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Cold Case

Anthologie
von

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Cold Case - Frühling. Um was es geht

„Es geht nicht um Sie, Scotty. Und auch nicht um Alyssa.“

Pause.

Wohl überlegt. Sie wusste, wie man Spannung erzeugte. Wie man schockierte.

Alyssa.
 

Scott Valens stellte nicht zum ersten Mal in seinem Leben fest, dass Lilly Rush die Gabe besaß, jene Dinge auszusprechen, die er sich selbst nicht eingestand. Nicht eingestehen wollte. Ging es nur ihm so? Mit großer Wahrscheinlichkeit war er nicht der Einzige, der sich immer wieder von ihrer Intuition überraschen ließ.

Die Luft im Büro schien plötzlich zu dick – nicht atembar. Alyssa. Selbst nach all den Jahren ließ dieser Name sein Herz noch immer stocken und der dumpfe Schmerz legte sich wie ein Ring um ihn.

Alyssa.

Seine beste Freundin, seine Gefährtin, seine Geliebte... Seine einzige wirkliche Begleiterin seit einer Zeit, an die er sich nicht mehr zurückerinnern konnte. Und seit Jahren auch wieder nicht mehr so wirklich. So lebhaft er auch ihr Bild – ihre dunklen Augen, unergründlich tief, ihre lockigen Haare, weich wie Samt, den süßen Geschmack ihrer Lippen, den Duft ihrer Haut – noch in sich tragen mochte, so lebhaft der Gedanke an sie auch war. Nichts änderte die Tatsache, dass sie selbst alles andere als lebendig war.

Alyssa war tot.

Seit über fünf Jahren.

Und noch immer weigerte sich sein Kopf, zu glauben, dass ihr Verschwinden und ihr Tod von ihr selbst geplant gewesen sein sollte. Alyssa hätte ihm so etwas niemals angetan.

Woher weißt du das, sagte die leise und verhasste Stimme in seinem Inneren. Alyssa wusste manchmal nicht mehr, was sie tat. Sie war nicht mehr sie selbst. Wenn sie beschlossen hat, nach draußen zu gehen, nur mit einem Pullover bekleidet, dann hat sie das auch getan...

Und nicht beachtet, dass draußen Schnee lag. Oder vielleicht gerade deshalb? An der Brücke waren ihre Fußspuren zugeschneit. Nichts wies darauf hin, dass sie hier hinuntergestürzt war. Ihren geschundenen, erfrorenen Körper fand man nie. An dem Abend war sie einfach verschwunden, ungeachtet der Tatsache, dass es 10° unter Null war, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen, ohne ihn anzurufen. Sie war einfach verschwunden.

Nein. Nicht Alyssa.
 

Zäh floss der morgendliche Berufsverkehr an ihm vorbei.

Ein neuer Tag begann in Philadelphia, das Leben ging weiter. Die Menschen gingen ihrer Arbeit nach. Niemand sah sich nach dem hochgewachsenen Mann um, der scheinbar ziellos die Straße entlangwanderte, in dem dunklen Mantel, der ihn zu einem Teil der anonymen Masse machte. Scotty war das nur Recht.

Lils Worte geisterten ihm noch immer im Kopf herum – nun schon seit dem Wochenende. Seit Freitag, genauer gesagt, seitdem er sich geweigert hatte, den Fall auf sich beruhen zu lassen. Sein Instinkt hatte ihm gesagt, dass da mehr war. Nicht nur eine Frau, deren Geist sich verwirrte – wie er dieses Wort hasste. Nein, da war eindeutig mehr gewesen. Er hatte Recht gehabt. Aber langsam begann er sich zu fragen, ob es wirklich sein Instinkt gewesen war oder nicht doch etwas anderes. Aber wenn, dann was? Selbst, nachdem er das gesamte Wochenende Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken – er hatte noch immer keine Lösung gefunden.

“Es geht hier nicht um Sie, Scotty. Und auch nicht um Alyssa.“

Ihre Worte liessen ihn einfach nicht los – so hartnäckig wie diejenige, die sie geäußert hatte. Wie kam es, dass er sich sogar noch heute, Tage später, an jedes ihrer Worte, an jede Geste, jeden Blick erinnern konnte, mit dem Lil ihn bedacht hatte? Wahrscheinlich lag es ganz einfach daran, dass sie von Alyssa gesprochen hatte. Er konnte sich nicht erinnern, dass Lil jemals von ihr gesprochen hatte.
 

Sein Magen knurrte.

Ein Blick auf die Uhr bestätigte Scotty, was sein Körper längst schon wusste: es war langsam an der Zeit, ein kleines Frühstück zu sich zu nehmen. In Eile hatte er heute Morgen seine Wohnung verlassen, hatte nur eine schnelle Tasse Kaffee hinuntergestürzt. Am liebsten hätte er sich in eines der kleinen Cafés gesetzt, die den Boulevard säumten. Leider hatte er eine Verabredung... Aber Lilly Rush würde es sicher nichts ausmachen, wenn er sich zuvor einen Donut und einen heißen Kaffee besorgte. Es wurde deutlich heller, jeden Morgen... Aber dass es langsam Frühling wurde, bedeutete nicht, dass es schon morgens frühlingswarm war. Eine heiße Tasse Kaffee würde jetzt genau das Richtige sein. Schließlich waren sie nicht zum Frühstück verabredet. Sondern schlicht dienstlich.
 

