Ausgesperrt
Warum hatte er das getan? Warum hatte Atemu ihn einfach geküsst, nur um diese lästigen Typen zu vertreiben? Das konnte er einfach nicht glauben. Schließlich hätte er dazu andere Methoden verwenden können. Kaiba schüttelte den Kopf. Aber, wenn er ihn küssen gewollt hatte, warum sagte er dann hinterher so was wie, dass er nichts dabei gefühlt habe? War das nur so eine Art Experiment gewesen, so nach dem Motto: Wie fühlt es sich wohl an, Seto Kaiba zu küssen?
Je länger er darüber nachdachte, desto ärgerlicher wurde er. Er liebte diesen Kerl und der. . .küsste ihn einfach so zum Spaß!
Es tat weh.
Was sollte er jetzt tun?
Und wann würde er endlich seine Erinnerung zurückgewinnen? Würde das überhaupt jemals geschehen?
Der Arzt hatte gesagt, dass es nur an ihm läge. Daran, wann er sich wieder erinnern wollte. Aber nichts anderes wollte er die ganze Zeit und die Erinnerung kam trotzdem nicht zurück. Wie sehr sollte er es denn noch wollen? Er raufte sich durch die Haare.
Sein Blick fiel auf den Küchentisch. Dort lag die Tageszeitung. Schon wieder berichtete man über ihn, in einem Artikel, der sich mit genau der gleichen Frage beschäftigte: Würde er seine Erinnerungen jemals wieder zurück erlangen? Inzwischen war es nämlich bekannt geworden, dass er an Amnesie litt.
Er blickte zum Fenster hinaus. Wieder einmal saß er hier und wusste nichts mit sich anzufangen. Oder wollte es auch gar nicht wissen, weil alles so sinnlos erschien. Das Ende des Sommers, der Herbst waren vergangen. Und er? Er schien immer auf der Stelle zu treten und wenn er mal ein Stück voran kam, wurde er gleich wieder zurückgeworfen.
Ich bat mich selber um Asyl
Und nahm mich bei mir auf
Doch wurde ich mir schnell zu viel
Und warf mich wieder raus
Jetzt steh ich hier ganz ohne Haus
Und friere mich halb tot
Ich schau zu meinem Fenster rauf
Und alles in mir tobt
Verdammt! Er wollte endlich wissen, wer er eigentlich war! Er hatte zwar Nachforschungen angestellt, aber die hatten nur ziemlich oberflächliche Ergebnisse zutage gefördert. Der Mensch über den er sich informierte, das war, als würde er über einen Fremden lesen, nicht über sich selbst. Dieser Seto Kaiba entsprach überhaupt nicht seiner Persönlichkeit! So selbstbewusst, zielsicher und ehrgeizig, ohne Zweifel. . .das war er einfach nicht! Nein, das war nicht er.
Resignierend lies er die Hände sinken und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sein Blick wurde leer. Was sollte er nur finden? Wenn er doch nicht mal wusste, was er suchte. Würde er sich eigentlich gefallen, wenn er sich wiedersah? Hatte es überhaupt Sinn zu kämpfen? Schon wieder musste er sich diese Frage stellen, obwohl er doch schon geglaubt hatte, diese Phase überwunden zu haben. Aber seit er sich über das einzig Sichere, in seinem Leben - Yami - nicht mehr sicher war, wurde ihm plötzlich klar, dass er das alles nur wegen seinem „Schutzengel“ getan hatte und nicht für sich. Ja und wegen dieser Karte mit dem weißen Drachen, die so ein seltsames Gefühl bei ihm auslöste. Ein Gefühl, das an ihm zog und zerrte und ihm diese Schmerzen bereitete.
„Yami, ich möchte hier nicht mehr stehen.“, sprach Kaiba zu sich selbst und trat an das Balkonfenster heran, erinnerte sich daran, wie er sich hier mit ihm getroffen hatte. Eine schöne Erinnerung - eine der wenigen, die er hatte.
