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Aër

von

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Maris

Tapp, Tapp, Tapp. Durch die alten Korridore hallten schnelle Schritte, von stoffumwickelten Füßen verursacht und immer näher kommend. Bald konnte man auch den Verursacher der Geräusche ausmachen, es war Aër, der verzweifelt nach einem Weg ins Freie suchte. Wild rannte er durch all die von Fackeln beleuchteten Gassen tief unter dem Erdreich, sich stets umschauend, um ja nicht auch nur den kleinsten Spalt zu übersehen. Hier war einer - konnte er der Ausgang sein? Der Knabe zwängte sich hindurch und landete in einem weiteren Hohlweg, den er nicht kannte. Er eilte weiter, so schnell ihn seine Beine trugen, fand Orte, die er sich nicht erträumt hätte, zum Beispiel einen Raum in Kugelform, der zur Hälfte mit sauberem Wasser gefüllt war und von einem kleinen Steg von kaum zwei Fuß Breite umgeben war, an dem man entlanggehen konnte zu einer der sechs symmetrisch angeordneten Pforten, von denen aus sich die gewölbte Halle erschließen ließ. In der Mitte der Decke war ein Loch bis zum gepflasterten Steingrund hinauf führend, durch das ein Lichtkegel direkt auf eine Art Insel im Wasser schien, auf der sich eine Skulptur aus feinstem Marmor befand. Diese stellte einen alten Mann dar, der einen voluminösen, mit Wasser gefüllten Topf über seinem Haupt hielt, welcher sein Gesicht in Schatten hüllte. Er war leicht bekleidet, nur eine lichte Toga die sich gleich seinem langen Bart im Wind wellte, und ein Gürtel aus einem edlen Metall der irgendetwas an sich hatte, dass ihn erscheinen ließ als bestünde er aus reiner Energie.

Doch war dies nicht der einzige Raum den Aër entdeckte, ein weiterer, quadratischer war gefüllt mit Flächen, die ein Abbild irgendeines Teiles des Raumes zeigten, scheinbar ohne jegliches System. Das Problem war nur, dass sie oft Öffnungen zeigten, die nicht vorhanden waren, wie der Junge schmerzhaft feststellen musste. Es war ein verflixter Irrgarten, nur deshalb so schlimm, weil man etwas nicht Vorhandenes sah, eine Stätte reinster Illusion, wie sie der Jugendliche nur von Erzählungen kannte über den alten Magier Treht, der auch „Herr der Geister“ oder „Seelenmeister“ genannt wurde, und der die Menschen durch hinterlistige Scheinwahrheiten in seinen Bann zog und ihnen vorgaukelte, er sei Allmächtig, wie auch sein Name Allmacht in einer vergessenen Sprache bedeutete. Doch wusste Aër sich zu helfen, denn es waren rein visuelle Täuschungen so dass es genügte die Augen zu schließen und Blind durch den Raum zu eilen, der ohnehin nur zwei Einlässe aufwies.

In dem Dritten unter den erwähnenswerten Räumen befand sich absolut nichts. Nicht einmal die sonst überall vorhandene Fackelreihe war vorhanden, nur komplett weißer Stein, Alabaster vielleicht, der glatt an Boden und Wänden verlief. Dennoch war es in dem Raum taghell, scheinbar fluoreszierte die mehr als stickige Luft in der Räumlichkeit von sich aus, so dass es nicht nötig war Lampen anzubringen. Um nicht an dem Gas zu ersterben verließ er jedoch schnellstens den Saal und irrte weiter.

Zuletzt wanderte er in eine scheinbare Sackgasse, in der es kein Licht mehr gab, so dass er sich eine der an der Wand hängenden Fackeln bemächtigte. Er wusste zunächst nicht weiter und suchte nach Spalten in dem Mauerwerk, die er jedoch nicht fand. Aus Versehen entwich seiner Hand der Leuchter und fiel zu Boden, woraufhin sich dort eine in den Grund eingelassene hölzerne Klappe entzündete. Aër wich einen Schritt zurück um den Flammenzungen zu entgehen und wollte zunächst warten, bis die Falltüre vollständig durchgebrannt war, doch unerklärlicherweise wurde es in der Nähe des Brandes immer stickiger, deshalb musste der Knabe den Gang zurückgehen und dort auf ein Verlöschen warten. Lange brauchte er nicht zu harren, denn schon nach einigen Minuten erstickten die Flammen an ihrer eigenen Gier.