Ein Problem am Schlange stehen war, dass man einfach nichts zu tun hatte. Man konnte zwar zum Hundert ersten Mal die Speisekarte und die Preislisten an den Wänden studieren, aber Scotty war anderweitig abgelenkt. Man hatte einfach zu viel Zeit zum Nachdenken. Und heute liessen ihn selbst die kleinsten Andeutungen an seine Partnerin wieder ins Grübeln verfallen.

Alyssa.

Alyssa hatte Lil gemocht. Ein Mal hatten sie sich getroffen, danach vielleicht noch öfter, ohne sein Wissen. Er wusste es nicht. Er hatte es verhindern wollen. Alyssa hatte sich durchgesetzt. Hatte er ernsthaft geglaubt, Lilly Rush würde nicht verstehen?

“Ich mag sie“, hatte Alyssa ihm an dem Abend lächelnd gesagt. “Sie ist schön. Und sie ist...“ „Stark“, hatte er erwidert, ohne nachdenken zu müssen. Stark – das erste Wort, das ihm einfiel, wenn er an seine Partnerin dachte. Das erste Attribut, welches ihm in den Sinn kam, wenn es um sie ging. “Stark?“ Alyssa runzelte angestrengt die Stirn, verzog ihr Gesicht zu der vertrauten Grimasse der Konzentration. Er liebte sie so sehr... “Stark...“ Sie schien das Wort zu testen, zu schmecken, ob es dasjenige war, welches sie suchte. “Nun... Nein.“ „Nein?“ “Nein.“

Und dann lachte sie. “So siehst du sie also? Nun – es ist nicht weiter wichtig.“

Wie immer hatte sie Recht gehabt.

Er hatte die Gelegenheit gehabt, Lilly Rush näher kennenzulernen. Hatte miterlebt, wie sie verletzt wurde und verletzte – mit Worten. Ihrer schärfsten Waffe, die sich so leicht auch gegen sie selbst richtete. Und auch durch Taten: Wie sie angeschossen wurde. Wie sie schoss. Um der Gerechtigkeit Willen. Dabei war ganz sicher keine Gerechtigkeit im Spiel gewesen, als sie selbst um ihr Leben hatte kämpfen müssen. Wie lange hatte sie den Anblick ihrer Dienstwaffe, ja sogar den eines schlichten Halfters, nicht ertragen? Wie lange war sie zusammengezuckt, wenn im Raum etwas knallte?

Sie hatte immer noch Alpträume.
 

Warum machte er sich jetzt Gedanken um Lilly Rush?

Wütend über sich selbst schüttelte Scotty den Kopf und nahm sich vor, aufzuhören, über sinnlose Dinge nachzudenken. Vielleicht sollte er beginnen, Sport zu treiben... Es würde ihn ganz sicher von solchen Gedanken erlösen.

„Einen schwarzen Kaffee ohne Zucker und zwei Donuts mit Zimt.“

„Kommt sofort.“
 

“Hier geht es nicht um Sie, Scotty. Und auch nicht um Alyssa.“

Natürlich war es bei dem Fall nicht um Alyssa gegangen. Was hatte sie ihm da vorgeworfen? Es sprach nicht gerade für sie, dass sie solche Kommentare einfach nur in den Raum warf. Vielleicht sollte er sie darauf hinweisen. Es war schließlich kein Fall gewesen, der mit Alyssas Verschwinden vergleichbar gewesen wäre.

Nancy Peters war eine einsame, verängstigte junge Frau gewesen, mit einer Menge Talent zum Schreiben – in einer Zeit, in der Frauen nun einmal nicht schrieben. Sie war von ihrem Ehemann ermordet worden – nachdem er versucht hatte, sie mit Hilfe der Haushälterin in den Wahnsinn zu treiben, ihr vorzugaukeln, dass sie den Verstand verlor... Nein, Nancy Peters und Alyssa hatten nichts gemeinsam.

Wie war Lil nur darauf gekommen, sie zu verbinden?

Es war wahrscheinlich wieder eine ihrer fixen Ideen gewesen. Er hatte oft genug erlebt, wie sie jene Technik im Verhör anwandte: in dem sie so tat, als hätte sie den Angeklagten durchschaut. Als wüsste sie, was er dachte, an was er dachte, und an wen er dachte... Und sobald dieser auch glaubte, sie habe ihn durchschaut, hatte sie gewonnen.

Lil war gut.

Sie war brillant – ohne Zweifel. Beinahe wäre Scotty auch auf ihren Trick hereingefallen.
 

„Morgen, Scotty“, sagte neben ihm Lils Stimme und er fuhr ertappt herum. Beherrschte sich noch rechtzeitig, um nicht laut zu fluchen, als heißer Kaffee aus dem Becher herausschwappte und ihm auf die Hand spritzte.

