Zum Inhalt der Seite

Mental Disorder

Es geht endlich weiter: Kapitel 6!
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Another gap in the retrospection

Sonntag Abend.

Für eigentlich alle bedeutet dies Friede, Zusammensein, Gemütlichkeit... einen fröhlichen Abend zu zweit oder im Falle eines Falles zu dritt oder zu viert.

Zusammensein stimmte. Aber sonst nichts.

Sonst traf nur ein Wort zu: Streit.

Streit, nur Streit.

Beschuldigungen, mit denen ich nichts anfangen konnte, Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte.
 

„Du weißt, es ist wichtig! Morgen muss ich den Vortrag halten!“

Ich nickte, wich etwas vor ihm zurück. Wie so oft, wenn er wütend war, machte er mir Angst.

„Du hast doch gestern aufgeräumt?!“

„Ja.“

Er packte mich grob an den Schultern, schüttelte mich. „Wo hast du die Mappe hingetan, verdammt? Wo?!“

„Ich weiß es nicht!“, schrie ich nun schon fast, versuchte, mich von ihm loszumachen.

„Wie kann man nur vergessen, wo man eine BLAUE MAPPE HINGERÄUMT HAT?!“, regte er sich auf, seine Stimme wurde lauter, bei den letzten Worten schrie er mich an.

„Ich weiß es doch nicht!“, hauchte ich ängstlich, erneut zurückweichend.

Er holte tief Luft, wohl um sich zu beruhigen, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

„Sie lag da“, blaffte er dann, deutete auf den kleinen Beistelltisch des Sofas, auf dem die Zeitschriften lagen.

Ich nickte.

„Und dann hast du sie weg getan.“

Erneut nickte ich.

Wo hin?!

Noch ein paar Schritte trat ich zurück, stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Ich holte tief und zitternd Luft, versuchte krampfhaft, mich zu erinnern.

Bei meinem Anblick lachte er. Ein irres, beängstigendes Lachen.

„Er gefährdet meinen Job!“, stellte er trocken fest, drehte sich einmal im Kreis, breitete die Arme aus, lachte. „Ich habe endlich wieder einen gefunden und er macht alles zunichte, indem er diese beschissene blaue Mappe mit meinem Vortrag auslöscht!“

„Ich kann doch nichts dafür!“, versuchte ich mich leise zu verteidigen, zog den Kopf ein.

Er lachte immer noch.

„Klar. Du kannst nichts dafür. Wer kann denn was dafür, wenn DU sie wegräumst?!“

Ich schwieg. Wenn ich doch nur wüsste, wo ich seine Sachen hingetan hatte... wenn ich mich doch nur erinnern könnte!
 

Er kam auf mich zu, drückte mich an den Schultern gegen die Wand. Ich schloss nur die Augen, traute mich nicht, etwas dagegen zu tun.

„Es kotzt mich echt an, wenn du die einfachsten Sachen vergisst! Wenn es doch wenigstens das erste Mal wäre! Aber das passiert dir doch dauernd!“

„Ich...“

„Ja ich weiß“, er verzog das Gesicht. „Ich kann nichts dafür“, äffte er mich dann nach.

„Das höre ich jeden Tag, Kuschelhase...“, flüsterte er gefährlich leise.

„Nenn mich nicht so!“

„Teh~ als ob du was dagegen machen könntest!“

„Lass mich los!“, verlangte ich leise, psychisch bereits ein Wrack.

Erneut lachte er, verhöhnte mich.

„Wie du da stehst... angstvoll und unschuldig! Man möchte gar nicht glauben, was für ein elendes Miststück du bist!“

Ich sah ihn mit leerem Blick an.
 

„Du bringst mich um meinen Job!“, kehrte er dann zu dem Thema zurück, streute wieder Salz in meine Wunde. „Kaum, dass ich wieder Arbeit habe, versaust dus mir! Du bist arbeitslos, falls es dir entfallen sein sollte. Du bist von mir abhängig! Und jetzt, wo ich kurz vor dem ersten Monatsgehalt stehe, bringst du mich um meinen Job!“

Immer noch starrte ich ihn an, wusste nicht mehr, was ich sagen oder tun sollte.

Wenn er so war, war ich hilflos, konnte ich nicht gegen ihn ankommen. Leider Gottes war er viel zu oft so... und immer schien seine Wut an mir zu liegen. Ich machte laut ihm alles falsch.

Dabei war es doch nur die Sache, dass ich mich an vieles, was ich getan hatte, nicht mehr erinnern konnte. Ich hatte schon alles erdenkliche versucht, um diese Vergesslichkeit loszuwerden, oder zumindest abzuschwächen, doch nichts hatte geholfen.

Als ich mir aufgeschrieben hatte, was ich tat, hatte immer etwas gefehlt, oder die Zettel waren verschwunden... ich war in Therapie gewesen, hatte mir von einem ‚Profi’ helfen lassen, der aber auch nichts ausrichten konnte. Niemand konnte etwas feststellen.

So hatte ich es aufgegeben, da die ganzen Versuche und Therapien mich nur dazu gebracht hatten, mich schlecht zu fühlen, mich selbst für verrückt zu halten.
 

„Womit hab ich sowas wie dich verdient?“, er drehte mir den Rücken zu, schlug mit der Faust gegen die Wand. „Konnte dich nicht irgendein anderer abkriegen?!“

Langsam sammelten sich Tränen in meinen Augen. Warum sagte er sowas? Warum sagte er sowas zu mir?
 

Am nächsten Morgen erwachte ich früher, als sonst.

Verschlafen setzte ich mich auf.

Ein Blick zum Wecker sagte mir, dass es noch sehr früh war.

Etwas verwundert setzte ich mich an den Bettrand, rieb mir die Augen.

Warum war ich so zeitig aufgewacht? Sonst schlief ich doch immer bis kurz vor Mittag...

Ich strich mir einige verirrte Haarsträhnen, die mir ins Gesicht hingen hinters Ohr zurück. Irgendetwas war anders, das spürte ich. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, mir war leicht übel. Und es lag ein seltsamer, abnormaler Geruch in der Luft. Kaum merklich, aber mir fiel er auf.

Hatte ich gestern Abend vergessen, zu lüften? War es das?

Ein paar Momente versuchte ich, mich zu erinnern, ließ es dann jedoch sein.

Was hatte ich gestern Abend überhaupt gemacht?
 

Ich seufzte, erhob mich schließlich, nachdem ich gegähnt und mich gestreckt hatte.

Ich würde Keiji fragen, vielleicht konnte er es mir sagen. Er kannte meine Gedächtnislücken ja schon.

Apropos Keiji... wo war er eigentlich?

Ich drehte mich um, warf einen Blick auf das leere Bett, dann nocheinmal zum Wecker.

Normalerweise schlief er doch um diese Zeit noch...

Oder war er heute wegen der Arbeit früher aufgestanden?

Da ich jetzt aber ohnehin schon wach war und sicher nicht mehr einschlafen konnte, beschloss ich, Frühstück zu machen. Und ich wollte unbedingt lüften.

Dieser Mief aus dem Wohnzimmer war ja nicht mehr feierlich! Zwar nicht stark, aber man bemerkte ihn, es roch seltsam, unangenehm. Abnormal.

Ich schlurfte zum Kleiderständer, zog mir über meine Shorts eine Jogginghose und ein altes T-Shirt. Dann machte ich mich auf den Weg in die Küche...
 

... kam aber nicht weit. Ich schaffte es nicht mal, das Schlafzimmer zu verlassen. Um in die Küche der 2-Zimmer-Wohnung zu gelangen, musste ich das Wohnzimmer durchqueren, das zwischen Schlafzimmer und Küche lag.

Es verschlug mir den Atem und die Stimme, ich taumelte zurück, fiel unsanft auf mein Hinterteil, als ich über die Türschwelle stolperte.

Meine Augen weiteten sich, starrten auf das schreckliche Bild, welches sich mir bot.

Mein Herz raste, ich begann zu zittern, traute mich nicht, mich zu bewegen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich realisiert hatte, was ich sah.

Als es so weit war, durchschnitt mein markerschütternder Schrei die Stille.

Ich sprang auf, presste mich an die Wand, war nicht fähig, woanders hinzusehen.

Mein Blick haftete an Keiji.
 

Langsam, ganz zaghaft schob ich mich an der Wand entlang, pirschte mich so Stückchen für Stückchen zur Türe. Panik stieg in mir hoch, ließ mir kalten Schweiß ausbrechen. Ich hatte Angst, dass er auf mich aufmerksam werden und mich angreifen würde, sobald ich ein Geräusch machte.

Als ich schließlich die Wohnungstür erreicht hatte, öffnete ich sie mit zitternden Händen, riss sie auf und rannte hinaus auf den Hausflur.

Ich hörte das Knallen der Tür hinter mir, brach zusammen.

Ein Wimmern verließ meine Kehle, ich erhob mich stolpernd und voller Grausen, fiel mehr, als zu laufen in die nächste Ecke des Hausflurs, in welcher ich zu Boden sank, das Gesicht in den Händen vergrub, trocken aufschluchzte.

Vor meinem inneren Auge hatte ich noch immer die Szene im Wohnzimmer.

Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, ich blickte panisch um mich, als ob ich jeden Moment jemanden erwartete, der mich verfolgte.
 

Ich würgte, erbrach schließlich auf den Boden vor mir. Da ich aber schon länger nicht gegessen hatte, kam nur Magensäure, was das Ganze nicht unbedingt angenehmer machte.

Immer wieder warf ich ängstliche Blicke in Richtung Wohnungstür, es war, als ob sie durchsichtig war. Ich konnte jedes einzelne Detail von dem sehen, was ich eigentlich nicht sehen wollte.

Die Szene hatte sich in mein Gehirn eingebrannt, es war, als ob sie auf die Innenseite meiner Augenlider tätowiert worden wäre.

Das Messer... sein Blick... das Blut...

Als ich daran zurückdachte, begann ich erneut zu zittern, ich schlang die Arme um meinem Körper, wippte leicht vor und zurück. Fest kniff ich die Augen zusammen, in der Hoffnung, so das Bild zum verschwinden zu bringen. Vergebens.

Ich resignierte.
 

Die Augen auf einen festen Punkt auf dem Boden vor mir gerichtet, begann ich erneut zu weinen.

Stumme Tränen rannen mir die Wangen hinunter, benetzten sie immer mehr.

Eine Wohnungstür etwas weiter hinten im Gang öffnete sich und unsere Nachbarin – eine dünne, gutaussehende Bürokauffrau in den mittleren Jahren – trat heraus.

Sie sperrte ab, wandte sich dann um und erschrak, als sie mich sah.

Ich starrte immer noch auf den Boden, hatte gar nicht wirklich mitbekommen, dass sie ihre Wohnung verlassen hatte und mich nun noch einen Moment entsetzt anstarrte, ehe sie zu mir eilte.

Sie kniete sich vor mich, packte mich an den Schultern, schüttelte mich leicht.
 

„Hallo?“, fragte sie, erstarrte kurz, als ich sie weggetreten ansah. „Was ist denn mit Ihnen los?“, wollte sie dann wissen, schüttelte mich erneut, diesmal etwas fester.

Ich schwieg. Mein Bewusstsein lief auf Sparflamme, meine Reaktion auch, ich brachte kein Wort heraus. Zudem hatte ich irgendwie das deutliche Gefühl, dass erneut mein eigentlich nicht vorhandener Mageninhalt herauf kam, wenn ich auch nur den Mund aufmachte.

„Hat er Ihnen was getan?“, wurde sie sofort direkt

Ich schüttelte den Kopf, konnte es ihr nicht verübeln, dass sie so von Keiji dachte. Sie hatte schon hier gewohnt, als wir eingezogen waren, hatte vermutlich so ziemlich alles mitbekommen, was zwischen meinem Freund und mir abgelaufen war.

Jeden Streit, jede Diskussion... einfach alles. Es war ihr somit auch nicht verborgen geblieben, dass Keiji auch des Öfteren hangreiflich geworden war.
 

„Hat er Sie rausgeschmissen?“

Erneut schüttelte ich den Kopf.

„Dann gehen Sie doch wieder zurück in ihre Wohnu-“

Ich zuckte zusammen, wimmerte leise, schüttelte panisch den Kopf.

Sie seufzte.

„Kommen Sie mal mit...“, sie erhob sich, hielt mir die Hand hin, welche ich nach kurzem Zögern nahm, ließ mich von ihr wieder den Gang hinunter ziehen. Ich wurde jedoch immer langsamer, je näher wir meiner Wohnungstüre kamen.

Als ich ganz stehen bleiben wollte, weil ich am besten nie wieder in diese Wohnung zurück wollte, bogen wir jedoch rechts ab und ich stand auf einmal im Wohnzimmer unserer Nachbarin.

Sie setzte mich auf die Couch, sagte mir, ich solle warten, fragte, ob ich etwas zu Trinken wolle.

Ich schüttelte den Kopf.

Dann schloss sie ihre Wohnungstür und griff zum Telefon. Zuerst rief sie den Notarzt an, dann die Polizei.

Das vermutete ich zumindest, da ich ja mithören konnte. Allerdings zogen ihre Worte irgendwie an mir vorbei.

Meine Gedanken waren noch immer bei Keiji, bei dem, was ihm zugestoßen war.

Mich würgte es erneut und ich konnte gar nicht so schnell realisieren, dass ich gleich wieder spucken würde, wie ich schon einen Eimer unter der Nase hatte.

Simple Life?

Bereits als mein Wecker mich an diesem Morgen unsanft aus dem Schlaf riss, wusste ich, dass an diesem Tag irgendetwas gravierendes passieren würde.

Ich brauchte gar nicht das Rollo hochziehen und nach draußen auf die in sehr unwirkliches Morgenlicht getauchten Häuserwände blicken, oder den Wasserhahn im Bad aufdrehen, der an solchen Tagen morgens einfach kein warmes Wasser hergab.

Es lag irgendwas in der Luft, ich spürte es, dass heute etwas geschehen würde.

Solche Eingebungen hatte ich öfter. Manche nennen es Unterbewusstsein, andere betiteln es mit Bauchgefühl und die Abergläubischen bezeichnen es als Hellseherei.
 

Verschlafen setzte ich mich in meinem Bett auf, blinzelte mir die letzte Müdigkeit aus den Augen. Mit einem Seufzten streckte ich mich, zog die Knie unter der Bettdecke an, legte mein Kinn auf ihnen ab und schlang meine Arme um die Beine. In dieser zusammengekauerten Haltung verharrte ich ein paar Minuten, starrte währenddessen apathisch vor mich hin stellte fest, dass das Blinzeln nicht geholfen hatte.

Schließlich raffte ich mich auf, seufzte erneut und erhob mich.

Müde schlurfte ich zum Fenster, zog das Rollo hoch, studierte eingehend die graue Hauswand gegenüber.

Während ich weggetreten den kalten, grauen Stein musterte, wiederholte ich in Gedanken nocheinmal den gestrigen Tag.
 

Gelöst, unterschrieben, zu den Akten gelegt.

Viel zu viel Händeschütteln.

Gratulationen von allen Seiten.

Gute Wünsche, wohin ich kam.

Unzählige Blitzlichter, Mikrofone, zugerufene Fragen, deren Antworten am nächsten Tag in sämtlichen Zeitungen erscheinen würden.

Zu viel Trubel für einen Einzelgänger, wie mich.

Ich hatte genug damit zu tun, mit den Dingen, die ich beinahe täglich sah, fertig zu werden.

Blut, Leichen, Tod.

Gestank, Sauereien, Drogen.

Prostitution, Vergewaltigung, Pornographie und Menschenhandel.

Seit ich in meinen Beruf eingestiegen war, arbeitete ich hier in diesem Stadtteil. In dem zwielichtigsten, illegalsten, gefährlichsten und größten der Stadt.

Auch, wenn ich noch nicht einmal 6 Jahre hier im Dienst war, reichte es mir. Doch ich konnte und wollte nicht aufhören.
 

Ich überlegte oft, ob ich alles hinschmeißen und wieder mein altes Leben führen sollte. Ob es das Richtige war, für was ich mich entschieden hatte.

Es war nicht das erste Mal, dass ich hierüber nachsinnte. Ich tat es immer an diesen Tagen.

Noch immer aus dem Fenster starrend tastete ich blind nach der Zigarettenpackung, die immer auf dem Fensterbrett lag. Als ich sie gefunden hatte, entnahm ich ihr eine Kippe und mein Feuerzeug und öffnete das Fenster.

Ehe ich die Zigarette anzündete, lehnte ich mich hinaus, stützte mich mit den Ellenbogen auf dem äußeren Fensterbrett ab.

Mit geschlossenen Augen nahm ich den ersten Zug, hatte das Gefühl, dass mich der Rauch in meinen Lungen wiederbelebte, genoss das angenehme Kribbeln, das sich durch meinen Körper zog.

Mein Blick löste sich endlich von dem eintönigen, schmutzigen Steingrau der Wand gegenüber und senkte sich nach unten, traf auf den dreckigen Boden einer düsteren, schmalen Straße.

Neben- und aufeinander gestapelte Müllsäcke neben den verdreckten Hauseingängen, überquellende Mülleimer, verdorrte bis gar keine Pflanzen. Hier und da lagen Betrunkene und/oder Penner, eine herrenlose Katze, die einmal jemanden aus dem Nachbarhaus gehört hatte, streunte umher.

Hier wohnte ich als Ex-Knasti und erfolgreicher Kriminalpolizist.
 

