Zum Inhalt der Seite

Feuervogel

Ein Junge und sein Benu gegen den Rest der Welt
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Treiben und getrieben sein

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich im Palast das Gerücht, dass der Kronprinz veranlasst hatte, das gesamte Schloss nach der gestohlenen Kette des Generals durchsuchen zu lassen. Akunadin hatte dieses Gerücht nur milde belächelt und sich wichtigeren Dingen zugewandt, musste jedoch wenig später zu seinem Verdruss feststellen, dass es durchaus nicht nur ein Gerücht war. Sein Unmut verstärkte sich noch, als eine sehr höfliche und ebenso hartnäckige Abordnung von Höflingen bei ihm erschien und darauf bestand auch seine Räume zu durchsuchen.
 

Mit eisiger Miene und stoischer Herablassung sah der oberste Priester des Amun schweigend zu, wie sich die sechs Männer daran machten seine Räumlichkeiten gründlich nach der verhängnisvollen Kette zu durchsuchen. Sobald die Höflinge ihre erfolglose Suche beendet, sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigt hatten und wieder verschwunden waren, lief Akunadin mit wehenden Gewändern zu seinem Bruder. Bewohner und Bedienstete des Palastes, die ihm auf seinem Weg begegneten, wichen beim Anblick seiner düsteren Miene hastig zur Seite, sich noch tiefer als gewöhnlich verneigend. Im Stillen darüber erleichtert, wenn der Tjt gleichgültig an ihnen vorüberging und sie nicht befürchten mussten seinen offensichtlichen Zorn zu spüren zu bekommen.
 

Akunemkanon hatte kaum befohlen seinen Bruder zu ihm zu lassen, als Akunadin auch schon das Zimmer betrat, mit einer knappen Geste die Diener hinausscheuchte und anschließend mit nur mühsam zurückgehaltner Wut in der Stimme fragte: „Nach allem, was ich für dich getan habe, traust du mir tatsächlich zu, ich könnte eine alberne Kette stehlen?“

Für einen Augenblick wirkte Akunemkanon bei diesem unerwarteten Ausbruch überrascht, dann jedoch wurde er verlegen, während er sich zugleich bemühte möglichst ruhig und sachlich zu erwidern: „Natürlich nicht. Aber es wäre immerhin möglich, dass ein Diener die Kette in deinen Räumen verborgen hat, weil er sie dort sicher glaubte.“

„Nur wegen dieser Kette untergräbst du mein Ansehen, indem du durch die Durchsuchung andeutest, das du mir nicht vertraust?!“

„Es geht nicht nur um die Kette, das weißt du“, konterte Akunemkanon bestimmt, „Ebenso, dass ich dir vertraue.“

„Das werden nach dem Vorgefallenen die Anhänger Karims mit Freuden bezweifeln“, erwiderte Akunadin grimmig, „wir befinden uns im Moment ohnehin in einer heiklen Situation, weil wir Karim des Hochverrats verdächtigen und den Anschein erwecken, ihn und sein Unwesen bis jetzt stets gedeckt zu haben.“

Noch während Akunadin sprach, hatte sich sein Bruder aus seinem Stuhl erhoben und war zu einem der in den Garten führenden Durchgänge getreten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, betrachtete er die im hellen Sonnenlicht liegenden Anlagen. Sobald Akunadin schwieg, wandte sich der König um, trat einige Schritte auf seinen Bruder zu und sagte voller Überzeugung: „Wie könnte jemand annehmen, dass zwischen uns Missstimmung herrscht, wenn unsere Söhne sich doch gemeinsam bemühen Karims Unschuld zu beweisen.“
 

Seth half Atemu Karims Unschuld zu beweisen? Er hatte angenommen, Seth ausreichend davon überzeugt zu haben, keinem der Beiden zu vertrauen. Offenbar hatte er mit dieser Annahme einen Fehler begangen. Irgendwie musste er das wieder ausgleichen, überlegte Akunadin, während er mit leicht verengten Augen seinen Bruder betrachtete und auf dessen Bemerkung lediglich erwiderte: „Niemand außer und weiß, dass Seth mein Sohn ist.“

„Du hast es ihm immer noch nicht gesagt?“, Akunemkanon klang überrascht. Gleich darauf hob er abwehrend die Hand, um seinen Bruder am Sprechen zu hindern, „Ich weiß, ich habe dir damals zugestanden den Zeitpunkt selbst zu bestimmen. Aber wäre es langsam nicht an der Zeit den Jungen über seine Herkunft aufzuklären?“

„Er wird es erfahren, wenn ich es für angebracht halte. Bis dahin ist es besser für ihn, wenn er keine Ahnung hat, dass ich derjenige bin, der ihn und seine Mutter damals verlassen hat.“
 

Verständnisvoll und mitfühlend ruhte Akunemkanons Blick bei diesen Worten auf seinem Bruder. Dieses Geständnis war und würde diesem erst recht gegenüber seinem Sohn alles andere als leicht fallen. Um Akunadin nicht weiter in Bedrängnis zu bringen, ließ Akunemkanon das Thema Verwandtschaftsaufklärung für diesen Moment auf sich beruhen und erklärte stattdessen mit einem aufmunternden Lächeln: „Nun, ich denke, auch wenn Niemand weiß, wer Seth ist, wird doch die Tatsache, dass ein künftiger Priester des Amun sich für den General der Armee einsetzt für genügend positiven Eindruck sorgen, um böse Stimmen zum Schweigen zu ringen.“ Mit einem besorgten Stirnrunzeln fügte der König nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich hoffe nur, es gelingt uns die Sache noch vor dem Beginn des Opetfestes aufzuklären. – Wie weit bist du inzwischen mit den Vorbereitungen? Gibt es irgendwelche Probleme?“ Mit einem erleichterten Aufatmen vernahm Akunemkanon gleich darauf, dass alles reibungslos von statten ging und auch der sicheren Ankunft des angekündigten hethitischen Gesandten nichts entgegen stand. Und so erklärte er schließlich mit ruhiger Entschiedenheit: „Ich werde Atemu während des Opetfestes zu meinem Mitregenten ernennen. Er ist alt genug, um Verantwortung zu übernehmen und sich mit den Aufgaben eines Königs vertraut zu machen.“ Ein wenig nachdenklich fügte er noch hinzu: „Wie wäre es, wenn du Seth als Priester und nicht nur als Zuschauer an der Eröffnungsfeier teilhaben lässt? An diesem Tag müsste, er doch seine Ausbildung bereits abgeschlossen und die Weihe empfangen haben.“ Akunadin nickte darauf bestätigend und fügte erklärend hinzu: „Ich überlege, ihn als einen der Reinigungspriester einzusetzen.“

