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Feuervogel

Ein Junge und sein Benu gegen den Rest der Welt
von

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Hoffnung und Verzweiflung

Mehr als einen Monat verbrachte Seth zusammen mit seinem Benu in Hatti, bevor er sich entschied, dass es allmählich Zeit wurde zurückzukehren. Auch wenn dieser Gedanke Mukisanu, der ihnen in der ganzen Zeit Gesellschaft geleistet hatte, nicht gefiel und er immer wieder versuchte Seth zu überreden, seinen Besuch doch noch auszudehnen und etwas länger zu bleiben, schließlich hätten sie ja noch nicht einmal die Hälfte des Landes erkundet.
 

Vielleicht um Mukisanu auf andere Gedanken zu bringen und ihn von seiner Abreise abzulenken, vielleicht um ihn zu beeindrucken, in jedem Fall aber, weil er dieses Geheimnis mit ihm teilen wollte, sagte Seth eines Nachmittags schließlich,nach einem weiteren ausgiebigen Versuch Mukisanus ihn zum Bleiben zu bewegen, zu seinem Vogel: „Zeig es ihm.“
 

Die beiden Jungen hatten gerade ein ausgedehntes Bad in einem kleinen Teich genommen und langen nun auf großen, von der Sonne erwärmten Steinen und ließen sich vom warmen, träge wehenden Wind trocknen.
 

Erstaunt hatten sowohl Merenseth als auch Mukisanu Seth angesehen, aber der Vogel schien schnell zu begreifen, was Seth meinte, flatterte mit wenigen Flügelschlägen vor den Stein, auf dem Mukisanu saß und stand von einem Moment zum anderen nicht mehr als Vogel da, sondern als Mensch. Vollkommen verblüfft starrte Mukisanu auf das braunhaarige Mädchen vor sich, das einige Jahre älter als Seth zu sein schien und mit einem freundlichen Lächeln seinen Blick abwartend erwiderte.
 

Dank der Übung, die Merenseth inzwischen wieder darin besaß, sich in einen Menschen zu verwandeln, gelang es ihr auch wieder mühelos nicht mehr alle ihre Federn zu verlieren, sondern einen Teil von ihnen zu einem einfachen Leinenkleid umzubilden, sodass es Seth erspart blieb, stets ein Gewand seiner Mutter dabei zu haben.
 

Unterdessen starrte Mukisanu noch immer sprachlos auf das Mädchen vor sich, während Seth mit einem zufriedenen Grinsen das Geschehen vor ihm beobachtete und gespannt auf Mukisanus weitere Reaktion wartete.
 

Der dunkelhaarige, kleine Junge fand schließlich seine Sprache wieder und äußerte ungläubig das Erste, was ihm in den Sinn kam: „Du bist ein Mädchen.“ Merenseths Lächeln verstärkte sich, während sie gelassen erwiderte: „Genau das hat Seth auch als erstes gesagt.“
 

„Du kannst reden“, stellte Mukisanu als nächstes noch immer recht fassungslos fest, ohne einen Blick von Merenseth zu wenden. Die blinzelte nur kurz belustigt und wartete neugierig auf die nächsten Worte des kleinen Jungen, sie musste nicht lange warten: „Das ist toll!“ Mukisanus Augen glänzten begeistert, „kannst du auch andere Sachen zaubern?“
 

Merenseth besah sich den Jungen vor sich mit schräg geneigtem Kopf, diese Frage nach der Zauberei schien für Menschen von großer Wichtigkeit zu sein. „Nicht so, wie du es dir vielleicht vorstellst“, antwortete sie dann freundlich und erhielt darauf einen verwundert neugierigen Blick. Bevor Mukisanu jedoch noch mehr Fragen an das Vogelmädchen richten konnte, schaltete sich Seth ruhig in das Gespräch ein: „Dass Merenseth Menschengestalt annehmen kann, weiß außer uns Dreien keiner.“ Er fügte nicht hinzu, dass er wollte, dass das auch so blieb, denn er vertraute auf den Scharfsinn Mukisanus – und wurde nicht enttäuscht: „Ich werde es niemandem verraten, das schwöre ich“, erklärte Mukisanu mit feierlichem Ernst, sich der Ehre und des Vertrauens, die ihm gerade zuteil geworden waren sehr wohl bewusst, wie das stolze Grinsen bewies, das sich anschließend in sein Gesicht stahl. Seth nickte nur zur Kenntnis nehmend.
 