„Hey, Tsukasa!“

Ich blickte nach links, sah in das grinsende Gesicht meines Nachbarn und besten Freundes, Akira.

Er war noch sehr jung, gerade mal neunzehn.

„Morgen, Kleiner“, brummte ich, wandte mich wieder ab, blickte erneut in die Tiefe unter mir.

„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte der Junge, lehnte sich etwas weiter vor, um mich besser ansehen zu können.

„Lehn dich nicht so weit raus, du befindest dich an einem Fenster im zehnten Stock“, ermahnte ich ihn, statt einer Antwort und blies Rauch aus.

Dass wir uns unterhalten konnten, wenn wir uns beide aus unseren Fenstern lehnten, verdankten wir der Tatsache, dass unsere Wohnungen direkt nebeneinander waren.

Sein Wohnzimmer war Wand an Wand mit meinem Schlafzimmer.

Er seufzte, schwieg jedoch.

Ich bemerkte es nicht, da ich schon wieder in Gedanken versunken war.

Jedes Mal, wenn ich Akira sah, dachte ich an meine Jugend zurück. Auch, wenn er hin und wieder ein paar illegale Geschäfte machte und bei kleineren Einbrüchen in dieser Siedlung mitwirkte, er war noch lange nicht so schlimm, wie ich es gewesen war, als ich so alt war, wie er.

Allerdings wurde er auch nicht eingesperrt für seine Vergehen – im Gegensatz zu mir.
 

Zum Glück hatte ich das hinter mir, ich war entlassen worden, lebte nun ein legales Leben, hier in meiner kleinen, finsteren Wohnung und arbeitete gegen die Leute, von denen ich selbst einmal einer gewesen war.

Ich wusste, dass ich das Richtige tat, doch ich hatte mir selbst noch nicht verziehen, dass ich alle meiner treuen Freunde und Kumpane verraten hatte.

„Tsukasa“, riss mich wieder Akiras Stimme aus meinen Gedanken. „Diese Gegend bekommt dir nicht. Zieh um. Lass den Scheiß endlich hinter dir.“

Ich schwieg. Er hatte recht. Es stimmte, was er sagte.

Ich verdiente genug Geld, ich könnte wegziehen, endlich den letzten Rest hinter mir lassen.

Aber ich tat es nicht.

Warum?

Weil ich zu sehr an den alten Erinnerungen hing. Ich hatte Angst davor, sie zu vergessen, wenn ich den Ort verließ, an welchem sie hafteten.
 

„Warum bist du noch nicht in der Arbeit?“, fragte Akira weiter, die Tatsache, dass ich jetzt – wie so oft – gerne meine Ruhe hätte, ignorierend.

„Frei“, murmelte ich mehr oder weniger widerwillig.

„Ah, stimmt! Du hast doch gestern diesen Fall von dem Schusswechsel gelöst, stimmt’s?“

Ich nickte.

Schusswechsel. An wie vielen war ich wohl schon beteiligt gewesen, vor meiner Laufbahn als Polizist?

Ich seufzte.

„Sag mal!“, beschwerte sich Akira. „Hast du heute deinen Nostalgischen, oder was? Is’ ja schlimm!“

Ich zuckte nur die Schultern und zog es vor, darauf nicht weiter einzugehen. Er hatte eigentlich recht... wie schon so oft.

Warum sinnte ich die ganze Zeit über die alten Zeiten nach?

Warum vergaß ich sie nicht einfach und lebte mein Leben?

...weil ich das alleine nicht schaffte.

Klar, ich hatte Akira, ich hatte Hiroshi, den Pathologen unseres Präsidiums und ich hatte meine beiden Gehilfen Jun und Mayumi... aber dennoch war ich in den entscheidenden Momenten alleine.

Wenn ich jemanden hätte, dem es vielleicht so oder so ähnlich, wie mir ging... zusammen wäre es sicher einfacher.

Kurz gesagt: Ich sehnte mich nach Liebe.

Aber wo sollte ich die, als eigenbrötlerischer, stiller und scheuer Mensch herkriegen?

Eine der vielen Fragen, auf die ich noch keine Antwort gefunden hatte.
 

„Hör mal... wenn du frei hast... warum schläfst du dann nicht mehr?“

Mein Blick wanderte nach links, ich sah den Jungen an. Meine Zigarette, die ich noch immer zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt hielt, hatte ich schon lange wegen der ganzen Grübelei vergessen.

„Keine Ahnung.“

„Ah ja...“

Akira schüttelte den Kopf über meine hochinformativen Gedankengänge.

„Naja, ich pack’s dann mal“, meinte der Kleinere. „Ich hab nämlich nicht frei.“

Ich nickte, hob die Hand zum Abschied.

„An deiner Stelle würd ich die Kippe wegmachen. Sie brennt dich gleich in die Finger. Bye!“

Und weg war er. Das Fenster wurde geschlossen.

Ich folgte seinem Geheiß mit den Augen und stellte fest, dass er recht hatte. Zum x-ten mal an diesem Morgen.

Ich ließ den Zigarettenstummel fallen und blickte ihm etwas abwesend hinterher.
 

Jetzt wusste ich auch, warum ich freiwillig zu dieser unmenschlichen Zeit aufgestanden war.

Ich hatte diese herrschende Ruhe genießen wollen, wenn noch alles schlief. Wenn noch nicht dieser Lärm zu hören war, den es den ganzen Tag über gab.

Aber die Ruhe hielt nicht mehr lange, denn aus dem Inneren des Raumes hinter mir hörte ich etwas widerwillig mein Handy randalieren.
 

Mit einem resignierten Seufzen verließ ich das Fenster und ging zu dem Störenfried auf meinem Nachttischchen, um ihn zum Schweigen zu bringen und das Gespräch anzunehmen.

Ich räusperte mich einmal und drückte auf den grünen Knopf.

„Ja?“

„Morgen, hab ich dich geweckt?“

Es war Jun.

„Nein.“

„Okay. Ähm.... Du hast heute frei, oder?“

„Mhm...“

„Jetzt nicht mehr.“

„Warum?“

„Neuer Fall. Eine Streife war eben dort. Mord durch Erstechen.“

Ich schwieg und wartete, bis er weiter redete. Das tat er dann auch.

Er nannte mir die Adresse des Geschehens und meinte noch, dass er und Mayumi schon hinfahren und dort auf mich warten würden.

Ich beendete das Gespräch und machte mich fertig.
 

Kurz darauf verließ ich meine Wohnung.

Ich stieg in mein Auto und fuhr zum Tatort. Der Häuserblock war nicht weit von dem entfernt, in welchem ich wohnte, weshalb ich relativ schnell ankam.

Vor dem Hochhaus erwarteten mich Mayumi und Jun bereits.

Ich begrüßte sie mit einem Nicken und ging dann an ihnen vorbei auf den abgesperrten Hauseingang zu. Sie kannten das schon, da ich noch nie so der umgängliche Typ gewesen war.

„Siebter Stock“, sagte Mayumi.

Wir stiegen die Treppen dort hin nach oben, einen Lift gab es nicht. Mir machte das nichts aus, da es in dem Hochhaus, in dem ich meine bescheidene Bleibe hatte, auch nicht anders war.

Nur, dass ich noch drei Stockwerke weiter nach oben laufen musste.
 

Auf den Treppen begegneten uns immer wieder Kollegen, irgendwann liefen uns auch ein paar Leute von der Spurensicherung über den Weg.

„Hiroshi-san ist noch oben“, informierte mich Jun.

Das hatte ich mir fast gedacht. Als Arzt der Polizei gehörte er mit zu den ersten, die am Tatort waren.

Ich nickte.

„Der Partner des Opfers steht unter Schock“, redete Jun weiter. „Er hat es gefunden.“

„Er sieht noch recht jung aus“, fuhr Mayumi fort. „Und er spricht nicht. Zumindest nicht mit uns, oder mit den anderen.“

„Bis jetzt hat noch keiner ein Wort aus ihm rausgekriegt“, stimmte Jun ihr zu. „Nicht mal Eriko-san.“

Mein Blick verfinsterte sich. Eriko. Ihres Zeichens Kommissarin bei der Polizei. Eigentlich eine Kollegin von mir, aber wir konnten uns nicht ausstehen.

Wenn wir diesen Fall zusammen bearbeiten sollten, hieß das im Klartext, dass wir – mal wieder – gegeneinander arbeiten würden.

... wie ich es doch liebte...
 

Wir waren angekommen.

Jun und Mayumi zeigten mir den Tatort. Ich zuckte nicht mit der Wimper.

Die Leiche eines Mannes lag vor der Wand, ein großes Küchenmesser im Rücken.

Hatte Jun nicht was vom Partner des Opfers gesagt? Zwei Männer also.

Na, das war ja dann hier sozusagen mein Fachgebiet.

Um den toten Körper herum hatte sich eine Blutlache angesammelt, es roch stark nach dem Blut.

Der metallene Geruch ließ mich etwas die Miene verziehen.

Der Tote starrte mit leerem, ansatzweise fassungslosen Blick in den Raum direkt zu einer anderen Tür. Ich warf einen kurzen Blick in das Zimmer. Es war der Schlafraum.

Vermutlich hatte der Partner des Opfers am Morgen nichtsahnend die Schlafzimmertür geöffnet und wurde von seinem toten Freund angestarrt. Kein Wunder, dass er unter Schock stand.

Wie es aussah, hatte es keinen Kampf gegeben, die einzige Verletzung, die der Tote aufwies, war der Stich des Messers in seinem Rücken. Das Messer steckte genau auf der Höhe der Lunge. Er hatte vermutlich nicht lange gebraucht, um zu sterben.

Hiroshi zählte mir alle Einzelheiten auf, die er bis jetzt feststellen konnte.

„Er ist gestern Abend zwischen halb acht und zehn Uhr gestorben. Vermutlich hat es keine fünf Minuten gedauert, bis er tot war. Gestorben ist er an der Klinge in seiner Lunge, die hat zu einem starken inneren Blutfluss in der Lunge geführt, er ist vermutlich daran erstickt.“

„Okay, danke“, ich nickte. „Wo ist der Partner des Opfers?“, fragte ich dann.

„Bei der Nachbarin“, meinte Jun, während Mayumi noch am Tatort blieb, um die Formalitäten mit Hiroshi abzuklären.
 

Wir verließen die Wohnung.

„Die Nachbarin hat ihn in der Ecke dort hinten am Ende des Ganges kauernd gefunden“, meinte mein Gehilfe. „Er hat geweint, war vollkommen hysterisch und weggetreten. Übergeben hat er sich auch.“

Er wedelte mit der Hand durch die Luft. „So, wie man eben reagiert, wenn man seinen Liebsten tot im Wohnzimmer findet.“

Ich nickte, machte einen Abstecher in die eben genannte Ecke.

Im Grunde war da nicht viel zu sehen. Etwas Erbrochenes auf dem Boden. Das war’s.

„Er ist wohl überstürzt aus der Wohnung geflohen...“, textete Jun munter weiter. „Wenn ich ihn mir so ansehe... er ist jetzt noch total fertig. Als er ihn gefunden hat, war es vermutlich dreimal schlimmer... es wundert mich, dass er überhaupt so weit gekommen ist.“

„Er hatte Angst“, meinte ich. „Hast du eine Ahnung, was man da alles schafft.“
 

Dann betraten wir die Wohnung der Nachbarin.

In der Tür kam uns Eriko kopfschüttelnd entgegen.

„Hoffnungslos“, meinte sie. „Der sagt kein Wort. Steht vollkommen unter Schock.“

Sie sah mich an. „Du könntest dich prima mit ihm verstehen“, sagte sie, eine Spur gehässig.

Ich ignorierte sie. Wie schon erwähnt, wir verstanden uns nicht sonderlich gut. Demnach nutzte sie jede Möglichkeit, mir eine reinzuwürgen und ich ignorierte sie nach Strich und Faden.

Sie war der Meinung, Personen, die ihr gegen den Strich gingen, öffentlich demütigen zu müssen, ich ignorierte solche Leute immer, da ich mit dem öffentlichen Demütigen sonst nicht mehr fertig werden würde.
 

Jetzt spielte Eriko-san jedenfalls auf meine sexuelle Orientierung an, da ich Männer den Frauen doch eher vorzog.

Allerdings finde ich das bei Frauen wie Eriko sehr nachvollziehbar. Seltsamerweise ist sie verheiratet... na ja... über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten. Entweder man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Derjenige, der sich mit meiner werten Kollegin eingelassen hatte, hatte ihn definitiv nicht. Ich hatte ihn schon eher, denn ich hatte diese schrullige Schreckschraube ja nicht geheiratet.

Aber genug davon, Jun stubste mir in den Rücken, um mich dazu zu bewegen, die Wohnung zu betreten. Ich tat es, er folgte mir.
 

Im Gegensatz zu der Wohnung, die ich zuvor angesehen hatte und welche eher praktisch und zweckbedingt eingerichtet war, war diese hier äußerst geschmackvoll gestaltet.

Aber vermutlich lag das hauptsächlich daran, dass die Inhaberin dieser Wohnung über mehr finanzielle Mittel verfügte, als die beiden Bewohner der anderen.

Wie in der vorigen war in dieser Wohnung alles sauber und ordentlich.

Ein Kollege von der herbeorderten Streife winkte mich ins Wohnzimmer durch.
 

Und dort saß er auf dem Sofa. Der Partner des Opfers.

Es überraschte mich keineswegs, einen Mann vorzufinden. Allerdings sah er wirklich noch sehr jung aus. Ich schätzte ihn auf Anfang zwanzig.

Meine Augen glitten über blondes, schulterlanges Haar, volle Lippen und einen zierlichen Körper.

Allerdings bemerkte man ihm sein Leid an. Die Augen waren etwas verquollen, vermutlich vom weinen, er war sehr blass und wirkte anstatt schlank eher zerbrechlich. Immer wieder fuhr ein leichtes Zittern durch den dünnen Leib.

Er war sichtlich mit seinem Umfeld überfordert, es gefiel ihm nicht, dass so viele Menschen um ihn herum hetzten.
 

Ohne groß auf die Umstehenden zu achten, die allesamt versuchten, mir seine Personalien, die sie schon herausgefunden hatten, zu sagen, ging ich auf ihn zu. Ich wollte sie gar nicht wissen.

Hier machte jeder Kommissar, den ich bis jetzt getroffen hatte, einen entscheidenden Fehler. Wenn sie mit angehörigen von Opfern, Verdächtigen, oder Betroffenen sprachen, wussten sie allesamt schon, wie die einzelnen Personen hießen, wie alt sie waren und was sie arbeiteten. Alles eben.

Sie stellten sich dann nur noch selbst vor und legten gleich mit dem Fragen los. Mir war das zu unpersönlich.

Die Leute, wie dieser junge Mann hier, lernten mich in solchen Situationen erst kennen und ich wollte ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst so vorzustellen, wie sie das wollten. Zumal es dem seelischen Zustand dieses Menschen hier sicher nicht gut tat, wenn man vor seinen Augen herumflüsterte.

Er wusste ja nicht, was gesagt wurde und sowas ist abartig, nicht auszuhalten. Ich wusste das, mir war es bei meiner Festnahme damals nicht anders gegangen.
 

Während ich auf ihn zuging, unterzog ich den Blonden einer eingehenden Prüfung.

Er blickte starr gerade aus, hatte sich wohl gegen alle äußeren Einflüsse und Reize abgeschottet. Es würde nicht leicht werden, ihn dazu zu bringen, etwas zu sagen. Und Erikos Bemühungen hatten dieses Unterfangen mit hundertprozentiger Sicherheit nicht unbedingt erleichtert.

Ich setzte mich neben ihn auf das Sofa, jedoch mit etwas Abstand. Dann stellte ich mich vor, schloss mit der Frage nach seinem Namen.

Er wandte leicht den Kopf, blickte mich aus glasigen, blutunterlaufenen Augen an. Ich nickte ihm aufmunternd zu.

Als er sich wieder abwandte, wusste ich, dass es zwecklos war. Ich versuchte es erst gar nicht weiter, das würde ihn nur unnötig durcheinander bringen. Und er würde mich, in seinem Zustand, für aufdringlich halten.
 

Ich berührte ihn vorsichtig am Arm, um seine Aufmerksamkeit nocheinmal auf mich zu lenken.

„Mein Kollege Suzuki Jun wird Sie in ein Apartment in einem Hotel bringen, wo Sie vorläufig einquartiert sind. Wir bringen Ihnen Ihre Sachen heute Abend dort hin.“

Jun trat auf meinen Wink hin einen Schritt nach vorne und nickte dem Sitzenden grüßend zu.

„Oder möchten Sie lieber hier bleiben?“, stellte ich ihm eine Alternative.

Erst kam keine Reaktion, dann schüttelte der Blonde leicht den Kopf, starrte mich geschockt an.

Nach ein paar Momenten erhob er sich schließlich und folgte Jun nach draußen.

Ich stand ebenfalls auf, um das ganze so zu organisieren, dass ich dem armen Kerl seine Klamotten bringen konnte. Vielleicht hatte er sich ja heute Abend schon etwas beruhigt.
 

„Hat Hiroshi ihm was gegeben?“, wollte ich wissen, als Jun weg war.

„Beruhigungsmittel“, meinte Mayumi, die mittlerweile wieder zugegen war.

Ich nickte. Das war okay. Vermutlich konnte ich heute Abend vernünftig mit ihm sprechen.

Hotel“, murmelte Mayumi grinsend.

„Hätte ich ihm sagen sollen, dass wir ihn in eine psychiatrische Klinik einliefern?“

The evening returns

Als ich aufwachte, war es Abend. Zum zweiten Mal an diesem Tag setzte ich mich verschlafen auf.

