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Vom Schreiben und Träumen

Eine Sammlung von Kurzgeschichten
von

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Willkommen in der inneren Wirklichkeit!

Heute stapfe ich auf dem Heimweg das erste Mal durch Schnee. Meine Schuhe sind nicht gefüttert und meine Fußzehen nass. Ich hasse dieses Dreckswetter und trampele den Schnee platt. Endlich endet der Feldweg und ich erreiche den Bordstein, der nicht gänzlich zugeschneit ist. Es kotzt mich an zu wissen, dass das Streuzeug im Profil meiner Sohle hängenbleibt und in wenigen Minuten drei Stockwerke unseres Treppenhauses zieren wird. Ab und zu klopfe ich die Sohle auf dem Bordstein ab, um diesem Unheil vergeblich entgegenzuwirken. Mir wird schnell klar, dass das nichts nützt, also blicke ich mit höchster Konzentration zu Boden und stelle mir die Aufgabe, dem Streuzeug so gut wie möglich auszuweichen. Die Feststellung, dass das unmöglich ist, tritt zu spät ein, nämlich geschätzt eine Nanosekunde vor dem Moment, in dem ich mit vollem Karacho gegen eine Straßenlaterne laufe.

Irgendein asiatisches Gedudel ertönt neben mir. Ich kühle meine schmerzende Nase mit der Hand und lasse mit gesenktem Kopf den Blick umherschweifen. Niemand scheint Zeuge meines peinlichen Auftritts geworden zu sein. Die, die es hätten werden können, stehen im Halbkreis um einen Typen, der die komische Musik angemacht hat. Er beginnt sich dazu grotesk zu bewegen. Ein totaler Freak.

Ich schüttele den Kopf und gehe weiter. Warum ausgerechnet ich?
 

Am nächsten Tag trotte ich auf dem Heimweg den Bordstein entlang und versuche aufmerksamer zu sein, um nicht schon wieder Bekanntschaft mit einer Straßenlaterne zu machen. Ich höre das Schlitzaugen-Gedudel bereits von Weitem. Der Freak von gestern ist wieder da. Ich weiß nicht, warum, aber diesmal bleibe ich stehen und schaue ihm ein wenig zu. Er trägt so eine merkwürdige Hose, die man immer an Sumōringern sieht, und ist von oben bis unten komplett weiß geschminkt. Die knochige Statur und der kahlrasierte Kopf erinnern mich prompt an die Geister aus diesem miesen Horrorfilm ›The Grudge‹. Wenn ich ihn mir so ansehe, wie er sich gespenstisch langsam zu der Musik bewegt, seine Gelenke verbiegt und den Rücken verkrümmt, sodass die Umrisse seiner Wirbelsäule hervortreten, muss ich an eine glitschige Kaulquappe denken, die an Land gespült wurde und erbärmlich dahinvegetiert. Er verzieht den Mund zu einem stummen Schrei und runzelt die Stirn. Wie kann man nur halbnackt im Winter in aller Öffentlichkeit so ein Affentheater veranstalten? Einfach abstoßend.

Ich ziehe Luft durch die Zähne und trotte weiter. Die Schule war scheiße, denn ich konnte meinen Blick nicht von ihm nehmen. Warum ausgerechnet er? Dabei habe ich noch nie mit ihm gesprochen. Und das soll auch so bleiben.
 

Drei Tage sind vergangen, und als ich auf meinem Heimweg den Bordstein entlanggehe, sehe ich wie an den Tagen zuvor den geheimnisvollen Tänzer. Ich bleibe vor ihm stehen, lausche den orientalischen Klängen und beobachte das Schauspiel. Mit geschmeidigen Bewegungen folgt er dem Takt der Musik, hebt den Arm in die Luft und spreizt die grazilen Finger. Er streckt den Oberkörper durch, und das fahle Licht der Straßenlaterne hebt die Konturen seiner Rippen hervor. Plötzlich sinkt er in die Knie, greift sich an den Kopf und verzieht den Mund zu einem stummen Schrei. Er verkrampft die Brauen und legt die Stirn in Falten. Endloses Leid zeichnet sich auf dem verzerrten Gesicht ab. Der schwarze Himmel ummantelt den weißgeschminkten Körper. Ein Tanz der Finsternis.

Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen. Mir stockt der Atem und mein Herz schlägt schnell. Ich wickele meinen Schal enger um den Hals und gehe weiter. Ich will mit ihm sprechen, aber ich weiß nicht, ob es richtig ist. Ich fürchte mich davor. Aber wenn ich noch länger warte, platze ich.
 

Fünf weitere Tage sind vergangen, und ich habe mir den Tanz nicht ein einziges Mal entgehen lassen. Heute laufe ich auf dem Heimweg mit zielstrebigen, großen Schritten den Bordstein entlang und werde immer schneller, als ich die angespielten Saiten aus der Ferne höre. Endlich komme ich an und bleibe wenige Meter vor dem Tänzer stehen. Mit geballten Fäusten folge ich dem eleganten Schauspiel und lasse mich mitreißen. Die weiße Haut scheint im Licht der Straßenlaterne zerbrechlich wie Porzellan, und ich möchte sie berühren. Die zugekniffenen Augen entlassen Tränen, die die Wangen entlangfließen und ein Rinnsal bis zum Kinn hinunter bilden. Mir wird schwindelig und ich kralle die Finger in den Stoff meines Mantels. Der Blick des Tänzers kreuzt meinen. Ich sehe ihn. Ich erkenne ihn. Plötzlich sehe ich mich. Ich reiße die Augen auf und taumele ein paar Schritte zurück.

Der Tänzer beendet den Tanz und durchbohrt mich mit seinem Blick. Dann lächelt er und verbeugt sich vor mir. Ich fühle mich wie versteinert und ertappt von mir selbst. Krampfhaft lächele ich zurück, wende mich ab und setze meinen Heimweg fort. Kalte Luft durchrauscht meine Lunge und meine Muskeln entspannen sich. Ängste und Zweifel sind verflogen. Ich werde ihn ansprechen.
 

Am nächsten Tag eile ich auf meinem Heimweg den Bordstein entlang und warte auf die orientalischen Klänge aus der Ferne. Sie bleiben aus. Der Tänzer ist nicht mehr da.

Ich versenke die Hände in den Manteltaschen. Ich atme tief ein und grinse die Straßenlaterne an.

Morgen bin ich mit ihm verabredet.
 

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Boah, das war schwerer zu schreiben, als es wirkt. Dx

Na, wer errät, um welchen Tanz es sich handelt? Tipp: Es ist ein japanischer, unkonventioneller Tanz, ich schätze, so gut wie niemand kennt ihn... aber es gibt im Text ein paar Schlagworte, die man googlen könnte, um sofort auf den Namen zu stoßen. ^.-
 

Liebe Grüße,

Fujouri



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