Die Klappe war noch nicht verschwunden, doch bereits weitaus lädierter als die zum Gang der Finsternis, und da Aërs Hand sich bereits erholt hatte konnte sie auch dieses Mal das Holz durchtrennen. Nur die Hitze hatte er nicht bedacht, welche leichte Verbrennungen mit sich führte. Unter ihm war es wiederum gänzlich düster und schwarz, dennoch stieg er hinab und durchquerte das Dunkel um schließlich zu erkennen, dass er vor einer hohen Türe stand. Er hob seine linke, noch nicht schmerzende Hand und legte sie auf die kalte, metallene Klinke, die er mit einem Ruck hinunterdrückte. Das Türblatt schwang auf, so dass er vor sich Licht erkennen konnte. Tageslicht.

Nachdem sich seine Augen an den ungewohnten Anblick gewohnt hatten trat er hinaus und konnte erkennen, dass er sich auf einem Hügel unweit der Stadt befand, auf die er zuzugehen begann. Zuvor band er sich jedoch noch den Stoff von den Füßen, denn er hatte noch nie zuvor Gras unter seinen Füssen gespürt, so weich und feucht, eine echte Wohltat für seine Blutverklebten Sohlen. Alles um ihn herum war so friedvoll und freundlich, so warm, so einladend wie er es gar nicht kannte. Langsam und unbeschwert konnte er wandern ohne bedrückende Enge kalter Steinmauern, doch der Friede war trügerisch! Schon bald konnte er hinter sich die tiefen Stimmen von Männern hören, die offenbar darauf aus waren ihn zu erhaschen. Er rannte los um nicht von ihnen erwischt zu werden, doch waren seine Kräfte zu erschöpf um wirklich schnell zu sein, er hatte einfach zu lange die unterirdischen Gemäuern durchsucht. Er war kaum hundert Meter von dem Tor entfernt, da entkam diesem auch schon der erste Schub weinrot maskierter Männer, die mit ihren langen Skimitars eine Hetzjagd auf ihn veranstalteten. Aër sah nur eine Chance zu entkommen, den Wald. Nur dort konnte er sie abhängen. Eine zweite Gruppe erschien in der Tür, sie hatten jedoch Speere als Waffen, mit denen sie sogleich nach ihm zu werfen begannen.

Aër hatte den Wald endlich erreicht ohne von dem Speerregen erwischt zu werden, doch seine Verfolgergruppe war auch nur noch einige wenige Schritte von ihm entfernt. Es hatte keinen Zweck, er würde sich ihnen stellen müssen um überhaupt eine winzige Chance zu haben. Dennoch drang er tiefer in den Hain ein, um nicht von allen zur gleichen Zeit angegriffen zu werden. Ein Speer verfehlte nur knapp seinen Schädel und blieb in einer Birke stecken, der zweite Schub hatte die zuvor geworfenen Speere erreicht und versuchte erneut ihn damit zu erwischen, ohne Rücksicht auf Verluste an der Vorhut. Aër zog seinen Dolch und drehte seinen Oberkörper nach hinten, während er immer noch fortschritt. Den ersten Hieb des vordersten Mannes konnte er noch mit der stumpfen Seite des Dolches abblocken, der darauf folgende Stich eines Nachkommenden verfehlte aus Zufall nur knapp seine linke Seite. Ein Speer erlegte einen der hintersten Angreifer, doch das nutzte ihm nicht viel. Aër war viel zu geschwächt und überdies im Kampf völlig ungeschult, so dass es nur eine Frage der Zeit war bis er geschlachtet werden würde. Hieb von rechts! Speer von oben! Ein Schwungschlag riss ihm schließlich den Dolch aus den Händen, so dass er nur noch ausweichen konnte. Schwerthiebe von beiden Seiten! Er konnte nichts tun außer sich zu Boden fallen lassen um dem Angriff zu entgehen, und dort lag er nun, Schutzlos und Ausgeliefert. Er schloss die Augen als er sah wie Einer weit ausholte um ihm den Kopf abzutrennen. So konnte er nicht sehen, dass dessen Schädel von einer heranschwirrenden Axt gespalten wurde, bevor er auch nur mit dem Schlag begonnen hatte. Ein Muskelbesetzter Holzfäller eilte durch den Forst auf die Gruppe zu, während er eine zweite, doppelschneidige Axt bedrohlich über seinem Haupt rotieren ließ. Mit ihr hackte er noch während des Laufens mit einem Schlag einen Baum um, der beim umfallen ein paar der Kuttenträger mit sich riss. Einige weitere bearbeitete er gründlich mit der Axt, während der Großteil schreiend davonrannte. Nur einen Speer übersah der mächtige Baumstutzer, jener bohrte sich tief in dessen rechte Schulter, wurde aber mit einem kräftigen Ruck der Linken abgebrochen.