Aus kleinen Augen blickte ich mich um.

Da der Himmel sich relativ schnell verdunkelte, herrschte ein unwirkliches Dämmerlicht in dem Raum.

...welcher definitiv nicht unser Schlafzimmer war.

Arber warum redete ich eigentlich noch von uns?

Keiji war nicht mehr. Es gab kein wir mehr.

Jetzt, da ich Dank der Beruhigungsspritze des Arztes etwas geschlafen hatte, sah ich das ganze seltsam nüchtern.
 

Ich hatte von diesem Morgen kein Detail vergessen, aber es berührte mich nicht mehr so sehr.

Es war, als wäre das alles nicht mir, sondern jemand anderes passiert, den ich flüchtig bis gar nicht kannte.

Als ob ich alles nur in den Nachrichten gesehen hätte.

Kam ich jetzt auch in den Nachrichten?

Wurde ich gefilmt und fotografiert, wenn ich wo hin ging?

Würde das Geschehene sämtliche Zeitungen füllen?

Oder würde soetwas Schreckliches nur in einem kleinen Randartikel bei den örtlichen Nachrichten erscheinen?

Wie auch immer... mir war es am liebsten, wenn das ganze nicht so in die Öffentlichkeit gezerrt wurde.
 

Ich schlug die Bettdecke zurück und setzte mich hin. Vergeblich suchte ich mit meinen bloßen Füßen nach Hausschuhen, also stand ich so auf.

Wo war ich hier eigentlich?

Ich lief nach einem Lichtschalter tastend an der Wand entlang, fand nach kurzem Suchen auch einen.

Ich betätigte ihn und kurz darauf wurde das Zimmer von einer hellen, kalten Lampe an der Decke erhellt.

Überfordert blickte ich mich um.

Bis eben hatte ich in einem soliden Holzbett gelegen.

Der Boden war ebenfalls aus lackiertem Holz.

Das war allerdings das einzig Freundliche an diesem Zimmer.

Es gab ein von außen vergittertes Fenster, einen Stuhl, einen Tisch und sonst nichts.
 

Nachdem ich noch eine Weile dagestanden und das Ganze gemustert hatte, setzte ich mich in Bewegung, nahm mir den Stuhl und wollte ihn mir ans Fenster schieben.

Er rührte sich nicht vom Fleck.

Verdattert starrte ich ihn an. Ich nahm ihn fest an der Lehne und zog erneut. Nichts tat sich.

Jetzt nahm ich ihn genauer in Augenschein. Er war stabil am Boden befestigt, genau, wie der Tisch, an dem er stand.

Was sollte das?

Wo war ich hier? Wo nagelte man Tische und Stühle am Boden fest?

Erst jetzt fiel mir auf, was ich an hatte, bzw. nicht an hatte.

Einen kurzen Kittel, Shorts. Sonst nichts.

Verwundert musterte ich das hellblaue Leibchen, wusste nicht so recht, wo ich es einordnen sollte.

Aber ich kannte diese Teile von irgendwo her...
 

Während ich mich verkehrt herum auf den Stuhl setzte, sodass ich meine Unterarme auf die Lehne und das Kinn darauf legen konnte, überlegte ich.

Mein Blick wanderte zum Fenster. Draußen regnete es. Die einzelnen Tropfen schlugen an die Scheibe und liefen dann daran herunter. Ich folgte ihnen mit den Augen.

Das alles hier kam mir mehr als bekannt vor.

Gedankenverloren blickte ich aus dem Fenster, spielte mit der einen Hand am Stoff des Ärmels am anderen Arm. Nur langsam schaffte ich es, blasse Erinnerungen abzurufen.

Dann schoss plötzlich ein einzelner Gedanke durch meinen Kopf: Therapie.

Das hier war eine Psychiatrie. Eine Klapse.

Ich war hier schon mal gewesen, weil ich gehofft hatte, dass man mir hier bei meinem Vergesslichkeitsproblem helfen konnte. Natürlich vergebens.

Ein schwaches Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
 

Hotel.

Das hier war also mein Apartment, die Alternative zu meiner Wohnung.

Auch, wenn es etwas trist war... es gefiel mir momentan besser, als zu Hause.

Wenigstens lief ich hier nicht auf Gefahr, abgestochene Leichen zu finden.

Kaum, dass ich das gedacht hatte, verschwand das kaum merkliche Lächeln wieder von meinen Lippen.

Mir wurde etwas übel, ich erhob mich leicht schwankend, um das Fenster zu öffnen.

Es ging nicht.

Ich rüttelte hektisch an dem Knauf, sank schließlich auf dem Boden zusammen, in der Erwartung, wieder zu Erbrechen.

...in der Erwartung, wieder in den Zustand zurück zu kehren, in dem ich vor dem Schlafen gewesen war. Es war mir kurzfristig besser gegangen, zumindest körperlich. Warum kehrte dieses dumpfe, pochende Gefühl der Übelkeit jetzt wieder zurück?

Es wäre auch zu schön gewesen, wenn ich diese Sache so einfach vergessen könnte, wie Orte, wo ich verschiedene Dinge hingetan hatte, oder Sachen, die ich an irgendwelchen Abenden gemacht hatte.
 

Das seltsame, sterile Licht in dem Raum schien mir auf einmal alles andere, als hell. Es war nur noch kalt und grau. Überhaupt wurde alles grau. Der Boden bleichte aus, das Bett verlor, genauso wie der Tisch und der Stuhl, immer mehr an Farbe.

Instinktiv drückte ich mich an die Wand unter dem Fenster hinter mir, zog die Beine nah an meinen Körper.

Ein Windhauch wehte durch das Zimmer, ich hörte, wie sich eine Tür schloss. War sie vorher überhaupt aufgegangen? Oder war sie schon offen gewesen?

Ängstlich riskierte ich einen Blick zur Zimmertür.

Sie war zu.
 

„Karyu“, hörte ich auf einmal meinen Namen.

Erschrocken zuckte ich zusammen, blickte mich hektisch um.

Wer sprach da?

Da war doch niemand!

...oder?

„Sie lag da!“, durchbrach auf einmal eine laute, gereizte Stimme die schreckliche Stille. Es war Keijis Stimme.

Kurzes Schweigen.

„Und dann hast du sie weg getan.“

Vorsichtig sah ich mich erneut um, den Kopf eingezogen. Ich erwartete jeden Moment, dass er mich von irgendwoher packte, und-

„Wo hin?!“

Und dann sah ich ihn. Er stand vor dem Bett, in dem ich geschlafen hatte. Allerdings waren seine Konturen sehr unscharf.

Nur seine Stimme ermöglichte es mir, ihn zu erkennen.

Aber da war noch jemand. Er drückte sich ängstlich an die Wand, wollte anscheinend einfach nur weg, weit weg. Wusste aber nicht wie.

Ich konnte ihm nachfühlen, wie es ihm ging, es war mir selbst schon etliche Male so gegangen.

Allerdings... warum war dort Keiji? Mit jemand anderem?

Jemand, den ich nicht kannte?
 

Die Konturen wurden schärfer, jedoch noch nicht so scharf, dass man jedes Detail erkennen konnte. Ich sah alles so, als würde ich durch eine Brille sehen, die auf Weitsichtigkeit eingestellt war, obwohl ich keine brauchte.

Doch dann, mit einem mal, erkannte ich, wer der andere war.

Das war ich.

Mit einem Ruck blickte ich an mir herunter, stellte fest, dass ich das einzige in diesem Raum war, das noch seine Farbe hatte und nicht grau in grau war.

Ich packte mich an der Schulter, kniff mich kräftig in den Oberarm. Es tat weh.

Langsam begann ich zu verstehen.

Das, was ich hier sah, war wie ein Film.

Es war, als würde ich im Kino sitzen und mir einen alten Schwarz-Weiß-Streifen ansehen.

Aber... würde mich Keiji nicht bemerken?

Ich beschloss, es herauszufinden, obwohl ich große Angst vor diesem Mann hatte.

Allerdings, wenn das hier war, wie in einem Film, würde er mich nicht bemerken... aber war es wie in einem Film?
 

Ich erhob mich vorsichtig, und schlich zu Keiji, der den anderen Karyu, der noch immer an der Wand stand und versuchte, sich zu verteidigen, verspottete.

Vorsichtig setzte ich meine Füße auf, schlich mich zu Keiji.

Je näher ich ihm kam, desto schneller schlug mein Herz. Was, wenn ich mich geirrt hatte? Wenn er mich doch sehen würde?

Bis jetzt hatte er es aber auch nicht getan. Und umkehren wollte ich auch nicht mehr.

Schließlich war ich angekommen, hob die Hand, nahm meinen ganzen Mut zusammen und wedelte damit vor Keijis Gesicht herum.

Eine Schrecksekunde lang dachte ich, dass er sich umdrehen, mich packen und wieder verprügeln würde, doch er tat es nicht.

Er reagierte gar nicht.

Er zuckte nicht einmal mit der Wimper.

Auf einmal setzte sich der Größere in Bewegung, hielt auf den an der Wand stehenden Karyu zu, ich war wie erstarrt.

Was tat er jetzt?

Doch ehe er ganz bei dem anderen Karyu war, war er verschwunden.
 

Verwirrt blickte ich mich um, erkannte nichts, da noch immer alles so verschwommen war.

Auf einmal packte mich die Panik.

Wo war ich hier?

Was passierte mit mir?

Warum sah ich alles, als würde ich unter Wasser die Augen öffnen?

Etwas berührte mich von hinten an der Schulter, ich fuhr herum und schrie erschrocken auf.

Da stand Keiji, grinste mich selbstgefällig an, das Gesicht seltsam verzerrt, durch die abstrakte Optik, die herrschte.

Die Finger des Größeren gruben sich ein meine Schulter, er fletschte die Zähne, wie ein wütender Pitbull.

Ich begann zu zittern, wollte zurückweichen, wollte weglaufen. Weg aus diesem Raum, aus diesem Haus, einfach nur weg.

Und Keiji hinter mir lassen.

Unter ersticktem Schluchzen riss ich mich los, schaffte es tatsächlich und rannte zur Tür. Ich umfasste die Klinke, versuchte, sie herunter zu drücken und die Tür zu öffnen.

Nichts tat sich.

Unter wimmerndem Flehen rüttelte ich mit aller Kraft an der Türklinke, brach schließlich vor der Tür zusammen.

„Geh auf“, schluchzte ich. „Geh auf!

Etwas berührte mich von hinten an der Schulter.

Ich drehte mich gar nicht erst um, fiel eher, als dass ich sprang, zur Seite, stolperte auf die andere Seite des Raumes.

„Lass mich in Ruhe!“, schrie ich. „Du ... du bist tot! Du darfst hier gar nicht mehr sein!“

Tränen der Verzweiflung rannen über meine Wangen, ich presste mich panisch an die kalte Wand hinter mir.
 

Dann bemerkte ich, dass da gar nicht Keiji stand, sondern eine junge Frau, die eine Hose und Schuhe in der Hand hielt.

Sie trug einen weißen, knielangen Kittel, gleichfarbige Hosen und Schuhe. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Beruhigen Sie sich“, sagte sie sanft, aber deutlich.

Ich hielt still, starrte sie an.

Das Zimmer kehrte wieder in seinen vorigen Zustand zurück, die Farben kamen wieder, das Licht war nicht mehr ganz so kalt.

Langsam kam sie zu mir, fasste mich an der Schulter.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

Ich schwieg, dachte mir im Stillen ein Wenn ich das wüsste... und entspannte mich allmählich.
 

In meinem Kopf arbeitete es jedoch auf Hochtouren.

Was war das gewesen? Und welche Szene sollte es darstellen? War es ... vielleicht eine Szene der vielen, die ich vergessen hatte? Am Ende der gestrige Abend?

War das gestern, nach dem Keiji nach Hause gekommen war, passiert? Ein erneuter Streit?

Zu viele Fragen und zu wenige Antworten.

„Ziehen Sie sich das an“, meinte die Frau. „Es möchte Sie jemand sprechen.“

Sie hielt mir die Hose und die Schuhe entgegen.

Wortlos und zögernd nahm ich sie, zog mir die Sachen an, folgte ihr auf ihren Wink hin aus dem Raum, wo ein Mann wartete, der ebenfalls so gekleidet war, wie die junge Frau an meiner Seite.
 

Die beiden nahmen mich in ihre Mitte, führte mich zu einem Lift, ein paar Gänge entlang und schließlich in eine Art Warteraum. Sie wiesen mich an, mich zu setzen und zu warten. Ich tat, wie geheißen.

Während ich also hier saß und wartete, sah ich mich um. Irgendwie sah es hier aus, wie in dem Wartezimmer einer besseren Arztpraxis.

Zwei kleine Tischchen mit Zeitschriften, ein paar grüne Zimmerpflanzen, bei denen ich mir nicht sicher war, ob sie echt waren, oder nicht und bunte Hundertwasser-Bilder an den Wänden.

Richtig wahrnehmen tat ich das ganze jedoch nicht. Ich war noch immer mit den Gedanken bei der Sache vor ein paar Minuten, im Zimmer.

Da ich weiter darüber nachsinnte, was da gewesen sein könnte, vergaß ich die Zeit vollkommen und erschrak, zuckte zusammen, als die Tür zu dem Zimmer aufging, vor welchem ich warten sollte.

„Kommen Sie“, sagte die junge Frau, die mich mit ihrem Kollegen hier her gebracht hatte.

Ich erhob mich, folgte ihr langsam in den Raum.
 

Am Tisch saß jemand, der mir bekannt vorkam.

Ich blieb im Türrahmen stehen, blickte etwas abwesend in das Gesicht des sitzenden.

Tsukasa... Tsukasa irgendwas. Wie war sein Nachname gewesen?

Er hatte ihn mir doch heute morgen gesagt, als er sich vorgestellt hatte...

Er blickte auf, sah mich an.

„Hallo“, sagte er und erhob sich.

Ich sagte nichts, blickte ihn nur stumm an.

Warum war er hier?

Die Frau hinter mir legte mir die Hand auf den Rücken, um mich dazu zu bewegen, weiter zu gehen.

Ich tat einen Schritt vorwärts, blieb erneut stehen, mich unsicher umsehend.

In dem Raum stand ein Tisch und an ihm sich gegenüber zwei Stühle. Auf dem Tisch zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser.

Dieser Tsukasa lächelte leicht, wie einladend mit der Hand auf den Stuhl seinem gegenüber.

„Möchten Sie sich setzen?“, bot er mir an.

Wortlos ging ich zu dem Stuhl und ließ mich darauf nieder.

Wozu das alles?

Was wollte dieser Mann von mir?

„Einen Schluck Wasser?“

Ich schüttelte den Kopf.
 

Mein Blick wanderte durch den Raum, blieb an der Türe hängen, wo noch immer die Frau stand und das Geschehen verfolgte.

Tsukasa folgte meinen Augen, wandte sich der Frau zu.

„Wären Sie so nett und würden uns alleine lassen?“

Die Frau verzog etwas missbilligend ihr Gesicht.

„Ungern, Oota-san, ungern. Er ist noch sehr durcheinander.“

„Ich weiß.“

„Wir haben noch nicht herausgefunden, ob er gefährlich ist. Aber er leidet definitiv unter einer Art von Wahnvorstellungen.“

Wahnvorstellungen? Hatte ich etwa Wahnvorstellungen? War es das, warum ich immer alles vergaß?

Oder hingen die mit dem schon oft benannten Abend zusammen?

„Ich versichere Ihnen, dass ich mich im Falle eines Falles meiner Haut erwehren kann.“

Abwechselnd sah ich zwischen den beiden hin und her, saß angespannt auf meinem Stuhl. Ich wusste absolut nicht, was ich von ihnen halten sollte.

Sie redeten über mich, als ob ich nichts verstehen würde, als wäre ich geistig verwirrt und noch dazu aus einem anderen Land, als wäre ich zu dumm, um ihnen zu folgen.

Ich sagte jedoch nichts, blieb sitzen, hörte weiter zu.
 

„Hören Sie“, meinte Oota-san gerade. „Er steht nur unter Schock. Mehr nicht. Er ist weder geistig verwirrt, noch etwas anderes. Und jetzt hören Sie auf, so über ihn zu reden, als ob er nicht da wäre. Er ist nicht wie Ihre anderen Patienten. Er ist genau genommen nicht einmal wirklich Ihr Patient.“

„Alle in diesem Haus einquartierten Leute sind unsere Patienten“, erwiderte sie kalt, ehe sie sich umwandte.

„Und denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe, Oota-san.“

Angesprochener nickte.

Was hatte sie ihm gesagt? Betraf es auch mich?

Und warum drehte sich hier alles um mich? Ich wollte nur einfach meine Ruhe, war ich so viel Aufmerksamkeit doch überhaupt nicht gewöhnt. Und ich fühlte mich unwohl dabei, wenn mir auf einmal jeder so viel uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkte.
 

Ich hörte auf, nachzudenken, da es mir nur Kopfschmerzen verursachte, beschäftigte mich stattdessen mit einer Aussage, die dieser Kommissar eben gemacht hatte.

Ich stand unter Schock? ...ob damit diese... Vision von vorhin zusammen hing?

Und warum stand ich unter Schock?

Weil ich Keiji gefunden hatte?

Erneut wurde mir übel und ich griff ruckartig nach dem halbvollen Glas Wasser auf dem Tisch vor mir und trank es in einem Zug leer.

