Das Licht ist zwar nicht aus, doch ich kann trotzdem nichts sehen.
Die Scheinwerfer sind nicht auf mich gerichtet, sondern auf die beiden Gitarristen.
Ich stehe hier im Dunkeln auf der Bühne..weiß nicht was ich machen soll. Wie ich reagieren soll. Eigentlich will ich gar nicht reagieren oder irgendetwas ändern, doch richtig eingestehen will ich mir das auch nicht.
Ich kann die Fans nicht sehen, obwohl die Halle völlig überfüllt ist. Der einzige Trost ist, dass ich weiß, dass sie mich auch nicht sehen können…
…uns nicht sehen können...
Es war nichts weiter, als ein bisschen Fanservice…wenn man es so überhaupt nennen kann!!
Ich befand mich ungefähr in der gleichen Position wie jetzt: halb sitzend, halb stehend an dem kleinen Podest lehnend. Eine bequeme Haltung und perfekt zum Bass spielen. Perfekt für mein Basssolo, das ich gerade hatte.
Die Scheinwerfer waren auf mich gerichtet, die ganze Halle blickte zu mir auf; lauschte den Klängen meines Basses, die nur von Kais Drums begleitet wurden.
Wie ich diese Aufmerksamkeit doch liebe! Habe ich schon immer und werde ich wahrscheinlich auch immer.
Es ist ein unglaubliches Gefühl vor so viele Menschen zu stehen und sich buchstäblich die Seele aus dem Leib zu spielen.
Die Musik,
die Fans,
das Adrenalin,
der Schweiß,
die Blicke,
die Bewunderung…ich ging in dem Moment voll auf..
..und dann kamst du.
Ich wusste, dass du auf mich zugehst, bevor du das Podest überhaupt erreicht hattest. Ich konnte es an dem Kreischen der Fans erkennen. Trotzdem zuckte ich kurz zusammen, als deine Hand sich auf meine Schulter legte. Ich wusste genau, wie dämlich es war, dass ich auf die Berührung so reagierte..überhaupt auf sie reagierte!!
Schließlich haben wir es geprobt! Denn schon bei früheren Gigs ist aufgefallen, wie intensiv ich auf deine Berührungen reagiere und wie leicht es mich aus dem Konzept bringt. Ich habe versucht, mich rauszureden. „Ich steh nun mal nicht auf Körperkontakt“ habe ich ganz Macho-mäßig gemeint. Ich weiß bis heute nicht, ob du es mir abgekauft hast..ich hoffe es!
Auf jeden Fall ist das der Grund, warum wir diese kleine Geste auch proben mussten..immer wieder, bis ich es endlich schaffte meine Gedanken wenigstens so weit von dir zu entfernen, dass ich mein Solo fertig spielen konnte.
Und das Proben hat sich bezahlt gemacht!
Das Zucken war kaum sichtbar - obwohl ich nicht so naiv bin zu glauben, dass es dir nicht aufgefallen ist - und ich spielte ohne Unterbrechungen weiter.
Auch als du dich hinter mich setztest und dein Körper ganz leicht meinen berührte, blieb ich cool..zumindest äußerlich.
Es ist unglaublich, dass es mir nichts ausmacht von tausend Augenpaaren beobachtet zu werden, doch sobald ich nur deinen Körper hinter mir spüre, schlägt mein Herz so laut, dass es Kais Drumsspiel Konkurrenz machen kann.
Du machst mich total verrückt.
Trotzdem spielte ich weiter, als ob nichts wäre. Als wenn du mir nicht so nahe wärst, dass ich deinen Atem auf meinem Nacken spüren konnte, dein, jetzt nur noch extrem schwaches, Parfüm riechen konnte.
Ich spielte unbeirrt weiter und unterdrückte den Wunsch, die Augen zu schließen und mich nach hinten fallen zu lassen, so dass ich in deinen Armen gelegen hätte. Ich spielte weiter.
Alles geprobt..