Dieses Flugzeug stürzt ab
Dieser Zug ist entgleist
Dieser Alptraum wird wahr
Bin auf ewig verwaist
Hab mein Kennwort verloren
Jeder Zugriff verwehrt
Hab mich zu weit entfernt
Und mich selbst ausgesperrt
Er war sich nur über eines sicher: Er mochte Yami und hoffte deshalb, dass sich alles klären würde, dass es nicht so war, wie es schien.
Wie auch immer - er konnte entweder ewig hier rumstehen - beziehungsweise unruhig durchs Haus laufen, oder einfach weitermachen und sich darauf konzentrieren, was im Moment anstand. Er würde es einfach auf sich zukommen lassen, sowohl was seine Erinnerung als auch Yami betraf. Durch endloses Grübeln und Nachdenken konnte er auch nichts ändern.
Es war schon fast 15 Uhr und er hatte Yami gestern ja zu sich gebeten oder eher befohlen. Bei dem Gedanken daran fuhr ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Nicht, weil er so abweisend zu seinem Freund gewesen war, sondern weil er sich in seiner Wut und Enttäuschung und Verwirrung plötzlich so anders gefühlt hatte, als wäre er aus sich selbst hinausgeworfen worden und jemand anders hätte die Kontrolle übernommen. Er selbst könnte doch niemals so kalt zu Yami sein. Nein, er mochte seinen Schutzengel doch! Bei dem Gedanken lächelte er. Immerhin hatte dieser sich sofort bei im entschuldigt. Bestimmt war alles nur ein blödes Missverständnis, eine dumme Situation, die da entstanden war. Bestimmt steckte nicht mehr dahinter. Und wenn doch. . .vielleicht war es dann sogar etwas Positives, vielleicht liebte sein Schutzengel ihn ja auch. Setos Lächeln wurde noch glücklicher. Das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Und irgendwann würde dann auch seine Erinnerung wieder zurückkommen und alles gut werden. So konnte man das doch auch sehen. Warum sollte er immer alles nur negativ sehen? Ja, es konnte doch sein, dass doch alles einen Sinn machte und. . . Aber warum hatte diese Aufzeichnung, die er von seinem früheren Ich gefunden hatte, so hasserfüllt und verbittert geklungen? Warum war er so gegenüber Yami eingestellt gewesen? Er konnte den Grund nicht erkennen. Vielleicht war sein Freund doch nicht der, der er zu sein schien? Nein, das wollte er nicht glauben, doch nicht sein Schutzengel!
Und außerdem - hatte er nicht eben noch mit dem Grübeln aufhören wollen? Kaiba schüttelte unwirsch den Kopf. Selbst wenn er seine Erinnerungen und sein früheres Ich zurückerlangen sollte, musste er keine Angst davor haben. Er selbst konnte doch schließlich steuern, wer er sein wollte und wen er gern haben wollte, oder etwa nicht?
Wenn ich mich
Irgendwann treff
Geb ich mich
Wieder bei mir ab
Und wenn ich
Noch mal vor mir flieh
Geb ich mich
Nie wieder auf
Geb mich nie wieder auf
Geb mich nie wieder auf
Die Türklingel läutete. Das musste Yami sein.
Er wies Isono an zu öffnen. Der ehemalige Pharao trat ein und fand Kaiba im Wohnzimmer mit dem Rücken zu ihm gewandt. Als er sich nicht rührte, räusperte Yami sich und erklärte:
„Seto, wegen gestern. . .also, es tut mir wirklich leid. Es ist einfach so über mich gekommen. . .“
„Warum?“ Kaiba presste seine Handfläche an die Fensterscheibe und schaute anscheinend gedankenverloren hinaus.
„Warum?“ Yami hob überrascht den Kopf. Diese Frage hatte er jetzt nicht erwartet. „Ich habe es dir ja schon gesagt. Das war nur. . .eine etwas außergewöhnliche Methode, um diese lästigen Typen loszuwerden. Zugegeben, da hätte ich mir vielleicht etwas. . .weniger intimes einfallen lassen sollen, aber ich, nun ja. . .“
„Yami, du bist ein miserabler Lügner!“, brachte es Kaiba mal kurz auf den Punkt. Das bemerkte sogar er, nachdem er mal gründlich nachgedacht und sein Kopf etwas klarer geworden war. Er wandte sich um und hatte das Vergnügen, den ehemaligen Pharao mal unsicher und peinlich berührt zu erleben.