„Warum nicht als Barkenträger?“, schlug Akunemkanon mit freundlicher Großzügigkeit vor und erhielt darauf die mit steifer Förmlichkeit vorgebrachte Antwort: „Majestät, es wäre äußerst unklug einen Priesterschüler über den ihm gebührenden Rang hinaus auszuzeichnen. Es würde nur für Unfrieden unter den anderen Priestern sorgen.“

„Und das können wir im Moment wirklich nicht gebrauchen“, ergänzte Akunemkanon mit einem resignierten Seufzen die Worte seines Bruders.

„So ist es“, bestätigte der Tjt mit einem erneuten Nicken und entspannte sich wieder ein wenig, bevor er bat: „Erlaube, dass ich mich zurückziehe. Bis zum Beginn des Festes gibt es noch Einiges zu tun.“

„Natürlich, geh nur“, stimmte Akunemkanon sofort freundlich zu und wandte sich selbst ebenfalls wieder den Berichten zu, die er gelesen hatte, bevor sein Bruder zu ihm gekommen war.
 

Sobald Akunadin die königlichen Gemächer verlassen hatte, ging er auf dem kürzesten Weg in den Harem. Die Nachricht, dass Atemu zum Mitregenten ernannt werden sollte, brachte ihn in Zugzwang. Bevor er sich jedoch darum kümmerte, wollte er zunächst dafür sorgen, dass Seth ihm keine unangenehmen Überraschungen mehr bereiten würde.
 

In den Frauengemächern angekommen, suchte er nach Meresankh, die er schließlich in einem der weitläufigen, luftigen Räume fand, in denen bei besonderen Anlässen Feierlichkeiten stattfanden und die sonst als eine Art Gesellschaftsraum für die Frauen dienten. Meresankh saß mit einigen anderen Damen zusammen und musizierte. Entschuldigte sich bei diesen jedoch umgehend, als sie den Tjt entdeckte und kam ihm gleich darauf entgegen. Nur wenige Schritte vor Akunadin blieb sie schließlich stehen, verneigte sich höflich und begrüßte ihn mit den Worten: „Du kommst zu einer ungewöhnlichen Zeit. Ist etwas geschehen?“ Niemand außer dem König hätte es gewagt den obersten Priester des Amun so direkt anzusprechen, statt sich jedoch unnötig mit einer Zurechtweisung aufzuhalten, erwiderte Akunadin nur knapp: „Wir müssen reden.“ Meresankh neigte leicht den Kopf und antwortete freundlich: „Im Garten ist es zu dieser Zeit besonders angenehm…“ Bevor sie ihren Satz beenden konnte, entschied Akunadin sachlich: „Gehen wir“, zugleich bereits die ersten Schritte in die entsprechende Richtung machend, sicher dass Meresankh ihm folgen würde.
 

Sie schwiegen bis sie sich weit genug von den Frauengemächern entfernt hatten, um von dort keine unnötige Störung befürchten zu müssen. Dann jedoch befahl der Tjt bestimmt, ohne irgendwelche Umschweife oder einleitende Erklärungen: „Du wirst mit Seth schlafen.“

„Was?“ war alles, was Meresankh nur mit ungläubigem und völlig überrumpeltem Gesichtsausdruck, entgegen aller Hofetikette hervorbrachte, während Akunadin, ohne auf ihren Ausruf zu achten, ergänzte: „Er ist jung und vernarrt in dich. Schläfst du mit ihm, wird er dich beeindrucken wollen und dir, wenn du es geschickt anstellst, alles erzählen, was er denkt und plant.“

„Aber warum fragst du ihn nicht selbst?“ wollte Meresankh noch immer vollkommen überrascht von dem eben Gehörten wissen, sich krampfhaft darum bemühend ebenso sachlich zu erscheinen wie ihr Begleiter. „Er steht in deinen Diensten und du hast ihn stets wie einen Sohn behandelt. Warum sollte er dir nicht Rede und Antwort stehen, wenn du ihn befragst?“

„Dazu müsste ich sicher sein, dass er noch immer auf meiner Seite steht. Da er aber für diese lächerliche Palastdurchsuchung verantwortlich ist, um die Unschuld Karims zu beweisen, muss ich annehmen, dass er mir gegenüber nicht ehrlich sein wird. Wenn ich aber sicher wäre, dass er Karim misstraut, bräuchte ich ihn nicht zu fragen. Täte ich es dennoch und zöge damit offiziell seine Absichten in Zweifel, würde ich ihn erst recht auf die Seite Karims treiben.“ Meresankh nickte ein wenig benommen von dieser verwirrenden Erklärung, schwieg einen kurzen Moment und erkundigte sich dann: „Woher weißt du, dass Seth für die Palastdurchsuchung verantwortlich ist?“

„Sie haben auch meine Räume durchsucht“, die Stimme des Tjt klang beherrscht, lediglich die eisige Kälte, die in diesen wenigen Worten mitschwang, gab Auskunft darüber wie sehr ihn diese Tatsache noch immer verärgerte. „Als ich Akunemkanon um eine Erklärung bat, erwähnte er, dass Seth und Atemu die Verantwortlichen dafür seien.“