Bis plötzlich eine Geste von dir kam, mit der ich nicht gerechnet hatte.
Deine Finger begannen langsam und sachte über meinen Nacken zu streichen. Liebevoll spieltest du mit den kleinen Härchen, die sich nun in diesem Bereich aufstellten.
Ich versuchte mich weiter auf mein Solo zu konzentrieren, obwohl es mir immer schwerer fiel.
Was sollte das? Das war nicht geplant! Ich weiß, dass diese Geste für die Zuschauer nicht zu sehen war und du weißt es sicher auch, also war es kein Fanservice. Aber was war es dann? Wolltest du mich ärgern, weil du genau wusstest, wie anfällig ich für so kleine Spielchen bin? Bemerktest du überhaupt was du da tatest? Oder war es vielleicht doch absichtlich?
Gefiel dir dieser Moment vielleicht genau so gut wie mir?
Wie um diese Annahme zu bekräftigen rutschtest du mir noch ein Stück näher. Ich spürte nun deinen gesamten Oberkörper, der sich an meinen Rücken schmiegte. Du beugtest dich sogar noch etwas vor, um den Kontakt zu verstärken, was mir fast die Sinne raubte.
Ich unterdrückte das Bedürfnis mich der Berührung entgegen zu schmiegen. Deine eine Hand strich immer noch über meinen Nacken.
Unsichtbar für jeden und fühlbar nur für mich.
Das einzige, was mich davon abhielt den Bezug zur Realität ganz zu kappen, waren die Rufe der Fans. Ob diese nun riefen, weil sie merkten, dass du mir noch ein gutes Stück näher gerückt warst, oder weil mein Basssolo gerade sein Höhepunkt erreichte, wusste ich nicht.
Ich spielte noch den letzten Akkord fertig und mein Solo war vorbei.
Bevor die letzten Klänge meinen Bass überhaupt verlassen hatten, waren die Scheinwerfer schon von uns genommen worden und stellten nun die beiden Gitarristen in den Mittelpunkt des Geschehens, während wir im Dunkeln saßen..
..und es immer noch tun….
Ich weiß nicht, was ich machen soll.
Ich will nichts sagen, weil ich den Moment nicht zerstören will, aber ich muss es tun!
Bald ist das Gitarrensolo zu Ende und das Licht wird sich wieder auf das Podest richten.
Ich sollte schon längst wieder auf meinem Platz hinten bei Aoi stehen und du hättest dich eigentlich auf die Erhöhung stellen sollen auf der wir noch immer sitzen, um den Refrain noch ein letztes Mal mit voller Leidenschaft zu singen.
So war es geplant gewesen!
Statt dessen sitzen wir immer noch aneinander geschmiegt hier und du scheinst auch nicht vorzuhaben, dich zu bewegen.
„Ruki?“
Meine Stimme klingt soviel unsicherer, wie ich es eigentlich gerne hätte, doch ich bin froh dass ich es überhaupt geschafft habe. Einen Moment lang antwortest du nicht und ich befürchte schon, dass du mich gar nicht gehört hast, bis dann doch eine leise Antwort kommt. „Warte. Nur noch einen Moment.“
Du nimmst deine Hand von meinem Hals, doch anstatt aufzustehen lehnst du dich nun an meinen Hinterkopf, so dass dein Gesicht meinen Nacken berührt.
Ich versuche mir einzureden, dass du das alles nur tust, weil du müde bist, gestresst. Wir sind zwar schon beim Encore, doch haben wir noch drei Songs vor uns.
Du bist erledigt, wie wahrscheinlich wir alle, und suchst einfach nur nach der Schulter eines Freundes, an der du dich kurz anlehnen kannst.
Nichts weiter!
Alles nur eine freundschaftliche Geste!