Neugierig wandte sich Mukisanu schließlich wieder an das Vogelmädchen: „Wie ist das, ein Vogel zu sein?“ Merenseth lächelte bei dieser Frage, „so wie es für dich ist, Mensch zu sein.“ „Würdest du manchmal gern Mensch sein?“ Das Vogelmädchen schüttelte bei der Frage Mukisanus den Kopf, „nein, ich bin gern was ich bin.“ „Ich wär schon manchmal gern ein Vogel, oder ein Hund, oder eine Gazelle…“, erwiderte Mukisanu versonnen, während er die Arme hinter dem Kopf verschränkte, sich auf dem Stein ausstreckte und verträumt in den Himmel sah. „Aber nie für ein ganzes Leben, sondern immer nur für eine begrenzte Zeit, oder?“, fragte Merenseth ruhig nach. „Hm“, brummte Mukisanu träge, während er den Kopf wandte und fragend Seth ansah, „was ist mit dir, willst du manchmal etwas anderes sein?“ „Nein“, erwiderte Seth mit bestimmter Überzeugung, „wenn ich etwas sein will, dann werde ich es auch“, dass sich das nicht auf irgendwelche Tiere bezog, sondern darauf was ein Mensch im Leben erreichen konnte, war seinen Zuhörern klar, ohne dass er es aussprechen musste. Für einen kurzen Moment herrschte daraufhin Schweigen, bevor Mukisanu ernst geworden leise feststellte: „Du wirst nicht hierbleiben, egal wie sehr ich dich bitte, oder?“ Seth nickte entschieden, bevor er erwiderte: „Aber das heißt nicht, dass ich nicht wiederkomme“, ein kleines Lächeln erhellte daraufhin Mukisanus Gesicht, während er ergänzte: „Oder dass ich dich nicht eines Tages besuchen komme.“ Auch Seth lächelte bei dieser Antwort, mochte die Wahrscheinlichkeit auch noch so gering sein, die Vorstellung, Mukisanu würde eines Tages einfach bei ihm in Kemet auftauchen, gefiel ihm.
 

„Warum kommst du nicht einfach mit uns?“, schlug nun Merenseth vor, die sich noch immer in Menschengestalt auf den Stein gesetzt hatte, auf dem auch Seth saß. „Das geht nicht“, erwiderte Mukisanu bestimmt, „ich kann meine Freunde hier nicht einfach im Stich lassen, sie sind doch so was wie meine Familie.“ Dagegen ließ sich nichts mehr sagen und so herrschte wieder für einen Moment Stille, bevor Mukisanu erneut das Thema wechselte und begann Merenseth über ihr Benudasein auszufragen. Geduldig beantwortete das Vogelmädchen alle Fragen des Jungen und auch Seth steuerte ab und zu einen Satz zur Unterhaltung bei oder erzählte von den Dingen, die er bereits mit Merenseth erlebt hatte.
 

Schließlich war der Tag der Abreise endgültig gekommen und Mukisanu lief traurig, mit hängendem Kopf Seth hinterher, der mit seinem Benu auf der Schulter zielstrebig die Straßen Hattuschas hinter sich ließ, um außerhalb der Stadt unbehelligt auf Merenseth davonfliegen zu können. Als sie schließlich an einem Platz ankamen, den Seth für geeignet hielt, flog der Benu von der Schulter des Jungen, vergrößerte sich und wartete geduldig darauf, dass Seth aufsteigen würde. Dieser hatte sich unterdessen Mukisanu zugewandt, um sich zu verabschieden, betrachtete stattdessen jedoch den kleineren Jungen einen Moment in nachdenklichem Schweigen. Dann kam er plötzlich entschlossen auf Mukisanu zu, ging vor diesem in die Hocke, damit sie auf gleicher Augenhöhe waren, und nahm das Amulett ab, das Meni ihm einst geschenkt und das Seth seitdem stets getragen hatte, und legte es gleich darauf Mukisanu um. Überrascht löste dieser seinen Blick vom Boden und sah stattdessen Seth an, der ruhig erklärte: „Es ist ein Schutz gegen das Böse, verlier ihn nicht.“ Mukisanu konnte nur hastig Nicken und ein zustimmendes Geräusch von sich geben, zu mehr war er in dem Moment einfach nicht fähig, vor lauter Erstaunen und einem plötzlichen dicken Kloß in seiner Kehle. Aber das war noch längst nicht alles, nachdem Seth Mukisanu sein Amulett überlassen hatte, zog er nun auch den Umhang, der ihm in den vergangenen Jahren bei der Erkundung Kemets treue Dienste geleistet hatte, von seinen Schultern und legte auch diesen dem Jüngeren um. „Der Umhang ist aus Kranichfedern gemacht, er schützt dich gegen Kälte, Nässe und Hitze. Pass gut darauf auf, er ist sehr selten.“
 