„Und nun vermutest du, Seth könnte annehmen, dass du etwas mit dem Verschwinden der Kette zu tun hast“ schlussfolgerte Meresankh nachdenklich, ohne darauf eine Antwort zu erhalten. „Ist es möglich, dass sie die Kette finden?“ Die Antwort des Tjt bestand nur in einem starren Blick, der Meresankh einen kalten Schauer über den Rücken jagte und sie erleichtert aufatmen ließ, als Akunadin seinen Kopf wieder abwandte und an ihrer statt ein unschuldiges Staudengewächs fixierte, das augenblicklich zu verkümmern schien. – Zumindest bildete sich Meresankh dies für einen winzigen Sekundenbruchteil ein, bevor sie sich selbst zur Ordnung rief, zum ursprünglichen Thema zurückkehrte und sich vorsichtig erkundigte: „Wirst du auch zufrieden sein, wenn ich die Absichten des Jungen herausfinde, ohne mit ihm zu schlafen?“

„Solange ich rechtzeitig erfahre, was er vor hat, bleibt es dir überlassen, welche Mittel du benutzt“ erwiderte Akunadin gleichmütig, drehte sich gleich darauf herum und kehrte zu den Frauengemächern zurück, ohne noch ein weiteres Wort mit seiner Begleiterin zu wechseln. Diese war ebenfalls nicht zum Plaudern aufgelegt, stattdessen wirkte sie eher besorgt und als wäre sie in Gedanken damit beschäftigt, die beste Lösung für ein schwieriges Problem zu finden.
 

Wie so häufig in den vergangenen Tagen, beschäftigte sich Seth auch jetzt wieder mit der Frage wie und ob sich die Unschuld Karims beweisen ließe. Allerdings gelangte er dabei nicht zu irgendwelchen nennenswerten neuen Erkenntnissen. Nichts desto trotz ließ ihm diese Angelegenheit einfach keine Ruhe, sondern zwang ihn sich immer und immer wieder mit ihr zu beschäftigen, sei es auch noch so ergebnislos.
 

Er war auf dem Rückweg vom Tempel des Amun, wo er mechanisch die ihm übertragenen Reinigungs- und Opferriten erledigt hatte, während er die vorgeschriebenen Texte rezitierte, mit seinen Gedanken in die Vergangenheit zurückkehrend. Wieder sah er das Dorf brennen, wieder suchte er vergebens nach seiner Mutter und Meni, wieder flüchtete er in die Wüste und machte sich schließlich auf den Weg in die Pharaonenstadt.
 

Überrascht stellte er fest, dass ein Teil von ihm sich wünschte, Karim wäre tatsächlich schuldig. Dann hätte er endlich den Verantwortlichen für den Tod seiner Mutter und Menis gefunden, könnte er dem gesichtslosen Gespenst seiner Albträume ein Gesicht geben und beginnen die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen. Aber es gab zu viele Ungereimtheiten, als dass Seth den Kommandanten als den Schuldigen hätte betrachten können. Solang Karim als der Kopf hinter den Überfällen angesehen wurde, würde sich jedoch niemand mehr die Mühe machen, nach dem tatsächlichen Anführer zu suchen.
 

Ob Merenseth schon etwas herausgefunden hatte? Seth begann bereits ungeduldig auf ihre Rückkehr zu warten. Nicht nur, um zu erfahren was die Überlebenden erzählt hatten, sondern auch, um den Benu als nächstes prüfen zu lassen, ob Sened die Wahrheit gesagt hatte. Keiner der beiden Prinzen hatte allzu überzeugt von dem gewirkt, was Sened ihnen erzählt hatte. Allerdings konnte das ebenso gut auf einem blinden Vorurteil beruhen und das würde ihnen bei der Aufklärung der ganzen Sache kein bisschen weiter helfen.
 

Seth hatte diesen letzten Gedanken kaum zu Ende gedacht, als seine gesamte Aufmerksamkeit plötzlich gänzlich anderweitig in Anspruch genommen wurde. Mit katzenhafter Lautlosigkeit war neben ihm Meresankh aufgetaucht, die sich nun scherzhaft darüber beschwerte, dass der junge Priester ihr gegenüber sehr unhöflich gewesen wäre, sie so vollkommen zu übersehen. „Die Probleme, die du zu lösen hast, müssen wirklich von komplizierter Natur sein, sonst bist du weit weniger unaufmerksam. Ich habe sogar den Tjt sagen hören, dass dir nur sehr selten etwas entgeht und er noch nie einen solchen Schüler wie dich hatte.“
 

Verblüfft starrte Seth seine plötzliche Begleiterin unverhohlen an, bevor er ruckartig ein wenig den Oberkörper vorbeugte und gleichzeitig brummte „du übertreibst.“ Unterdessen war in seinem Inneren ein wahrer Sturm aus sich überschlagenden Gedanken und verwirrenden Empfindungen losgebrochen, untermalt von plötzlichem Herzrasen und nervösem Magenzucken. Seit er Meresankh das erste Mal gesehen hatte, war es ihm in ihrer Gegenwart unmöglich gleichmütig zu bleiben, stets war da die Befürchtung sich vor ihr lächerlich zu machen. Dazu gehörte auch die irrationale Besorgnis, er könnte plötzlich anfangen zu stottern oder etwas äußerst Dummes sagen, sodass er bei ihrer Anwesenheit noch schweigsamer wurde, als er es in Gegenwart Anderer ohnehin schon war.
 

Meresankh schien das jedoch nicht zu stören, sie verhielt sich als wäre Seth der angenehmste Gesprächspartner, den man sich nur vorstellen konnte und als gäbe es keinen Ort, an dem sie sich in diesem Moment lieber aufhalten würde, während immer wieder ihr Arm wie zufällig den Seths streifte und den jungen Mann nur noch mehr irritierte.
 