Nachdem alle fort waren drehte sich der Athlet zu Aër um und bedeutete ihm, er solle mitkommen. Nach einer kurzen Wanderung durch den Wald kamen sie bei einer Holzhütte an, offenbar das Heim des unverhofften Retters. Vor der Tür wartete bereits ein junges Fräulein, das etwas irritiert war, sie hatte vermutlich nicht mit Besuch gerechnet. Sie sprach kein Wort und bedeutete einfach nur einzutreten, legte einen weiteren Teller auf den Tisch und versorgte die Wunde des Mannes. Aër saß währenddessen nur da und wartete, wie er es auch sonst immer getan hatte. Die Frau, etwa 16 Jahre alt, richtete sobald sie mit der medizinischen Versorgung fertig war das Essen an. Alle aßen ausgiebig, denn es war erstaunlich viel für eine Holzfällerfamilie. Erst nach dem Essen wurden ein paar Worte gewechselt.

„Ich bin Maris und das ist mein Vater. Er ist stumm musst du wissen, und meine Mutter starb bald nach meiner Geburt, deshalb weiß ich seinen Namen nicht. Wir wohnen hier im Wald, denn Vater würde in der Stadt nicht akzeptiert werden, man würde immer behaupten er hätte seine Stimme an den Teufel verkauft um Kraft von ihm zu erhalten, und von dem Holzverkauf kann man gut Leben.“ Marisas Stimme war stotterig und oft stimmten die Betonungen nicht, was nicht verwundern durfte wenn sie alleine mit ihrem stummen Vater wohnte. Des Weiteren sprach sie: „Du kommst doch von der Sekte, oder? Warum hat Vater dich mitgenommen und nicht getötet, wie er es sonst immer macht?“ Aër überlegte kurz ob er die Wahrheit sagen sollte, entschied sich jedoch die Einzelheiten zu verschweigen.

„Ich bin vor ihnen geflüchtet…“ „Vor wem?“, warf Maris ein, „Vor der Sekte?“ Aër wusste kurz nicht was sie meinte, nickte dann aber. „Ja, ich wollte vor ihnen fliehen deshalb jagten sie mich. Ohne deinen Vater könnte ich jetzt wohl nicht mehr mit dir sprechen. Wie kann ich mich wohl erkenntlich zeigen?“ Er blickte sie fragend an, doch ihr schien es nicht aufzufallen. Oder es wollte ihr nicht auffallen.

„Wie lange warst du bei ihnen eingesperrt?“ Ohne auch nur die Spur von Verlegenheit wechselte sie das Thema, als wäre das das natürlichste der Welt. „Sicherlich schon ein paar Jahre, wenn ich mir deine Haut so ansehe.“ Ihr Vater, der zuvor nur still mitgehört hatte grunzte in einer Form, die als Lachen zu deuten war, doch Aër wusste nicht was so lustig war und besah sich zunächst, um eventuelle Anzeichen für ein langes unter der Erde bleiben aufzuspüren, konnte aber nichts entdecken. Maris, die natürlich gemerkt hatte dass er nicht verstand, hielt ihre Hand neben die seine. „Du bist blass wie ein Toter, das kommt davon dass du zu lange nicht in der Sonne warst. Das Sonnenlicht ist wichtig für ein langes und gesundes Leben, ohne die Sonne geht alles zugrunde.“ Der Junge schämte sich für seine fahle Haut, ohne wirklich zu wissen warum. „Ich bin seit meiner Geburt in den Katakomben gewesen“ murmelte er in einem fast entschuldigenden Ton. Doch Maris war offenbar nicht in der Lage Stimmlagen richtig zu deuten, denn sie ging nicht darauf ein.