„Nun, ich. . .“, zögerte dieser und überlegte hin und her, wie er sich daraus wieder retten konnte. Schließlich seufzte er ergeben und sah wohl ein, dass das jetzt keinen Sinn mehr machte. „Also, ich gebe es zu, ich habe dich nicht nur deswegen geküsst.“ Na also! Kaiba hatte es doch gewusst! Plötzlich verspannte sich alles in ihm, während er auf Yamis Erklärung wartete. „Sondern auch, weil ich. . .“ Atemu schluckte. Nun ja, jetzt hieß es, entweder ganz oder gar nicht. Und so wählte er den Angriff nach vorn und ging auf Kaiba zu, versuchte, seiner Stimme mehr Sicherheit zu geben. Verdammt, warum fiel ihm das plötzlich nur so schwer? Vor nicht allzu langer Zeit hätte damit nicht solche Probleme gehabt. „Weil ich. . .dich sehr mag“, brachte er es mal vorsichtig nicht ganz auf den Punkt.
Kaiba starrte ihn überrascht an und sein Herz klopfte wie wild, aber das bemerkte er gar nicht. Nur, dass ihm plötzlich so unnatürlich heiß wurde, als Yami ihn nun so merkwürdig anstarrte und ihm langsam näher kam. Jetzt hob er sogar einen Arm und streckte eine Hand nach seinem Gesicht aus, berührte ihn sachte an der Wange und doch zuckte Kaiba zusammen. Es fühlte sich an, als würde man ihn mit glühenden Kohlen berühren. Er konnte sich nicht entscheiden, ob es ein schönes Gefühl war, oder ob es schmerzte. Er stand einfach nur wie erstarrt mit geweiteten Augen.
Doch Atemu befreite ihn glücklicherweise aus dieser Zwickmühle und nahm ihn einfach in den Arm. Kaiba atmete, irgendwie erleichtert, auf und fühlte sich gleichzeitig angenehm geborgen. Für einen Moment hatte er nämlich befürchtet, Atemu würde irgendetwas von ihm verlangen, was er ihm nicht geben konnte. Für einen Augenblick hatte ihn wieder diese Angst überkommen, dass dieser ihm so nahe kommen könnte - zu nahe - dass es wehtun würde. Das er irgendwie bis in sein Innerstes vordringen und dort etwas zerstören könnte, was ihn schützte und gleichzeitig von seiner Umwelt abschirmte. Und das nur durch eine Berührung, einen intensiven Blick und diese Situation, diese Nähe. Ähnlich wie der Schmerz in der Karte des weißen Drachen.
Vor dem Aquarium hatte Yami ihn zwar sogar geküsst und zu diesem Zeitpunkt hätte er das sogar noch gerne fortgesetzt, aber diesmal, in dieser Situation war eine einzige Berührung und dieser Blick noch viel intensiver. Warum, das wurde Kaiba in diesem Moment nicht wirklich klar. Jedenfalls war er erleichtert und glücklich, als er diese Wärme spürte, die von Yamis Umarmung ausging.
„Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten und dich verletzen“, wiederholte dieser. „Magst du mich denn noch?“, das klang fast schüchtern.
„Ja, natürlich. Du bist doch mein Schutzengel.“
„Ach, Seto. . .“ Yami war irgendwie glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil Kaiba ihn so mochte und traurig, weil er gar nicht er selbst war und er immer noch das Gefühl hatte, dass es irgendwie falsch wäre. Das alles nur. . .ein absurder Traum war und er gleich aufwachen und feststellen würde, wie Kaiba ihm spöttisch ins Gesicht lachte und ihn fragte, ob er jetzt völlig den Verstand verloren hätte.
„Dann sind wir also noch Freunde?“, löste er sich halb von ihm und blickte ihm von unten herauf in die Augen, ihn aber immer noch im Arm haltend.