„Oh, ich übertreibe keineswegs“, Meresankh lächelte freundlich, „ich sage nur, was ich gehört habe. Und ich habe auch gehört, dass du es warst, der vorgeschlagen hat, den Palast nach der Kette durchsuchen zu lassen, um so die Unschuld von Isis Mann zu beweisen.“ Seths Ohren röteten sich bei diesen Worten vor Verlegenheit, während er unwillig eingestand: „Es war eine dumme Idee.“

„Aber durchaus nicht!“, widersprach Meresankh lebhaft, „es hätte doch sehr gut möglich sein können, dass jemand aus Neid die Kette entwendet hat und wenn sie gefunden worden wäre, hätte jeder erfahren, dass ein Priester des Amun den rettenden Einfall hatte und die Feindschaft zwischen Armee und Amunpriestern als hinfällig betrachtet werden kann.“

Seth schwieg zu diesen Worten, zum einen schmeichelten ihm die Worte Meresankhs, zum anderen wollte er nicht riskieren sie zu enttäuschen, indem er ihr widersprach.

Da sie auf ihre Bemerkung keine Antwort erhielt, erkundigte sich Meresankh in aufmunterndem Tonfall: „Du wirst dich doch von diesem einen Misserfolg nicht umstimmen lassen? Ich bin sicher, du hast schon eine neue Idee, wie Karim gerettet werden kann.“

So viel unerwartet in ihn gesetztes Vertrauen ließ Seth doch stutzig werden. Für gewöhnlich waren ihm die Meinungen anderer recht gleichgültig, wusste er doch aus Erfahrung was er konnte, wozu er im Stande war. Diese Frau jedoch war für ihn eben nicht irgendjemand und so war ihm auch ihre Meinung nicht gleichgültig, aber so viel Vorschusslob war dann doch ein wenig alarmierend. „Warum willst du, dass Karim frei kommt? Wird er entmachtet, ist das doch von Vorteil für den Tjt.“

„Versuchst du gerade herauszufinden, ob ich Akunadin untreu werde?“, fragte Meresankh verschmitzt und fügte hinzu: „Dann müsste ich die Frage an dich zurück geben: Warum hilfst du einem Gegner des Tjt, wenn du ihm doch so viel verdankst?“ Seth runzelte ein wenig verärgert die Stirn, während er würdevoll erklärte: „Das hat nichts mit Untreue zu tun. Der Tjt will Gerechtigkeit für Kemet, wie will er sie erreichen, wenn Unschuldige verurteilt werden?“

„Und du weißt, dass Karim unschuldig ist?“
 

Wieder blieb Seth eine Antwort schuldig und Meresankh biss sich ein wenig enttäuscht auf die Unterlippe, während sie überlegte, wie es ihr doch noch gelingen könnte, herauszufinden, was Akunadin von ihr wissen wollte. Vorerst jedoch kam sie nicht dazu einen weiteren Versuch zu unternehmen, denn in diesem Moment kam ein Diener heran, der Seth darüber informierte, dass dieser zum obersten Priester des Amun kommen solle. Nachdem der Diener seine Nachricht überbracht und wieder gegangen war, stand der junge Priester noch immer ungewohnt unentschlossen neben seiner schönen Begleiterin und wirkte plötzlich ein wenig linkisch, als wüsste er nicht recht, was er tun solle. Erst als Meresankh ihn aufmunternd anlächelte und erklärte: „Den Tjt darf man nicht warten lassen, beeil dich besser zu ihm zu gehen“, verneigte er sich schließlich knapp, drehte sich um und ging. Er hatte erst wenige Schritte getan, als Meresankh an seinen Rücken gewandt leise hinzufügte: „Vielleicht sehen wir uns heute Abend in den Gärten.“ Es klang mehr nach einer vagen Hoffnung als nach einem Vorschlag und schien keine Antwort zu erwarten.
 

Kurz war Seth noch einmal stehen geblieben und neigte nun kaum merklich seinen Kopf, bevor er seinen Weg zum Tjt fortsetzte. Noch immer lächelnd sah Meresankh dem sich entfernenden Mann nach. Vielleicht war ihr Unternehmen doch nicht so aussichtslos, wie sie eben noch angenommen hatte. Bis zum Abend wäre Seth sicher mehr als beschäftigt. Zeit genug, um sich ein wenig mit Kisara zu unterhalten, möglicherweise erfuhr sie dabei etwas, dass ihr weiterhelfen würde.
 

Es war nicht weiter schwierig gewesen, Kisara dazu zu bringen, von Seth zu erzählen. Das Mädchen bewunderte den Jungen aufrichtig, vertraute ihm blind und schien ihn nahezu anzubeten. Da sie nicht oft einen so freundlichen, aufgeschlossenen und aufmerksamen Zuhörer wie Meresankh hatte, der sie so gut verstand, nutzte das Mädchen die seltene Gelegenheit ausführlich von Seth zu berichten und sich bestätigen zu lassen, dass er tatsächlich so bewundernswert war, wie sie fest glaubte.
 

Nachdem Meresankh sich mit Kisara unterhalten und sich für den Abend zurechtgemacht hatte, war sie schließlich in die Gärten gegangen, wo sie nun von einigen Büschen verborgen darauf wartete, dass Seth sich zeigte. Sie hatte ihren Platz mit Bedacht gewählt, konnte sie doch von dieser Stelle sehen ohne selbst gesehen zu werden, sodass sie den Vorteil hatte zu entscheiden, wann sie sich dem jungen Priester zeigen würde.
 