Trotzdem schaffe ich es nicht, nicht zu bemerken, wie dein schneller und flacher Atem angenehm kalt auf meiner schweißbedeckten Haut kitzelt. Wie sich dein Oberkörper so perfekt an meinen Rücken schmiegt, als wäre er genau dafür erschaffen worden. Wie deine weichen Lippen, leicht geöffnet, in meiner Halsbeuge ruhen, und sich bei jedem deiner Atemzüge kaum merklich bewegen…
..und dann ist es wieder hell..
Ich werde geblendet und schaue überrascht ins Licht der Scheinwerfer.
Eigentlich dürfte ich gar nicht überrascht sein. Ich wusste genau, dass das passieren würde, aber ich konnte nichts machen. Zu sehr habe ich mich in dir verloren.
Doch anscheinend bin ich nicht der einzig Überraschte. Die Fans blicken verwundert zu uns hoch. Anscheinend hatte niemand damit gerechnet, dass wir uns noch hier vorne auf dem Podium befinden würden….ich ja auch nicht!
Erst jetzt bemerke ich, dass dein Kopf sich nicht mehr in meinem Nacken befindet, sondern ungefähr auf der Höhe meiner linken Schulter. Von meiner Position aus kann ich dich zwar nicht genau sehen, aber aus den Augenwinkel sehe ich dein leicht verwirrtes Gesicht, was mich schuldbewusst auf meine Lippe beißen lässt.
Ich hätte ein guter Freund sein sollen, mich von deinem Griff lösen und dann so etwas wie „du hast es bald geschafft“ sagen sollen, bevor ich einfach verschwunden wäre
..aber dazu hatte ich nicht die Kraft.
Also machst du jetzt das Beste draus und überspielst das Ganze…in deinem Fall „übersingst“ du es eigentlich.
Erst als du anfängst zu singen fällt mir ein, dass ich auch wieder mit spielen beginnen sollte. Wie von selbst wandern meine Finger über das Instrument.
Dieser Abschnitt ist nicht so anstrengend wie mein Solo und ich habe eher eine zurückhaltende Rolle in diesem Refrain..Gott sei dank!
Allerdings klingt sowohl Aois, als auch Uruhas Spiel etwas steif. Sie sind verwirrt.
Ich kenne sie schon lange genug, um ihre Gesichtsausdrücke zu erraten. Sie schauen zu uns beiden nach vorne, dann wieder sich an und suchen dann wahrscheinlich Kais Blick. Wie ich Kai kenne, wird er ihnen zu verstehen geben, dass sie einfach weiter spielen sollen.
The show must go on!
Jetzt richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf dich.
Vor allem auf deine Stimme.
Ich höre sie durch die Lautsprecher, doch du bist mir so nah, dass ich sie auch direkt aus deinem Mund hören kann, ohne irgendwelche elektronische Verstärkung.
Tief und rein.
Ich liebe deine Stimme.
Schon bei unserem ersten Treffen hat sie mich fasziniert. Dein Gesang hat mich in seinen Bann gezogen und, selbst nach all den Jahren, bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich dich höre. Du singst immer so voller Leidenschaft.
Natürlich stecke auch ich alles in mein Bassspiel, doch du scheinst immer noch mehr geben zu können, als alles.
Das macht deinen Gesang so einzigartig…dass du so einzigartig bist!
Ohne genau zu wissen, was ich mache, lehne ich mich leicht zurück und lasse meinen Kopf auf deiner Schulter nieder.
Ich weiß, wie falsch diese Aktion ist und dass ich mich gerade wahrscheinlich vor ganz Japan als Softie oute, aber es ist mir egal.
Trotz meiner nun geschlossenen Augenlider kann ich sehen, wie du lächelst. Ich sehe es vor meinem inneren Auge und höre es in deiner Stimme.
Die Rufe der Fans werden lauter und ich schmiege mich noch ein Stück näher an dich, damit ich deine Stimme in dem ganzen Gekreische nicht verliere.
Anstatt mich von dir zu stoßen, was ich schon befürchtet hatte, legst du einen Arm um mich und ziehst mich sogar noch näher zu dir heran.