Aber dieses Mal schüttelte Mukisanu energisch den Kopf, während er bereits Anstalten machte, den Umhang wieder zurückzugeben. „Das kann ich nicht annehmen, das ist zuviel. Außerdem brauchst du ihn doch bestimmt selbst.“ „Ich würde ihn dir nicht geben, wenn ich ihn bräuchte“, erwiderte Seth sehr bestimmt, „ich habe Merenseth, um mich gegen das Wetter zu schützen. Und er wird mir allmählich sowieso zu klein.“ „Du brauchst ihn also wirklich nicht?“, hakte Mukisanu noch einmal skeptisch mit gerunzelter Stirn nach und erhielt darauf ein kategorisch bestätigendes „Nein“ als Antwort. „Also gut, dann werde ich ihn behalten“, gab Mukisanu sich geschlagen, wickelte sich wieder in den Umhang und grinste als er noch hinzufügte: „Aber nur als Leihgabe. Wenn wir uns wiedersehen, bekommst du ihn wieder.“ Seth nickte zustimmend, während ein kleines Lächeln um seine Lippen spielte, „einverstanden.“ Dann erhob er sich wieder aus der Hocke, ging zu seinem Benu und stieg auf dessen Rücken.
 

Noch einmal sah Seth schweigend zu Mukisanu herab und dieser zu ihm hinauf, dann wandte Seth sich hab und blickte nach vorn, während er Merenseth befahl loszufliegen. Diese gehorchte jedoch nicht sofort, sondern verabschiedete sich zunächst auf ihre Art von Mukisanu, indem sie kurz ihren Kopf auf die Schulter des Jungen legte, aufmunternd an einer Haarsträhne zupfte und sich schließlich mit einem Tschilpen und kräftigem Flügelschlag in die Luft schwang.
 

Mukisanu hatte kurz sein Gesicht an das weiche Gefieder des Benu gedrückt und gelächelt, als dieser ihn an den Haaren zupfte. Als Merenseth losgeflogen war, sah er den beiden rasch kleiner werdenden Gestalten noch lange nach, wandte sich schließlich ab und kehrte entschlossen in sein eigenes Leben zurück.
 

Ohne Zwischenfälle, mit einigen kleinen Pausen flogen Seth und sein Vogel über Land, Meer und Wüste zurück nach Kemet und in das Dorf, in dem sie lebten. Dort wartete nicht nur Meni auf die Rückkehr seines Helfers, sondern auch die Dorfbewohner sahen hin und wieder erwartungsvoll in Richtung des Hauses, in dem Seth lebte, war es ihnen doch zur Gewohnheit geworden, den Benu des Jungen als ihren Glücksbringer zu betrachten, als Zeichen dafür, dass die Götter es gut mit ihnen meinten.
 

Und noch jemand wartete, sorgenvoll und geduldig Ausschau haltend nach dem Jungen und seinem gefiederten Gefährten. Still stand sie in der Tür des kleinen Hauses, als Seth am Abend etwa drei Monate nachdem er einfach verschwunden war, wieder nach Hause zurückkehrte. Es war ein seltsames Gefühl seine Mutter nach dieser Zeit wieder zu sehen und zu wissen, dass da immer noch diese Auseinandersetzung zwischen ihnen stand. Prüfend betrachtete der Junge seine Mutter, während er auf sie zukam, sie wirkte verhärmter als vor seinem Aufbruch, schien dünner und müder geworden zu sein und kein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, während sie ihrem Sohn reglos entgegensah.
 