Trotzdem sie davon überzeugt war, dass Seth ihre Verabredung nicht verpassen würde, stellte Meresankh überrascht fest, dass sie ein wenig aufgeregt war. Unsicher, ob es ihr tatsächlich gelingen würde diesen spröden, wortkargen Jungen dazu zu bringen, ihr zu erzählen, was in ihm vorging. Sie nahm an, dass es Jägern, die sich an Wild heranpirschten, um es zu erlegen, ähnlich erging. Dass diese die Spannung über den fraglichen Erfolg ihres Unternehmens als Teil der Jagd ebenso genossen, wie sie in diesem Augenblick das Spiel mit dem ahnungslosen Priesterschüler.
 

Dann sah sie ihn, wie er den Palast verließ, sich prüfend umsah und sein Gesicht schließlich gen Himmel wandte, als suche er dort nach etwas Bestimmtem. Verblüfft beobachtete Meresankh dieses Verhalten einen Augenblick, dann entschied sie, dass es wohl besser wäre sich zu zeigen und ihn daran zu erinnern, weshalb er tatsächlich in die Gärten gekommen war.
 

Mit einem bezaubernden Lächeln trat sie aus ihrem Versteck hervor und auf den jungen Priester zu, ihn mit den koketten Worten begrüßend: „Suchst du mich? Dann schaust du in die falsche Richtung. Aber ich fühle mich geschmeichelt, dass du glaubst ich könnte fliegen.“ Für einen kurzen Moment schien Seth verlegen, dann jedoch erkundigte er sich nur betont sachlich: „Weshalb wolltest du mich treffen?“ Meresankh verzog enttäuscht die Lippen, als hätte sie die schroffe Frage verletzt und erwiderte kühl: „Ich wüsste nicht, dass ich so etwas behauptet hätte“, wandte sich dann schwungvoll ab und schritt hoheitsvoll von dannen, im Stillen zählend, wie lang es dauern würde, bis er ihr nachgelaufen käme. Sie kam bis zu der Zahl 12, als neben ihr ein Schatten auftauchte und Seth nach einer Weile, in der sie schweigend neben einander her liefen, sehr beiläufig erklärte: „Ich warte auf Merenseth.“ Meresankh warf ihm nur einen kurzen Seitenblick zu, während sie noch immer in kühlem Tonfall erwiderte: „Ich will nichts von anderen Frauen hören. Schon gar nicht, wenn sie zaubern können.“ Kurz wirkte Seth verblüfft, dann jedoch berichtigte er mit einem unwillkürlichen Lächeln: „Merenseth ist ein Vogel.“

„Oh“, lautete die in einer perfekten Mischung aus Verlegenheit und Überraschung vorgebrachte Antwort Meresankhs, bevor sie nach einer Pause, in der sie sich offenbar bemühte ihre Verlegenheit zu überwinden, nachhakte: „Meinst du den Benu des Königs?“ Als Seth darauf nur bestätigend nickte, entschied Meresankh mit einem erleichterten Lächeln fröhlich: „Dann möchte ich doch etwas über sie hören!“, sich zugleich mit neuer Zutraulichkeit bei Seth einhakend.
 

Mit dieser plötzlichen Nähe ein wenig überfordert, runzelte Seth die Stirn, während er sich bemühte einen klaren Kopf zu behalten und doch nur die Frage hervorbrachte: „Was möchtest du wissen?“ Sich im gleichen Moment über seine dümmliche Unbeholfenheit ärgernd. Spielerisch legte Meresankh einen Finger gegen ihre Lippen, den Kopf ein wenig neigend, sodass ihrem Begleiter ein bezaubernder Blick auf die anmutige Linie ihres Halses und das sanfte Pulsieren der Schlagader unter samtig schimmernder, goldbrauner Haut gewährt wurde. Nach einem Moment des Überlegens fragte sie in gespielter Naivität: „Ist Merenseth tatsächlich ein Benu?“ Seth schluckte hart und antwortete mit einem mühsam vorgebrachten „Ja“, während er sich angestrengt bemühte nicht zu offensichtlich auf dieses verführerische Stückchen Haut zu starren. Peinlicher Weise fielen ihm in genau diesem Moment die erotischen Papyri ein, die zwischen den Jungen seiner Klasse herumgereicht worden waren. Er konnte noch nicht einmal tief durchatmen, um diese – zugegebenermaßen sehr interessanten - Bilder in seinem Kopf zu vertreiben, denn dann würde ihm ihr Duft den Kopf vernebeln und er wäre immer noch nicht in der Lage wieder normal zu denken.
 

Meresankh lächelte wissend, während sie ihn unauffällig aus den Augenwinkeln beobachtete und anschließend so tat, als würde sie die Verlegenheit des Jungen nicht bemerken. „Kann dein Benu Wünsche erfüllen?“

„Was?“, Seth klang verwirrt, als hätte er entscheidende Teile des Gesprächs verpasst und wüsste nun nicht, worum es gerade ging. Meresankh lachte leise und kehlig, jagte auf diese Weise eine angenehme Gänsehaut über Seths Körper, während sie sich provozierend noch ein wenig enger an ihn schmiegte und es schaffte ihre Stimme wie ein Schnurren klingen zu lassen, als sie geduldig wiederholte: „Merenseth, dein Benu. Kann sie Wünsche erfüllen?“ Nur mit großer Mühe gelang es Seth sich wieder vollkommen auf die Unterhaltung zu konzentrieren. „Sie gehört offiziell seiner Majestät“, stellte er zunächst einmal pedantisch richtig, ohne jedoch hinzuzufügen, dass es sich dabei um eine reine Formsache handelte. Denn seit Akunemkanon ihm das Amt der Pflege für Merenseth übertragen hatte, hatte er sich nicht wieder nach dem Tier erkundigt. „Bei den Wünschen kommt es auf die Art an, ob sie erfüllbar sind oder nicht.“

„Welche Art Wünsche würde sie denn nicht erfüllen?“

„Tote wiederbeleben“, etwas in der Stimme Seths bei diesen Worten, die er erst nach einem kurzen Zögern aussprach, veranlasste Meresankh ihm tröstend über das Handgelenk zu streichen, bevor sie sich mit einem sanften Lächeln erkundigte: „Und was wäre mit dem Wunsch, dass wir zusammen da Opetfest besuchen?“

„Dann wäre dieser Wunsch für die Eröffnungsfeier nicht erfüllbar“, erklärte Seth bemüht forsch, „für die anderen elf Tage wäre er es.“

„Dann hoffe ich, dass Merenseth bald zurückkommt, damit ich ihr meinen Wunsch vortragen kann.“ Meresankh lächelte verführerisch, sodass Seth erneut vor Verlegenheit rote Ohren bekam, verunsichert den Blick abwandte und undeutlich murmelte: „Ich auch.“
 

Für eine Weile liefen sie wieder schweigend neben einander her, während zwischen ihnen die Spannung immer größer wurde und die Luft förmlich zu knistern schien vor unausgesprochenen Gefühlen.
 

