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Rapunzel - Sei vorsichtig, was du dir wünschst

Geburtstags-FF für Karma
von

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Für immer

Kapitel 5

Für immer
 

Joey zog und zerrte an seinen pflanzlichen Fesseln und dem Tuch. Durch die Tür drangen eindeutig Kampfgeräusche. Er musste raus und die beiden Streithähne beruhigen, sie sollten sich nicht seinetwegen die Köpfe einschlagen. Bei Bakuras plötzlichem Schrei blieb ihm fast das Herz stehen. Er ruckelte an der Tür, pochte gegen das Holz, um sich bemerkbar zu machen. Nach endlosen Sekunden wurde ihm geöffnet. Der Blick seiner Ziehmutter war finster. Sie hob den Zauber auf, die Fesseln fielen von ihm ab. Er stürzte an ihr vorbei ans Fenster.

„Bakura! BAKURA! Was hast du angerichtet?“

Der Prinz lag reglos mitten in einem großen Dorngestrüpp. Auf seiner rechten Wange klaffte eine große blutende Wunde.

„Du kannst ihm nicht mehr helfen.“

Mai packte ihn hart am Arm. In seinem Kopf machte sich ein betäubendes Gefühl breit. Er wollte sich wehren, Mai anschreien, zu Bakura hinunter und war doch kaum fähig, sich auf seinen eigenen Beinen zu halten. Er fühlte sich wie in dicke Watte gepackt, als er hinter der Zauberin den Zopf herabstieg und von ihr fortgezogen wurde. Sich losreißen und zurücklaufen konnte er nicht. Sie marschierte mit ihm quer durch den Wald, durch Bachläufe und über umgestürzte Bäume, sah nicht zu ihm zurück und achtete nicht auf die Tränen, die ihm unaufhörlich über die Wangen rannen. Bald hatte er vollkommen die Orientierung verloren, wusste nicht mehr, in welche Himmelsrichtung sie gingen. Er registrierte kaum, wie er neben Mai auf den Planwagen stieg, mit dem sie so lange durch die Lande gezogen waren. Sie durchquerten Wälder und Felder, ohne nur einem einzigen Menschen zu begegnen, den er um Hilfe hätte bitten können. Joey zählte nicht die Stunden, die sie unterwegs waren. Seine Wut wechselte mit der Zeit zu Frustration und wurde schließlich zu Resignation. Gebunden durch Mais Zauber war er nicht mal fähig, ihr ins Gesicht zu schreien, was er von ihr hielt.

Als die Sonne tiefer sank, wand sich der Pfad, dem sie folgten, zwischen zwei großen, aufrecht stehenden Monolithen hindurch. Die Bäume neigten sich zu beiden Seiten dem Weg zu und bildeten einen natürlichen grünen Laubengang. Beim Passieren der Felsen spürte Joey ein kurzes Kribbeln im Nacken. Einige Zeit später, den Wald hatten sie weit hinter sich gelassen und der Himmel färbte sich bereits rot, hielt Mai den Wagen mitten in einem steinigen Tal an, in dem außer Dornsträuchern und Gräsern kaum etwas wuchs. Der Boden war trocken und aufgerissen, es musste Wochen oder gar Monate her sein, seit es zum letzten Mal geregnet hatte. Sie stieß ihren Ziehsohn vom Wagen.

„Warum zwingst du mich dazu?“, fragte sie traurig.

Joey fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Als hätte er sie dazu gezwungen, ihn zu verschleppen. Es kostete ihn ungeheure Kraft, seine Finger zu krümmen und die Faust zu ballen. Sie wendete und schlug mit den Zügeln. Der Esel weigerte sich zu laufen.

„Beweg dich, du störrisches Vieh. Glaubst du, ich tu das gern?“

Erst als sie zur Peitsche griff und diese knallend durch die Luft schwang, setzte sich das Tier in Bewegung. Der Zauber, der Joey gefangen gehalten hatte, fiel von ihm ab. Er lief hinter ihr her.

„Das kannst du nicht machen! Lass mich zu Bakura zurück, bitte! Er braucht Hilfe.“

„Vergiss ihn!“, rief sie zurück. „Siehst du denn immer noch nicht, dass ich es nur gut mit dir meine?“

„Du hast mich eingesperrt.“

„Aber doch nur zu deinem Schutz.“

„Schutz vor was? Das stimmt alles nicht. Du wirfst mir vor, nur an mich zu denken, weil ich mit Bakura zusammen sein will. Dabei bist du diejenige, die selbstsüchtig ist.“ Er ignorierte ihr empörtes Schnappen nach Luft. „Du wolltest mich für dich allein haben, was ich wollte, war dir völlig egal. Als ich klein war, warst du wie eine Mutter für mich, aber je älter ich wurde, umso mehr hast du mich von anderen abgeschottet.“

Joey lief schneller, schloss mit dem Wagen auf, um die Frau noch einmal ansehen zu können, die ihn aufgezogen hatte.

„Es reicht mir mit dir.“

„Joey, ich nehme dich gerne wieder zu mir, wenn du mir nur versprichst –“

„Danke, ich verzichte“, schnitt er ihr das Wort ab. „Weißt du was, Mai, ich brauche deine Hilfe nicht. Ich schaffe es auch ohne dich hier raus und zu ihm zurück. Verschwinde.“

„Aber wir sind doch –“

„Hau ab!“

Sie schlug mit den Zügeln und fuhr davon. Mais Blick war stur auf die Straße gerichtet, sie kämpfte um ihre Fassung und verlor, kaum dass sie das Tal verlassen hatte. Sie hielt am Wegesrand an, zwischen ihren Fingern, mit denen sie das Gesicht bedeckt hatte, rannen Tränen durch. So hatte es nicht enden sollen. Vor ein paar Tagen noch hatte ihre Freundin Flora davon geschwärmt, was für eine herrliche, erfüllende Aufgabe sie als Fee habe, den Menschen eine glückliche Zukunft zu bereiten. Erst neulich hätten sich wieder zwei ihrer Schützlinge das Jawort gegeben.