Oota-san, der sich mir gegenüber niedergelassen hatte, lächelte leicht.

„Also doch einen Schluck Wasser“, stellte er trocken fest, zog das noch unbenutzte Glas zu sich, ehe er sich erneut einschenkte.

Beschämt stellte ich das Glas zurück auf den Tisch, blickte zur Seite.
 

Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. Ja, er war freundlich und ja, er kümmerte sich schon irgendwie nett um mich und ja, verdammt, er hatte mich eben in Schutz genommen. Aber er war Polizist.

Es war die Aufgabe eines Polizisten, alles objektiv zu sehen. Und wenn er den Mord an Keiji behandelte... dann würde doch ich unter Verdacht kommen, oder? Ich hatte mit Keiji zusammengelebt, jahrelang. Ich war der Einzige, der sich in der Wohnung aufgehalten hatte. Lenkte das die Schuld auf mich?

Dabei wusste ich doch gar nicht, was ich an dem Abend gemacht hatte. Ich wusste doch nicht einmal, was überhaupt an dem Abend passiert war.
 

„Sie kennen mich ja bereits“, begann der Kommissar dann. „Aber ich kenne sie noch immer nicht.“

Ich starrte ihn an. Er wusste doch sicher meinen Namen, meine Adresse, meine Telefonnummer, was für eine Ausbildung ich gemacht hatte, dass ich jetzt arbeitslos war, welche Freunde ich hatte und wann ich mich wo und warum mit wem traf. Polizisten wussten sowas doch immer!

Warum fragte er mich dann also so demonstrativ?

„Matsumura“, sagte ich schließlich leise. „Matsumura Karyu.“

Er nickte, schlug sein Notizbuch auf, notierte meinen Namen.

„Ein schöner Name“, stellte er dann beiläufig fest, klappte sein Notizbuch zu, legte es zusammen mit dem Kugelschreiber auf den Tisch, als wäre nichts gewesen.

Mein starrer Blick war verständnislos geworden. Was wollte er mit solchen Komplimenten bezwecken?

Mit sowas schleimte man sich doch nur bei irgendwelchen.... Nutten, oder sowas ein. Leute, denen man eben schnell Komplimente machen musste, bevor man zur Sache kam. Und ja, das war es sicher. Er wollte zur Sache kommen, mich vorher noch schnell positiv stimmen, damit ich willig war, seine Fragen brav beantwortete.

Ich wurde blass.

War ich tatsächlich verdächtigt, die Tat begangen zu haben?

...aber ich wusste doch gar nicht, wie...!
 

„Geht es Ihnen nicht gut, Matsumura-san?“, fragte er und sah mich besorgt an.

Ich wusste nicht, ob diese Sorge ehrlich war, oder ob er sie nur spielte, hatte jetzt aber auch anderes zu tun, als darüber nachzudenken.

Ich tat seine Worte mit der Hand ab, schüttelte leicht den Kopf.

„Alles okay“, nuschelte ich leise.

Oota-san nickte, wirkte beruhigt. Vermutlich war er nicht wirklich scharf darauf, dass ich ihm hier zusammenklappte.

Während ich weiter vor mich hinstarrte und begann, mich zu fragen, wann das alles hier vorbei war, wann ich meine Vergangenheit hinter mir lassen und einfach ein neues Leben beginnen konnte, ohne jegliche Sorgen um einen Mord oder einen gewalttätigen Exfreund, holte der Kommissar ein kleines, schwarzes Kästchen hervor, welches ich kurz darauf als ein Diktiergerät erkannte.

„Ich muss es mitlaufen lassen“, meinte er etwas bedrückt. „Wegen Protokoll und so. Sie wissen schon.“

Nein, ich wusste nicht. Aber ich konnte es mir vorstellen. Sicher, alles musste genau dokumentiert werden, damit nichts verborgen blieb und keiner einen Alleingang oder was auch immer machen konnte.

Ich blickte erst das kleine Gerät, dann ihn an, schwieg.

Er schien einen Moment lang ratlos, was er tun sollte, dann fragte er erneut nach.

„Ist das okay für Sie?“

Erneut reagierte ich zuerst nicht, dann nickte ich zögernd. Im Endeffekt würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als zuzustimmen. Es war wohl Gesetz, dass dieses Gespräch hier aufgezeichnet wurde und da konnte ich wohl am wenigsten dagegen ausrichten. Zudem waren in diesem Raum sicher Überwachungskameras installiert, so wie überall im ganzen Haus. Immerhin war das hier eine Anstalt, in die Geisteskranke eingeliefert wurden, da musste man alles erdenkliche tun, um diese unter Kontrolle zu behalten.

Somit war es egal, ob ich zustimmte oder ablehnte. Er konnte sich immer noch die Aufzeichnungen der Kamera holen und das Gespräch, besser gesagt das Verhör, hier dokumentieren.
 

Das Diktiergerät wurde eingeschalten, er schien einen Moment zu zögern.

„Dann fangen wir wohl am besten mal an...“, murmelte er dann, wandte sich mir zu. „Sie sind also Matsumura Karyu, wohnhaft in XXXXX, der Partner des Opfers.“

Ich nickte. Ein weiteres Mal blickte ich zum Diktiergerät. Es surrte leise, während sich das Band in der eingelegten Kassette drehte. Irgendwie machte mich das nervös.

„Dürfte ich Ihr Alter erfahren?“, stellte er dann die erste Frage. „Wegen den Akten“, fügte er noch hinzu.

Ich wurde angesehen, der andere wartete geduldig auf meine Antwort.

Schließlich holte ich tief Luft, schwieg aber dennoch. Irgendwas in mir sträubte sich dagegen, diesem eigentlich recht freundlichen Mann Auskunft zu geben. Ich wusste nicht was es war, aber irgendwie war es stärker als der Wille dazu, diese Fragen zu beantworten.
 

Schließlich rang meine Vernunft dieses sich sträubende Etwas nieder und ich flüsterte leise:

„Sechsundzwanzig.“

Er nickte. Dann erkundigte er sich nach meinem Beruf. Zu diesem Zwecke schlug er erneut sein Notizbuch auf, blätterte kurz darin herum, fragte mich dann, ob es richtig war, dass ich derzeit keine Arbeit hatte. Er stellte die Frage so, dass ich einfach nur nicken, oder den Kopf schütteln musste. Einerseits fand ich es sehr rücksichtsvoll von ihm, da ich das Gefühl hatte, irgendwas würde mir passieren, wenn ich noch einmal den Mund aufmachte. Andererseits jedoch war ich ihm gegenüber noch immer sehr misstrauisch. Er gehörte doch sicher zu dieser einen Kommissarin, die mir auf den Zahn gefühlt hatte, als gäbe es kein Morgen mehr, kurz nachdem ich Keiji aufgefunden hatte.
 

Die Fragerei ging weiter, doch schon auf die nächste Frage antwortete ich nicht mehr. Besser gesagt konnte ich nicht mehr antworten.

Oota-san wollte wissen, wo ich gestern Abend gewesen war, ob es stimmte, dass Keiji und ich uns gestritten hatten. Die Nachbarin hätte es ihm gesagt, fügte er noch hinzu, fühlte sich scheinbar nicht wirklich wohl, so in meiner Privatsphäre herumzuschnüffeln. Aber das war nun mal sein Beruf. Wenn es ihm nicht passte, hätte er nicht Polizist werden dürfen.

Aber ich wusste nicht mehr, was an jenem Abend passiert war.

Ich hatte keine Ahnung, ob mein Exfreund und ich mal wieder Streit gehabt hatten, oder ob gestern ein Abend gewesen war, den wir zur Abwechslung mal friedlich verbracht hatten. Beides wäre möglich, aber ich wusste nicht mehr, was zutraf. So hob ich ratlos die Schultern.

Das einzige, was ich wirklich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen konnte, war, dass gestern unser letzter gemeinsamer Abend gewesen war, den wir zusammen verbracht hatten.
 

Der Rest des etwas einseitigen Gesprächs verlief gleich.

Oota-san fragte und ich antwortete nicht, blickte ihn nur stumm an, überlegte fieberhaft, ob mir etwas einfiel, was ich ihm sagen könnte. Ob mir etwas einfiel, was ihm und mir weiterhalf, was dazu beitrug den Mörder zu finden, der Keiji auf dem Gewissen hatte.

Doch ich wusste nichts.

Schließlich seufzte der Brünette.

„Belassen wir es erst einmal dabei.“

Ich sah ihm schweigend zu, wie er das Diktiergerät ausschaltete, es in seine Jackentasche steckte.
 

Er schwieg einen Moment, dann bückte er sich und hob eine Reisetasche auf seinen Schoß, die er, nachdem er die Flasche und die Gläser aus dem Weg gerückt hatte, auf den Tisch stellte.

„Ich habe Ihnen noch etwas zum Anziehen mitgebracht. Ich hoffe es ist das Richtige, was ich eingepackt habe. Bitteschön“, er schob die Tasche über den Tisch zu mir.

Langsam hob ich die Hände, zog sie schließlich auf meinen Schoß.

Oota-san erhob sich.

„Dann will ich Sie mal wieder in Ruhe lassen. Hoffentlich geht es Ihnen bald besser.“

Ich folgte seinen Bewegungen mit den Augen. Er kam um den Tisch herum, streckte seine Hand aus.

„Auf Wiedersehen“, sagte er, lächelte mich kaum merklich an. „Vielleicht komme ich morgen noch einmal vorbei, um zu sehen, wie es Ihnen geht.“

Ich hob ebenfalls die Hand, nahm seine, allerdings traute ich mich nicht so recht. Dementsprechend schüchtern und zurückhaltend fiel auch der Händedruck aus. Oota-san räusperte sich, richtete sich auf und machte dann ein paar Schritte in Richtung Tür.

„Nun denn...“, sagte er, hob die Hand, öffnete mit der anderen die Tür. „Bis bald.“

Ich blickte ihm wortlos hinterher.
 

Jetzt war ich wieder allein. Ich würde wieder in mein Zimmerchen kommen, wo Keiji vermutlich schon wartete, damit er mir weiter Angst machen und mich beschimpfen konnte. Ich wollte da nicht mehr zurück. Ich wollte weit weg, irgendwo hin, wo ich einfach nur mein Leben leben konnte, ohne irgendwelche Exfreunde, die mich im Tod noch heimsuchten. Wo ich einfach nur ich selbst sein konnte, ohne dass jemand mich als geisteskrank abstempelte, weil ich Lücken in meiner Erinnerung hatte.
 

Plötzlich sprang ich auf, schmiss die Reisetasche von meinem Schoß und rannte Oota-san hinterher.

Ich war so schnell an den beiden Pflegern vorbei, dass sie nur zusammenzucken konnten, mit etwas Verzögerung hinter mir her sprinteten.

Der Kommissar war noch nicht weit weg. Etwa in der Mitte des Ganges. Auf halbem Wege rief ich ein „Oota-san!“, woraufhin er sich umdrehte, stehen blieb.

Ich spürte, wie sich eine Hand auf meine Schulter legte und eine andere mich an meinem Oberarm packte und zum Anhalten zwang.

„Ich will hier weg!“, bat ich den Polizisten verzweifelt.

Er blickte mich an.

„Lassen Sie ihn los“, sagte er dann zu den beiden, die mich hielten.

„Aber-“

Er hob eine Augenbraue, sah sie warnend an, woraufhin ich losgelassen wurde.
 

Der Kleinere kam die letzten Schritte auf mich zu, hob die Hand.

Ein kleines Bisschen zuckte ich zusammen, als er sie an meine Wange legte, mit dem Daumen sanft über meine Haut strich.

„Ich werde mein Bestes tun“, versprach er leise.

Ich spürte, wie sich ein leichter Rotschimmer um meine Nase legte, ob der Berührung.

Stumm blickte ich ihn an.

„Ich werde alles mir Mögliche tun, um Ihnen zu helfen“, flüsterte er, ehe er die Hand wieder von meiner Wange nahm, den beiden Pflegern zunickte und sich dann umwandte.

Wie festgewurzelt stand ich mitten auf dem Gang und starrte ihm hinterher.

Bad luck, (love?) and a plan of savior

Als ich die Psychiatrie verließ, fühlte ich mich noch schlechter, als vor ca. einer Stunde, als ich sie betreten hatte. Ich hätte den Blonden am liebsten mitgenommen und mich selbst um ihn gekümmert. Man merkte immerhin mehr als deutlich, dass er jetzt jemanden brauchte, an dem er sich festhalten konnte, der ihn in den Arm nahm, ihm die Zuneigung gab, die ihm jahrelang gefehlt hatte.

Und auch, wenn ich ihn absolut nicht kannte, wäre ich dazu bereit gewesen, ihm all das zu geben. Da, wo er jetzt war, bekam er das, was er jetzt am allernötigsten brauchte, nicht. Mit Sicherheit.

Wie sollte sich denn sein Zustand verbessern, wenn er bei den völlig verkehrten Leuten, die ihn in der völlig verkehrten Umgebung völlig verkehrt behandelten, war?

Wenn Matsumura-san da nicht schnellstmöglich rauskam, wurde er mit Sicherheit zu einem von den Patienten, die ihr ganzes Leben in der Klinik fristeten und dort dann einsam und allein gelassen starben. Einfach, weil sie niemanden mehr hatten, der sich um sie kümmerte, der ihnen das gab, was sie brauchten, der ihnen einfach nur zeigte, dass sie ihm nicht egal waren.

Das musste nicht sein. Das durfte nicht sein.
 

Ich hatte die Möglichkeit, ihm zu helfen und ich würde ihm helfen. Das hatte ich ihm versprochen. Und was ich versprach, das hielt ich... jetzt erst recht.

Ich seufzte und griff in meine Jackentasche, um meine Zigarettenpackung herauszuholen.

Sie war aber nicht da, ich fand nur das Diktiergerät.

Leise fluchend stieg ich in mein Auto, um zurück ins Präsidium zu fahren und mit dem Arzt und meinem Chef darüber zu reden, Matsumura-san aus der Klapse zu holen.

Vermutlich war mir die Kippenschachtel aus der Tasche gefallen, als ich mich nach der Reisetasche des Blonden gebückt hatte. Warum war nicht das Diktiergerät rausgefallen? Das wäre mir lieber gewesen, das brauchte ich auch nicht, um zu überleben.
 


 

Etwa eine halbe Stunde später stand ich in meinem Büro und diskutierte heftig mit Hiroshi.

„Tsukasa!“, schimpfte er. „Er steht unter Schock und hat – soweit ich das feststellen konnte – ein starkes, psychisches Problem!“

„Du sagst es!“, hielt ich dagegen. „Soweit du es feststellen konntest. Also mir ist kein Pfeil mit Psycho über seinem Kopf aufgefallen! Außerdem hätte ich auch ein psychisches Problem, wenn ich mit seinem Ex zusammen gewesen wäre!“

„Du weißt genau, was ich meine, mein Lieber!“

„Man, Hiroshi! Dem geht es dreckig da! Hast du schon mal mitbekommen, wie die mit ihm umgehen? Mir hat der kurze Einblick gereicht, den ich bekommen habe, als sie ihn in das Sprechzimmer gebracht haben! Wenn wir ihn da nicht rausholen, wird sein Zustand nie besser! Der braucht alles aber sicher keine endlosen Tage in einem isolierten, verrammelten Zimmer in der Klapse!“

„Tsukasa-“

„Außerdem... du weißt ja, dass wir was wissen, was niemand anders wissen sollte“, deutete ich dezent an. „Wenn es der Chef erfährt...“, ich schüttelte meine Hand, ob die Augenbrauen und plusterte meine Backen auf, ehe ich die Luft mit einem Zischen entließ.

„Das ist Erpressung!“, sprang Hiroshi-san sofort drauf an.

Ich grinste, als ich den Rotschimmer auf seinen Wangen sah, spitzte kurz die Lippen gab ihm einen Luftkuss.

Er zuckte zurück, kniff die Augen zusammen, starrte mich böse an, sagte aber nichts mehr.

„Okay, schön, dass du zustimmst. Dann können wir morgen gleich hinfahren und du nimmst ihn einmal gründlich in Augenschein. Dann kannst du dich gleich selbst überzeugen, dass er kein Vollpsycho ist“, griff ich meine Möglichkeit deshalb auf.

Hiroshi-san seufzte, resignierte schließlich. „Na schön. Aber ich warne dich. Wenn da irgendwas schief läuft...“

„...bin ich schuld, und-“

„-seit wann redest du eigentlich so viel? Hast du die Sprechperlen von deinem Wellensittich gegessen?“

Er ließ mich gar nicht zu Wort kommen, sondern redete gleich weiter. „Tsukasa, das ist falsch. Du hast keine Federn und bist kein Vogel. Du musst diese runden, kleinen Getreideflocken essen. Die sind auch gut für dich.“

Ich ließ mich fertig verarschen und verdrehte die Augen. Da bekam ich jetzt gleich postwendend das zurück, was ich ausgeteilt hatte.

„Ich hab’ keinen Wellensittich“, brummte ich dumpf.

Dann räusperte ich mich.

„Sag du dem Chef bitte bescheid, ja?“, ich winkte, drehte mich um und dampfte schnellstmöglich ab. Ich wollte nicht noch mehr in diese etwas unangenehme Situation reinrutschen. Außerdem brauchte ich jetzt dringend Feierabend. Den etwas fassungslosen „Tsukasa?!“-Rufen hinter mir schenkte ich keine Beachtung.

Für mich war jetzt alles geklärt.
 

Hiroshi hatte zugestimmt, er würde dem Chef die Sache erklären und morgen würde die ganze Sache schon ganz anders aussehen.