„Du wirst bei uns bleiben, nehme ich an. Oder weißt du schon wo du hin willst?“ fragte sie ihn abrupt, so dass er nicht gleich die richtigen Worte fand „Ja… Das heißt nein… ich kann doch nicht bei euch bleiben, das… das geht doch nicht, oder?“ Sie gab ihm keine Antwort sondern stand auf und ging zu einem Schrank, aus dem sie einen Strohsack holte und die Holztreppe hochging. Während Aër noch in einer gewissen Form verzweifelt nachschaute, kam von Seiten des Holzfällers wieder der lachähnliche Grunzer. Schließlich erhob er sich und deutete dem Jungen mit ihm hochzugehen. Es war schon längst Abend geworden denn dass, was Aër zuvor für die strahlende Mittagssonne hielt war nur ein halblichter Sonnenuntergang.

Wiederum träumte Aër diesen seltsamen Traum der Pflanzen in allen möglichen Formen, die in einer frostigen Gegend blühten als wäre es der wärmste Sommer. Er stapfte barfuss durch den kalten, ertaubenden Schnee, und betrachtete den seltsamen Blumenbaum genauer, die oben hängenden braunen Kugeln waren ebenso haarig wie der Stamm. Der Junge fror am ganzen Leib, und wünschte sich schon zurück in das warme Zimmer, in dem er eben noch gegessen hatte. Er wollte die Kugeln noch näher betrachten, hatte aber niemals klettern gelernt. Auch waren seine Hände und Füße viel zu steif dazu. Deshalb warf er sich mit seinem gesamten Körper gegen das Holz, in der Hoffnung so würden die Bälle herunterfallen. Es gelang ihm, jedoch taumelte er zurück als die Kugel seinen Kopf traf.

„Wach auf, du hast jetzt genug geschlafen!“

Maris weckte Aër am späten Vormittag: „Deine Flucht hat dich ziemlich mitgenommen. Vorgestern musste Vater dich sogar auf deinen Strohsack legen, weil du noch beim heraufgehen eingeschlafen bist.“ Der Junge gähnte verschlafen, erst nach einiger Zeit fragte er: „Vorgestern?“ Maris lachte. „Du hast gestern kein Glied gerührt. Nur manchmal etwas gemurmelt. Wer ist Rina?“ Plötzlich war der Knabe hellwach, sichtbar schockiert und zur gleichen Zeit den Tränen nahe, dass es einen wunderte wie viele Gesichtsausdrücke in ein Gesicht passen. Schnell beschwichtigte ihn die Holzfällertochter mit ein paar besänftigenden Worten, und wies ihn an nach unten zu gehen. Dort erwartete ihn schon ein hungriger Herkules, mit einer Miene als hätte er schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Maris ging zum Herd, während ihr Vater Aër an den Tisch bat. Er drückte ihm eine Axt in die Hand, nicht so groß wie seine eigene, aber dennoch so schwer dass sie der Junge beinahe hätte fallen lassen. Der Holzfäller grinste, wandte sich dann jedoch ab und wartete auf das Essen, das Maris auch alsbald brachte.