„Und wo ist mein glückliches Ende?“, flüsterte sie.

Hatte sie als Zauberin etwa kein Anrecht darauf? Seit ihre eigene Ziehmutter und Lehrmeisterin verstorben war (sie hatte sie als Waise gefunden), hatte sie sich gewünscht, selbst Kinder zu haben. Der erste Mann, in den sie sich verliebt hatte, hatte sie aus heiterem Himmel sitzen lassen, der nächste hatte sie betrogen, ein dritter wollte sich nur ihre Zauberkraft zunutze machen. Nein, Glück mit Beziehungen hatte sie nicht gehabt. Sie hatte gedacht, alles würde anders werden, als sie Joey adoptierte … Jetzt hatte auch er sie verlassen.

Sie fuhr von ihrem Platz auf. Auch wenn dem so war, sie musste ihm wenigstens sagen, wo sie sich befanden. Mit den Monolithen hatten sie mehr als ein einfaches Tor passiert. In ihrer Enttäuschung hatte sie ihn in eines der Elfenreiche gebracht, wo die Zeit anders als in den Gebieten der Menschen verlief. Er würde ewig durch die Wälder irren, wenn sie ihm nicht den Weg zum Portal zeigte. Wenn sie jedoch so darüber nachdachte, ein paar Tage Aufenthalt hier waren womöglich in der Lage, seine Meinung zu ändern.
 

Bakura kam stöhnend zu sich. Der Kopf dröhnte ihm, als wäre er von einer Rinderherde niedergetrampelt worden. Sein ganzer Körper schmerzte. Er versuchte vorsichtig seine Gliedmaßen zu bewegen und stellte fest, dass er seinen rechten Arm nicht richtig spüren konnte, wahrscheinlich gebrochen. Was war überhaupt passiert, er konnte sich kaum erinnern. Dunkel sah er Mai vor sich, wie er gegen sie kämpfte … Joey! Er fuhr auf, bereute dies aber sofort, der Schmerz schoss durch seinen Rücken, um ihn drehte sich alles und es dauerte etwas, bis die Welt wieder still stand. Er sah an sich herunter, das Hemd war zerfetzt, höchstens noch als Putzlappen zu gebrauchen, der einst weiße Kragen von Blut getränkt, das seine Wange herablief. Er betastete die Wunde vorsichtig, sie lief von seinem rechten Auge bis zum Kinn hinab, durchbrochen von zwei quer dazu verlaufenden Schlitzen. Seine Arme waren voller Kratzer und Schnittwunden, mehrere Dornen hatten sich ihm ins Fleisch gebohrt, die er mühsam mit der linken Hand herauszog.

„Joey!“ Schon seinen Kopf in den Nacken zu legen, tat weh. „Joey, hörst du mich?“

Er kam mehr kriechend als laufend aus dem Dorngestrüpp heraus und humpelte auf den Turm zu, ununterbrochen Joeys Namen rufend. Niemand antwortete ihm. Langsam erinnerte er sich daran, was Mai gesagt hatte. Sie musste ihn verschleppt haben. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war, ob überhaupt noch derselbe Tag war. Sie konnten schon Meilen weit weg sein und er hatte nicht den blassesten Schimmer, in welche Richtung sie unterwegs waren. So miserabel, so hilflos hatte er sich noch nie gefühlt. Auf seinen Pfiff kamen die beiden Pferde, das zweite hatte er eigentlich für den Blondschopf mitgebracht. Er zog sich auf den Rücken seines Pferdes und ließ sich von ihm Richtung Stadt tragen. Die Strecke zwischen Alva und dem Turm war er so oft geritten, dass das Tier sie auswendig kannte.

„Bakura, was ist mit dir geschehen?“ Ryou, der sich selbst für einen kurzen Ausritt bereit machte, lief quer über den Hof und fing den vom Pferd rutschenden Bruder auf. „Ruft den Medikus, schnell!“

Das nächste, was Bakura sah, war der Baldachin seines Himmelbetts. Ryou, seine Mutter und Duke saßen an seiner Seite, tiefe Besorgnis in den Augen. Stockend begann er zu berichten. Die Königin hörte ihm schweigend zu, froh darüber, dass ihr Mann noch nichts davon gewusst hatte – erst recht nicht davon, dass ihr Sohn am eigenen Geschlecht Interesse zeigte. Wenn erst ein paar Tage vergangen waren und sich Bakura ein wenig daran gewöhnt hatte, würde er sicher einsehen, dass es für ihn und diesen Joey keine Zukunft gab. Unter den Prinzessinnen, die im passenden Alter waren, befand sich hoffentlich eine, die ihn über den Verlust hinwegtrösten konnte.
 

Es wurde bald dunkel und Joey kauerte sich zwischen ein paar großen Felsen zusammen, die ihm halbwegs Schutz vor dem kalten Nacht-wind boten. Das Kleid, das er vor ihrem Aufbruch nicht mehr hatte ausziehen können, wickelte er als Decke um sich. Sobald die ersten Sonnenstrahlen das Tal berührten, machte er sich auf den Weg. Er würde es Mai schon zeigen, er brauchte sie nicht, um zu Bakura zu kommen.