„Du bist zurück“, stellte sie schließlich ruhig fest, als Seth bei ihr angekommen und stehen geblieben war, er nickte nur als Antwort und sah ihr in die Augen, deren blau sie ihm vererbt hatte. Keiner von beiden sagte ein Wort. Es gab keine Begrüßung, keine Frage wie es dem Anderen ergangen war oder was er erlebt haben mochte. Nur schweigendes Gegenüberstehen, das immer lastender wurde, je länger es dauerte. Schließlich wandte sich Seths Mutter ab, ihren Sohn auffordernd: „Komm rein.“ Wortlos folgte Seth dieser Aufforderung, während er mit sich selbst im Widerstreit lag, ob er sich bei seiner Mutter dafür entschuldigen sollte, dass er seinen Willen durchgesetzt hatte oder ob er besser schwieg und die Sache auf sich beruhen ließ. Denn wenn er sich entschuldigte, räumte er damit ein, einen Fehler begangen zu haben und er war nicht der Ansicht, dass sein Ausflug nach Hatti, seine Begegnungen mit Sechemib und Mukisanu ein Fehler gewesen waren. Aber die schweigende Distanz seiner Mutter machte ihm zu schaffen, er hatte vor seinem Aufbruch nach Hatti keine Ahnung gehabt, wie sie ihn für seine Eigenmächtigkeit bestrafen mochte, aber wie es schien, hatte er sie unterschätzt und sie einen äußerst wirkungsvollen Weg gefunden ihre Missbilligung, Enttäuschung und Traurigkeit zum Ausdruck zu bringen.
 

Der Abend wurde lang, still und drückend und auch am nächsten Tag lief es zwischen Mutter und Sohn nicht besser, sodass Seth nur allzu bald aus dem Haus und der Nähe seiner Mutter floh und zu Meni auf den Markt ging. Auf die Frage, wo er sich denn so lang herumgetrieben habe, gab er nur eine ausweichende Antwort, denn wer würde ihm schon glauben, dass er tatsächlich in dieser kurzen Zeit nach Hatti gelangt, einige Wochen dort verbracht hatte und bereits wieder zurückgekehrt war. Als Meni jedoch anfing, davon zu reden, wie schlecht es Seths Mutter in dessen Abwesenheit gegangen war, bemühte sich der Junge hastig Meni von diesem Thema abzubringen. Er wollte nicht über seine Mutter reden, stattdessen fragte er Meni lieber, was dieser von der Idee hielt, ihn als Lehrling anzunehmen. Verwundert betrachtete Meni den Junge vor sich einen Moment und fragte dann skeptisch: „Bist du sicher, dass es das ist, was du willst?“ „Warum nicht, Schmuckhändler ist ein ehrenhafter Beruf, es ist nichts Falsches daran, wenn ich einer werden will“, erwiderte Seth mit gereizter Angriffslust und wurde angesichts der Heftigkeit, mit der er seine Erklärung hervorbrachte, erneut erstaunt von Meni betrachtet, bevor dieser erwiderte: „Versteh mich nicht falsch, ich würde mich freuen, dich in die Lehre zu nehmen. Aber ich hatte bisher den Eindruck, dass du höher hinaus willst, als nur ein einfacher Schmuckhändler in einem Wüstendorf zu werden.“ Seth schwieg daraufhin verärgert. Meni hatte nur allzu Recht mit seiner Erklärung, aber realistisch betrachtet hatte Seth nicht viele Alternativen zu der des Schmuckhändlers. Normalerweise lernten die Jungen den Beruf ihres Vaters oder eines anderen männlichen Familienmitglieds, aber was machte man, wenn es nichts dergleichen gab? Seth hätte gern eine der Tempelschulen besucht, aber dazu hätte er zum einen das Dorf verlassen müssen und zum anderen fehlte ihm das Geld für eine solche Ausbildung. Dass neben einer gesunden Portion Realismus auch ein gewisses Unbehangen über die schweigende Missbilligung seiner Mutter bei diesen Überlegungen eine Rolle spielte, die er auf diese Weise hoffte wieder milde zu stimmen, gestand Seth sich nicht ein.
 

Da sich auch nach einer Woche nichts daran geändert hatte, dass sich Mutter und Sohn verbissen anschwiegen, und es inzwischen schon zu einer Prinzipfrage geworden war, nicht als erster nachzugeben und das erlösende Wort zu sprechen, verbrachte Seth so viel Zeit wie möglich außerhalb der Hütte.
 