„Gestärkt für die Arbeit?“, fragte Maris nach dem Essen in die Runde, dann, nach einer kleinen Kunstpause wendete sie sich an den jungen Burschen: „Vater bringt dir jetzt bei wie man Bäume richtig fällt. Geh einfach mit ihm mit und mach ihm nach was er dir zeigt.“ Folgsam hängte Aër sich an ihren Vater an und marschierte mit ihm durch das Gehölz, bis dieser an einem besonders dicken Stamm stehen blieb. Er legte seine Hand auf den Baum und schloss seine Augen. Eine Art Traurigkeit legte sich über ihn, bis er schließlich losließ und kurz seufzte. Dann zeigte er auf einen kleineren Baum, kein junger mehr, aber dennoch nichts in Vergleich zu dem, dem er zuvor die Hand aufgelegt hatte. Aër schlenderte dem Baum entgegen. Ihm fiel der Baum in seinem Traum wieder ein, der nichts gemeinsam hatte mit dieser Birke. Der Junge nahm die Axt in beide Hände und wollte schon beginnen auf den Laubbaum einzuschlagen, doch er wurde von einem mächtigen Arm zurückgehalten. Marisas Vater blickte ihn Traurig an und schüttelte leicht den Kopf. Dann nahm er seine eigene Hacke und zeigte Aër zunächst wie man sie halten musste. Anschließend verriet er ihm die richtige Stellung zum Baum und zeigte ihm langsam die Richtung an, in die geschlagen werden musste. Der Junge machte es zunächst völlig verkehrt, aber nach ein paar Verbesserungen und Versuchen lag das Beil richtig in seiner Hand, und auch die Schlagrichtung stimmte. Nun wurde ihm noch ein richtiger Schlag an dem breiten Stamm einer alten Eiche gezeigt, bei dem die Holzsplitter geschickt nur nach unten stürzten. Aër versuchte es auch, bei ihm jedoch wurden die weißen Rindenteile in alle Himmelsrichtungen verteilt, ein kleines Stück schürfte auch sein rechtes Bein. Er wandte sich um, weitere Anweisungen erwartend, die er nicht bekam. Der Holzfäller hatte ihm den Rücken zugekehrt und arbeitete an der Eiche weiter. Irgendetwas sagte dem Jungen, die Unterweisungen würden erst dann fortgesetzt werden, wenn er den Baum gefällt hatte. So stellte er sich wieder zu der Birke, die Beine leicht gespreizt für einen sicheren Stand, die Axt nicht zu verkrampft, aber auch nicht zu locker in der Hand haltend, und schlug auf den Baum ein. Von allen Seiten, denn er wusste nicht in welche Richtung er ihn später stürzen wollte.

Die Junge Frau, die dem greisen Chinesen ein paar Tage zuvor das Kind gebracht hatte traf mitten in der Nacht wieder bei ihm ein, sichtlich erschöpft und mitgenommene Kleidung tragend. Noch vor der Tür fing der Ostasiate sie ab und fuchtelte wild umher ohne wirklich ein Wort herauszubringen. Die Frau zog ihn zunächst mit sich in das Haus, und setzte ihn an einen Tisch. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber auf den Boden und beschwichtigte ihn. Doch plötzlich sah sie hinter seinem Rücken eine geöffnete Tür, die in den Meditationsraum führte. Das kleine Mädchen spielte immer noch darin, wie in Trance bewegte sie die Teile eines Ch’i Ch’ae pans. So formten sich zunächst ein geflügelter Mann und dann eine Feuersbrunst. Als diese fertig geformt war, begann die rote Flüssigkeit wieder zu fließen, die den Flammen die passende Farbe geben sollte. Die junge Frau schrie hysterisch und versuchte in das Zimmer zu laufen, doch das Mädchen blickte kurz zu ihr empor, als sie durch die Tür kam, und legte dann weiter ihre Formen. Die Frau jedoch konnte sich weder rühren, noch schreien. Die roten Steine bildeten wieder eine Frau mit Wanderstab und Reisekleidung, und dann ein Quadrat mit einem Pfeil in sich, der nach Osten zeigte, ebenso wie die sich eben erhobene Hand des Kindes und die weiteren, zahllosen Spiele, die am Boden verstreut waren. Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden, schon spielte das Mädchen friedlich mit einem neuen Tonspiel, gähnte zwischendurch mal und schien nicht zu beachten, dass die Frau hysterisch schrie. Sie ging auf den Alten los, doch dieser wehrte nur ab. Es dauerte einige Minuten, bis sich die Furie zurück zur Frau wandelte, und noch einmal so lange, bis ihr verstörter Blick durch ein stolzes Lächeln ersetzt wurde.