Aber dann fiel mir etwas anderes ein.

Wo sollte der Blonde dann hin?

Ein Hotel? Ja, das war wohl das Naheliegendste. Da hatte er seine Ruhe und – aber Moment mal... was hatte ich Hiroshi die letzten zehn Minuten alles erzählt?

Matsumura-san war einsam... allein gelassen... fürchtete sich allein (das hatte ich ihm mehr als nur deutlich angesehen, als ich wieder gegangen war)... er brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte... jetzt im Nachhinein kam ich mir vor, wie ein Diplom-Psychologe. Vermutlich, weil ich wusste, wie man sich in Matsumura-sans Situation fühlte. Wenn man allein gelassen war und sich jeder von einem abwandte. Bei meiner Festnahme hatte ich zwar nicht genau das Selbe erlebt, aber es war ähnlich gewesen.
 

Wenn ich mir meine Hiroshi gegenüber verwendeten Argumente so ansah, bzw. sie mir noch einmal durch den Kopf gehen ließ, war ein Hotel wohl auch nicht besser, als die Klapse.

Verwandten vielleicht? Oder Freunde?

... hatte Matsumura-san so was überhaupt?

Klar, bei Verwandten war ich mir mehr als sicher, aber Freunde musste er doch auch haben. Ohne Freunde ging es schließlich nicht. Ich hatte ja auch Akira.

Das war zwar nur ein Freund, aber dafür war er besser, als zehn andere. Lieber hatte man wenige, aber dafür richtige Freunde.

Aber der Blonde musste doch auch Verwandte haben, zu denen er gehen konnte. Aber wen? Und vor allem wo?

Ich stieg die Treppe in die Tiefgarage nach unten.

Ob die Nachbarin das wusste?

Aber die hatte doch gesagt, dass die beiden weder Besuch gehabt, noch irgendwann ihre Wohnung für einen Tag oder länger verlassen hatten.

Gut, das mit den Freunden und Verwandten hatte sich dann wohl auch erledigt und war nicht so der Knaller.

Ich seufzte. Da hatte ich ja mal wahnsinnig vorrausschauend gehandelt.

Jetzt hatte ich es fast geschafft, den armen Kerl da raus zu holen und dann wusste ich nicht wo hin mit ihm!
 

Das Klingeln und der Vibrationsalarm meines Handys riss mich aus meinen Gedanken.

„Ja?“

„Ich hab ein Problem, du Wohltäter.“

Okay, das war Hiroshi. Die Stunde der Wahrheit, die eigentlich nur eine Minute war, in der ich mir möglichst schnell was einfallen lassen musste, war bald gekommen. Aber ich war noch immer nicht schlauer, als vorher. Ich wusste noch immer nicht, wohin mit dem armen Kerl. Ich biss mir auf die Lippe.

„Ähm...ja?“

„Der Chef will wissen, wo du deinen Matsumura-san statt der Klapse hin stecken willst.“

Ich schwieg. Genau jetzt war die Minute der Wahrheit da. Na prima.

„Beeil dich, Junge…”, drängte mich der Arzt. „Ich steh hier vor Cheffe’s Büro.“

Ich überlegte fieberhaft, verkrampfte mich, trommelte mit den Fingern auf das Dach meines Autos, auf dem ich mich abstützte.

„Keine Ahnung“, gab ich schließlich zu.

Hiroshi seufzte. „Das hast du ja wirklich toll hingekriegt.“

„Ich weiß. Kannst mich als Belohnung ja mal zum Essen einladen... morgen Abend geht’s nicht... was hältst du von-“

„Tsukasa. Es ist wirklich schön, dass du auf einmal so redefreudig und witzig geworden bist, aber jetzt wäre mir deine alte Art doch kurzfristig ganz recht.“

Ich switchte sozusagen um, wurde wieder ernst. „Er hat weder Freunde, noch Verwandten. Und ein Hotel ist das Selbe wie die Klapse, nur in grün.“

Jetzt schwieg Hiroshi. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm zu sagen, dass es ja wirklich schön war, dass er auf einmal so verschwiegen und ruhig geworden war, aber jetzt wäre doch seine... lassen wir das.
 

„Nimm ihn zu dir.“

Diese Worte sagte der Arzt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ich einfach mal so mir nichts, dir nichts, einen fremden Mann, dessen Liebster vor ca. 24 Stunden umgebracht wurde, zu mir nahm.

„Spinnst du?!“, fragte ich fassungslos, sperrte meinen Wagen auf. „Ist das nicht verboten?“

„Es gibt aber keine andere Möglichkeit, wie du mir gerade eben unterbreitet hast.“

„Aber er ist doch auch tatverdächtig!“, sagte ich, während ich mich ins Auto setzte.

Hiroshi lachte. „Ja, er ist sogar der Hauptverdächtige!“

Na toll. Das hatte ich verdrängt. Aber Hiroshi hatte Recht. Ein Motiv war da. Der andere schwieg sich über den Abend aus... mehr brauchte es fast nicht. Nur noch Beweise. Und an solchen mangelte es noch ziemlich.

Passte mir ehrlich gesagt auch ganz gut. Ich wollte nicht wahrhaben, dass Matsumura-san der Hauptverdächtige war. Er war doch viel zu... unschuldig. Viel zu harmlos.

Man konnte ihm gar nicht zutrauen, eine solche Tat zu begehen.
 

„Da siehst du mal, was du mir aufgehalst hast“, brummte Hiroshi, als ich weiterhin schwieg, als ob er meine Gedanken durch das Telefon gehört hätte.

Ich räusperte mich.

„Weißt du... ich hab da.... Hemmungen.“

Etwas verblüfft schwieg der andere.

„Warum?“

„Naja.... er ist... der Hauptverdächtige.“

Hiroshi seufzte erneut. „Hatten wir das nicht grade eben schon mal?“

Jetzt seufzte ich. „Ja, aber-“

„Sieh es doch mal so“, meinte Hiroshi in seiner geduldigen Art. „Du bist der Einzige, mit dem er bis jetzt geredet hat.“

„Geredet?“, murmelte ich. „Das nennst du reden?“

„Er hat immerhin mit dir gesprochen.“

„Ja, und er hat mir das gesagt, was wir ohnehin schon wussten.“

„Aber er hat überhaupt mal was gesagt. Eriko-san hat er ignoriert.“

Ich konnte mir ein dreckiges Grinsen nicht verkneifen. „Kann ich verstehen“, meinte ich dann.

Hiroshi überging das.

„Was ich eigentlich sagen wollte, ist Folgendes“, fuhr er dann fort. „Er scheint dir zumindest ein bisschen zu vertrauen. Das glaube ich zumindest, nach dem, was ich bis jetzt gehört habe. Also schaffst du es vielleicht, was aus ihm rauszukriegen, was uns weiterhilft.“

„Stimmt“, gab ich zu. Auch, wenn ich mir bei dem Gedanken vorkam, als würde ich das vielleicht minimal vorhandene Vertrauen des anderen schamlos ausnutzen, wenn ich ihn nebenbei etwas ausquetschte.

„Gut“, stimmte meine Wenigkeit dann zu. „Sag dem Chef, dass ich ihn zu mir nehme.“

„Mach ich“, sagte Hiroshi.
 

„Noch was“, setzte er dann hinzu, als ich mich schon verabschieden und auflegen wollte.

„Was?“, wollte ich stattdessen jedoch wissen.

„Was ist los mit dir?“

„Häh?“

„Sonst sagst du den ganzen Tag lang nicht so viel, wie in der letzten halben Stunde!“

Ich schwieg. Zwar übertrieb er etwas, aber im Grunde stimmte diese Aussage.

„Keine Ahnung.“

„Hast du irgendwas genommen?“

Überrascht hob ich die Augenbrauen über diese etwas persönliche Frage.

„Nein... aber jetzt, wo du’s sagst...“

„Gott, Tsukasa!“, fuhr der Arzt dazwischen. „Hör endlich auf, Witze zu machen!“

„Du brauchst mich deswegen nicht-“

Ich verstummte. Hiroshi hatte schon aufgelegt. „....Gott zu nennen“, beendete ich meine Satz leise.

Mit einem Seufzen ließ ich mich mit der Stirn gegen das Lenkrad sinken.

Ja, was war los mit mir?

Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich mich anders benahm. Aber jetzt, wo es mir so direkt gesagt wurde.... bemerkte ich schon eine gewisse Veränderung.
 

Mit einem Schulterzucken tat ich das ganze ab, startete den Motor. Vielleicht kam das ja von meinem Kippenentzug. Apropos Kippen... ich fuhr am besten bei der nächsten Tankstelle vorbei, um mir welche zu kaufen.

Bis zu Hause hielt ich das nicht mehr aus.

...eigentlich schon schlimm, wenn man so von Zigaretten abhängig war, aber was will man machen...?

Gedacht, getan. Ich machte Feierabend und fuhr aus der Garage. Unterwegs kaufte ich mir meine heiß ersehnten Zigaretten.
 

Als ich ankam, stieg ich aus und schloss meinen Wagen ab.

Meinen Rucksack an einer Schulter baumelnd, nahm ich die Treppen bis in den 10. Stock in Angriff. Auf halber Höhe stieß ich mit Akira zusammen.

„Hi“, sagte ich.

Er murmelte ein abwesendes „Hallo“, hielt den Blick gen Boden gerichtet und stieg Stufe für Stufe weiter nach oben.

„Suchst du was?“, wollte ich mit Kennerblick wissen.

„Nein, ich renn hier zum Spaß im Treppenhaus rum und zähle die Graffitis.“

„Achso“, ich setzte an, weiter zu gehen, überlegte, ob ich ihn fragen sollte, wie viele es denn waren, und ob er das versteckte unten im Keller bei den Fahrrädern auch mitgezählt hatte, doch ich entsann mich auf etwas anderes. „Du hast nicht rein zufällig deinen Schlüssel verloren, oder?“, fragte ich unschuldig, hob die Augenbrauen und blickte ihn mit leicht gespitzten Lippen an.

Er richtete sich auf. „Hast du ihn gefunden?“

Ich seufzte theatralisch. „Akira-kun~ langsam könnte ich Strichliste führen.“

„Ha-ha“, machte er trocken. „Hast du ihn jetzt, oder nicht?“

„Nein, aber ich kann dir beim Suchen helfen.“
 

Das tat ich auch. Wir rannten drei mal das Treppenhaus rauf und runter. Aber den Schlüssel fanden wir nicht. Ich lud den Jungen noch zu mir auf ein Bier ein. Er musste sowieso warten, bis seine Freundin nach Hause kam, also stimmte er zu.
 

„Und was ist eigentlich mit dir los?“, fragte Akira, als wir in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa saßen. „Hast deinen alten Akku gegen eine Longlife-Batterie eingetauscht?“

„Eh?“

„Du wirkst etwas hyperaktiv, im Vergleich zu heute Morgen und sonst.“

Noch jemand, der was an meiner Stimmung auszusetzen hatte. Ich sagte nichts, dachte mir nur meinen Teil. Erst beschwerte er sich, wenn ich deprimiert und nostalgisch war und wenn ich dann mal nicht ganz so schlecht drauf und unzugänglich war, war es ihm auch wieder nicht recht. Wie man’s machte, machte man’s verkehrt.

Vielleicht sollte ich ihm das beizeiten einfach mal unterbreiten. Möglicherweise würde er dann nicht mehr so hohe Ansprüche an mich stellen.

Ich ging in die Küche und holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.
 

„Was hast du heute gemacht?“, wollte Akira mit zusammengezogenen Augenbrauen wissen, als ich wieder zurück kam.

„Gearbeitet.“

„Ich dachte, du hast frei.“

„Dachte ich auch.“

„Ein neuer Fall?“

Ich nickte.

„Ahja...“

„Ja“, ich erhob mich mit einem Ruck und begann, verschiedenes Zeug aufzuräumen. Es sollte ja halbwegs ordentlich aussehen, wenn Matsumura-san morgen hier war.

„Kriegst du Besuch?“, wollte Akira mit gehobener Augenbraue wissen.

„M-hm“, nickte ich abwesend, packte meinen alten Staubwedel und begann, abzustauben. Der Staubwedel war so ein buntes, wuscheliges Teil, welches meistens die alten Frauen benutzten. Ich wusste, dass es albern aussah, mit diesem Ding herumzufuchteln, aber es erfüllte seinen Zweck und die Stellen meiner Möbel, die ich schon behandelt hatte, sahen nicht mehr ganz so staubig aus, wie bis vor kurzem.

Akira nippte an seinem Bier, folgte mir skeptisch mit den Augen. Ich ließ mich davon nicht stören, arbeitete weiter. Auch, wenn ich diesen Elan von mir gar nicht gewöhnt war. Doch ich wusste, dass meine arme Wohnung es wirklich mal wieder verdammt nötig hatte, geputzt zu werden.
 

Meine Gedanken schweiften ab und ich dachte an das Gespräch zurück, das ich mit Matsumura-san geführt hatte.

Nein. Viel mehr, an das, was davor geschehen war.

Die Pflegerin hatte mir erzählt, dass der Blonde wohl eine Art Wahnvorstellung gehabt hatte, als sie ihn aus seinem Zimmer abholen hatten wollen.

Er sei auf dem Boden gekauert, habe verzweifelt etwas geschrieen und sei total verstört gewesen.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was passiert sein konnte.
 

Matsumura-san hatte einen verstörten Eindruck auf mich gemacht, ja... aber er sah nicht aus, als hätte er irgendwelche geistigen Aussetzer.

Warum hatten sie mich nicht mit ihm alleine lassen wollen?

Wegen den Wahnvorstellungen?

Wurde er da etwa handgreiflich?

Ich seufzte.
 

„Etwa ein Stecher?“, riss mich der Jüngere aus meinem Rückblick und schaute mich wissend an. Ich hob meinen Blick vom Fensterbrett, welches ich gerade säuberte, dachte einen Moment nach, starrte an die graue Beton wand gegenüber, auf die ich von ausnahmslos jedem Fenster meiner Wohnung einen wunderbaren Blick hatte. Eigentlich müsste sie schon ganz ausgeblichen sein, weil ich sie wirklich oft anstarrte. Immer, wenn ich nachdachte, wenn ich nichts zu tun hatte, wenn ich zu Hause war.

Ich schüttelte den Kopf.

Akira gluckste. „Für wen putzt du dann? Kommen deine Eltern dich etwa besuchen?“

Ich schnaubte. Wenn meine Eltern mich jemals besuchen würden, sich jemals wieder für mich interessieren würden, wenn sie sich jemals wieder dazu durchringen können würden zuzugeben, dass ich ihr Sohn war, dann legte ich meinen Beruf als Polizist nieder und arbeitete als dauerlabernder Radiosprecher und am nächsten Tag würde vermutlich die Welt untergehen.

Schon, als sie durch einen blöden Zufall herausgefunden hatten, dass ich schwul war, hätten sie mich wohl am liebsten vor allen anderen verleugnet. Sie waren aber noch human geblieben, hatte mir ‚nur’ verboten, irgendeine Beziehung mit einem anderen Mann anzufangen, hatten mir jedes Mal, bevor ich das Haus verlassen hatte, einbebläut, auch ja nichts Unüberlegtes zu tun, mich durch nichts zu verraten, oder gar zu erzählen, dass ich ‚anders’ war. Immerhin lebten wir hier in Japan. Japan war konservativ. Zwar gab es bekannter Weise unzählige Schwulen- und Lesbengeschichten in Comic-, Buch- und Serien-, bzw. Filmform, aber so offen die Leute mit diesen Medien umgehen, so konservativ und intolerant sind sie in der Realität.

Lautlos seufzte ich, hatte mit dem Abstauben inne gehalten, starrte noch immer an die Hauswand gegenüber.
 

„Sorry“, murmelte Akira. „Ich hätte das nicht sagen sollen.“

Ich gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass es okay war. Ich kannte ihn lang genug. Manchmal redete er eben schneller, als er dachte.

Meine gute Laune war wieder wie weggefegt und ich konnte mir wirklich fast selbst nicht mehr vorstellen, dass ich Hiroshi-san vor ca. einer halben Stunde noch in Grund und Boden geredet hatte. Nachdem ich noch eine Weile herumgestanden war und gestarrt hatte, blinzelte ich, öffnete das Fenster, fingerte eine Zigarette aus der Packung, die ich in meiner Hosentasche gehabt hatte. Ich zündete die Kippe an, inhalierte den ersten Zug mit geschlossenen Augen. Nur leise nahm ich wahr wie Akira sich hinter mir erhob, zu mir ans Fenster kam. Er tat es mir gleich, lehnte sich nach vorne, hielt seine Flasche in der Hand. So standen wir nebeneinander am Fenster, ich rauchte, er trank. Eine Weile sagten wir gar nichts, dann setzte er wieder an, zu sprechen.
 

„Was ist los mit dir?“, fragte er abermals, schaute mich von der Seite her an. Er sagte es jedoch anders, als die Male davor. Es war nicht in einem genervten, entsetzten oder verblüfften Ton, nein, eher in einem Besorgten.

„Nichts“, erwiderte ich knapp.

Er stieß mich leicht mit dem Ellenbogen an. „Das glaub ich dir nicht.“

Und Recht hatte er. Dieser Fall beschäftigte mich. Mehr als die anderen, die ich bisher behandelt hatte. Wegen Matsumura-san?

“Der Fall”, begann ich schließlich. „Der ist es.“

„Das, was dich beschäftigt?“

Ich nickte, zog an der Zigarette, drehte sie etwas zwischen Daumen und Zeigefinger, schaute wie hypnotisiert auf das glühende Ende.