Es kam ihm daher sehr gelegen, dass einer ihrer Nachbarn in den Besitz eines wilden Pferdes gelangt war und nun verzweifelt jemanden suchte, der es für ihn zuritt und an Zügel gewöhnte. Nachdem Seth erfolgreich mit dem Mann verhandelt hatte und sich nun um das Pferd kümmern durfte, begann er täglich mit ihm auszureiten, sobald er es daran gewöhnt hatte, dass es nun einen Menschen auf seinem Rücken zu tragen und diesem zu gehorchen hatte. Je mehr sich Pferd und Reiter an einander gewöhnten, umso länger wurden auch die Strecken, die sie täglich ritten. Merenseth flog meist neben Pferd und Reiter her, nicht selten von Seth zu einem Wettkampf herausgefordert, wer von ihnen schneller wäre – Pferd oder Vogel. Aber egal wie schnell das Pferd auch galoppierte, der Benu blieb stets mühelos an dessen Seite, um dann kurz vor dem Ziel noch einmal etwas an Tempo zuzulegen und Seth mit einem fröhlich frechen Tschilpen am Ziel willkommen zu heißen, nachdem sie als Erste angekommen war. Bei diesem Tschilpen musste Seth jedes Mal grinsen, ob er wollte oder nicht, und forderte anschließend Merenseth zu einer neuen Runde heraus, wenn das Pferd noch ausgeruht genug dafür war.
 

An diesem Tag waren sie auf ihrem ausgedehnten Ritt bis zu einer winzigen Oase gelangt, die nur den wenigsten Wüstenführern bekannt war. Seth hatte vor an diesem Ort zu rasten, bevor er sich auf den Rückweg zu seinem Dorf machte. Er musste jedoch feststellen, dass er nicht der Einzige war, der die Idee hatte sich in der Oase auszuruhen. An der Wasserstelle campierte bereits eine Gruppe von Männern, die von reisenden Händlern bis zu schlecht bezahlten Meuchelmördern vermutlich alles sein konnten.
 

Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass an jeder der seltenen Wasserstellen in der Wüste Neutralitätsabkommen herrschten, sodass jeder Mensch in Ruhe das lebenspendende Nass genießen konnte. Aufgrund dessen war Seth trotz der Tatsache, dass ihm diese Männer nicht geheuer waren, von seinem Pferd gestiegen, hatte es am Zügel genommen und war mit ihm zur Tränke gelaufen, damit sie sich beide erfrischen konnten. Merenseth hatte sich unterdessen in einem der wenigen Bäume niedergelassen und sah dem Geschehen gelassen von oben zu.
 

Während Seth darauf wartete, dass sich das Pferd satt trank und erholte, sah er sich unauffällig in dem Lager der Männer um, die ihn seinerseits zunächst prüfend gemustert hatten und ihn anschließend vollkommen ignorierten. Trotz des scheinbaren Desinteresses der Karawane, herrschte eine angespannte Stille über der Oase, als hielte die Natur den Atem an, während sie auf den ersten Donnerschlag eines reinigenden Gewitters wartete. Die Männer wirkten gereizt, als würden sie ungeduldig auf etwas warten, während sie doch so taten, als wären sie harmlose Reisende, die neue Kraft sammelten. Seth hatte bei seiner unauffälligen Musterung nichts entdecken können, was auf den tatsächlichen Beruf der Männer hinwies. Waren hatten sie keine dabei, aber das konnte genauso gut heißen, dass sie Händler auf der Heimreise waren. Sie waren erstaunlich gut bewaffnet und mit Pferden ausgestattet, was darauf hinweisen mochte, dass sie Söldner im Dienste eines wohlhabenden Herren waren. Allerdings sprach ihre doch recht abgetragen wirkende Kleidung gegen diese Vermutung, zumal sie auch keine Erkennungszeichen trugen, die sie als zu einem Adelshaus gehörig auswiesen.
 