Nur noch ein dünner Keil hielt den Baum an den Wurzeln, man hätte ihn förmlich umblasen können. Der junge Bursche sah zu einer Esche, die Marisas Vater sanft streichelte, einen Blick als müsste er im nächsten Moment sein Leben opfern. Kurze Zeit später wandte er sich von dem Baum ab und besuchte einen weiteren, doch den Knaben sah er scheinbar nicht. Deshalb beschloss Aër den letzten Schritt alleine zu wagen und schlug unüberlegt auf eine der Seiten ein. Als der Baum umfiel, krachte er gegen einen nahe stehenden anderen Baum, der unter dem Gewicht einbrach und so ebenfalls stürzte. Der erfahrene Holzfäller kam kopfschüttelnd auf ihn zu, und zeigte ihm, wie man die kleinen Verästelungen richtig entfernte. Dafür brauchte Aër den restlichen Nachmittag.

Abends, als die beiden heimkehrten, bewegte sich der Bursche nur noch schleppend, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Seine Kraft reichte aber noch mehr als aus, um die heiße Suppe zu verschlingen, die Maris für ihre Arbeiter gekocht hatte. „Vater hat dich ganz schön rangenommen, dabei sollte er eigentlich wissen dass nicht alle so stark sind wie er.“ Sie schielte zu ihrem Vater, der sich jedoch keiner Schuld bewusst zu sein schien und weiteraß. „Wenigstens bekommst du jetzt einen gesunden Schlaf. Vielleicht sogar einen zweitägigen.“ Noch immer schaute sie zu ihrem Vater, der jedoch nur mit ernster Miene seine Suppe essen wollte, ehe sie kalt wurde. Erst als sie sich von ihm abwandte konnte er sich einen breiten Grinser nicht mehr verkneifen.

Auch diese Nacht hatte Aër wieder diesen bizarren Traum. Er hob die behaarte braune Kugel auf und studierte sie eingehend, indem er sie drehte und in die Luft warf, um Form und Gewicht besser einschätzen zu können. Dann schüttelte er das Eiförmige Etwas, wobei er im inneren etwas gluckern hörte, wie Wasser in einem geschüttelten Krug. Dies war Aër bereits genügend Anreiz, das innere dieses Eis zu erforschen. Er schlug die Kugel gegen den Boden, mit aller Kraft gegen den Stamm des Baumes und schmetterte einen Eisklumpen, der auf dem Schneeboden gelegen hatte, dagegen. Doch trotz roher Gewalt gelang es ihm nicht, die braune Haarschicht auch nur anzukratzen.

In der Stadt konnten jene, die nicht schliefen, dem dumpfen Klang der Glocken lauschen. So auch eine junge Frau, die auf einem der zahllosen Dächer kauerte. In ihren zitternden, feinen Händen hielt sie ein Stilett, dessen Klinge im fahlen Licht des Mondes silbern glimmerte. Der Mond. Wie ein Gespenst ruht er über der Stadt. Diese Totenstille rundum die Häuser, die fest und unbeweglich wie Grabsteine stehen, und der Mond am dunklen Sternenhimmel, als wäre die Welt ein riesiger Friedhof erwecken den Anschein, der Erdball wäre gestorben, und der Mond als einziger Angehöriger zum Begräbnis erschienen. Die Wolken, die den Mond zur Hälfte verdecken sind sein Trauerschleier, und die Tropfen, die vom Himmel fallen, sind seine Tränen. Und als wäre sie die Mörderin, sitzt die Frau mit ihrem Dolch da, wie die einzige Überlebende des großen Sterbens. Auch sie weint, weint aus Mitleid mit der Welt, die gestorben ist, ohne es zu merken, und weint um ihre Einsamkeit. Doch als der Mond fürchterlich zu schluchzen begann, und die Nässe tief in die Kleidung der Evastochter eindrang, verschwand sie schließlich schutzsuchend in der Dunkelheit.

