Camillo~
Sie blickte nach links und nach rechts, die Augen weit aufgerissen um mehr sehen zu können, was bei den starken Regen aber alles Andere, als möglich war.
Ihre Beine trugen sie hektisch durch die nun menschenleeren Straßen, während sie mit jeden Schritt schneller wurde. Es dauerte nicht lange und sie stolperte über ihre eigenen Füße.
Ihre Lieblingsstrumpfhose riss am rechten Knie auf, als sie unangenehm auf den harten Boden aufschlug. Es blutete schlimmer als sie gedacht hätte, doch sie schaffte es die Blutung zu stoppen, indem sie ein großes Stück Stoff von ihrer nun sowieso schon kaputten Hose abriss und es sich ums Bein wickelte.
Der Regen hatte sie völlig aufgeweicht, ihre sonst immer so gestylten Haare hingen nass und klebrig bis über ihren Rücken, Wasser lief über ihre Schultern und in den Ausschnitt.
Sie frohr erbärmlich in der brechenden Kälte und bereute es, nur ihre dünne Strickjacke über ihren pinken Tshirt und die Strumpfhose ohne Socken angezogen zu haben. Ihre Chucks waren völlig durchnässt, ihre Finger klamm, ihre Füße taub. Sie wunderte sich, dass sie überhaupt noch richtig laufen konnte. Ihr Blick fiel auf ihre Handyuhr. Drei Uhr morgens. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie diese Nacht nicht überleben, spätestens wenn jemand merkte, dass sie nicht im Bett war, würde es Ärger geben. Gewaltigen Ärger. Doch sie fand ihn nicht. Sie fand ihn einfach nicht. Vielleicht war er schon wieder weg? Doch das konnte sie sich nicht vorstellen. Warum auch? Er brauchte sein Geld und er würde es sich auch holen, so wie sie ihn einschätzte. Trotzdem war er nirgends aufzuspüren. Oder hatte sie ihn wegen den vielen Regen einfach nur übersehen? Das war auch ausgeschlossen. Sie war bald an der Stelle, wo sie ihn vor nur ein paar Stunden seit Langem wiedergesehen hatte. Als sie die Stelle erreichte, war er verschwunden. Womöglich weiter hinten in den Gassen. Und wenn sie einfach nach ihn rief? Mit Mühe und Not schaffte sie es sich in eine der nebenliegenden Gassen zu quetschen. Von dort aus gelang sie in eine breitere Nebenstraße.
"Camillo?"
Keine Antwort.Wenn er schon weg war, wäre sie ganz schön angeschissen gewesen. Sie tappste weiter in die Gasse hinein. Wasser hagelte auf ihren Körper, sie zitterte.
"Camillo!"
Sie erschrak sich, als sie sah, wie sich etwas in der Dunkelheit bewegte. Aber es kam nicht auf sie zu, sondern schien vor ihr zu flüchten. Sie rannte los, wurde aber wieder langsamer, als sie nur noch zwei Meter von der Person entfernt war. Er war wirklich so hell, dass er in der Dunkelheit zu leuchten schien.
"Warte mal, ich muss mit dir reden."
Er blieb stehen, sagte aber nichts.
"Du bist doch Camillo, oder?"
"Ich frage mich, wer das denn wissen will."
"Ich wills wissen. Bist du es, oder nicht?"
Er drehte sich um, in der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen.
"Ich hab jetzt keine Zeit, können wir das nicht verschieben?"
Er drehte sich um und wollte gehen, doch sie packte ihn am Arm, der nicht weniger nass war, als der ihre und hielt ihn fest. Seine Haut war ungewöhnlich warm, was sie bei dieser Kälte nicht erwartet hätte und er selbst schien auch nicht zu frieren.
"Es ist wichtig! Bitte!"
"Wer bist du eigentlich? Kenn ich dich?"
Diese Fragen verunsicherten sie.