Gerade als Seth seine Aufmerksamkeit wieder dem Pferd zuwenden wollte, das offenbar genug getrunken und deshalb den Kopf gehoben hatte, bemerkte er am Rande seines Blickfeldes etwas Weißes. Irritiert von dieser in der Wüste doch eher seltenen Farbe, sah er noch einmal genauer hin und erkannte verblüfft, dass es sich bei dem Weiß um die Haare eines Mädchens handelte, das nur wenige Jahre jünger als er zu sein schien und etwas abseits von den Männern mit unnatürlicher Haltung im kargen Schatten eines Dornenbuschs saß. Seth war zu weit von ihr entfernt, um zu erkennen was für eine Augenfarbe sie haben mochte, aber dass sie ihr Gesicht flehend und hoffnungsvoll ihm zugewandt hatte, konnte er ohne Probleme feststellen. Er ließ sich jedoch nicht anmerken, dass er das Mädchen und ihre stumme Bitte um Hilfe bemerkt hatte, sondern verließ lediglich vollkommen gleichmütig wieder die Oase, das Pferd am Zügel hinter sich her führend. Sobald er weit genug von der Oase entfernt war, um von den dort campierenden Männern nicht mehr gesehen zu werden und nachdem Merenseth zu ihm aufgeschlossen hatte, erklärte er an seinen Vogel gewandt: „Wir warten bis es dunkel ist, dann kehren wir zu der Oase zurück.“ Merenseth tschilpte lediglich zum Zeichen, dass sie verstanden hatte und einverstanden sei, danach zogen sie sich an einen geschützten Ort zurück, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. An diesem Ort vergrößerte sich Merenseth und ließ sich bequem im Sand nieder, während Seth sich an den Schatten spendenden Körper seines Benu lehnte und das Pferd leise schnaubend mit dem Schweif lästige Fliegen verjagte. So warteten sie bis zum Einbruch der Dunkelheit und kehrten schließlich auf Umwegen vorsichtig zu dem Lager der Männer zurück, bemüht nicht vorzeitig entdeckt zu werden. Merenseth war ihrem Besitzer vorausgeflogen, um zu prüfen ob die Männer sich noch nach wie vor in der Oase befanden, dass sie nicht zurückkam, war das Zeichen, dass dem so war.
 

Im Lager war es ruhig geworden, die Männer hatten einige Feuer angezündet, um die mit der Nacht hereinbrechende Kälte der Wüste zu vertreiben und im Dunkeln besser sehen zu können. Die Spannung vom Nachmittag war einem resignierten Dulden gewichen, ein Teil der Männer hatte sich sogar niedergelegt, um zu schlafen.
 

Als Seth wieder in die Nähe des Lagers gelangt war, ließ er das Pferd etwas entfernt an einem toten Gestrüpp festgebunden zurück und schlich sich leise näher heran, sowohl darauf bedacht nicht von den Männern bemerkt zu werden, als auch darauf das weißhaarige Mädchen zu finden. Als Merenseth die Ankunft des Jungen bemerkte, kam sie zu ihm und flog vor ihm her, ihn auf diese Weise zu dem Mädchen führend. Dieses saß noch immer in der unnatürlichen Haltung vom Nachmittag da, allerdings hatte sich nun eine Wache zu dem Mädchen gesellt, sodass es schwierig werden würde, es einfach wegzulotsen. Aber nicht nur die Wache war ein Problem, von der Stelle, an der Seth sich in diesem Moment verbarg, konnte er sehen, was ihm am Nachmittag entgangen war: Das Mädchen war nicht nur an Händen und Füßen gefesselt sondern regelrecht verschnürt worden, was die Erklärung für ihre seltsame Haltung war.
 

Bevor Seth jedoch daran denken konnte, die Fesseln des Mädchens zu lösen, musste er zunächst einmal den Wachmann irgendwie ablenken und lang genug beschäftigen, damit ihnen die Flucht gelingen konnte. In diesem Moment raschelte es unweit des Mädchens und seines Wächters im kniehohen Gras und gleich darauf spazierte völlig gelassen ein glutfarbner Benu knapp außerhalb der Reichweite des Wächters vor dessen Nase herum, ohne ihn zu beachten. Nicht weniger verblüfft als der Wächter und das Mädchen hatte Seth seinen Benu betrachtet, rief sich jedoch schleunigst zur Vernunft, als er bemerkte, wie der Wächter mit einer unverkennbaren Mischung aus Besitzgier und unverhohlenem Interesse dem ungerührt in der Gegend herumwandernden Benu zusah und ihm schließlich vorsichtig folgte, sowohl um diesen nicht zu verscheuchen, als auch um seine Kameraden nicht auf den Wundervogel aufmerksam zu machen. Kaum war er von Merenseth gelockt, die sich stets knapp außerhalb der Reichweite des Mannes hielt, im Dunkel der nächtlichen Wüste verschwunden, schlich sich Seth an das Mädchen heran und begann dessen Fesseln zu lösen, während er ihr warnend zuflüsterte sie solle still sein, er wolle ihr helfen.
 