Aër erwachte, seltsamerweise ohne von Maris geweckt worden zu sein. Die Sonne erhob sich soeben am Horizont, so dass der Raum von einem schwachen, rötlichen Schein erhellt wurde. Der Junge sah sich um, er hatte bisher nur flüchtige Blicke des Obergeschosses einfangen können, entweder er war zu früh eingeschlafen oder aber er wurde von Maris nach unten zitiert. Nun aber schlief sie tief und fest auf der anderen Seite des Raumes, neben einem sich auf und ab bewegenden Hügel, der seltsame Geräusche von sich gab. Ein Grinsen huschte über Aërs Gesicht, als ihm diese Bezeichnung einfiel. Die Augen des Jungen strichen über die verschiedensten Holzstrukturen, die sich im oberen Stockwerk befanden. Fast alles hier war aus Holz, von verschiedensten Bäumen auf verschiedenste Weise verarbeitet, mal nur grob zurechtgehackt, bei manchen herumstehenden Skulpturen wiederum schien es als wären sie von feinster Klinge liebevoll bearbeitet worden. Langsam erhob sich Aër von seiner Bettstatt und schlich durch das Zimmer, um nachzusehen was die Holzplastiken darstellen sollten, von seinem Schlafplatz aus konnte er es nicht erkennen. Er wählte sich eine Statuette aus und betrachtete diese genauer, er befühlte sie auch, damit ihm auch nicht die kleinste Unebenheit entging. Die Figurine stellte Marisas Vater da, und im selben Moment da Aër dies erkannte, wusste er, warum alles hier so unterschiedlich bearbeitet war. Die groben Stücke waren schon viel früher von Marisas Vater hergestellt worden, später kamen fein ausgearbeitete Kunstwerke von Maris hinzu, als diese mit der Materie umgehen lernte. Erst nun bemerkte der Bursche, dass er nicht gewusst hatte was Maris tagsüber machte. Er hätte auch gar keine Gelegenheit gehabt darüber nachzudenken.

„Schon wach?“ Maris war aufgestanden und hinter ihn getreten, ohne dass Aër es bemerkt hatte.

„J…Ja“ stotterte er zur Antwort und fühlte sich ertappt. Er stellte den Holzholzfäller wieder an seinen ursprünglichen Platz und folgte Maris über die Treppe nach unten, während ihr Vater noch gegen den Schlaf strampelte.

„Maris, woher kennst du eigentlich deinen Namen, wenn du den deines Vaters schon nicht kennst?“ begann Aër ein Gespräch während er ihr half ein Frühstück anzurichten. Er erhielt keine Antwort. Die junge Frau setzte sich und bedeutete ihm, es ihr gleichzutun.

„Du bist nicht dumm“ begann sie und legte eine kurze Pause ein, in der sie überlegte wie sie fortfahren sollte „Ich wüsste meinen Namen tatsächlich nicht, und noch seltsamer ist es, dass ich überhaupt sprechen kann, nicht wahr?“ Der Junge überlegte kurz und nickte dann. Zuvor war ihm das noch nicht bewusst.

„Es liegt an Godwin. Er kam kurz vor meiner Geburt in dieses Haus und blieb als er meine schwangere Mutter sah, um ihr zu helfen. Als sie kurz nach der Niederkunft verstarb versprach er meinem Vater für mich zu sorgen, deshalb baute er ihm eine Hütte nicht weit von hier.“

„Ach, so ist das“ meinte Aër dazu, „Dieser Godwin hat dir also einen Namen gegeben und dich sprechen gelehrt?“ Maris nickte: „Ja, aber das ist nicht alles. Sieben Jahre lang unterwies er mich und half meinem Vater das Holz zu verkaufen. Er selber durfte sich ja nicht in die Stadt wagen. Doch dann, eines Nachts, wurden wir geweckt weil jemand an die Tür pochte. Ich dachte es wäre Vater, sonst gab es ja niemanden der uns kannte, aber als Godwin öffnete standen da einige Männer in langen Kutten. Noch bevor Godwin etwas sagen konnte wurde er von einem davon erstochen. Ich schrie, und zum Glück hört mein Vater ziemlich gut. Sie hatten mich schon gepackt und wollten mich verschleppen, doch da kam Vater angerannt und… nun ja, du scheinst ihn ja in Aktion gesehen zu haben.“

Betrübt blickte der Junge zu Boden. Er wusste nicht, was er darauf hätte antworten können. Während er noch überlegte und sich dabei auf die Unterlippe biss, stand Maris auf. Ihr Vater stand am Fuß der Treppe, mit einer Träne die ihm über die Wange lief und die harten Konturen seines Gesichts erweichte. Sie umarme ihn und wischte ihm die Träne ab, während sie selbst zu weinen begann. Mit einer schluchzenden Stimme wandte sie sich wieder an Aër: „Ich bitte dich, erwähne es nicht mehr.“ Er würde es nicht mehr erwähnen.



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