Am Ende des Tages geriet seine Meinung leicht ins Schwanken. Auf dem Hinweg hatte die Strecke viel kürzer ausgesehen, nun war es Abend und er hatte den Wald immer noch nicht erreicht, ganz davon zu schweigen, dass er weder etwas Essbares noch Wasser gefunden hatte. Trotzdem weigerte er sich, nach Mai zu suchen und sie um Hilfe zu bitten. Er wollte ihr nicht noch einmal in die Fänge geraten. Als er in den Vormittagsstunden des folgenden Tages die ersten Ausläufer des Waldes erreichte, konnte er sich kaum noch aufrecht halten. Glücklich, endlich der heißen Sonne entronnen zu sein, machte er im Schatten der Bäume eine Pause und schlief eine Weile, bevor er seine Reise fortsetzte. Es dauerte volle drei Tage, bis er das Tor aus Monolithen wiederfand und erneut das Kribbeln im Nacken bemerkte, als er es durchschritt.

Ist das derselbe Wald, durch den ich vor ein paar Tagen gekommen bin?, dachte er irritiert. Alles sah so anders aus, das Grün der Bäume war dunkler, als er es in Erinnerung hatte, viele Pflanzen waren weiter entwickelt und es blühten Blumen, für die es eigentlich noch gar nicht an der Zeit war. Wenn er richtig rechnete, musste Mitte Juni sein, nach dem Stand der Pflanzen zu urteilen aber eher Mitte August. Sie konnten doch unmöglich einen derartigen Wachstumsschub bekommen haben. Nach einiger Zeit des Umherirrens fand er einen Pfad, der aus dem Wald herausführte. Auf den Feldern, an denen er vorbeikam, lag das Getreide zu Bündeln geschnürt zum Trocknen aus. Von einem Apfelbaum am Straßenrand schüttelte er ein paar Äpfel herunter, nach tagelanger Kost aus Wurzeln und Beeren brauchte er etwas anderes zu essen. Allmählich keimte ein böser Verdacht in ihm auf. Mai musste ihn unbemerkt einem weiteren Zauber unterworfen haben, der ihm entweder vorgaukelte, die Zeit vergehe viel langsamer oder viel schneller, anders konnte er sich das alles nicht erklären.
 

Bekanntlich heilt Zeit alle Wunden. So verhielt es sich auch mit Bakuras Verletzungen. Die angebrochenen Rippen und sein Arm wuchsen bald wieder zusammen, die Striemen auf seiner Wange jedoch wollten nicht richtig verheilen und hinterließen eine große Narbe. Er ignorierte das Getuschel der Mitglieder des Hofstaates seines Vaters, das sie hinter vorgehaltener Hand führten, die Narbe würde ihn entstellen. Der kosmetische Aspekt war ihm gleichgültig, vielmehr erinnerte sie ihn beständig an Joeys Verlust. Während der ersten Wochen nach seinem Unfall hatten Ryou, Duke und Yami ihre liebe Not damit, ihn davon abzuhalten, das nächstbeste Pferd zu nehmen und sich auf die Suche nach ihm zu begeben. Der Medikus hatte jede körperliche Anstrengung verboten und an Reiten war erst recht nicht zu denken.

Seine Wunden heilten … im Gegensatz zu seinem Herz, das ihm wie ein riesiger Scherbenhaufen vorkam. Er hatte nicht eher Ruhe gegeben, als bis sein Bruder heimlich, ohne das Wissen ihrer Eltern, Boten in alle vier Himmelsrichtungen geschickt hatte, um Joey zu suchen. Es waren Wochen vergangen, sie hatten nichts in Erfahrung bringen können. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Der Juli ging in einen heißen August über, an dessen Ende das ganze Schloss in Aufregung geriet. Der zwanzigste Geburtstag der beiden Prinzen nahte und damit der große Ball, bei dem Bakura seine Frau wählen sollte. Ob er das überhaupt wollte, danach fragte sein Vater nicht. Hätte es nur einen Hinweis auf Joeys Aufenthaltsort gegeben, ein Flüstern – er hätte sofort das Schloss verlassen und sich auf den Weg zu ihm gemacht. Je näher die Zwangsverlobung rückte, desto weiter strebte seine Laune dem Bodenlosen zu. An manchen Tagen trauten sich die Diener kaum noch, ihn überhaupt anzusprechen, weil sie fürchten mussten, er könne mit seinem Dolch nach ihnen werfen oder seine schlechte Laune anderweitig an ihnen auslassen.
 

Gewissheit über seine Beobachtungen, die Zeit müsse während seiner Wanderung anders abgelaufen sein, erhielt Joey zwei Tage später, als er auf ein kleines Gehöft stieß und den dort lebenden Bauern befragte. Es war der 21. August und er hatte gestern, von Südosten kommend, unbemerkt die Grenze nach Dracoria, seine alte Heimat, überquert. Um nach Alvaria zu gelangen, musste er quer durch das Reich reisen. Die Frau des Bauern setzte ihm eine kräftige Suppe und Brot vor, als Hilfe dafür, dass er ihnen einen Stapel Brennholz spaltete und hinterm Haus aufstapelte, und zeigte ihm den Weg zum nächsten Dorf. In diesem angekommen erklärte sich ein fahrender Händler bereit, ihn auf seinem Karren in die Hauptstadt mitzunehmen.