Es war etwas mühsam die dicken Stricke zu lösen, dazu kam, dass Seth nicht wusste wie lang Merenseth die Wache würde ablenken können. Schließlich jedoch hatte er es geschafft und forderte das Mädchen auf, ihm zu folgen, es dabei stützend am Arm packend, um ihr aufzuhelfen. Aber wie sich herausstellte, waren die Beine des Mädchens durch Fesseln und unbequeme Haltung eingeschlafen und blutleer, sodass es ihr nicht gelang sich auf den Beinen zu halten oder gar zu laufen. Seth fluchte leise, bei diesem neuen, unerwarteten Problem. Aus der Ferne hörte er den warnenden Ruf Merenseths, ob dieser ihm oder dem Wächter galt, konnte Seth nicht sagen, nahm es jedoch als Mahnung sich zu beeilen. Also befahl er dem Mädchen hastig einen Arm um seine Schultern zu legen, während er seinen um ihre Taille schlang und sie auf diese Weise halb stützend, halb tragend ins Dunkel und so schnell wie möglich weg von der Oase schleppte. Je weiter sie liefen, umso besser gelang es dem Mädchen auch wieder ihre Beine zu gebrauchen und so kamen sie schließlich atemlos aber ungehindert an der Stelle an, bei der Seth das Pferd zurückgelassen hatte.
 

Für einen Moment rangen beide nach Luft, dann verlangte Seth zu wissen: „Kannst du reiten?“ „Nicht sehr gut“, gestand das Mädchen in einer Mischung aus Furcht und Bedauern und erhielt darauf nur die entschiedene Antwort: „Dann wirst du es jetzt üben“, damit half ihr Seth auf den Rücken des Pferdes, band es los, schwang sich ebenfalls auf dessen Rücken und jagte es dann im Galopp durch die dunkle Ebene. Im Normalfall hätte er nicht im Traum daran gedacht, so etwas zu tun, viel zu leicht konnte es passieren, dass das Pferd fehltrat, stürzte und den Reiter unter sich begrub. Aber das war kein Normalfall und so trieb Seth das Tier rücksichtslos zu halsbrecherischer Geschwindigkeit an. Sie hatten bereits den Ort passiert, an dem Seth mit Pferd und Vogel am Nachmittag auf den Einbrauch der Nacht gewartet hatte, als Merenseth mit kräftigem Flügelschlag zu ihnen aufschloss und Seth das Pferd langsamer werden ließ, um es nicht zu Schanden zu reiten. Als es schließlich im Schritt ging und das Mädchen sich nicht mehr verzweifelt an der Mähne des Pferdes festklammerte, um nicht herunterzufallen, verlangte Seth zu wissen, woher das Mädchen war. Als es diese Frage beantwortet hatte, wurde es von Seth gefragt: „Was wollten sie von dir? Solltest du als Sklavin verkauft werden?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und erklärte in traurig ängstlichem Tonfall: „Ich weiß nicht, ob sie mich verkaufen wollten. Aber gefangen genommen haben sie mich, weil ich anders bin.“ „Anders?“, hakte Seth neugierig nach und erhielt die ausweichende Antwort: „Mein Aussehen… Sie glauben, ich beherberge einen Dämon, den sie sich zu nutze machen können.“ Jetzt war Seth ganz Ohr, „und, beherbergst du einen Dämon?“ Hastig schüttelte das Mädchen vehement verneinend den Kopf. Zu hastig, wie Seth fand. Aber wenn sie meinte ihn in dieser Hinsicht belügen zu müssen, um sich sicher zu fühlen, sollte sie nur machen. Dass sie den Dämon in ihrer Seele nicht beherrschen konnte, war offensichtlich, sonst wäre sie wohl nicht in diese Misere geraten.
 