Zärtlich schmiegst du deinen Kopf an meinen, so dass ich fast vergesse weiterzuspielen.
Warum machst du so etwas? Gehört das noch zum Fanservice für dich?
Ich höre, wie du die letzte Zeile singst und kann mir ein unzufriedenes Grummeln gerade so verkneifen.
Eigentlich sollte ich froh sein, dass das Lied gleich zu Ende ist und dass du uns ohne großen Schaden aus der Affaire gezogen hast.
Schließlich hätte es für uns beide ziemlich peinlich enden können.
Trotzdem kann mich nicht darüber freuen, dass ich gleich zurück auf meinen einsamen Platz muss und dich dann wieder nur von Weitem betrachten darf.
Leicht deprimiert öffne ich bei deinen letzten Worten die Augen und erhebe mich leicht von deiner Schulter. Ich drehe mich zur Seite, damit ich dein Gesicht besser sehen kann, während du das letzte Wort langziehst und den Ton noch eine Weile hältst.
Deine Stimme wird leiser und verliert sich im Klang unsrer Instrumente, doch ich kann sie noch hören.
Meine Augen kleben so an deinem, immer noch leicht geöffnete, Mund, dass ich am Anfang gar nicht realisiere, dass du mich anstarrst.
Unsere Blicke treffen sich und ich schlucke schwer.
Was wird jetzt geschehen? Soll ich einfach aufstehen und gehen?
Auch dieses Mal weiß ich, dass das die vernünftigste Entscheidung wäre und auch dieses Mal handel ich wieder nicht nach ihr.
Zu sehr bin ich von deinem Blick gefangen, den ich nicht zu interpretieren weiß.
Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie du dir über die Lippen leckst.
Was hast du nur vor?
Eigentlich weiß ich genau, was du vorhast und wahrscheinlich könnte ich auch deinen Blick richtig interpretieren, aber ich wage es nicht.
Erst, als du dich weiter zu mir herunterbeugst weiß ich, dass meine Vermutung stimmt und mein Herz beginnt wie wild an zu Pochen.
Zaghaft legen sich deine Lippen auf meine und ich höre lautes Geschrei um mich rum.
Dann sind die Rufe auf einmal wie weg.
Das einzige, was noch da ist bist du:
der leicht salzige Geschmack deiner Lippen,
deine Zunge, die über meine Oberlippe streicht bis ich endlich meinen Mund öffne,
die Zärtlichkeit mit der du mich küsst,
die Leidenschaft, mit der ich erwidere….das ist alles was ich wahrnehme.
Zögerlich löst du dich von meinem Mund, so als würdest du es gar nicht wollen.
Auch für mich ging der Moment viel zu schnell vorbei, denn sobald ich deine weichen Lippen nicht mehr auf den meinigen spüre, ist alles wieder da:
die Scheinwerfer,
die Anderen, denen wir später eine Erklärung schuldig sind,
die Fans,
die ganze Welt..
..aber es ist mir egal!
Zärtlich blicke ich in deine Augen und erwidere dein Lächeln.
Ich könnte noch stundenlang so sitzen bleiben.
Erst Kais Schlagzeug reißt mich wieder aus der Trance.
Aus dem Nachdruck, mit dem er die Sticks auf die Becken knallen lässt, gibt er uns unmissverständlich zu verstehen, dass der Rest der Band jetzt gerne mit dem nächsten Lied beginnen würde.
Blitzartig lösen wir uns voneinander und ich springe wieder auf meinen Platz.
Dieses Mal fällt es mir nicht schwer mich von dir zu lösen, was aber nur daran liegt, dass ich fest daran glaube, dass das nicht unser letzter Körperkontakt gewesen sein wird.
Aoi wirft mir einen fragenden oder besser gesagt geschockten Blick zu, den ich aber nur mit einem dümmlichen Grinsen erwidern konnte.
Oder sollte ich lieber „mit einem verliebten Grinsen“ sagen?