Akira schwieg. Er wusste, dass er warten musste, bis ich von selbst anfing, zu erzählen. Nachfragen brachte nichts.

Die Sonne ging unter, tauchte alles in ein seltsam unwirkliches Licht.
 

„Jemand wurde erstochen“, begann ich schließlich. „Mit einem Messer. Sein Lebensgefährte hat Probleme mit seiner Erinnerung. Gedächtnislücken.“

Der Jüngere seufzte, bückte sich weiter, verschränkte die Arme auf dem Fensterbrett, legte den Kopf darauf.

„Er erinnert sich nicht mehr an den Abend der Tat. Er steht unter Schock und ist gerade in der örtlichen Psychiatrie. Er spricht fast nicht.“

Akira biss sich auf die Lippe, fixierte mich scharf von unten herauf, der ich einen erneuten Zug nahm, meine Augen noch immer an der Betonwand auf der anderen Straßenseite klebend. Dann richtete der Junge sich auf, legte mir seinen Arm um die Schultern.

„Du willst ihn da raus holen?“

Ich nickte, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, stützte das Kinn in die Hand.

„Und dann nimmst du ihn zu dir?“

Erneut nickte ich. So, wie Akira das sagte, klang es, als wäre es selbstverständlich, was ich tat. Als wäre es das Einfachste der Welt. War es aber nicht. Ich seufzte abermals.

„....gibt es denn... einen Haken?“, wollte der Schwarzhaarige ein paar Augenblicke später wissen.

Erneut stimmte ich zu. Verdammt, wenn es doch nur ein Haken gewesen wäre! Aber es waren ja viel mehr! Warum konnte in meinem Leben nicht einmal etwas funktionieren? Mein Kumpel musterte mich erneut genau. Bis jetzt hatte ich bis auf mein Nicken regungslos verhaart.
 

„Du...“, er zögerte. „Hast du dich in ihn....ver.... verver....?“

Zuerst schloss ich die Augen, atmete tief ein, begann nachzudenken.

War es das, was Akira als verver bezeichnete, was ich empfand? Oder war es einfach nur Beschützerinstinkt, den Matsumura-san in mir hervorrief? War ich nur vorübergehend geil auf ihn?

Und was war eigentlich der Grund für meine plötzliche, spontane Zuneigung zu dem Blonden, den ich rein gar nicht kannte?

Konnte man es als Liebe auf den ersten Blick bezeichnen? Oder war das übertrieben?

Viel zu viele Fragen, auf die ich zu wenige Antworten wusste. Aber... wie ich die Sache auch immer drehte und wendete... ich kam immer bei derselben Lösung heraus. Auch wenn es dämlich und nahezu hirnrissig war, nach einem Tag so was zu sagen, besser gesagt, überhaupt zu glauben.

Klar, Matsumura-san sah wirklich gut aus... dessen war ich mir sicher. Zumindest, wenn er nicht mehr so belastet war. Psychisch, wie physisch. Wenn es ihm gut ginge... wäre er sicher attraktiv. So dachte ich über ihn. Interesse war da. Aber Liebe?
 

Trotz meiner inneren Zweifel nickte ich erneut, diesmal etwas energischer. Falls es sich doch etwas anderes entpuppen sollte, konnte ich Akira ja mitteilen, dass ich mich wohl doch getäuscht hatte. Immerhin konnte es sein, dass ich einfach nur wissen wollte, wie der Blonde im Bett war, wie es war mit ihm zu schlafen. Das war es wohl, was ich nach so kurzer Zeit empfand. Immerhin hatte ich es – grob gesagt – schon irgendwie nötig, war ich doch ziemlich lange abstinent gewesen.

Und doch bejahte ich die Frage des Kleineren so entschieden.

„Tsukasa!“, rief Akira erfreut und ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie er mich an den Schultern gepackt und zu sich umgedreht hatte. Breit grinste er mich an.

„Das ist doch.... wunderbar, Tsukasa!“, sein Grinsen wurde breiter, ich bemerkte, wie sehr es mich berührte, dass er sich so für mich freute. „Oh Gott, endlich! Junge, das darfst du nicht verbocken, das ist DIE Chance!“

Leicht schüttelte er mich.

„Akira“, sagte ich ernst, woraufhin er inne hielt.

„Ist da... noch ein Haken, den ich vergessen hab?“

Ein leises Seufzen kam von mir.

„Er ist der Hauptverdächtige“, murmelte ich dann leise.

Psycho?

Ich wurde zurück in mein Zimmer gebracht, nachdem Oota-san weg war. Mit den Pflegern sprach ich kein Wort. Die Frau, die auch mit dem Kommissar geredet hatte, unterhielt sich an mir vorbei mit ihrem Kollegen. Ich ging zwischen ihnen und die beiden waren offenbar der Meinung, dass ich ohnehin nichts verstand. Ich war ihrer Meinung nach also in höchstem Maße unzurechnungsfähig. Vermutlich wussten sie nicht mal, was ich für Probleme hatte, die vielleicht im Entferntesten Sinne einer psychischen Störung glichen. Außer der Sache mit der fehlenden Erinnerung und dem Schock, der mir noch immer in den Knochen saß, fehlte mir doch nichts! Aber ich hütete mich davor, ihnen das zu sagen, da sie mir ohnehin entweder nicht zuhören oder nicht glauben würden. Stattdessen blickte ich apathisch auf den Boden vor meinen Füßen, lauschte ihrem für mich sehr interessanten Gespräch, während wir durch die Flure gingen.
 

„Was glaubst du“, fragte die Frau. „Wie will er ihn hier raus holen?“

Ach ja... sie hatten ja mitbekommen, wie Oota-san mir versprochen hatte, dass er mich von hier wegholen wollte. Das hatte ich ganz vergessen.

Ihr Kollege überlegte, ehe er antwortete.

„Wenn er es wirklich schaffen will, braucht er einem ärztlichen Befund. Anders geht’s nicht. ...oder?“

Sie zuckte die Schultern. „Ich kenn mich da nicht aus... obwohl... polizeilicher Beschluss, Befehl von ganz oben?“

Ihr Gesprächspartner zu meiner Rechten schüttelte den Kopf. „Ohne Befund läuft nichts. Und der ist nicht einfach zu kriegen.“
 

Innerlich ließ ich den Kopf hängen. Wo wollte Oota-san denn einen ärztlichen Befund herkriegen? Das war doch ein Ding der Unmöglichkeit... meine Lage war offenbar aussichtslos. An dieser Stelle wurden meine Gedanken jedoch abgelenkt. Je näher wir meinem Zimmer kamen, desto nervöser wurde ich, desto weiter breitete sich ein unangenehm flaues Gefühl in meinem Magen aus.

Keiji tauchte vor meinen inneren Augen auf, die Szene, die ich erlebt hatte, ehe ich von den beiden neben mir abgeholt worden war, lebte wieder auf. Ich begann zu zittern, hob den Blick, blieb stehen. Meine beiden ‚Aufpasser’ taten es mir gleich.

„Was ist?“, fragten sie mich, bereiteten sich vermutlich darauf vor, dass ich gleich ausfallend wurde. Wurde ich aber nicht. Ich stand einfach nur da, starrte angsterfüllt auf die Tür meines Raumes. Ich wollte da nicht rein. Bebend schlang ich die Arme um meinen Körper, zog den Kopf ein.

„Was sehen Sie, Matsumura-san?“, fragte der Pfleger.

Meine Tür, dachte ich und fragte mich, was er wohl mit der Frage bezwecken wollte. Dass er so versuchte, festzustellen, ob ich gerade halluzinierte, darauf kam ich im Moment nicht. War ja auch abwegig für mich. Ich hatte doch einfach nur Angst, nichts weiter. Einfach nur Angst vor Keiji, davor, dass ich erneut so eine Vision bekam, dass er mich erneut überfiel, dass er mich anschrie, dass er mich schlug.

Ich wollte nicht allein mit ihm sein und auch, wenn diese beiden Pfleger nicht die sympathischsten und vertrauenserweckendsten Personen waren, sie waren jemand und mit ihnen war ich nicht allein. Und darum ging es mir hauptsächlich in dem Moment.
 

„Meine... meine Tasche“, hauchte ich schließlich, froh darüber, dass mir etwas eingefallen war, womit ich den Zeit an dem ich in mein Zimmer musste, noch etwas hinauszögern konnte.

„Ah, Sie haben Ihre Tasche im Sprechraum vergessen?“, fragte die Frau mit einem mal freundlich.

Ich nickte.

„Wollen Sie, dass wir sie zusammen holen?“

Erneut nickte ich, atmete erleichtert auf, als wir noch einmal umdrehten und ich diesen Raum mit den angeschraubten Möbeln noch einmal entkommen war. Jedoch auch nicht für lange. Wir holten meine Reisetasche, die noch immer genau da lag, wo ich sie fallen lassen hatte, wobei etwas anderes meine Aufmerksamkeit viel mehr auf sich zog. Da lag eine Zigarettenschachtel auf dem Boden. Hatte die Oota-san verloren?

Es musste fast der Fall sein, denn sie lag neben dem Stuhl, auf dem der Kommissar gesessen hatte.

In einem Moment, in dem die beiden Pfleger durch ein Gespräch, das sie miteinander führten, unaufmerksam waren, hob ich die kleine Schachtel auf und steckte sie mit dem Rücken zu den beiden in eine Seitentasche meiner Reisetasche.

Dann wurde ich endgültig in mein Zimmer zurück gebracht.
 

Und da saß ich nun. Stocksteif auf dem Stuhl. Die Tasche stand vor mir auf dem Tisch, ich starrte sie an, als würde ich meditieren. Die Schultern hatte ich gehoben, ich war angespannt.

Schließlich streckte ich die Hand nach dem Reißverschluss aus und zog ihn auf. Da waren Anziehsachen für mich, das Buch, das ich gerade las und das auf meinem Nachttisch gelegen hatte. In ein Handtuch eingewickelt fand ich Zahnbürste, Zahnpasta, meine Haarbürste, Deo, Duschgel und Shampoo sowie Creme und sogar mein Handspiegel.

Eine jähe Welle von Dankbarkeit überkam mich dem Kommissar gegenüber. Er hatte wirklich an alles gedacht. Ordentlich räumte ich die Tasche aus, schob sie schließlich unter den Tisch und ordnete – froh darüber, dass ich eine Ablenkung gefunden hatte – meine gesamten Sachen auf die Tischplatte. Sorgfältig achtete ich auf eine gleiche Entfernung zwischen den einzelnen Dingen, sortierte die Klamotten nach Farben. Die Sachen fürs Bad, also Shampoo, Duschgel, Zahnpasta, etc. stellte ich immer etwas weiter nach unten versetzt in die Lücken zwischen den Stapeln. Den Mittelpunkt des Ganzen bildete die Zigarettenschachtel des Kommissars.
 

Von allen Seiten betrachtete ich mein Werk, krabbelte sodann unter den Tisch, setzte mich mit angezogenen Knien neben meine Tasche und schlang die Arme um die Knie. Ein paar mal wippte ich hin und her, dann nahm ich mir meine Tasche und durchsuchte jedes Fach aufs Genaueste. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich unter dem Tisch gerade sehr wohl, riss erfreut die Augen auf, als ich einen alten, grünen Filzstift fand.

Warum er da in der Tasche war und wie er da hingekommen war, wusste ich nicht. Aber das war ja nichts Besonderes. Ich hatte ihn da vermutlich mal hingeräumt, als ich ein Blackout hatte.
 

Mit dem Daumen schnippte ich die Kappe des Stifts davon, schaute ihr zu, wie sie etwa einen halben Meter von mir wegflog, mit einem Klappern auf dem Boden landete und noch etwas weiterschlitterte. Auf den Knien rutschte ich ihr hinterher, setzte mich an die Stelle, wo ich sie aufgehoben hatte, steckte sie wieder auf den Stift, schnippte sie abermals weg, krabbelte ihr wieder hinterher, nachdem ich ihr beim Fliegen und Fallen zugesehen hatte. Das wiederholte ich immer wieder, drehte so meine Runden durchs Zimmer.

Als der Deckel des Stifts irgendwann gegen die Wand des Zimmers flog, daran abprallte und dann zu Boden fiel, wurde ich auf die Raufasertapete aufmerksam.
 

Eine jähe Frage schoss mir durch den Kopf: Wie viele Fasern das wohl waren? Langsam erhob ich mich vor der Wand, berührte sie vorsichtig mit den Fingerspitzen, ertastete die feste Struktur des Materials der Tapete. Dann nahm ich mir den Stift zur Hand, ging zu einer Ecke des Raumes, begann die gut sichtbaren Fasern der Raufasertapete zu zählen. Auf jede schon gezählte vor ihnen machte ich einen kleinen grünen Punkt. Und alle zehn Fasern schrieb ich sorgfältig die aktuelle Zahl an die betreffende Stelle.

So lenkte ich mich ab und verbrachte den Rest des Abends mit Zählen. Als ich bereits an der zweiten Hälfte der Wand tätig war, hörte ich Schritte von draußen vor der Tür, schrieb rasch meine momentane Zahl auf die gerade gezählte Faser, ehe ich nach dem Deckel des Filzschreibers griff, der mitten im Zimmer auf dem Boden gelegen hatte und den Stift zustöpselte.
 

Gerade, als ich den grünen Stift zwischen meine Shorts und die Socken auf den Tisch drapiert hatte, scharrte ein Schlüssel im Schloss meiner Tür. Ich drehte mich um, erblickte die Pflegerin, die mich für geistig gestört hielt.

„Guten Abend, Matsumura-san!“, meinte sie freundlich und lächelte mich warm an. „Es ist Essenszeit. Kommen Sie.“

Diesmal war sie alleine, wie mir auffiel. Vielleicht waren sie doch darin übereingekommen, dass ich nicht gefährlich war.

Zusammen mit anderen, die offenbar auch auf meiner Station waren, ging ich zum Essen. Eine alte Frau neben mir sah mich lange und scheinbar weggetreten an, ehe sie zusammenzuckte und die Augen verdrehte.

„Mörder!“, zischte sie, schaute mich böse an, wandte sich dann von mir ab.

Mörder? Ich? ... ich.... ich konnte doch so was gar nicht! Ich wusste doch nicht wie!
 

Ein Schild zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es hing an einer Glastür, die wir gerade durchquert hatten.

Geschlossene Station stand darauf.

Sie hatten mich in die geschlossene Station gesteckt? Allmählich kam ich mir wirklich vor, wie in psychisch komplett verwirrter Massenmörder.

Dabei hatte ich doch gar nichts getan!
 

Das Essen an sich war okay, es gab mir ein Gefühl, das mir sagte, tatsächlich nahezu normal zu sein.

Ich saß neben einer Frau die sich mit ihrem Ramen unterhielt und einem Mann, der permanent versuchte, mir weiß zu machen, dass er die Reinkarnation von Hide war.

Aber er biss da auf Granit, denn ich sprach nicht, ignorierte alles um mich herum, konzentrierte mich wirklich nur auf mein Essen. Und das war gut so, wie ich feststellen durfte. Denn ich war mir hundertprozentig sicher, dass man, wenn man als Nichtverrückter hier her kam, zu lange verweilte und nicht auf Durchzug schaltete, selbst verrückt wurde. Und zwar schneller als man ‚normal’ sagen konnte.
 

Es wurde gewartet, bis jeder mit dem Essen fertig war, was tatsächlich länger dauerte, als ich gedacht hätte und dann wurden die Patienten aller Stationen wie kleine Schafherden auf ihre jeweilige Station in ihre Zimmer gebracht.
 

Diesmal betrat ich den Raum, ohne mich zu sperren, verspürte auch gar nicht die Angst vor Keiji, sondern eher Freude auf die Beschäftigung, der ich bis vorm Essen nachgegangen war und die jetzt auch wieder auf mich wartete.

Kaum, dass meine Tür verschlossen war, griff ich nach dem Stift, achtete dabei penibel genau darauf, dass ich keines der so ordentlich drapierten Dinge auf dem Tisch verrutschte, ehe ich meine Zählerei fortsetzte.

Alle hundert Fasern machte ich eine kurze Pause, um etwas nachzudenken. Und derjenige, um den sich meine Gedanken drehten, war nicht Keiji, sondern Oota-san.
 

Noch immer wurde ich nicht schlau aus ihm. Er war Kommissar, ja.... aber war das nun gut oder schlecht für mich?

Sein Auftrag war, den Mörder von Keiji zu suchen, zu finden und festzunehmen, damit er veranlassen konnte, dass der Übeltäter hinter Gitter kam.

Einerseits konnte ich mehr als froh sein, dass der Brünette da war und seinem Job nachging. So würde der Mörder schneller gefasst werden und ich musste nicht auch noch Angst haben, dass der Typ mir ebenfalls an den Kragen wollte.

Andererseits war ich wohl zwangsläufig auch tatverdächtig. Immerhin war ich mit Keiji zusammen gewesen, die Beziehung war alles andere, als harmonisch gewesen und ich wusste nicht mal mehr, was an dem Abend passiert war. Somit standen die Chancen wohl ziemlich schlecht für mich.
 

Ich nuckelte etwas am Deckel des Filzers, welchen ich zwischen die Lippen geklemmt hatte. Irgendwie verursachte die Tatsache, dass Oota-san sowohl gut, als auch schlecht für mich sein konnte, Angst in mir.

Andererseits hatte es aber auch einen gewissen Reiz.