"Verarsch mich nicht. Du hast mich vorhin noch mit Shin gesehen!"
"Shin? Welcher Shin?"
"Tu verdammt nochmal nicht so! Der Shin der dir ne ganze Menge Geld schuldet."
Er riss sich von ihr los.
"Ach der Shin. Ja und? Bist du deswegen hier?"
"Ja. Ich will seine Schulden begleichen."
"Hast du Geld?"
"Nein, aber-"
"Vergiss es."
Er drehte sich um und ging nun tatsächlich, doch sie ließ nicht locker und rannte hinterher.
"Bleib stehen!"
Er machte keinerlei Anstalten und noch immer prasselte der Regen auf sie ein.
"Verdammt nochmal, bitte!"
"Ich dachte, es wäre alles geklärt."
"Nein, ist es nicht! Ich kann dir was anderes geben."
"Achja? Was soll das denn sein?"
Mit zittrigen Fingern zog sie eine Flasche mit bernsteinfarbiger Flüssigkeit aus ihrer Tasche. Da Camillo nicht erkennen konnte, was sie da in der Hand hielt, schraubte sie kurz den Deckel ab und ließ ihn den Geruch einatmen, woraufhin er ein Stück näher kam.
"Ich weiß von deiner Alkoholabhängigkeit. Wenn du Shin in Ruhe lässt, bekommst du jede Woche eine."
Seine Finger berührten schon die Flasche, doch er zog sie wieder zurück.
"Verarsch mich doch nicht."
"Ich habe keinen Grund, das zu tun."
"Achja? Beweis es mir."
"Wie denn?"
Sie drückte ihn die Flasche in die Hand, die, wie sie jetzt bemerkte, leicht zitterte.
"Nimm ruhig, ich trink sowas nicht."
"Und was ist der Haken?"
"Der Haken? Du lässt Shin einfach in Ruhe, okay?"
"Magst du ihn?"
"Wäre ich sonst hier? Er ist mein bester Freund."
"Dieses Mögen meinte ich nicht."
"Welches dann?"
"Tu nicht so dumm. Du bewegst dich gerade mit heißen Füßen auf sehr dünnen Eis..."
"Was meinst du damit?"
Bildete sie sich das nur ein, oder war er näher gekommen? Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.
Ein leises Klackern verriet ihr, dass er gerade die Flasche auf den Boden abgestellt hatte. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, wusste sie in dem Moment genau, was er tat.
"Das ist auch der Grund, warum ich Shin nicht besonders mag. Er macht mich ganz schön eifersüchtig."
"Was willst du?"
Sie wich ein paar Schritte zurück und spürte die harte, nasse Backsteinmauer in ihren Rücken. Weiter kam sie nun nicht mehr.
Auf einmal war er noch näher. Er roch gut, das musste die zugeben. Und sie selbst wusste auch, dass sie ihn schon ein bisschen verfallen war. Doch das ging ihr zu schnell. Doch dann durchzuckte ein sanfter Schauer ihren Körper, als er mit seinen Lippen ihren Hals berührte und mit den Händen über ihre Tailie strich, während der Regen auf sie niederprasselte und Wasser an ihrer Haut runterlief. Die Kälte schien zu einem Feuerball zu gerinnen, der sich in ihre Lungen einbrannte, sodass sie kaum noch Luft bekam, seine Lippen waren jetzt nur noch Millimeter von den ihren entfernt-
Sie stieß ihn mit aller Kraft von sich.
"Spinnst du? Notgeil und alkoholabhängig, das sind mir die Richtigen!"
Sie richtete ihre Klamotten und schüttelte die Haare aus dem Gesicht.
"Denk an unsere Abmachung! Nächsten Mittwoch bekommst du die nächste Flasche und dafür lässt du Shin in Ruhe, kapiert?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte sie sich aus der Gasse und lief, so schnell sie nur konnte die Straßen entlang, zurück.
Inzwischen war er halb fünf Uhr morgens.