Zerlumpt, hungrig und ohne eine Münze in der Tasche kam er in Dracis an. Er erkannte die Stadt kaum wieder, es waren viele neue Gebäude entstanden, weitere waren im Bau, in der ganzen Stadt pulsierte das Leben. Mühevoll kratzte er in seinem Gedächtnis ein paar Namen seiner früheren Freunde zusammen und machte sich auf die Suche nach ihnen. Der Fischer, der seine Hütte damals am Stadtrand gehabt hatte, war mit seiner Familie fortgezogen, der Sohn des Müllers befand sich auf Wanderschaft und der Sohn des Bäckers erinnerte sich nicht mehr an ihn und setzte ihn vor die Tür. Der Duft von frischem Brot und Kuchen, der aus der Backstube drang, ließ Joeys Magen noch lauter knurren. Er ließ sich an einer Hauswand auf den Boden sinken und vergrub den Kopf zwischen den Armen. Da war er nun, verlassen und mittellos, Bakura wahrscheinlich tot, denn bislang hatte er nichts über ihn in Erfahrung bringen können … Kurz flackerte in ihm der Gedanke auf, es wäre besser gewesen, auf Mai zu hören oder all dem hier und jetzt ein Ende zu setzen. Das laute, panische Wiehern eines Pferdes brach dazwischen.

„So haltet es doch auf, ihr Dummköpfe!“, rief eine tiefe Stimme unwirsch.

Joey sah auf. Er befand sich unweit des Schlosses, am Rand eines Platzes, in dessen Mitte ein großer Brunnen stand, der wie so vieles neu sein musste. Das Wasser plätscherte aus den Mäulern dreier großer weißer Drachen, die ihre Flügel gen Himmel reckten. Durch das Tor, das in den Vorhof des Schlosses führte, kam ein Pferd gelaufen, dessen Fell schwarz wie die Nacht war. Mehrere Knechte folgten ihm, die es einzufangen versuchten. Der Hengst schlug Haken und wich den Fangversuchen geschickt aus.

„Wenn ich diesen Gaul erwische! Und den Kerl, der ihn mir verkauft hat, den lasse ich hängen!“

Der Besitzer des Pferdes marschierte durch das Tor, die Hände zu Fäusten geballt und seine Untergebenen mit einem Blick wie blankes Eis anfunkelnd. Joey rieb sich die Augen, aber es konnte kaum anders sein. Das musste Seto sein, Prinz von Dracoria und sein erklärter Lieblingsfeind während seiner Kindheit. Er hatte sich verändert (nicht nur körperlich, da er jetzt über einen Kopf größer als Joey war), aber das nicht unbedingt zu seinem Vorteil. Um seinen Mund lag ein harter Zug, den er früher nicht gehabt hatte.

„Los, fangt ihn endlich.“

„Wir versuchen es ja, mein Fürst.“

Hatte er richtig gehört? Wenn Seto Fürst war, was war dann mit seinem Vater passiert, Fürst Gozaburo? In Alvaria hatte er wenigstens durch den Klatsch der Leute erfahren, was in seiner Heimat geschah, in seinem Turm jedoch hatte er wie hinter dem Mond gelebt. Das Pferd umrundete den Platz und wich dem Stallmeister, einem noch jungen Mann mit rubinroten Haaren, aus.

„Alister, fang ihn endlich“, verlangte Seto, der dabei war, im Kopf alle Bestrafungsmöglichkeiten für den verlogenen Pferdehändler durchzugehen. Von wegen, der Hengst sei gut zu reiten, er ließ sich nicht einmal das Zaumzeug anlegen. Alister näherte sich dem Hengst halb von der Seite, versuchte ihn zu beruhigen, da stellte er sich auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderhufen aus. Der Stallmeister wich ein Stück rückwärts.

„Er lässt niemanden an sich heran, Herr.“

„Das ist mir egal, fang ihn ein und bringt ihn aufs Schloss. Wenn er sich nicht reiten lässt, wird er dem Pferdeschinder übergeben. Ein Jammer um das schöne Tier.“

Die Knechte liefen, angetrieben von den Befehlen des Stallmeisters, hin und her, versuchten ihn einzukreisen. Er nutzte jede noch so kleine Lücke und brach aus. Joey schüttelte amüsiert den Kopf, das konnte noch Stunden so weitergehen. Er kam etwas näher heran, um einen besseren Blick auf die Szenerie zu haben, und versteckte sich hinter einem Karren, der Fässer geladen hatte. So wie er aussah, wollte er Seto nicht unter die Augen treten. Nach allem, was er durchgemacht hatte, hätte er dessen spöttisches Lachen nicht ertragen. Momentan war der Brünette eher damit beschäftigt, seine reiche, fünf Sprachen umfassende Sammlung von Flüchen loszulassen und dem Pferdehändler die Pest und eine ganze Reihe anderer Leiden an den Hals zu wünschen. Wie hatte er sich nur so hereinlegen lassen können! Über seiner Wut bemerkte er zu spät, wie das Pferd wendete und auf ihn zu hielt.

„Euer Durchlaucht!“, schrie Alister.

Dieser wandte ihm den Kopf zu, gleichzeitig rannte Joey los, packte Seto und riss ihn zu Boden. Der Hengst galoppierte an ihnen vorbei, in Richtung Markt.

„Früher waren deine Reflexe besser, Seto“, murmelte der Blonde, nicht merkend, wie er in ihren früheren vertrauten Ton zurückfiel. Erst der darauf folgende, zwischen Kälte ob der respektlosen Anrede und Verwunderung schwankende Blick des Fürsten machte ihm bewusst, was er eben gesagt hatte.

„Runter von mir, Bettler! Was erdreistest du dich, so mit mir zu sprechen.“

Seto stieß ihn weg, um aufzustehen. Joey sprang auf die Beine und funkelte ihn angriffslustig an. Eines hatten die Jahre nicht ändern können, ein paar Worte von Seto reichten und er sah Rot.

„Ich hätte wissen sollen, dass du es immer noch nicht gelernt hast, dich zu bedanken, Prinz … pardon, Fürst Blauauge.“

Ein paar Sekunden zu spät fiel ihm ein, dass er sich damit verraten hatte. Diesen Spitznamen hatte Joey ihm gegeben und als Einziger benutzt.