„Wenn ich mir von einem Benu wünsche, dass mich der Priester Seth küsst, wäre das ein erfüllbarer Wunsch?“ Es war nur ein heiseres Flüstern, das fingerspitzengleich die Haut zu liebkosen schien, mit dem Meresankh schließlich das Schweigen brach. Und doch genügte es um Seth abrupt inne halten zu lassen und seine Begleiterin ungläubig anzustarren, die noch einige Schritte weiter ging, bevor auch sie stehen blieb, sich zu dem jungen Priester umwandte und ihn mit ernstem, fragendem Blick scheinbar verunsichert ansah.
 

Seth schien äußerlich zur Salzsäule erstarrt, während in seinem Inneren ein regelrechter Sturm tobte. So lang hatte er diese Frau aus der Ferne bewundert, sie sehnsüchtig beobachtet und doch stets gewusst, dass sie für ihn unerreichbar war. Und nun stand sie hier, direkt vor ihm und bat ihn – ihn! – um einen Kuss! Es war einfach unfassbar.

Vorsichtig trat der Priester einen Schritt näher, unsicher nachhakend: „Du würdest dir von meinem Benu wünschen, dass ich dich küsse?“ Lediglich ein Nicken war die Antwort, während Meresankh ihn aus großen, gefühlvollen Augen unverwandt ansah. Nervös schluckte Seth. Er hatte jetzt genau zwei Möglichkeiten: Entweder er ergriff schleunigst die Flucht, bevor die atemberaubenste Frau, die er kannte, herausfand, dass er abgesehen von einem gelegentlichen Kuss seiner Mutter, keine blasse Ahnung vom Küssen hatte oder er ergriff die Gelegenheit beim Schopf und riskierte sich vollkommen lächerlich zu machen.

Er war noch nie einer Herausforderung ausgewichen; und überzeugt, dass küssen so schwierig nicht sein konnte, wenn es die meisten Menschen so problemlos hinbekamen. Außerdem konnte er sich eine derart einmalige Gelegenheit unmöglich entgehen lassen.
 

Noch während diese Gedanken in einem wahnwitzigen Tempo durch sein Gehirn schossen, hatte er bereits den letzten Abstand zwischen sich und Meresankh geschlossen und seine Hände an ihre Wangen gelegt. Ihren Kopf gefangen haltend, als hätte er Angst, sie würde es sich in letzter Sekunde anders überlegen und einen Rückzieher machen. Aber sie hatte nicht die geringste Absicht, ihre Meinung zu ändern, sondern kam ihm auf halbem Weg mit ihrem Gesicht entgegen. Sanft, beinahe unschuldig berührten sich schließlich ihre Lippen.
 

Recht zufrieden mit seinem ersten Versuch, hob Seth gleich darauf den Kopf, neugierig zu erfahren, was sie von diesem Kuss hielt. Meresankh schien allerdings enttäuscht: „Das nennst du einen Kuss?“, trotz des Tadels, klang ihre Stimme noch immer samtweich und dunkel, während ihre rechte Hand in seinen Nacken glitt und Seth wieder näher an ihr Gesicht heranzog. Auf diese Weise den verständnislosen Gedankengang des Priesters, wie man die intime Berührung zweier Lippen zwecks Zuneigungsbekundung sonst nennen sollte, umgehend zu Staub zerfallen lassend. „Gute Nacht sagen kannst du mir später.“ Es war nur noch ein vielversprechendes Flüstern, ganz nah an seinem Mund, bevor sie ihn lehrte, was es tatsächlich hieß zu küssen. – Und sie war eine großartige Lehrerin.
 

Einige Zeit später lagen sie nackt und erschöpft nebeneinander in dem schmalen Bett, das in Seths Kammer stand. Noch vor wenigen Stunden hätte dieser steif und fest behauptet, dass es unmöglich wäre mehr als eine Person darin unterzubringen. Nun wusste er es nicht nur besser, sondern war darüber hinaus der festen Überzeugung, dass schmale Betten zu den Fantasie und Erfindungsreichtum fördernsten Dingen gehörten, die sich vorstellen ließen.
 

Den Kopf auf die Schulter Seths gebettet, sodass dieser nur den Kopf zu drehen brauchte, wenn er den Duft ihrer gesalbten Haare einatmen wollte, mit den Fingern einer Hand gedankenverloren unsichtbare Figuren auf die Haut des Priesters malend, lag Meresankh. Wieder einmal hatte Akunadin seinen Willen durchgesetzt und sie getan, was er von ihr verlangt hatte. Aber wie anders war es dieses Mal gewesen; hatten ihr die anderen Aufträge eher Unbehagen oder Angst bereitet, waren es dieses Mal Lust und Vergnügen gewesen. Dieses halbe Kind neben ihr, hatte ihr mit seiner Gier zu entdecken, herauszufinden und zu lernen, mit seiner ungestümen Unerfahrenheit das Gefühl gegeben tatsächlich begehrt zu werden, verehrt, angebetet. Wie anders war dagegen das Verhalten Akunadins. Oh, es fehlte ihm keineswegs an Finesse. Aber wenn sie mit einander schliefen, hatte das stets etwas Mechanisches, als würde der oberste Priester lediglich einen unvermeidlichen Trieb befriedigen, um den Kopf anschließend frei für die wichtigen Dingen des Lebens zu haben.