„Ja, das sind wir, Freunde“, bestätigte Kaiba und seine Augen glitzerten dabei irgendwie merkwürdig. Jetzt hob er seinerseits eine Hand und streichelte Yamis Wange. Dieser blickte ihn verwundert an, schloss aber dann die Augen und ließ es sich gefallen, genoss es regelrecht. Dabei hatte ich mir doch geschworen, Seto nicht zu nahe zu kommen, solange er sich nicht erinnert, wer er ist, bis er wieder er selbst ist. Nur deshalb habe ich ihm doch gesagt, ich hätte bei dem Kuss nichts gefühlt. Aber als er mich so verletzt angesehen hat, konnte ich einfach nicht mehr und musste ihm die Wahrheit sagen. Nun, nicht ganz die Wahrheit. Aber, ich glaube, irgendwie merkt er es auch ohne, dass ich es ausspreche, dachte Yami und öffnete seine Augen wieder, als Kaiba seine Hand sinken ließ.
„Hey, ich habe vorhin versucht, Zeitung zu lesen, aber irgendwie konnte ich mich nicht richtig konzentrieren“, lenkte er plötzlich ab, nachdem er den Pharao losgelassen hatte. Dieser blickte ihn irritiert an. Also wirklich, hier wurde man ja völlig aus dem Konzept gerissen. War Kaiba die Situation etwa so peinlich, dass er schnell ablenken wollte? „Weißt du, dort haben sie auch einen Artikel über mich geschrieben. Offenbar hat man herausgefunden, dass ich unter Amnesie leide. Es ist irgendwie schon komisch, sich selbst in der Zeitung zu sehen und sich völlig fremd zu sein. . . Was meinst du?“
„Ja, das. . .muss wirklich komisch sein“, der Pharao stand noch etwas neben sich. „Und, was fühlst du so, wenn du über dich selbst in der Zeitung liest - mal abgesehen davon, das es komisch ist?“
„Hm, ich weiß nicht. Es fühlt sich einfach nur merkwürdig an, so als würde ich über einen völlig fremden Menschen lesen. Ich frage mich, kann ich das wirklich gewesen sein? Jeder sagt das, jeder erzählt, wie ich bin und erwartet etwas von mir. Aber das, das bin nicht ich.“
In der Zeitung suchen sie nach mir
Mit meinem Steckbrief wird gewarnt
Und jedes Mal
wenn ich mein Foto seh
Bin ich mir völlig unbekannt
Und du fragst mich was ich so fühl
Doch die Antwort die fällt aus
Schau nur stumm
zu meinem Fenster rauf
Will zurück in mein Haus
„Ich verstehe. Das muss schwer sein. Ich wusste ja auch lange Zeit nicht, wer ich bin und woher ich komme. Und es konnte mir auch niemand sagen.“ Ups, da war dem Pharao wohl etwas herausgerutscht, was zu den Dingen gehörte, die er lieber nicht erwähnen hätte sollen, was er an Kaibas überraschtem Blick bemerkte.
„Was, du hattest auch mal deine Erinnerung verloren? Ist das der Grund, warum du keinen Nachnamen hast?“ Er erinnerte sich noch zu gut an Atemus Erklärung, dass er ihm nicht sagen könne warum, aber das er keinen Nachnamen habe.
„Ähm, ja. Ich weiß jetzt zwar wieder alles, aber bei mir ist das doch ein wenig anders gewesen als bei dir“, untertrieb er mal in wenig und ließ die ganze Pharaonengeschichte besser unter den Tisch fallen.
„Dann haben wir ja mehr gemeinsam, als ich dachte“, lächelte Kaiba noch ziemlich überrascht. „Verrätst du mir denn auch, wie das passiert ist und wie du deine Erinnerungen wieder zurückbekommen hast? Oder“, fuhr er fort, als er Atemus Zögern bemerkte, „fällt das auch in die Sparte, ‚ich darf ihm nichts erzählen, weil er sich von selbst wieder erinnern soll‘?“
„Du hast es erfasst“, lächelte Yami entschuldigend. „Aber, glaub mir, ich würde es dir wirklich gerne erzählen.“ Aber, vielleicht ist es ganz gut, dass ich diese Ausrede habe, dachte der Pharao bei sich. Wenn ich ihm die Wahrheit erzählen würde, würde er mich am Ende noch für verrückt oder einen notorischen Lügner halten.