„Köter … Joey, bist du das etwa?“ Seto unterzog ihn einer eingehenden Musterung, bei der er verschämt den Blick senkte.

„Eindeutig. Wie du aussiehst … und riechst.“ Er hielt sich die Nase zu. „Hast du die letzten Jahre in einem Schweinestall zugebracht?“

„Nein, woanders.“ Er wusste selbst, dass er nicht nach Rosen duftete. „Ich möchte dich mal nach einem tagelangen Fußmarsch querfeldein und ohne wirkliche Bademöglichkeiten sehen.“

Alister und seine Knechte standen wortlos in ihrer Nähe und starrten die beiden jungen Männer an. In den letzten Jahren, seit er den Thron bestiegen hatte, war ihr König kalt wie Eis gewesen. Ihn so plötzlich auftauen und mit diesem Bettler wie mit einem alten Freund sprechen zu sehen, versetzte ihnen einen regelrechten Schock. Vollends wurde ihr Weltbild durcheinander gewirbelt, als Seto Joey nicht nur, wenn auch bloß mit einem knappen Nicken, dankte, sondern ihn sogar einlud, in der Schlossküche etwas zu essen und ihm zu erzählen, was ihm widerfahren war.

Anfangs zögerte er, dachte sogar daran, seine Beziehung zu Bakura komplett auszusparen, da er nicht wusste, wie Seto zu so etwas stand, doch die Zeit und ein Krug Bier lösten seine Zunge – zumindest in Teilen. Er erzählte ihm, sich in einen Jäger des alvarischen Königs verliebt zu haben, mit dem er hatte fliehen wollen.

„Und jetzt bist du auf der Suche nach ihm“, sagte Seto, als er geendet hatte.

„Genau“, nickte Joey und schob sich einen Bissen Brot in den Mund. „Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt noch lebt, aber ich muss ihn unbedingt finden.“

„Hmm … Ich bin für nächste Woche zur Geburtstagsfeier von Prinz Bakura und Prinz Ryou nach Alvaria eingeladen. Wenn du bereit bist, unterwegs meinen Dienern zur Hand zu gehen, nehme ich dich mit.“

„Das …“ Nein, er konnte sich nicht verhört haben. Bakura war am Leben. „Das würdest du tun? Vielen, vielen Dank!“

Seto fand sich in einer kurzen, dafür aber stürmischen Umarmung wieder.

„Ist ja gut, krieg dich wieder ein. Bevor wir weiterreden, nimmst du ein anständiges Bad.“

Joey konnte sein Glück kaum fassen. Nur zu bereitwillig ließ er sich erst in den Badezuber mit warmem Wasser und danach in saubere Kleidung stecken. Wenn er auf diese Weise zu Bakura kam, konnte er es verschmerzen, ein paar Tage für Seto den Lakai spielen zu müssen.
 

Nach einem Radbruch, der ihre Reise um etliche Stunden verzögerte, erreichten sie am Vormittag des 2. September die Stadt Alva. Die ganze Stadt war für die Festlichkeiten zu Ehren ihrer beiden Prinzen herausgeputzt worden. Es fand sich kaum ein Haus, das nicht mit Blumen, Fahnen und Girlanden geschmückt war. Joey ritt zwischen den Dienern auf einer kleinen, ruhigen Stute (wobei er froh war, dass Alister ihm nicht auf Setos Anweisung einen Esel gegeben hatte, das wäre ihm trotz der wieder auflebenden Freundschaft zuzutrauen gewesen) und erfreute sich an dem Jubel, mit dem sie von den Einwohnern empfangen wurden. Seto begnügte sich damit, ihnen ab und zu huldvoll aus seiner sechsspännigen Kutsche zuzuwinken.

Die Stadt war voll von Menschen, in ganz Alva war kaum noch ein Zimmer in einem Gasthaus zu bekommen, da von überall her die Gäste zum Ball angereist waren und häufig, wie auch in Setos Fall, ein großes Gefolge mitbrachten. Von daher war Joey froh, dass sie direkt im Schloss logieren würden. Unter den Klängen von Fanfaren ritten sie in den Schlosshof ein, wo das Königspaar stand, um ihren Nachbarn zu begrüßen. Von ihren Söhnen war weit und breit nichts zu sehen. Der König entschuldigte sie, die beiden wären ausgeritten.

Um die Zeit zu überbrücken, half Joey den Dienern dabei, das umfangreiche Gepäck abzuladen, das in der Kutsche und einem weiteren Wagen verstaut war. Er fragte sich, wofür Seto so viel brauchte, obwohl er nur drei Tage bleiben wollte. Für ihn sah das eher nach einem halben Umzug aus. Sobald alle Gepäckstücke in der luxuriösen Suite untergebracht waren, die für den jungen Fürsten vorbereitet worden war, wurden die Diener zu ihren eigenen Unterkünften gebracht. Joey fühlte sich in gewisser Weise ernüchtert. Eben noch hatte er weiche Matratzen und feinstes weißes Leinen vor sich gesehen – hier erwarteten ihn Schlafplätze aus grobem Gewebe und Stroh.

Ach, was soll’s, dachte er sich, als er den Sack mit seinen Kleidern zum Wechseln in einer Nische verstaute. Er musste nur Bakura finden. Die ganze Zeit schon versuchte er sich vorzustellen, was sein Geliebter wohl für ein Gesicht machen würde, ihn zu sehen. Sich überhaupt auf die Suche nach ihm machen zu können, war leichter gesagt als getan. Der Haushofmeister, der sich ihnen als Dartz vorgestellt hatte, teilte die Diener der königlichen Gäste gleich zu diversen Arbeiten ein, wegen der Vorbereitungen wurde jede freie Hand im Schloss gebraucht. Joeys Versuch, ihn darüber aufzuklären, dass er gar nicht Setos Diener war, wurde mit einer Hand abgewinkt und er mit zwei Mägden in die Küche abkommandiert.