Aus der Ferne erklang dumpf Hufgetrappel, das schnell näher kam, sodass auch bald verärgerte Rufe zu hören waren. Die Männer hatten sie doch gefunden, Seth und seine Begleiter hatten sich zu früh in Sicherheit gewiegt. Schnell schätzte der Junge die Möglichkeiten ab, die ihnen jetzt noch blieben und hielt plötzlich abrupt das Pferd an. Während er abstieg befahl er dem Mädchen so schnell es konnte davon zu reiten, er würde inzwischen versuchen die Männer aufzuhalten. „Aber was ist, wenn sie dich fangen?“, fragte das Mädchen verängstigt nach und erhielt darauf lediglich die entschiedene Antwort: „Das werden sie nicht.“ Dann wandte Seth sich ab und lief zu seinem Benu, der sich etwas hatte zurückfallen lassen und sich bereits vergrößerte. Gerade als Seth sich auf den Rücken seines Vogels schwingen wollte, hörte er noch einmal die Stimme des Mädchens hinter sich, die ihm nachrief: „Vielen Dank, für deine Hilfe!“ Seth nickte lediglich zur Kenntnis nehmen und befahl dem Mädchen dann sehr energisch, sie solle endlich losreiten. Aber dieses schien noch etwas auf dem Herzen zu haben, denn es hörte nicht auf diesen Befehl sondern bat stattdessen: „Pass auf dich auf, Seth.“
 

Der Junge hörte es nicht oder hatte es nicht hören wollen, denn ohne darauf zu reagieren, flog er auf dem Rücken seines Benu ihren Verfolgern entgegen. Für einen Moment sah das Mädchen den beiden Gestalten nach, er hatte sie nun schon das zweite Mal gerettet und wusste noch immer nicht einmal ihren Namen, vermutlich erinnerte er sich nicht einmal an ihre erste Begegnung in der Wüste, vor knapp sechs Jahren. Das Schnauben des Pferdes brachte das Mädchen wieder in die Wirklichkeit zurück, sie hatte keine Zeit hier herum zu sitzen und traurigen Gedanken nachzuhängen. Es wäre ein schlechter Dank an ihren Retter, wenn sie sich trotz der Mühen, die er auf sich genommen hatte, doch wieder fangen ließe. Und so wandte sie ihren Blick nach vorn und trieb das Pferd an, um sich weiter von der Oase und ihrer Gefangenschaft zu entfernen.
 

Seth hatte unterdessen die heranjagende Gruppe Häscher erreicht und war mit Merenseth direkt in sie hineingeflogen, als wäre er der personifizierte Zorn des Herrn der Wüste. Er hatte sie zu Tode erschrocken, auseinandergetrieben und in die Wüste versprengt, bis nicht einer von ihnen übrig geblieben war. Als er schließlich sicher war, dass keiner der Männer mehr versuchen würde, dem Mädchen zu folgen, war er mit Merenseth umgekehrt, um nach Hause zu fliegen. Das Pferd würde er am nächsten Tag zurückholen und dem Nachbarn bringen, auch wenn das wohl das letzte Mal sein würde, dass er es würde reiten können, denn wer vertraute schon jemandem sein Tier zur Pflege an, der es in der Wüste verlor?
 

Ein merkwürdig heller Schein, der aus Richtung des Dorfes zu kommen schien, riß Seth bald darauf aus seinen Gedanken und ließ ihn unruhig werden. Da stimmte etwas nicht, es war mitten in der Nacht und dennoch war der Himmel beinahe taghell erleuchtet, in einem warmen organgefarbenen Schein, der absolut nichts Tröstliches an sich hatte. Je näher sie dem Dorf kamen, umso milder, heißer wurde die kalte Nachtluft, umso häufiger kamen ihnen Funken, vom ewig wehenden Wind getragen, entgegen gestoben, umso durchdringender wurde der Geruch nach verkohltem Holz, verbranntem Fleisch, Fett und Haaren. Der Gestank wurde Übelkeit erregend, die Hitze bald unerträglich und die bange Ahnung zur schrecklichen Gewissheit: Das Dorf brannte. Lichterloh stand es in Flammen als scharfer Kontrast zum dunklen Nachthimmel. Die qualvollen Schreie Sterbender waren zu hören, die nach der tiefen Stille der Wüste nur umso gellender in den Ohren klangen.
 

Je näher Seth seinem Dorf kam, umso deutlicher wurde das Ausmaß der Zerstörung, umso unausweichlicher die Erkenntnis, dass er zu spät kam, um noch irgendjemanden oder etwas zu retten.
 

Erneut war Isfet in sein Leben eingebrochen, diesmal nicht am Rande Kemets, sondern mitten in Seths Leben. Die Hände des Jungen krampften sich in die Federn Merenseths, während er sich vorbeugte, um den Flugwinden so wenig Widerstand wie möglich zu bieten, Merenseth sich in scharfem Sturzflug dem Dorf näherte und Seth Isfet entschlossen den Kampf erklärte.



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