Allerdings befürchtete Seto, dass da noch mehr dahinter steckte und es noch einen anderen Grund gab, warum Yami ihm nicht mehr verraten wollte. Aber er fragte nicht weiter, das hätte ja sowieso keinen Sinn gehabt. Doch er vertraute ihm bis zu einem gewissen Grad und glaubte, dass dieser gute Gründe dafür hatte. Immerhin hatte Yami ihm nicht nur das Leben gerettet, sondern half ihm auch schon seit Wochen, wieder etwas Sinn hinein zu bringen. Ja, er sagte ihm sogar, dass er ihn mochte und hatte ihn geküsst! Warum sollte er ihm also nicht trauen? Doch ein gewisser, kleiner, hartnäckiger Zweifel blieb.
Kaiba gähnte und hielt sich unwillkürlich die Hand vor den Mund. Yami grinste: „Müde?“
„Ja, es ist zwar erst Nachmittag, aber ich hab wenig geschlafen letzte Nacht.“
„Vielleicht sollte ich dann besser gehen und dich schlafen lassen.“
„Nein, nein! Bleib nur! Wir können ja ein bisschen nach draußen in meinen Garten gehen und frische Luft schnappen. Ich glaube, du hast ihn bisher nur vom Balkon aus gesehen. Oder warst du schon mal dort. . .vor meinem Gedächtnisverlust?“
„Nein. Und das ist eine gute Idee! Was ich so vom Balkon aus gesehen habe, ist dein Garten ja ziemlich groß und schön.“
„Hm“, nickte Kaiba einsilbig und ging zusammen mit Yami über die Terrassentür nach draußen, nachdem sie sich ihre Mäntel angezogen hatten.
„Ziemlich frisch, was? Ob es doch noch mal Schnee geben wird?“, fragte sich der Pharao.
„Sieht nicht so aus. So warm wie das die ganze Zeit ist“, zweifelte Kaiba.
„Sag das nicht. Manchmal kann man da Überraschungen erleben und der Winter kommt dann im Frühling! Lach nicht! Das war ernst gemeint!“, versuchte er ernst zu bleiben.
Die beiden folgten dem Pfad weiter, der sie durch den Garten führte, zwischen Nadelbäumen, die nach wie vor Grün waren, bis sie zu einem Kiesweg kamen, der an einem Teich vorbeiführte. Ein Bächlein plätscherte von diesem Teich ausgehend tiefer in den Garten hinein und verschwand irgendwo hinter den Büschen und Bäumen. Über den Teich führte eine kleine, hübsche Brücke und an vier Seiten standen vier Figuren von weißen Drachen. Als die beiden näher kamen, aktivierte sich irgendein verborgener Mechanismus und die Drachen begannen Wasser in den Teich zu sprühen.
Sie blieben stehen und betrachteten den Vorgang. „Schön hast du es hier“, bemerkte Yami. „Deine geliebten weißen Drachen hast du wohl überall stehen?“
„Hm, und ich weiß nicht mal wieso. Das ist irgendwie deprimierend.“
„Nicht nur irgendwie, das ist deprimierend“, stimmte Atemu zu. „Setzen wir uns ein bisschen auf die Bank dort?“
„Ja. . .“ Die beiden setzten sich schweigend nebeneinander hin, wobei Atemu gleich ein wenig näher an ihn heranrückte. Sanft legte er eine Hand auf seine und streichelte sacht darüber. Seto reagierte nicht und ließ es sich einfach gefallen. Aber seine Augen verrieten, dass er es genoss hier einfach so zu sitzen und Atemus Hand auf seiner zu spüren. Das Wasser plätscherte in stetigem, beruhigenden Ton und er wurde wieder müde, was dazu führte, dass er fröstelte. Dies wiederum nahm der Pharao zum Anlass, sich an ihn zu schmiegen. Seto seufzte genießerisch und ihm wurde wärmer, als es Atemus Körperwärme erklären würde. Er legte einen Arm um seine Schulter und zog ihn näher an sich, war über sich selbst überrascht, dass er dies so einfach tat.
