One-shot
28.Juli. Ich kann’s kaum glauben, wie schnell die Zeit vergangen ist.
Wie fast jeden Tag sitz ich auch heute im Park auf dieser kleinen Mauer. Unsere Lehrerin sagte früher wäre dort ein Gebäude gestanden. Das glaub ich ihr nicht.
Aber wen interessiert das auch schon? Es ist richtig gemütlich hier. Niemand stört mich. Nicht so wie zu Hause.
....Zuhause – was ist das schon? Ich bin froh, wenn ich mal nicht dort bin. Pa ist eh von morgens bis abends betrunken. Ma weint ständig. Gestern hat er sie wieder geschlagen. Aber sie ist doch selbst schuld, wenn sie nicht abhaut.
Die Luft ist stickig, wie jeden Tag im Sommer. Diese erdrückende Schwüle... Eigentlich stört es mich nicht. Aber heute ist es noch heißer als sonst. Im Radio hatten sie gesagt es gibt über 40°C. Gut möglich. Eigentlich hatte ich vor ein wenig Gitarre zu spielen, doch jetzt wo ich hier bin höre ich lieber den Zikaden zu. Ich schließe meine Augen, lehne mich nach hinten gegen die Mauer, die mir ein wenig Schatten gegen die brühende Hitze spendet. Seufzend streiche ich mir ein paar dunkelbraune Haarsträhnen aus dem Gesicht. Die Sonnenstrahlen fühlen sich schön an auf meiner Haut. Vielleicht wird sie noch etwas dunkler? Dabei mag ich die Bronzefarbe gerne. Es ist ein weicher, nicht zu heller und nicht zu dunkler Farbton. Richtig angenehm.
Ma sieht gegen mich aus wie ein Zombie mit ihrer blassen Haut. Pa ist dagegen beinahe Schwarz. Aber meine Farbe ist die perfekte Mischung.
Ich strecke mich, gähne einmal ausgiebig. Die Nacht war eindeutig zu kurz gewesen. Und zu laut. Hab sie wieder einmal am Bahnhof verbracht. So wie eigentlich immer, wenn Ma wieder geschlagen wurde.
Vielleicht sollte ich wieder nach Hause? Sie macht sich immer so viele Sorgen, wenn ich nicht da bin...
Aber andererseits...
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„WO WARST DU SCHON WIEDER?“
„Am Bahnhof“
„Hast wohl wieder Drogen genommen, wie?!“
„Lass mich in Ruhe, dummer Sack. Geil dich doch lieber wieder an deinen Billigpornos auf!“
„WIE REDEST DU MIT DEINEM VATER?!“
„So wies dir zusteht!“
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Ich hatte dafür einige Schläge kassiert. Diesmal wäre es vermutlich dasselbe, wenn ich nun wieder zurück gehen würde.
Ein leises Flattern neben mir lässt mich aufblicken. Ein Schmetterling trink von einer Blume, die neben mir steht.
„Du bist frei, nicht wahr? Das wäre ich auch gerne“
Ein Lächeln glitt über meine Lippen. Schmetterlinge waren doch wundersame Geschöpfe. So schön und zerbrechlich. Er muss sich keine Gedanken darum machen, wie er den morgigen Tag überleben wird. Er fliegt einfach auf eine Wiese, trinkt von den Blüten. Aber ich sollte mich nun zusammenreißen und mir ein wenig Geld beschaffen, um mir Essen zu kaufen. Es muss ja nicht viel sein, aber ein kleiner Happen zwischendurch wäre nicht schlecht. Ich schultere also meine Gitarre, verlasse den Park, in dem ich nun so viel Zeit verbracht habe und laufe zurück in ein belebteres Viertel. Schnorren ist nicht, also setze ich mich an den Straßenrand, beginne Gitarre zu spielen. Es dauert eine ganze Weile, doch bekomme ich tatsächlich so viel Geld zusammen, dass es für etwas Essbares reicht. Schnell packe ich meine Gitarre wieder in den Gigbag, laufe zu einem Convivi und kaufe mir dort eine Kleinigkeit. Wie gut, dass man sich dort immer alles aufwärmen lassen kann. So bekomme ich wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit. Trotz der Hitze ist das nötig.