„Wirst du versuchen den Tjt zu stürzen?“, Kaum war Meresankh diese Frage entschlüpft, als sie sich auch schon auf die Unterlippe biss. Wie konnte sie nur so dumm sein, so direkt zu fragen, auf diese Weise würde sie nie eine Antwort erhalten.
 

Wieder einmal verblüfft starrte Seth Meresankh an. In ihrer Frage hatte leise Hoffnung mitgeklungen, während ihr Gesicht nun einen eindeutig verzagten Ausdruck zeigte. „Ich habe keinen Grund, so etwas zu tun“ antwortete er schließlich und fügte ohne Pause mit gerunzelten Brauen hinzu: „Warum hast du Angst vor ihm, hat er dir etwas getan?“ Nun war es an Meresankh Seth überrascht anzusehen, bevor sie fröhlich auflachte und erklärte: „Wenn du ein Leben in Luxus als Etwas bezeichnen würdest, dass man jemand anderem antut, dann hat er mir etwas angetan.“ Seth wirkte nicht überzeugt. Seine Stirn furchte sich noch stärker, als er beharrlich nachhakte: „Warum wolltest du dann wissen, ob ich ihn stürzen will?“

„Weil mich noch immer die Frage beschäftigt, warum ausgerechnet ein Priester des Amun versucht dem obersten Befehlshaber der Armee helfen.“
 

Noch immer skeptisch schwieg Seth zunächst auf Meresankhs Bemerkung, schien jedes einzelne Wort auf eine verborgene Bedeutung zu überprüfen, einen versteckten Sinn herauslesen zu wollen, ohne jedoch fündig zu werden. Meresankh beobachtete ihn eine Weile aufmerksam und entschied dann, dass es nicht schaden konnte, ihn ein wenig abzulenken.
 

Mit spielerischer Leichtigkeit begannen ihre Finger erneut über die erstaunlich helle Haut des jungen Priesters zu streichen. „Verrat es mir doch“, ein sanfter Hauch an seinem Hals. „Oder hältst du mich für so wenig vertrauenswürdig?“ Die Zärtlichkeiten endeten abrupt, als sie diese Möglichkeit aussprach, während ihre Stimme alles Erotische verlor, abkühlte und verletzt klang. Hatte Seth zuvor nur mit Mühe atmen und denken können, trafen ihn die weiteren Worte Meresankh wie ein Strahl eisigen Wassers, sodass er nun nur missmutig brummte: „Da gibt es nichts zu verraten. Karim war es nicht, das werde ich beweisen, sobald Merenseth zurück ist.“

„Aber warum?“ wiederholte Meresankh stur ihre Frage und bewies, dass sie Seth an Eigensinn durchaus nicht nachstand.

„Weil es meine Pflicht als Diener des Königs ist.“

Schwang da ein ironischer Unterton mit? Meresankh war sich nicht sicher, genauso gut konnte er es vollkommen ernst gemeint haben. „Warum musst du die Rückkehr Merenseths abwarten? Wirst du sie bitten, dir einen Wunsch zu erfüllen?“ Die zweite Frage war mit einem Lächeln in neckendem Tonfall gestellt worden. Seth ging jedoch nicht darauf ein, sondern erwiderte lediglich: „Das habe ich.“
 

Meresankh wirkte überrascht, wusste nicht wie sie darauf reagieren, was sie sagen sollte. So erklärte sie schließlich mit einem anerkennenden Lächeln und einer Stimme, die dem jungen Priester buchstäblich unter die Haut ging: „Du bist ein Mann voller Überraschungen.“ Seth hielt es für besser, darauf den Mund zu halten, während es ihm zu seiner eigenen Genugtuung gelang dem Blick Meresankhs nicht nur standzuhalten, sondern den eigenen auch noch probeweise mit einer arrogant gehobenen Augenbraue zu garnieren, die zu besagen schien: ‚Tatsächlich. Und du erzählst mir das weil…?’ Meresankhs Lächeln verstärkte sich bei diesem Anblick noch, während sie sich erkundigte: „Weißt du noch, was ich dir vorhin über das Gute-Nacht-Sagen gesagt habe?“ Seth nickte nur abwartend. „Wie wäre es mit jetztt?“ Dieses Mal hob sich die Augenbraue scheinbar ganz von selbst, in blitzartiger Geschwindigkeit nach oben, während Seth nur kategorisch erklärte: „Später.“ Meresankh zu sich heranzog und ihr bewies, wie gut er von ihr gelernt hatte.
 

Er hatte das Gefühl, nur wenige Minuten geschlafen zu haben, als er durch ein dumpfes Geräusch plötzlich aus seinem leichten Schlaf geweckt wurde und sich hastig im Bett aufsetzte. Nachdem er sich versichert hatte, dass Meresankh unbehelligt weiterschlief, sah Seth zum Fenster, von wo das Geräusch erklungen war, und entdeckte eine am Boden liegende Leinentasche sowie Merenseth, die gerade durch das Fenster hereinschlüpfte, die Tasche gleich darauf wieder mit ihren Krallen packte, sich mit einem Flügelschlag dem Tisch näherte, die Tasche dort erneut fallen ließ und sich schließlich auf ihrer Sitzstange niederließ. Als der Benu bemerkte, dass Seth nicht schlief, sondern gerade auf sie zu kam, reckte sie sich ein wenig und schlug einmal kurz mit den Flügeln. Gerade als Merenseth zu einem begrüßenden Tschilpen ansetzte, hielt Seth ihr im letzten Moment den Schnabel zu und flüsterte: „Sei still, sonst weckst du sie auf!“
 