Und so nebenbei: Oota-san hatte schon was.

Er war vermutlich nicht viel älter, als ich. Er sah gut aus. Und so, wie ich ihn bisher erlebt hatte und einschätzen konnte, hatte er eine sehr angenehme Art.

Aber ich wusste ja nicht, wie er war, wenn er zu Hause war. Außerdem: Woher wollte ich überhaupt wissen, dass er ebenfalls homosexuell war?
 

Mit zusammengekniffenen Augen schüttelte ich fest den Kopf, sodass meine Haare flogen und mir ins Gesicht schlugen.

Dann hauchte ich gegen die Spitze des Stifts, mit welcher man schrieb und zählte weiter die Fasern der Tapete. Sonst würde ich hier nie fertig werden.

Ich zählte weiter, bis es draußen stockdunkel war, bis ich von dem hellen Neonlicht an der Decke Kopfweh bekam.

Suchend blickte ich mich um, wollte wissen, wie spät es war, und wie lange ich hier jetzt schon war, wie lange ich schon zählte. Und ich wollte nicht mit meiner Angewohnheit brechen, um zweiundzwanzig Uhr ins Bett zu gehen.
 

Keiji hatte diese Angewohnheit immer lächerlich gefunden.

Er war meistens erst zwei bis drei Stunden nach mir ins Bett gekommen und wenn ihm danach war, hatte er mich geweckt, um mit mir zu schlafen. Wenn ich dazu mal Lust hatte, war er entweder nicht da, oder er war beschäftigt, oder aber, er wies mich aufgrund von Unlust ab. Der Akt an sich war zumeist auch nicht wirklich zärtlich gewesen. Es gab nicht viel Küssen oder Kuscheln, meistens war es einfach nur purer Sex.

Klar, körperliche Befriedigung hatte man da hinterher, aber die seelische nicht. Ich war aber ein Mensch, der viel Zuneigung und Anlehnung brauchte, das wusste ich. Ich wollte einfach nur gemocht werden, wie ich war.
 

Erst jetzt im Nachhinein fiel mir auf, wie viel ich mir von Keiji hatte gefallen lassen.

Dass er mich unterbutterte hatte ich ja gemerkt, aber es war für mich normal gewesen.

Und wirklich erst jetzt, da Keiji nicht mehr da war, jetzt, wo er nur noch eine Erinnerung war, jetzt da ich mir richtig bewusst machte, dass ich allein war, dass er mich nicht mehr bevormunden und schlagen und schimpfen würde, dass ich jetzt auf mich selbst gestellt war, fiel mir auf, wie ich die letzten Jahre eigentlich gelebt hatte.

Ich wandelte in meinem Zimmer auf und ab, schaute den Stift an, als währe er ein ernstzunehmender Gesprächspartner.

Sodann stellte ich mich auf den Stuhl und legte den Filzschreiber ordentlich auf den etwas vorstehenden, oberen Fensterrahmen. Nicht, dass noch jemand auf die Idee kam, ihn mir wegzunehmen, oder ihn für sich zu beanspruchen.
 

Vorsichtig griff ich nach meiner Zahnbürste und der Zahnpasta, sowie einem Handtuch.

Ich wollte mich Waschen und die Zähne putzen, bevor ich schlafen ging. Das hatte ich immer so gemacht und das wollte ich weiterhin so machen.

Etwas orientierungslos schaute ich mich im Zimmer um, in der Hoffnung, zumindest etwas Badähnliches zu finden, wo ich alle Geschäfte erledigen konnte, die man eben vor dem zu Bett gehen zu erledigen hat.

Doch ich fand nichts.

Mein Blick fiel lediglich auf einen roten Knopf, unter dem ein laminierter Zettel hing.

Bitte betätigen Sie diesen Knopf, wenn Sie die Hilfe eines der Pfleger benötigen, hieß es da.

Und ohne zu zögern drückte ich kräftig auf den Knopf. Immerhin brauchte ich jetzt Hilfe. Ich konnte nicht schlafen, wenn ich mich nicht vorher waschen und die Zähne putzen konnte.
 

Es dauerte nicht mehr lange und schon stand ein mir noch fremder Pfleger auf der Matte, der meine Tür aufschloss und mich freundlich fragte, was denn los sei.

„Ich möchte mich bettfertig machen“, sagte ich also und schaute ihn fest entschlossen an.

Er schenkte mir ein Lächeln, nickte, meinte, ich solle ihm doch bitte folgen, er würde mich in den Sanitärbereich begleiten.

Ich stimmte zu und ging ihm brav nach, wie ein Hund seinem Herrchen.
 

Alsbald waren wir in einem weiß gefliesten Raum, an dessen Wand einige Waschbecken hingen. Über diesen hing jeweils ein Spiegel und gegenüber von den Waschbecken und den Spiegeln waren saubere Toilettenkabinen und ein paar Pissoirs.

Ich trat an ein Waschbecken in der Mitte, stellte, bzw. legte meine Sachen dort ab und wollte mein Oberteil ausziehen. Doch irgendwie klappte das nicht so ganz, da der Verschluss hinten war und ich nicht rankam.

Sofort war der Pfleger zur Stelle und half mir, es auszuziehen.

Abermals bedankte ich mich und hängte das Leibchen an einen in die Wand eingelassenen Haken neben dem Spiegel und achtete darauf, dass ich es nicht nass spritzte, als ich mich wusch.
 

Sodann putzte ich mir die Zähne und betrachtete mich währenddessen im Spiegel.

Irgendwie sah ich mager aus. Und ich war blass. Und ich hatte dunkle Schatten unter den Augen, die noch etwas verquollen waren.

Den Pfleger, der schräg hinter mir an der Wand lehnte und mein Tun überwachte, vergaß ich ziemlich bald.

Genau genommen in dem Moment, in dem ich einen großen blauen Fleck an meinem Oberarm entdeckte.

Das war Keiji gewesen, als er mich vor ein paar Tagen brutal gepackt und fast zu Boden geworfen hatte. Das wusste ich noch. Und es hatte mir sehr wehgetan. Sowohl körperlich, als auch seelisch.

Aber jetzt würde mir so was nicht mehr passieren. Jetzt war kein Keiji mehr da, der mir wehtun und mich zusammenstauchen konnte. Jetzt war Keiji tot und ich war frei. Sozusagen.
 

Und irgendwie verflog alle Trauer aus mir und ich wurde richtig froh. Eine skurrile, makabere Freude ergriff Besitz von mir und verleitete mich dazu, mein Spiegelbild breit anzugrinsen, sodass mir Zahnpasta aus dem Mund lief und über das Kinn auf meine Brust tropfte.

Erschrocken zuckte ich zusammen, beugte mich ruckartig nach vorne, um mich nicht noch weiter zu besudeln, schlug mir dabei fast die Stirn an dem hoch geschwungenen Wasserhahn an.

Ich entfernte den Zahnpastaschaum sowohl aus meinem Mund, von meiner Brust und aus meiner Zahnbürste, welche ich an meinem Handtuch trocknete, nachdem ich dies auch mit meinem Oberkörper und meinem Gesicht getan hatte.

Einen Moment lang ließ ich alles stehen, um noch aufs Klo zu gehen.

Als ich aus der Kabine kam, hatte der Pfleger meine Sachen zusammengepackt und half mir in mein Oberteil.
 

Dann brachte er mich auf mein Zimmer und wünschte mir eine gute Nacht.

Ich erwiderte den Gruß und räumte all meine Sachen wieder ordentlich auf, wobei ich das Handtuch jedoch über die Lehne des festgeschraubten Stuhls hängte.

Als ich umgezogen im Bett lag, die Arme hinterm Kopf verschränkt hatte und ins Dunkel über mir starrte, kam mir der Name des Pflegers wieder in den Sinn, den ich auf einem Namensschildchen gelesen hatte, das an der Brusttasche seines Kittels hing.

„Suzuki Ren...“, murmelte ich leise.

Suzuki... hatte ich den Namen heute nicht schon mal gehört...?

Ein wenig überlegte ich noch, ehe ich mich umdrehte und mit einem wohligen murmeln einschlief.

Givin' a shit

Nachdem Akira an diesem Abend von seiner etwas saueren Freundin abgeholt wurde, die ihm während sie gingen eine Standpauke über verlorene Schlüssel und schwule beste Freunde hielt, putzte ich noch etwas weiter. Ich hatte die Wohnung von Matsumura-san noch genau in Erinnerung und bis auf die Blutflecken an der Wand und auf dem Boden war alles tadellos ordentlich gewesen. Entweder, der Blonde legte wirklich großen Wert auf Sauberkeit, oder aber er hatte wirklich den ganzen Tag nichts Besseres zu tun, außer zu putzen. Vermutlich war beides der Fall, denn auch, wenn er arbeitslos gewesen war, nicht viel Geld hatte und so gut wie den ganzen Tag alleine gewesen war, so hatte er sehr gepflegt gewirkt. Nicht, dass ich gegen alle Arbeitslosen ein Vorurteil von Unsauberkeit hatte, doch bei den meisten war es so. Sie hatten zu viel Zeit und zu wenig Geld, verfielen so der Ungewaschenheit, dem Alkohol oder anderen Drogen.
 

Nur Matsumura-san anscheinend nicht. Immerhin schien er ein echter Ordnungsfanatiker zu sein. Und weil er sich bei mir immerhin halbwegs wohlfühlen sollte, sollte es doch wenigstens auch halbwegs ordentlich sein.

Während ich mein Bett frisch bezog, da ich ihm dieses überlassen und selbst auf dem Sofa schlafen wollte, fiel mir ein, dass man vielleicht überprüfen sollte, ob dieser Keiji denn Arbeit gehabt hatte und wenn ja, wo.

Die Nachbarin hatte ja angedeutet, dass er die Wohnung zumeist früh morgens verlassen hatte und erst spät abends wieder zurückgekehrt war. Das sprach doch sehr für einen Job. Oder zumindest für etwas, was man aushäusig zu tun hatte.
 

Ich griff nach meinem Handy, rief Mayumi an.

„Ja?“, meldete sie sich nach einiger Verzögerung.

„Hi“, meinte ich und rückte sogleich mit meinem Anliegen heraus. „Hatte das Opfer einen Job?“

„Eh...“, Mayumi überlegte. „...soweit ich weiß, ja.“

„Wo?“

„Keine Ahnung.“

„Höchste Zeit, das herauszufinden.“

Sie stimmte zu und ich legte wieder auf. Ich war noch nie ein Fan von langen Telefongesprächen gewesen und das wussten meine beiden Gehilfen nur zu gut, weshalb sie mir meine Wortkargheit auch großzügig vergaben.
 

Ich schüttelte die Bettdecke auf und seufzte. Wenn wir nur genau wüssten, was sich an diesem Abend zugetragen hatte, wäre uns sehr geholfen. Gut, Matsumura-san und das Opfer hatten sich gestritten. Aber das half uns auch nicht weiter. Man konnte sich doch gar nicht so stark streiten, dass man jemanden umbrachte, wenn auch nur im Affekt. ... oder doch?

Konnte Matsumura-san das?

Nein. Meiner Meinung nach definitiv nicht. Aber ich hatte momentan auch wirklich keine objektive Ansicht mehr, was diesen ganzen Fall betraf. Immerhin hatte ich mich in den großen, blonden Schlanken verguckt.
 

Leise fluchte ich vor mich hin, stellte das Fenster schräg, ehe ich die benutzte Bettwäsche ins Bad trug.

Verdammt, diese Ermittlungen waren so was von schlampig! War eigentlich irgendwer schon mal auf die Idee gekommen, genauer nachzuforschen?! Was hatten Jun und Mayumi gemacht?

...Klar! Was war eigentlich mit Eriko-san?

Die wirkte da doch auch mit. Ich würde sie morgen gleich mal fragen. Nein. Noch besser: jetzt sofort.
 

Ehe ich jedoch auch nur einen Schritt in Richtung meines Handys machen konnte, klingelte dieses auch schon.

Ich nahm das Gespräch an.

Es war der Chef, Aoyama Kaito. Er bestellte mich sofort ins Revier, ich solle mich gefälligst beeilen, Eriko würde auch da sein, wir sollten unsere bisherigen Ergebnisse vergleichen. Ich stimmte zu, machte mich auch sogleich auf den Weg, nachdem ich noch einmal einen prüfenden Blick in meine Wohnung geworfen hatte. Es sah jetzt doch einigermaßen ordentlich aus. Also vorzeigefertig.

Ich warf mir eine Jacke über, lief die Treppen hinunter, nachdem ich abgeschlossen hatte und fuhr zum Revier.
 

Eine Viertelstunde später war ich da und Eriko und der Chef erwarteten mich bereits.

Ich grüßte einmal in die Runde und setzte mich dann auf den letzten freien Stuhl von insgesamt dreien.

Sogleich fing Eriko an, zu berichten, was sie herausgefunden hatte.

Und – auch wenn es mir gar nicht passte – ich musste sie kurz im Stillen loben, da sie exakt dort nachgeforscht hatte, wo ich noch nicht gewesen war.

Ich zückte also mein Notizbuch und meinen Bleistift und schrieb mir alles auf.

Das Opfer hatte einen Job gehabt und laut der Nachbarin in einer Firma gearbeitet, die Haushaltsgeräte herstellte. Er war dort bei den Promotionleuten tätig gewesen und hatte verschiedene Vorträge gehalten.
 

„... das hat mir einer seiner Bekannten, erzählt, den wir kontaktiert haben, nachdem wir das Handy des Opfers durchsucht hatten“, meinte Eriko und blätterte eine Seite in ihrem Notizbuch um. „Er stammt aus Amerika, ist aber schon seit 10 Jahren hier in Japan. Sein Name ist Rian Penver. Allerdings... müssen wir die Wahrheit bezüglich des Arbeitsplatzes des Opfers noch überprüfen. Dazu ist leider keiner mehr gekommen, aber das könnten ja Ihre beiden Gehilfen morgen erledigen, nicht wahr, Tsukasa-san?“

Ich blickte von meinem Büchlein auf, nachdem ich zuende notiert hatte und nickte.

„Das werde ich ihnen sagen, sobald ich rausgefunden habe, was die beiden heute den ganzen Nachmittag getrieben haben“, brummte ich, legte den Stift beiseite und lehnte mich mit verschränkten Armen zurück.

„Sie waren nicht am Tatort“, sagte Eriko und sah mich leicht tadelnd an. „Sie sollten besser auf sie aufpassen“, meinte sie dann eine Spur schadenfroh.

Ich hob eine Augenbraue und sah sie an.

Der Chef griff jedoch ein, indem er seine Hand hob. „Auch, wenn Sie sich nicht ausstehen können, werte Kollegen... es wäre schade, wenn das Einfluss auf Ihre Arbeit nehmen würde. Und Sie müssten die nachfolgenden Konsequenzen tragen.“
 

Nach einem kurzen Schweigen fuhr Eriko fort mit ihrer Berichterstattung, im Großen und Ganzen kam jedoch nicht mehr viel dabei raus. Und ich konnte mir durchaus vorstellen, dass das auch so bleiben würde, bis wir genau wussten, was sich an dem Abend zwischen dem Opfer und Matsumura-san zugetragen hatte.

Interessant wurde es jedoch wieder, als meine ‚Kollegin’ erneut auf den Bekannten des Opfers zu sprechen kam. Penver hatte nämlich so einiges über Matsumura-san erzählt.

„Er sagte, er sei unfähig, geistig zurückgeblieben und eigentlich nur auf das Geld des Opfers aus.“

„Welches Geld?“, warf ich ein. „Sie hatten so gut wie keins.“

Ungerührt fuhr Eriko fort. „Er schien Matsumura-san nicht sonderlich zu mögen... die Art wie er über ihn sprach erinnerte mich immer an die eines Sportlers, wenn er über einen Konkurrenten spricht, dabei aber versucht, neutral und freundlich zu klingen. Einen gewissen Unterton hört man immer raus.“

Auch das notierte ich.
 

„Tsukasa-san“, wandte sich der Aoyama sodann an mich. „Haben Sie etwas mehr herausgefunden?“

Ich seufzte lautlos, schüttelte dann den Kopf. „Leider nicht. Ich habe die Nachbarin vormittags noch etwas befragt, doch im Großen und Ganzen kam nur heraus, dass Matsumura-san und das Opfer am Abend zuvor einen Streit hatten, was aber laut der Befragten keine Besonderheit ist. Die Beziehung war offenbar nicht sehr harmonisch.“

Eriko-san beobachtete mich scharf, wie mir auffiel, ich ließ mir jedoch nichts anmerken, fuhr mit meiner Berichterstattung fort.

„Nachmittags, nachdem der Partner des Opfers aufgewacht war, besuchte ich ihn in der Psychiatrie und befragte ihn.“

„Er sagte aber nichts“, fiel mir Eriko ins Wort und ich verdrehte kurz die Augen über diese kindische Stichelei.

„Er sprach nicht viel, verriet mir seinen Namen, sein Alter, bestätigte, dass er arbeitslos ist und den Wohnort.“

„Mehr nicht?“, fragte der Chef überrascht nach.

„Dazu komme ich jetzt. Ich fragte ihn, wo er denn am betreffenden Abend gewesen war. Und es schien tatsächlich, als wolle er mir antworten. Doch er machte den Eindruck, als wisse er es nicht mehr. Darüber bin ich mir allerdings nicht ganz sicher. Ich werde ihn morgen-“
 

„Stichwort morgen“, fiel mir diesmal der Aoyama ins Wort. „Ich hoffe das, was Hiroshi-san mir erzählt hat, entspricht der Wahrheit?“

Eriko-san wurde hellhörig.