Yami wollte ihm gerne auch noch näher kommen, aber er hielt sich zurück. Er wollte Seto nicht quasi überfallen. Das hatte er ja schon mit dem Kuss getan und es ziemlich vermasselt. Allerdings schien er diesen Kuss nicht für ganz so übel gehalten haben, nicht nur, das er ihm ziemlich schnell verziehen hatte, nein er hatte sich ja auch nicht sonderlich dagegen gewehrt. War es da vergebens zu hoffen, dass es ihm wieder gefallen könnte?
Ach, Yugi, das alles kommt mir vor wie ein Traum, dachte er, als wäre sein Aibou immer noch bei ihm. Manchmal, wenn ihn besonders intensive Gefühle überkamen, sprach er mit sich selbst und stellte sich vor, der Kleine wäre immer noch in ihm und könne ihn hören. Was würde Kaiba wohl hierzu sagen, wäre er wieder er selbst? Würde er sich dann auch noch so an mich schmiegen? Oder würde er mich hierfür hassen? Wird er mich dafür hassen, dass ich seine Situation so ausgenutzt habe? Ich wage es einfach nicht, ihm noch näher zu kommen. Was ist, wenn ich ihn unbewusst verletze? Ach, warum musste ich mich auch ausgerechnet in ihn verlieben? In meinen ärgsten Rivalen?
Aber, wie er so an mich gelehnt dasitzt mit geschlossenen Augen - ob er wohl eingeschlafen ist - sieht er so verletzlich aus, als würde ich seine wahre Seele sehen. Seine Stärke ist irgendwie verschwunden, seit er seine Erinnerung verloren hat. Ich wünschte, er würde sie zurückerlangen, genauso wie seine Vergangenheit. Du hast nie viel auf die Vergangenheit gegeben, Seto Kaiba. Aber jetzt, sieh dich an - was bist du ohne sie?
Dieses Flugzeug stürzt ab
Dieser Zug ist entgleist
Dieser Alptraum wird wahr
Bin auf ewig verwaist*
Kaiba räkelte sich, legte den anderen Arm auf Yamis Schoß und den Kopf auf seine Schulter. Sein warmer Atem streifte seinen Hals. Ups, dachte Yami mit hochrotem Kopf, als er bemerkte, dass Setos Nähe ihn nicht gerade unberührt ließ. Warum muss er mir auch nur so verdammt nahe kommen und sich an mich schmiegen? Will er etwa, dass ich meine Beherrschung komplett verliere?
Als Kaiba seine Augen wieder öffnete, schienen sie mehr zu glänzen als üblich. Atemu schluckte, als dieser ihn von unten herauf anblickte, mit dem Kopf immer noch auf seiner Schulter.
„Yami!“, legte er seine Hand auf die andere Schulter. Dieser schluckte. Wollte Seto ihn quälen? „Kannst du. . .“, zögerte er, „würdest du. . .mich noch mal küssen?“, blickte er ihn fast flehend an. Der Pharao guckte überrascht zurück. Kaiba bat von selbst, dass er ihn küsste? Okay, diese Nachricht musste er erst mal verarbeiten. . . Allerdings wollte sein Hirn nicht so recht. Stattdessen beugte er sich zu Seto hinab und erfüllte seinen Wunsch. Ihre Lippen berührten sich und Blitze zuckten durch Yamis Körper, schalteten sein Denken aus, ließen ihn Seto näher an sich ziehen. Es kribbelte und zog wie flüssiges Feuer, welches eine Bahn durch seine Adern suchte. Seine tiefsten Sehnsüchte schienen sich zu erfüllen. Wie sehr hatte er sich dies hier gewünscht. Es war, als würde er in Seto ertrinken, sich mit ihm vereinen, so tief und innig wurde der Kuss. Leichter Schwindel ergriff ihn, als er sich nach einer scheinbaren Ewigkeit von ihm löste. Kaiba erwiderte seinen Blick mit glasigen, sehnsüchtigen Augen, während Yami weiterhin die Hand auf seiner Wange liegen hatte.
Verdammt! Ich wollte mich doch zurückhalten! Kam der Gedanke in Atemu hoch, bevor er wieder in Setos Augen versank. Sanft streichelte er ihm über die Wange und lächelte.
*Das Lied „Ausgesperrt“ von Rosenstolz.