Murrend folgte er den zwei Frauen durch die Gänge. Die Wachen, die überall postiert waren, hatten zu wachsame Augen, so dass er sich nicht in einen Nebengang davonschleichen konnte. In der Küche wurden sie von hektischer Betriebsamkeit empfangen, in deren Zentrum Tristan Taylor, des Königs Oberhofkoch, stand und das Heer von Köchen und Gehilfen dirigierte. Obgleich alle Fenster weit geöffnet waren, verbreiteten die Öfen eine glühende Hitze in dem großen Raum. In großen Kesseln über einem offenen Feuer kochte die Suppe, an einem anderen wurde ein ganzes Schwein gebraten, während in den Pfannen Gemüse und Wachteln zubereitet wurden. Joey wurde dazu eingeteilt, Erbsen auszupulen, die für einen der Hauptgänge benötigt wurden, und setzte sich neben ein paar Mägde, die mehrere Dutzend Hühner von ihrem Federkleid befreiten.

„Was meint ihr, wen er nimmt?“, fragte die eine.

„Keine Ahnung … vielleicht Prinzessin Rebecca“, mutmaßte eine zweite.

„Quatsch, die ist doch noch viel zu jung.“

„Wovon redet ihr?“, fragte Joey interessiert.

„Sag bloß, du weißt davon noch nichts. Prinz Bakura wird sich heute Abend auf dem Ball verloben, es ist aber noch nichts bekannt, wer die Glückliche sein wird.“

„Dass sie glücklich sein wird, möchte ich bezweifeln“, meldete sich eine stämmige Magd mit kurzem, dunklem Haar zu Wort. „So wirklich nett war er ja nie, aber jetzt ist unser Prinz ein richtiger Griesgram geworden.“

Hätte er nicht mitten zwischen ihnen auf der Bank gesessen, er wäre umgekippt angesichts der Neuigkeiten. Bakura musste ihn für tot halten, wenn er einer Hochzeit zugestimmt hatte. Umso drängender wurde in Joey der Wunsch, ihn zu finden, ihn wenigstens einmal noch zu sehen, bevor er ihn für immer an eine noch Unbekannte verlor. In den kurzen Pausen, die Tristan ihm zugestand, sah er sich ein wenig in den Höfen des Schlosses um, immer am Überlegen, welche der vielen Fenster zu Bakuras Räumen gehören mochten, und darauf hoffend, ihn zufällig zu sehen und auf sich aufmerksam machen zu können. Als er versuchte, sich in den Gebäudetrakt zu schleichen, wo die königliche Familie ihre Gemächer hatte, wurde er von einer Wache zurückgedrängt und verwarnt, sich dort nicht nochmals blicken zu lassen, wenn er die Nacht nicht im Kerker verbringen wollte.
 

Bakura saß, fertig für den Ball gekleidet, auf dem Fensterbrett und betrachtete nachdenklich den Mond. Zwei Monate und er hatte nichts, aber auch gar nichts von Joey gehört. Länger wollte sich sein Vater nicht mehr hinhalten lassen. Wenn dieser Abend vorbei war, hatte irgendeine der Frauen, die unten auf ihn warteten, den goldenen Diamantring am Finger, der in einer Samtschachtel auf seinen Einsatz wartete. Seinem persönlichen Geschmack entsprach er nicht, er hielt ihn für zu protzig. Das völlige Gegenteil zu den beiden schmalen Silberringen mit Knotenmuster, die er von einem Silberschmied für sich und Joey hatte anfertigen lassen und nun an einer Kette um seinen Hals hingen.

Die Standuhr schlug zehn vor acht, es war Zeit. Vor der Tür traf er auf seinen Bruder, dessen Kleider in einem etwas helleren Blau als seine eigenen gehalten waren. In den letzten Tagen war Ryou ihm aus dem Weg gegangen, nachdem er sein Versprechen, an seiner Stelle den Thron zu übernehmen, ohne nähere Begründung zurückgezogen hatte. Bakura hatte nach wie vor Lust, ihn dafür zu erwürgen, ihn mit der ungeliebten Verantwortung sitzen zu lassen.

Punkt acht Uhr, ganz wie es das Protokoll vorschrieb, wurden vor den beiden Prinzen die Türen zum Speisesaal geöffnet und sie schritten zur Mitte des Tisches, wo sie sich zwischen ihren Eltern niederließen. Bakura schluckte, was er sah, gefiel ihm gar nicht. Das mussten mindestens zwei Dutzend junge Mädchen sein und sein Vater erwartete allen Ernstes, dass er mit jeder von denen tanzte?

Gut, dachte er. Aber wehe, eine von denen beschwert sich nachher, wenn ihr die Füße wehtun.
 

Joeys Geduld neigte sich dem Ende entgegen. Er hatte Gemüse geputzt, auf Soßen und Braten aufgepasst, dass nichts anbrannte, zwischendurch heimlich an den verschiedenen Cremes genascht, die Tristan für das Dessert vorbereitet hatte … und immer noch hatte ihn der Oberhofkoch nicht entlassen. Die ganze Zeit, die das festliche, aus sieben Gängen bestehende Bankett andauerte, hielt er ihn mit immer neuen Aufgaben in der Küche fest. Zuletzt wurde die große Torte, getragen von vier Dienern, in den Saal gebracht. Der Blonde warf einen flehenden Blick zum Küchenchef.