Fragend hoben sich ein wenig die glutfarbenen Schopffedern, bevor Merenseth ihren Schnabel aus den Fingern Seths befreite und den Kopf wandte. Kaum hatte sie die schlafende Frau im Bett entdeckt, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem nackten, noch immer ein wenig mageren Priester zu und schien ihn gründlich von oben bis unten zu mustern, bevor sie ihn mit undurchdringlichem Blick anzustarren schien. Unbehaglich hielt Seth diesem Blick stand, während er sowohl irritiert als auch verärgert fühlte, wie dieses Mal nicht nur seine Ohren vor Verlegenheit zu glühen begannen. Frustriert ballte er die Hände zu Fäusten und zog die Brauen zusammen. Er konnte sich denken, dass Merenseth alles andere als erbaut darüber war, dass er ihr anscheinend die ganze Arbeit überließ, während er sich selbst mit Meresankh vergnügte. Aber er sah nicht ein, dass er sich deswegen schuldig fühlen sollte. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand, dass er nicht über die Möglichkeiten eines Benu verfügte, war schließlich nicht seine Schuld.
 

Merenseth war tatsächlich ein wenig irritiert. Nicht darüber, dass Seth offensichtlich den menschlichen Fortpflanzungstrieb für sich entdeckt hatte – das hatte früher oder später passieren müssen. Allerdings fand sie, er hätte mit dem Ausleben seiner Neugier wenigstens noch solange warten können, bis es ihnen gelungen wäre Kemet vor dem Untergang zu bewahren. Wer wusste schon, ob er in diesem Zustand fähig wäre klar zu denken? Andererseits ließ sich an Geschehenem nichts mehr ändern und warum sollte er nicht auch einmal glücklich sein und einfach das tun, was Menschen in seinem Alter eben taten.

Kurz zwinkerte Merenseth, während sie ihren Kopf ein wenig schräg legte, als könnte sie die Dinge auf diese Weise aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Dann zuckte ihr schlanker Hals vor, schnappte sie mit dem Schnabel nach einer Haarsträhne Seths und zupfte heftig genug daran, dass sie der Priester zornig anfunkelte, während er heroisch der Versuchung widerstand, über die malträtierte Kopfhaut zu reiben. Unterdessen hatte der Benu die Strähne bereits wieder losgelassen und schon den Schnabel geöffnet, um durch ein Tschilpen kundzutun, dass sie die Dinge akzeptierte wie sie waren. Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie die Frau in dem Bett nicht wecken sollte. So schlug sie lediglich noch einmal mit den Flügeln, faltete sie wieder zusammen und drehte sich auf der Stange herum, um das Zimmer zu verlassen und die beiden Menschen nicht weiter zu stören.
 

„Warte!“, flüsterte Seth hastig, „es gibt noch etwas, dass du herausfinden musst. Sieh in den Pachtverträgen für das Dorf nach, ob dort für die letzten fünf Jahre ein Mann namens Sened zu finden ist und frage, ob sich die anderen Dorfbewohner an diesen Mann erinnern.“ Merenseth hatte sich nicht noch einmal herumgedreht, sondern Seth lediglich aufmerksam den schmalen Kopf zugewandt, musterte nun den jungen Priester erneut mit einem durchdringenden Blick, der wieder Unbehagen in diesem aufkommen ließ. Dann wandte sie den Kopf ab und neigte den Schnabel leicht Richtung Boden, auf diese Weise ihr Einverständnis signalisierend. Im nächsten Moment hockte sie schon auf dem Fenstersims, schlüpfte nach draußen und flog davon.
 

Seth war an das Fenster getreten und sah seinem Benu den kurzen Moment nach, bevor dieser aus seinem Blickwinkel verschwand, während sich am Himmel bereits der neue Tag ankündigte. Er hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl im Bauch, das in keinerlei nachvollziehbarem Zusammenhang mit den vorangegangenen Ereignissen stand. Es war die unerwartete Sorge, dass er seinen Benu vielleicht nicht wiedersehen würde.
 

Blödsinn! Unausgegorene Vorahnungen waren etwas für abergläubische Alte und gelangweilte Reiche, die bereit waren für etwas Abwechslung viel Geld zu bezahlen. Entschlossen schüttelte Seth seine plötzliche, irrationale Angst ab und wandte sich dem Bett zu. Nachdenklich starrte er auf die schöne, noch immer schlafende Frau und entschied, sie nicht zu wecken, sondern sich stattdessen in Ruhe den Inhalt der Leinentasche anzusehen, die Merenseth ihm gebracht hatte.



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Hotepneith
2009-10-30T12:48:12+00:00 30.10.2009 13:48
Autsch, da gerät Seth ja immer tiefer in einen wahren Intrigensumpf. Kisara und sein lieber Benu ( oder sollte man seine liebe Benu sagen?) werden auch noch mit hineingezogen. Das Vorgehen (inklusive Verführung) deutet eigentlich auf sehr viel Erfahrung in Punkto Ermittlungen oder Spionage hin.
Papis Weigerung, ihm zu sagen, wer er ist, dazu dessen geschickte Manipulationen gegenüber König und Untergebenen ist sicher auch nicht hilfreich für den Seelenfrieden des Jungen. Tja, fragt sich nur, was das Ganze bezwecken soll. Irgendwie sollten ein Oberpriester und ein Heerführer nichts miteinander zu tun haben, sieht man davon ab, dass sie beide treu dem Herrn der beiden Länder dienen. Aber davon scheinen der ehrenwerte Tjt und Karim ja meilenweit vonaneinander entfernt.
Ich hoffe nur, dass Seths Befürchtungen Meretseth nicht mehr zu sehen, nicht zutreffen, immerhin heist der Untertitel ja ein Junge UND sein Benu...

mit gewissser Besorgnis...

hotep


P.S. Wozu deine Befürchutung. Ein sehr schönes Kapitel, auch an den "richitgen" Stellen dezent:)


Zurück