Ich nickte.

„Sie werden also morgen zu Matsumura-san in die Klinik fahren, damit Yamada-san ihn noch einmal untersuchen und einen Befund schreiben kann, um ihn aus der Psychiatrie zu entlassen.“

Ich nickte.

„Und Sie werden den Partner des Opfers zu sich nach Hause nehmen, damit sie ihn beobachten und weiter befragen können?“

Abermals ein Nicken meinerseits.

„Warum?“

Wie hatte ich diese Frage gefürchtet! Und jetzt hatte dieser Rücksichtslose Idiot sie auch noch gestellt.

Eriko-san stand – oder besser: saß – inzwischen Gewehr bei Fuß und wartete offensichtlich nur darauf, dass ich mich in irgendwas reinritt. Aber den Gefallen würde ich ihr nicht tun.

Ich überlegte einen Moment, ehe ich zu einer wohl bedachten Antwort ansetzte.
 

„Matsumura-san ist gänzlich verstört. Er steht unter Schock und ist psychisch sehr labil“, begann ich also, hob die Hand, als meine werte Kollegin mir schon wieder dazwischenfunken wollte.

„Ich weiß, das ist gemeinhin bekannt“, fuhr ich dann fort. „Ich – und auch Hiroshi-san – sind der Meinung, dass es für seinen Zustand nicht förderlich ist, wenn er weiterhin alleine in seinem Zimmer in der Psychiatrie bleibt. Das Personal dort ist offenbar mit seinem Zustand überfordert und wie ich das sehe, gehen sie gänzlich falsch mit ihm um. Ich möchte ihre Ausbildung und Erfahrung auf dem Gebiet keineswegs kritisieren oder in Frage stellen, aber ich bin mir sicher, dass Matsumura-san jetzt alles, aber kein Einzelzimmer in der Psychiatrie braucht.“

Der Chef nickte, Eriko-san war scheinbar etwas verblüfft. Warum auch immer.

„Er machte bei der Befragung den Eindruck, als hätte er ständig vor irgendetwas Angst, war angespannt und schien wie auf der Flucht. Auch die Nachbarin meinte, dass er wohl keine Freunde habe und wie es um die Familie steht, wusste sie auch nicht. Ansonsten hätte ich vorgeschlagen, Matsumura-san erst einmal bei Bekannten oder Verwandten unterzubringen, damit er nicht ganz alleine dasteht und jemanden hat, der sich um ihn sorgt und um ihn kümmert. Das fiel dann aber flach. So habe ich vorgeschlagen, den Partner des Opfers bei mir aufzunehmen und in diesem Sinne genauere Nachforschungen zu betreiben. Meiner Ansicht nach muss er erst Vertrauen fassen, ehe er wirklich anfängt zu reden. Und dann könnte man auch herausfinden, ob er wirklich eine Art Gedächtnislücke hat, oder ob er einfach nur nichts sagen will.“

Kurz zögerte ich, ehe ich noch etwas hinzufügte. Ich sprach allerdings direkt den Chef an, damit Eriko-san nicht auf die Idee kam, ihren Senf dazu zu geben.

„Und... Sie wissen ja, dass ich mich recht gut in Matsumura-san hineinversetzen kann, immerhin ging es mir vor etwas mehr als zehn Jahren genau so wie ihm. ...also... Sie wissen, was ich meine.“

Aoyama nickte ernst.

Dann gab er seinen Segen und ich war froh darüber. Wenigstens hatte ich mir nicht umsonst den Mund fusslig geredet. Allerdings gab mein Vorgesetzter noch zu bedenken, dass der Befund positiv ausfallen musste, ansonsten würde Matsumura-san in der Psychiatrie bleiben müssen.
 

Nach kurzer Zeit war die Besprechung geschlossen und ich blickte auf meine Uhr.

Bereits kurz nach Mitternacht.

Seufzend fuhr ich nach Hause, machte mich bettfertig und stellte fest, dass ich einen kleinen Denkfehler begangen hatte. Ich hatte mein Bett schon neu bezogen, obwohl ich noch eine Nacht gehabt hätte, bevor Matsumura-san kam.

Naja, jetzt war es auch zu spät, so konnte ich mich wenigstens daran gewöhnen... Ich nahm mir also eine Sofadecke und nächtigte auf der Couch.
 


 

Am nächsten Morgen begann mein Tag mit einem verblüffenden Erlebnis, als ich mein Büro im Revier betrat.

Ich öffnete die Tür, zog meine Jacke aus und als ich mich umdrehte und sie an die Garderobe gehängt hatte, erblickte ich durch die Glasscheibe wie Jun Mayumi dezent die Zunge in den Hals steckte.

Ich schlich mich also zum Büro der beiden und öffnete schwungvoll die Tür.

„Guten Morgen“, meinte ich und lehnte mich an den Türrahmen, genoss für einen Augenblick ihre erschrockenen Gesichter.

„...hi...Chef“, sagten sie etwas überfordert, nickten schüchtern.

„Ich darf mich doch kurz setzen“, sagte ich, wartete jedoch gar nicht auf eine Antwort sondern nahm auf dem Schreibtisch von Mayumi Platz, welcher eindeutig ordentlicher als der von Jun war. Und mir fiel auf, dass ich schon wieder so viel redete. Unwillkürlich musste ich an die Sprechperlen meines nicht vorhandenen Wellensittichs denken, vertrieb den Gedanken jedoch sogleich wieder.

„Nehmt doch auch Platz“, forderte ich die beiden auf und erhob mich wieder, als sie an ihren Schreibtischen saßen.

Ich stellte mich vor sie, verschränkte die Arme, überlegte einen Moment, ehe ich begann, zu sprechen.
 

„Ihr könnt mir doch sicherlich sagen, was ihr gestern Nachmittag so alles gemacht habt, nicht?“, fragte ich diplomatisch und blickte sie abwechselnd an.

Sie wurden rot, sagten nichts.

„Und... ich bin mir sicher, dass ihr irgendwas bahnbrechendes herausgefunden habt.“

Wieder Schweigen.

„Was mich noch interessieren würde ist: warum habt ihr mir von euren neu aufgedeckten Fakten nichts erzählt?“

Erneut machte ich eine Pause, ehe ich fortfuhr.

„Gestern beim Chef stand ich nämlich etwas dämlich da, als ich fast nichts zu berichten hatte.“

Noch immer keine Regung, keine Antwort. Die beiden tauschten lediglich einen unbehaglichen Blick aus.

Ich musterte sie genau, nahm jeden scharf unter die Lupe.

„Und wenn ihr gerade dabei seid... dann sagt mir doch auch gleich, woher dieser Knutschfleck auf Mayumis Hals kommt.“
 

Nicht, dass ich im Privatleben meiner beiden Gehilfen herumschnüffeln wollte, aber ich hatte da so eine Vermutung. Und wenn die zutraf, dann würde es aber ein gewaltiges Donnerwetter geben. Und das wussten die beiden Helden vor mir auch.

Ich zog mir einen der Besuchersessel heran, setzte mich darauf, überschlug die Beine, wippte ungeduldig mit dem Fuß.

„Tsukasa-san...“, begann Jun schließlich schüchtern. Ich blickte ihn an, zum Zeichen, dass ich hörte. „...hast du... also... wie lange bist du schon da?“

Ich atmete einmal tief durch, zu meiner eigenen Beruhigung, ehe ich antwortete.

„Lange genug.“

Mayumi biss sich auf die Lippe, Jun wurde blass.

Als weiterhin nichts kam, stellte ich ein paar wilde Vermutungen auf.

„Könnte es am Ende vielleicht sein... dass ihr euch einfach einen schönen Nachmittag gemacht habt, nachdem ich mit der Nachbarin fertig war und in die Mittagspause gegangen bin?“
 

Ich brauchte noch einige Zeit, bis ich die beiden dazu brachte, mit der Sprache rauszurücken. Schließlich schaffte ich es, indem ich Ihnen vermittelte, dass ich genau wusste, dass sie nicht mehr am Tatort gewesen waren.

„Wir... sind zu Mayumi gefahren“, sagte Jun schließlich. „Und...“

„Was da passiert ist, will ich gar nicht wissen. Ich kann es mir denken“, unterbrach ich ihn, stand auf.

Ich schloss die Tür zu ihrem Büro, kehrte wieder zu ihnen zurück.

„Es ist wunderschön für euch, dass ihr euch so prima versteht. Aber wenn man im Dienst ist, dann fährt man nicht einfach spontan nach Hause, um dort zu ficken!“, platzte es vulgär aus mir heraus. „Sex hin oder her, aber ihr hattet Arbeit zu erledigen! Ich weiß nicht, ob es euch entgangen ist, aber wir arbeiten an einem Mordfall!“

Sie nickten, murmelten ein leises „Ja“.

„Ja“, wiederholte ich. „Ja hilft mir jetzt auch nicht weiter! Keiner hat einen blassen Schimmer, was an dem Abend eigentlich passiert ist, keiner kommt auf die Idee, mal zu überprüfen, wie es mit Bekannten und Freunden von beiden Betroffenen steht, keiner ist schlau genug, vielleicht mal nachzufragen, wo das Opfer gearbeitet hat, keiner geht zur Spurensicherung, um die sichergestellten Dinge zu begutachten, keiner erkundigt sich nach dem Obduktionsbericht, den der Staatsanwalt angeordnet hat, keiner kommt auf die Idee, mich vielleicht zu fragen, was er machen soll, wenn ihm selbst nichts einfällt! Wie lange seid ihr jetzt hier im Dienst? Zwei Jahre oder erst zwei Tage? Ist das euer erster Mordfall? Ihr wusstet genau, dass ich zu Matsumura-san in die Klapse fahre, um mich dort umzusehen und ihn zu befragen. Und anstatt euch vielleicht um andere Dinge, die mit dem Fall zu tun haben, zu kümmern, oder euch vielleicht an Eriko-san zu wenden, fahrt ihr nach Hause und vögelt!“

Ich redete mich wahrlich in Rage.

„Von mir aus fickt euch die ganze Nacht die Seele aus dem Leib, aber tagsüber erwarte ich von euch, dass ihr zur Verfügung steht und dass ihr euch darum bemüht, den Fall zu lösen, so wie jeder andere auch! Ist das so schwer zu verstehen?“

„Tut uns Leid...“

„Ja, schön! Dann ist das natürlich was anderes!“, blaffte ich ironisch. „Ihr habt einen ganzen Nachmittag vergeigt, an dem man so viel hätte machen können! Ich dachte, ich hätte vielleicht zwei gute Gehilfen, aber ich habe anscheinend Teenager erwischt, die gerade entdeckt haben, wie toll Sex sein kann und dabei nach Möglichkeit auch noch vergessen, ein Kondom zu benutzen!“

„Tsukasa-san...“

„Nein Mayumi! Ich will keine Entschuldigung hören, ich will, dass ihr jetzt alles gebt, bis dieser verdammte Fall gelöst ist und bis alles – wirklich alles – in Betracht gezogen wurde, bis alles überprüft und nachgewiesen wurde!“

„Okay.“
 

„Ich werde Matsumura-san zu mir nehmen, um ihn besser beobachten und befragen zu können, was bedeutet, dass ich nicht so viel rumfahren kann, wie sonst.“

Ich machte eine Pause, verschränkte die Arme, blickte die beiden abwechselnd an.

„Ihr beide werdet heute überprüfen, in welcher Beziehung das Opfer zu Rian Penver stand, ob das Opfer eine Affäre hatte, ihr werdet bei der Firma des Opfers nachfragen, ob dieses wirklich dort gearbeitet hat, ihr macht mir Bekannte und Verwandte ausfindig, ihr fahrt noch einmal zu dieser Nachbarin und lasst euch den Abend ganz genau beschreiben und ihr seht euch die sichergestellten Dinge des Tatorts an, versucht einen Tathergang zu rekonstruieren, bei dem ihr zum einen in Betracht zieht, das Matsumura-san der Täter ist und bei dem ihr zum anderen in Betracht zieht, dass ein Fremder die Tat begangen hat. Beides detailgenau. Und wenn dieser Tathergang und alles andere, was ihr rausgefunden habt, dann ausführlich in den PC eingegeben und in ausgedruckter Form bei mir zu Hause auf dem Schreibtisch ist, könnt ihr langsam mal über Feierabend nachdenken. Und ich warne euch: das, was ich zu lesen erwarte, ist länger als 10 Seiten!“, damit drehte ich mich um und verließ den Raum. „Das ist das, was ihr gestern Nachmittag noch locker erledigen hättet können“, rief ich über die Schulter zurück, bevor sich auch nur einer beschweren konnte.
 

„Und du?“, rief mir Jun geplättet von der Fülle von Aufgaben hinterher, als ich mir meine Aktentasche schnappte und meine Jacke überwarf.

„Ich werde Hiroshi abholen, ihn zu Matsumura-san fahren, damit er ihn untersuchen und einen Befund schreiben kann und dann werde ich diesen Befund zum einen an den Chef und den Staatsanwalt weiterleiten und zum anderen an den Leiter der Psychiatrie, damit ich Matsumura-san zu mir nehmen kann. Und dann sehe ich weiter und werde mich bei euch melden, um zu sehen wie weit ihr seid.“

Ich öffnete die Tür zu unseren Räumen.

„Und wehe mir kommt zu Ohren, dass man euch in einem Café oder einem Restaurant gesehen hat, oder dass ihr irgendwas über mich lästert. Dann gibt es ein wirkliches Donnerwetter!“
 

Stinksauer schlug ich die Tür hinter mir zu und rannte fast in Hiroshi-san hinein, der wohl auf mich gewartet hatte. Er grinste mich an.

„Was haben die beiden angestellt?“, fragte er, als wir zu meinem Auto gingen.

Ich schnaubte, schüttelte den Kopf. „Das willst du nicht wissen. Aber wenn du willst, frag sie doch mal hinterher. Ich glaub, es ist ihnen eine Lehre, wenn sie es noch mal jemandem erzählen müssen.“

Der Arzt nickte, grinste noch immer.
 

Dann fuhren wir zur Psychiatrie, wo uns bereits ein freundlicher Pfleger erwartete, der uns zu Matsumura-san brachte.

Je näher wir dem Zimmer des Blonden kamen, desto nervöser wurde ich. Was, wenn er abblockte und Hiroshi keinen einzigen Aspekt herauskitzeln konnte, der für Matsumura-san sprach? Was, wenn der Befund ein Eigentor wurde? Was, wenn...?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (11)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Micawber
2013-02-23T02:02:53+00:00 23.02.2013 03:02
..ich will weiterlesen xD"
Bin jetzt nach Ewigkeiten mal dazu gekommen die letzten 3 Kapitel nachzulesen und jetzt wirds grade spannend ;3;" Ich würd auch wieder beta-lesen xD"
Von:  Vik
2009-09-20T19:47:48+00:00 20.09.2009 21:47
mensch!!! das nenn ich mal wieder ein kapitel *schmacht*
bin einfach so fasziniert von deiner geschichte :DD

bin schon gespannt wie das nächste zusammentreffen von den beiden sich ereignen wird! hui hui!!!
Von:  Micawber
2009-09-17T18:12:47+00:00 17.09.2009 20:12
*___*
Du weist ja das ich fan bin und der fakt dass ich schon bis kapitel 10 bescheid weis.... lässt den kommentar hier etwas kurz und einfallslos wirken, i'm sorry x°D
Von:  Vik
2009-09-14T19:54:48+00:00 14.09.2009 21:54
dein schreibstil ist genial!

hach karyu, allein in der psychiartrie... wein...
tsukasa hilf ihm :(!!!
Von:  Tricksy
2009-09-14T18:25:50+00:00 14.09.2009 20:25
karyu ;_;

SCHLUCHZ HEUL!
omg er tut mir so leid >-< du hast seine gedanken und gefühle richtig toll beschrieben
und tsukasa macht das schon richtig, wie er mit ihm umgeht ûu immerhin isser ja ein mensch
achja, das ende war wirklich toll ;__;
Von:  Micawber
2009-09-14T17:27:04+00:00 14.09.2009 19:27
sssssssssüß!!
Ou, Tsukasa tut mir leid aber ich hab so einen bösen verdacht +___+"....
Das Ende war Zucker, sehr schön geschrieben wirklich .0."

Von:  Vik
2009-09-13T16:34:36+00:00 13.09.2009 18:34
yuyu!
geniale story! tsukasa als kommissar *gg*
menno, armer karyu...
wo bleibt das nächste kapitel *zwinker* :DD??
Von:  Tricksy
2009-09-13T09:47:04+00:00 13.09.2009 11:47
yeah, tsukasa hat voll den durchblick ûu

GEHÖRT SO 8D

ich liebe die story, aba das weißt du ja schon XD
schön am ball bleiben
Von:  Micawber
2009-09-12T22:15:25+00:00 13.09.2009 00:15
Na holla, jetzt hab sogar ich endlich den durchblick wer wer ist
*lach*
schönes kapitel :3""
Und..ja... jetzt weis ich nichtsmehr zu schreiben, ich bin müde! x°D
Ya, und ich freu mich auf die nächsten Kapitel *_*"
Von:  Tricksy
2009-09-12T09:53:20+00:00 12.09.2009 11:53
O_O
fängt ja schon drunter und drüber an >-<
der sprung vom abend zum nächsten morgen gefällt mir sehr @.@ also dieser satz da
ach du weißt schon was ich meine

DU BIST MEINE MUSE! >___<
mach, dass du voran kommst!


Zurück