„Wenn der König mit seinen Gästen in den Ballsaal hinübergegangen ist, darfst du gehen“, seufzte er. „Dort gibt es ein paar Ecken, in denen du dich verstecken und zusehen kannst. Aber bleib nicht zu lange, ich brauche dich hier beim Abwasch. Maximal eine halbe Stunde, dann bist du wieder da. Verstanden?“

„Ja“, erwiderte er und hängte die Schürze, die er zum Arbeiten getragen hatte, an einen Haken.

Eine halbe Stunde später verließ er den Küchentrakt und lief, der Beschreibung Tristans folgend, durch die von Kerzen erhellten Gänge. Eine entgegenkommende Wache zwang ihn, einen Gang früher abzubiegen, wodurch er sich prompt verlief und einige Zeit durch verlassene Gänge und über Wendeltreppen irrte, bis er ein Stück voraus einen Diener mit einer Silberplatte voller Häppchen fand, der auf dem Weg zum Ballsaal war. Joey folgte ihm mit ein paar Metern Abstand und versteckte sich hinter einer großen Ritterrüstung, als sich der Mann nach ihm umdrehte.

Schließlich gelangte er zum Ballsaal, wo er sich hinter einen großen roten Vorhang stellte. Die Musik spielte, der Tanz war in vollem Gang. Es dauerte nicht lange, dann hatte er Bakura entdeckt, er wirbelte eine zierliche Gräfin über die Tanzfläche, die sich permanent auf die Lippen biss, um nicht aufzuschreien. Vom tänzerischen Talent seiner Mutter hatte er kaum etwas geerbt. Seto entdeckte er am Rand, er hatte sich in ein angeregtes Gespräch mit Duke vertieft.

Die Musik endete, Bakura verbeugte sich vor seiner Dame und wollte die Tanzfläche verlassen, da wurde ihm schon die nächste zugeführt und eine ganze Menge kichernder Frauen wartete noch am Rand auf ihn. Joey sah sich um, von hier aus würde sein Geliebter ihn nie sehen, er musste näher an ihn heran.

„Was hast du hier zu suchen?“

Er drehte sich um und sah sich einer der Wachen gegenüber. Der Mann musterte ihn argwöhnisch und umfasste seine Lanze fester.

„Gehörst du nicht zum Küchenpersonal? Scher dich zurück an deine Kochtöpfe, Bursche!“

Joey wich zwei Schritte zurück und stieß gegen einen Diener, der ein Tablett mit Schaumweingläsern trug. Der Mann verlor das Gleichgewicht. Das Geräusch von zerspringendem Glas ließ die Musik abbrechen, die Tänzer wandten sich dem Lärm zu.
 

„Das … das kann nicht sein“, kam es kaum hörbar über Bakuras Lippen, als er sich wie die anderen umdrehte.

Umgeben von Glassplittern und einer großen Pfütze aus Schaumwein stand Joey an einem der Seiteneingänge des Saales.

„Entfernt diesen Störenfried aus dem Saal!“, befahl sein Vater.

„Nein, wartet!“

Bakura ließ das Mädchen los, mit dem er eben erst zu tanzen begonnen hatte, ihren Namen hatte er sich gar nicht erst gemerkt, und ging mit größer werdenden Schritten durch den Saal. Kaum einen Meter von Joey entfernt blieb er stehen, nach wie vor nicht ganz sicher, ob er einem Trugbild aufsaß oder nicht.

„Joey? Ich … dachte, du wärst von Mai verschleppt worden.“

„Wurde ich auch“, sagte er und sah kurz unsicher in die Runde, ehe er sich wieder auf Bakura konzentrierte. „Ich hab dich unten am Turm liegen sehen, du sahst aus, als wärst du tot …“

„Wo warst du, ich habe überall nach dir gesucht – Ach, egal!“

Unter den überraschten bis schockierte Blicken der Gäste und seiner Familie riss Bakura ihn in seine Arme und küsste ihn leidenschaftlich, was Joey nach der ersten Überraschung nicht minder stark erwiderte. Was um sie herum ablief, blendeten die beiden aus, bis sich der König mit einem gut vernehmlichen Räuspern meldete.

„Dürfte ich erfahren, was hier vor sich geht? Wie kannst du es wagen, unsere Gäste derart zu brüskieren, Sohn?“

„Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich keine Lust auf eine Heirat habe“, antwortete er, den Arm fest um Joeys Taille gelegt, „jedenfalls nicht mit einer Frau. Ich fürchte, du musst dich damit anfreunden, dass Ryou der nächste König wird … Wo steckt der überhaupt?“

Er sah sich nach seinem jüngeren Bruder um. Im Saal herrschte gespenstische Stille, man hätte eine Stecknadel fallen hören können … oder das leise Rascheln des Wandbehangs, der mit Hirschen und Wölfen bestickt war. Auf ein Zeichen des Königs zog ein Diener ihn mit raschem Griff beiseite.

„Ryou!“ Der König fühlte, wie seine Beine nachgaben und ließ sich auf seinen Sessel sinken.

Der Wandteppich verbarg den Zugang zu einer nicht mehr benutzten Dienertreppe und in dieser Nische stand der Prinz in enger Umarmung mit einem brünetten Mädchen, das die Gewänder eines Dienstmädchens trug. Das Paar sah erschrocken auf, machte aber keine Anstalten, sich voneinander zu lösen. Ryou atmete tief durch, griff nach der Hand des Mädchens und ging mit ihr auf seinen Vater zu.

„Was soll das werden, wenn’s fertig ist?“

„Vater, darf ich dir meine Braut vorstellen?“

„Ein Dienstmädchen?“ Der König blickte seine beiden Söhne wie vom Donner gerührt an. Dutzende Einladungen hatte er verschickt, an allen Fürstenhöfen um eine Heirat geworben und das war die Wahl der zwei? Er konnte es nicht glauben.