„Und dabei haben diese Dinger schon einen Deckel“, kommentierte seine Partnerin.
 

“Warum nennt ihr Lil eigentlich deine Partnerin?“, fragte Alyssa. “Will und Nick arbeiten doch auch zusammen, aber niemand spricht von Partnern.“

Ja, genau, Alyssa. Warum? Warum, Lil? Scotty musste passen: er hatte keine Ahnung. Warum waren sie alle Kollegen, aber Lil seine Partnerin?
 

„Guten Morgen“, sagte er stattdessen und betrachtete sie genauer, während er einen Schluck von dem heißen Kaffee nahm, sich beinahe die Kehle verbrannte und sich weigerte, das zu zeigen.

„Gut geschlafen?“

Der Blick aus ihren grauen Augen war vernichtend und sprach für sich selbst. Scotty konnte sich ein kleines, selbstgefälliges Grinsen nicht verhindern: seine eigene, kleine und – wenn er zugab – nicht sehr befriedigende Rache für die Grübeleien, die sie ihm tagtäglich bescherte. Schnell unterdrückte er es zusammen mit der Aufwallung des Schuldgefühls, welches immer aufkam, wenn er sie so sah.

Lil warf einen Blick auf den Becher in seiner Hand.

„Gute Idee. Ich hole mir auch eben noch einen.“

Und schon war sie, elegant wie eine Raubkatze, in der Menge der morgendlichen Passanten untergetaucht.
 

Scotty betrachtete das Treiben um ihn herum, bis sie so schnell wieder vor ihm stand, wie sie verschwunden war. In ihrer Hand dampfte der Kaffee in den frischen Frühlingsmorgen hinaus.

„Sollen Wir?“, fragte sie, aber er antwortete nicht.

Wie magisch wurde sein Blick vom Hinterkopf einer Frau nicht weit vor ihm angezogen.
 

Braunes, lockiges, schulterlanges Haar, eher unordentlich hochgesteckt...

Schmale Schultern und eine robuste, wenn auch kleine, Statur...

Hände, die sich beim Sprechen mitbewegten, nie stillzustehen schienen...
 

„Was ist?“, fragte Lil und folgte seinem Blick mit gerunzelter Stirn. Scotty brachte kein Wort heraus. Nur ein Wort entkam seinen Lippen.
 

„Alyssa...“
 

Dann drehte sich die Frau um.
 

Scotty nahm die Welt um sich herum erst wieder war, als Lil ihre Hand sacht auf seinen Arm legte.

„Das ist nicht Alyssa, Scotty. Sehen Sie doch.“
 

Das tonnenschwere Gewicht der Luft legte sich wieder auf seine Schultern. Der Lärm der Straße drang aus allen Richtungen auf ihn ein. Scotty stand da wie angewurzelt. Erst langsam, eine ganze Zeit nach dem Hören und Sehen, wurde ihm auch die Kälte wieder bewusst... Und die Wärme einer kleinen, zarten Hand, die auf seinem Arm lag. Weil sie das einzige war, was ihn gerade hielt, drehte er sich mit Mühe um und versuchte, den Besitzer der Hand ausfindig zu machen.

Lil.

Sie zog ihre Hand weg, als sie merkte, dass er sie ansah, dass er die Welt wieder wahrnahm. Sie fragte nicht, was. Und nicht warum. Sie sah ihn nur prüfend an.

„Es ist spät“, sagte sie schließlich. „Wir müssen los.“

Und als sie sich sicher war, dass er ihr folgte, setzte sie sich in Bewegung. Eine Zeit lang lief er hinter ihr her, seinen Blick auf ihren geraden Rücken vor sich gerichtet, nichts anderes wahrnehmend als die feinen Schulterblätter und das Wippen ihres Pferdeschwanzes während sie ging. Der Rest seines Verstandes, der noch korrekt arbeitete, arbeitete verzweifelt, um etwas zu sagen, etwas...

Er öffnete gerade den Mund, um auszusprechen, wovon er noch nicht wusste, was es sein würde, da blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um.

„Oder doch?“, fragte sie ihn mit zusammengekniffenen Augen.

Scottys Kopf war leer. Deshalb schloss er den Mund wieder und erwiderte nichts. Irgendwann ging er einfach weiter, und Lil folgte ihm.
 

Freitag.

“Es geht hier nicht um Sie, Scotty. Und auch nicht um Alyssa.“

Graue Augen bohrten sich tief in seine Augen hinein.

“Oder doch?“
 

Warum ärgerte ihn das plötzlich so sehr?

Warum?

Verdammt. Sollte Lil sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MichiruKaiou
2009-03-14T08:59:58+00:00 14.03.2009 09:59
Wow, ich muss sagen, mir hat das Kapitel wirklich sehr gut gefallen.
Du hast einen sehr tollen Stil, die Story war extrem gut zu lesen. Auch die Charaktere hast du wunderbar getroffen und auch die Gedankengänge und Umgebungen sehr schön beschrieben.
Mir hat es wirklich gut gefallen^^


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