weiter zerstören lassen.

Ken stand noch immer unschlüssig vor ihm. Man merkte deutlich, dass er überfordert war und ihn sein schlechtes Gewissen plagte. Es war schon beinahe niedlich. Er wirkte wie ein kleines Kind, das wusste, dass es etwas falsch gemacht hatte und nun nicht wusste, was es tun sollte. So klopfte Yukihiro mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. "Setz dich.", sagte er dabei ruhig. Als Ken seiner Bitte nachkam, zog er zwei frische Zigartten aus der Schachtel und reichte eine davon an ihn weiter. Einen winzigen Moment wirkte Ken leicht verwirrt, bevor er sie annahm. Als sie zwischen seinen Lippen steckte, beugte sich Yukihiro ein wenig zu ihm und zündete sie an. Anschließend tat er dasselbe mit seiner eigenen. So saßen sie stumm nebeneinander und rauchten. Und obwohl kein einziges Wort gefallen war, hatte Ken verstanden, was diese Geste bedeuten sollte.
 

Acht Monate später lag Sachi im Kreissaal und verbrachte einige Stunden damit, ihr Kind zur Welt zu bringen. Es war eine schwere Geburt, von der sie am Ende sehr erschöpft war. Doch schließlich hatte sie einen gesunden Sohn im Arm. Als sie später wieder in ihrem Zimmer lag, fragte eine Schwester, wie der Junge heißen sollte. "Mein Mann wird einen Namen aussuchen.", erklärte sie daraufhin und blickte zu dem Mann, der neben ihr am Bett saß. Sie hatten im Vorfeld bereits darüber gesprochen und diese Vorgehensweise schon vor ein paar Monaten beschlossen. Yukihiro nickte nur leicht. Er hatte lange darüber nachgedacht. Ein Name und dessen Bedeutung waren wichtig. Bisher hatte er nicht einmal mit Sachi über seine Auswahl oder gar die endgültige Wahl gesprochen. Nun war es an der Zeit, seine Entscheidung zu offenbaren. "Sein Name ist Hiro."



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  queermatcha
2011-04-10T06:41:59+00:00 10.04.2011 08:41
Yuki tut mir richtig leid. Muss seinen Kummer herunterschlucken und schafft es sogar, Ken anzulächeln. Aber ich bin sicher, dass er das nicht mehr lange aushält. Irgendwann explodiert er bestimmt und das wird nicht schön. Bin schon sehr gespannt, wie's weitergeht.


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