„Das stört mich nicht. Ich liebe Serenity und habe ihr die Ehe versprochen.“

Bakura und Joey hatten aus unterschiedlichen Gründen das Gefühl, ihnen müssten gleich die Augen aus dem Kopf fallen.

„Du bist ja doch nicht so ein Weichei, wie ich immer dachte, Ryou.“

Bakura stieß ihn an die Schulter. Joey betrachtete Serenity von oben bis unten und zog einen ovalen, mondfarbenen Anhänger hervor, den er unter dem Hemd verborgen getragen hatte.

„Heißt deine Tante zufällig Tea? Und … hat sie dir mal so was geschenkt?“

Er hielt ihr den Anhänger hin. Serenity griff in den Ausschnitt ihres Kleides und beförderte einen Stein zutage, der seinem zum Verwechseln ähnlich sah. Sie hielten sie nebeneinander und sahen sich an.

„Das letzte Mal, als ich sie vereint gesehen habe, war ich noch ganz klein“, sagte er aufgewühlt.

„Was habt ihr?“, fragte Ryou.

„Wir sind Geschwister“, erklärten sie wie aus einem Mund.

„Tante Tea hat mir erzählt, was du für mich getan hast, da habe ich mich auf die Suche nach dir gemacht und bin letztes Jahr hier gelandet.“

Bakura schüttelte lachend den Kopf. Sein ach so unschuldiger kleiner Bruder hatte eine Affäre mit jemandem vom Personal … nein, mit Joeys Schwester, also seiner baldigen Schwägerin. Das Leben schrieb schon verrückte Geschichten. Der sichtlich überforderte König wurde von seiner Gattin beruhigt, seine Wahl sei damals auf sie gefallen, die Tochter eines wohlhabenden, aber bürgerlichen Händlers, dann sollten sie dem Glück ihrer Kinder nicht im Wege stehen. Bakura reichte den Diamantring an Ryou weiter, der diesen überglücklich an Serenitys Finger steckte.

In dem sich anschließenden allgemeinen Trubel bemerkte niemand, wie sich eine Frau mit langen, glatten schwarzen Haaren aus dem Saal schlich, ein erleichtertes Lächeln auf den Lippen. Draußen im Schlosspark ließ sie sich auf eine Steinbank sinken, die von Lavendel und späten Rosen umgeben war. Neben ihr flackerte kurz die Luft.

„Der Rat hat beschlossen, dich für zehn Jahre ins Exil zu schicken, Mai“, sagte sie und wandte sich der blonden Frau zu, die neben ihr saß. „Du wirst dich morgen nach Süden begeben.“

„Wie der Rat es wünscht“, seufzte Mai. „Und, Ishizu … Danke für deine Hilfe mit Joey.“

„Nach allem, was du mit ihm angestellt hast, hat er sein Happy End mehr als verdient, meinst du nicht auch?“

Einige Wochen später fand die Hochzeit von Ryou und Serenity, dem neuen Kronprinzenpaar, statt, die mit großem Prunk gefeiert wurde. Bakura und Joey hatten sich eine Woche zuvor im engsten Kreis die ewige Treue geschworen.
 

Serina gähnte herzhaft, sie konnte kaum noch die Augen aufhalten. Ihr Bruder Darian schlief bereits tief und fest.

„Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage, Onkel Joey?“

„Ja, mein Schatz, sie tun es noch. Aber jetzt wird geschlafen, es ist schon spät.“

Er deckte sie zu, setzte einen Kuss auf die Stirn jedes Kindes und löschte die Lampe. Als er die Tür zum Zimmer der beiden schloss, schlangen sich von hinten zwei Arme um ihn und zogen ihn an einen kräftigen Körper.

„Endlich, ich dachte schon, die zwei schlafen nie“, hörte er Bakuras raue Stimme dicht an seinem Ohr, sein heißer Atem streifte Joeys Hals.

„Hat dir die Geschichte gefallen?“

„Natürlich, sie ist doch wahr. Was hältst du davon, wenn wir uns in unser Schlafzimmer zurückziehen?“

„Gute Idee“, gähnte er. Bei langen Erzählungen wie dieser hatte er am Ende oft selbst mit der Müdigkeit zu kämpfen.

„Du bist hoffentlich noch nicht zu müde.“

Bakura ließ seine Hand gezielt tiefer gleiten und entlockte ihm ein wohliges Stöhnen.

„Dafür nie.“

Er griff nach der Hand des Weißhaarigen und zog ihn durch die verlassenen Gänge des Schlosses. Durch die hohen Fenster fiel Mondlicht und ließ die silbernen, mit einem feinen Knotenmuster verzierten Ringe an ihren Fingern funkeln.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Soichiro
2010-06-20T21:30:04+00:00 20.06.2010 23:30
Das Kap ist wirklich toll *~*
und natürlich freue ich mich riesig über das Happy End der Beiden^^

Ich hab mich in den vergangenen Kaps, die ganze Zeit schon gefragt was wohl mit Serenity ist, aber die Frage wurde ja jetzt beantwortet und ich finde die Antwort klasse xD

Und ich muss zugeben, auch ich hab mich über die kleine Seto/Duke Andeutung gefreut xD
Und ich finde auch das Pairing Ryou/Serenity wirklich interessant (ich hatte selbst schon einmal vor die beiden zu verkuppeln xDD)
Von: Karma
2010-06-17T10:49:50+00:00 17.06.2010 12:49
*quiek*
Und schon wieder heule ich, aber dieses Mal, weil das Kapitel so schön ist. Ryou und Serenity, Bakura, der seinen Joey zurückkriegt...
*schmelz*
Und dann noch der Seto/Duke-Hint.
*rawr*
Du kennst mich eindeutig und weisst definitiv, was mir gefällt.
*____*
*zum Epilog husch*


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