Ob ich zurück in den Park sollte? Dort wäre es sicher angenehmer, als hier durch die belebten Straßen zu laufen. Andererseits könnte ich noch in irgendein Kaufhaus gehen und dort von den Probierständen kosten. So wäre mein Magen noch voller.
Genau das mache ich. Ich betreten einen dieser wundervoll klimatisierten Kaufhäuser, laufe dort durch die Regale. Hier und da nehme ich immer wieder was von den Verkostungsständen. Nicht alles schmeckt wirklich gut, aber es ist doch besser als nichts.
Genug probiert. Auf nach draußen. Wie eine Wand schlägt sich mir die Schwüle entgegen. Kommt es mir nur so vor, oder ist es tatsächlich noch heißer geworden? Vor dem Gebäude drückt mir jemand einen Fächer in die Hand. Perfekt. Ich wedle mir etwas Luft zu, während ich die Straße hinab laufe. Überall preisen Angestellte die Waren des Ladens an, in dem sie arbeiten. Was für ein lästiger Job. Was für ein Käfig. Im Gegensatz zu ihnen habe ich wenigstens noch den Platz meine Arme und Beine zu bewegen. Sie aber stecken zu Tausenden in einem winzigen kleinen Käfig, der kaum Luft zum Atmen lässt. Doch wäre das nicht auch etwas Schönes? Menschen um sich rum, die man liebt?
Ich blicke auf den Weg vor mir, kicke ein kleines Steinchen. Ich bin auf mich selbst gestellt. Freunde habe ich nicht wirklich. Sie würden mir auf der Suche nach Freiheit nur im Weg stehen. Vielleicht mag es grausam klingen, aber ist es nicht so? Wenn ich mich an einen Menschen binde, kann ich niemals frei sein. Ich muss mich nur auf mich selbst verlassen dürfen. Auf niemanden sonst. Wie der Schmetterling dort im Park.
Alleine ist er frei. Doch würde er, wie jene Schwarmtiere in einer Gruppe leben, wäre er darauf angewiesen, dass sie bei ihm sind. Einen Tag alleine würde er nicht überleben.
Ein wundersames Geschöpf.
Ich mache mich auf den Rückweg in den Park. Vielleicht ist er noch dort, trinkt von dem feinen Nektar aus den Blüten, schwebt von einer Blume zur anderen. Aber vielleicht hat er sich auch vom Wind forttragen lassen, ist nun ganz weit weg. Irgendwo, wo er noch nie zuvor gewesen ist.
Wie gerne würde auch ich meine Flügel ausbreiten und einfach abhauen. Irgendwohin, wo mich niemand kennt, wo ich noch nie zuvor gewesen bin.
Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen.
Ich wende mich also um, mache mich auf den Weg zurück zu meinen Eltern. Das Auto steht nicht vor dem Haus. Er ist wohl wieder in irgendeiner Kneipe. Trifft sich sehr gut.
Ich ziehe mir schnell saubere Kleidung an, packe ein paar Snacks für unterwegs zu meiner Gitarre in den Gigbag und schreibe Ma einen kleinen Brief, in dem ich mich herzlich von ihr verabschiede. Sie war mir immer sehr wichtig.
Zwei Stunden später stehe ich am Straßenrand, warte auf ein Auto, das für mich anhält.
Nun werde ich endlich frei sein. Frei, wie jener Schmetterling. Ich falte meine Flügel auf und fliege davon.
Das alles ist nun schon zehn Jahre her...
Ich sitze hier im Park, sehe den Schmetterlingen zu, wie sie ihre Runden über der Wiese drehen. Langsam mache ich mich auf den Weg zurück nach Hause.
Nichts als Lumpen tage ich an meinem Körper. Die Gitarre habe ich verkauft, hatte kein Geld mehr.
Ich klingle an der Wohnungstür. Mas Name steht daran. Sie öffnet die Tür, hat ein Lächeln auf den Lippen. Sie sieht so glücklich aus. Ob sie mich erkennt? Ich kann einen Blick in die Wohnung werfen. Es ist alles sauber und schön. Sie ist ihn wohl endlich losgeworden.
Kurz entfernt sie sich von der Tür, kommt dann mit etwas Geld und einer Tüte voll Lebensmittel wieder.
Ich verbeuge mich leicht, woraufhin sie die Tür schließt.
Du bist frei, Mama. Aber ich bin noch immer ein Schmetterling in Ketten...