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Lovers Love.

Auf dieser Bühne gibt es nur uns.
von

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~Umzugsphase.

"Au, verdammt!"

Ich hielt mir die vor Schmerz pochende Stirn. Der Schrei war mir entwichen, als meine Mutter laut und plötzlich meine Zimmertür aufgerissen hatte. Ich in meiner Schreckhaftigkeit hatte mich ruckartig aufgesetzt und mir den Kopf an der Schräge gestoßen.

"Mhm.. was ist denn nun schon wieder los?"

Meine Stimme klang leicht gereizt.

"Hab dich nicht so, Kai. Mach beim nächsten Mal deine Musik nicht ganz so laut, dann hörst du auch, wenn ich komme. Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass wir morgen neue Nachbarn bekommen. Wir werden ihn beim Umzug zur Hand gehen. Auch du."

Ich verdrehte genervt die Augen.

"Muss das denn sein?"

Meine Mutter wurde leicht ungeduldig.

"Oh ja, Herr Kai von und zu, das muss sein! Immerhin wollen wir einen guten Eindruck machen. Das dürfte auch in deinem Interesse liegen."

Ich steckte mir die Kopfhörer in die Ohren; sie waren rausgefallen, als ich mich aufgesetzt hatte.

"Tja, das glaubst aber auch nur du."

Sie stemmte die Hände in die Hüften.

"Wie wäre es denn mal einen Monat ohne Taschengeld und ohne neue Klamotten? Ein Versuch wäre es doch wert, oder?"

Ich hob eine Braue.

"Willst du mich erpressen?"

"Oh ja, allerdings, Freundchen, das will ich. Anders komm ich ja bei dir nicht mehr weiter. Morgen wird geholfen und das ist mein letztes Wort!"

Sie verließ das Zimmer und und knallte die Tür zu.

"Ouh man!"

Mit weit ausgestreckten Armen ließ ich mich zurück ins Bett fallen.

"Als ob ich nichts Besseres zu tun habe! Scheißdreck, man! Naja was solls. Wird ja wohl hoffentlich nicht allzu lange dauern."

Ich drehte die Musik an und schloss entspannt die Augen.
 

Der nächste Morgen ging echt früh los. Ich wurde von der brutal- lauten Art meiner Mutter geweckt. Als ich auf die Uhr schaute, war es erst fünf Uhr morgens. Ich schirmte mein Gesicht vor den grellen Licht ab, als sie auf den Schalter drückte.

"Ouh, man! Ich hab Ferien! Weißt du, was das heißt? LANGE schlafen!"

"Stell dich nicht so an und steh auf. Du hast heute viel zu tun. Übrigens haben die neuen Nachbarn auch einen Sohn. Er ist in deinem Alter."

Sie verließ das Zimmer wieder. Ich rieb mir die Augen. Danach stand ich auf um mich zurecht zu machen. Ich kämmte meine Haare, dann definierte ich die Stufen, indem ich mit Wachs durch die Spitzen ging und die Haare anschließend durchschüttelte. Fertig. Jetzt nur noch den Seitenscheitel auffrischen. Das ganze mit Haarspray noch ein bisschen festigen.Etwas Kajal auf die Augen und fertig. Wunderbar.

Als ich die Küche betrat, schlug meine Mum entsetzt die Hände über den Kopf zusammen.

"Kai! Bei allen Respekt wirklich, ich hab nichts dagegen, dass du so herumläufst, aber man kann es auch übertreiben! Bitte- mach dich vernünftig zurecht!"

Ich lächelte daraufhin nur und zuckte mit den Schultern.

"Ist doch egal. Warum soll ich mich verstellen? Die Neuen sollen ruhig wissen, dass ich so bin, wie ich bin. Früher oder später würden die mich sowieso so sehen."

Ich setzte mich an den Tisch und griff nach der Marmelade, während meine Mutter über meine Worte nur den Kopf schütteln konnte.

Scheiß Intoleranz eben.

Umzugshilfe~

Meine Laune war im Keller. Ich fragte mich, warum ich eigentlich so früh aufstehen musste, da der Umzugswagen um zehn Uhr noch immer nicht eingetroffen war. Als er schließlich dreizehn Uhr eintrudelte, war der letzte Rest meiner Lust komplett verflogen. Also nicht, dass ich jemals Lust darauf gehabt hätte. Trotzdem gab ich mich freundlich. Die neuen Nachbarn stiegen aus und meine Eltern verließen zusammen mit mir die Wohnung. Ich stellte mich mit einem aufgesetzten Lächeln vor und schüttelte jeden die Hand. Aber irgendjemand schien zu fehlen. Genau- Mum hatte doch erzählt, dass sie einen Sohn hatten. Doch der war nirgens zu sehen. Als ich danach fragte, lächelte die neue Nachbarin traurig.

"Shin ist ziemlich unglücklich darüber, dass wir wegziehen. Er wird nachher zu uns stoßen und uns helfen. Er muss sich erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen."

Ich glaubte, ich konnte eine Spur Schadenfreude in ihren Lächeln sehen, was mir schon etwas zu denken gab. Sie schien sich über das Leiden ihres Sohnes zu freuen. Innerlich zuckte ich mit den Schultern. Was solls, mich gings ja eh nichts an, dachte ich mir. Die Erwachsenen redeten noch ein paar Minuten, während ich gelangweilt daneben stand und ungeduldig mit dem Fuß wippte. Hallo? Wollten wir nicht ausräumen? Die ganze Scheiße kotzte mich echt an. Schließlich, nach Stunden wie mir schien, fingen wir an. Ich bekam natürlich gleich die größten und schwersten Kisten in die Hände gedrückt, die ich in den ersten Stock schaffen sollte, die Tür war angeblich offen. Die neuen würden direkt gegenüber von uns einziehen. Die Tür war tatsächlich nur angelehnt. Ich stieß sie mit dem Fuß auf und betrat einen unrenovierten Raum. Die Wände waren ungestrichen und verkalkt, es roch seltsam, ungefähr wie in einem Keller. Außerdem war es brechend kalt. Ich zitterte leicht, als ich unter schnaufen und stöhnen die Kisten abstellte. Kaum war dies getan, musste ich meinen Vater Platz machen, der mit den anderen Nachbar dabei war, die schwere Couch ins Zimmer zu hiefen. Ich fragte mich, warum sie schon das Kleinkramzeugs und die Möbel hereinholten, wenn die Wände noch nicht einmal gestrichen waren, geschweige denn Laminat oder Teppich verlegt war. Naja, mir konnte es egal sein. Weiter ging es. Wieder Kisten schleppen. Wieder verdammt schwere und wieder in den ersten Stock.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange das noch so ging. Andere Möbel wurden reingebracht, Schränke aufgebaut und in manchen Räumen begannen irgendwelche Maler die Wände zu streichen. Ziemlich durcheinander, fand ich. Warum haben die denn nicht zuerst die verdammten Wände gestrichen? Irgendwie regte mich das total auf.

Was solls. Einfach weiter tun, was die Anderen sagen, umso schneller werde ich erlöst, dachte ich mir.

Als wir endlich fertig waren, war es neunzehn Uhr abends. Ich hatte nichts gegessen und somit einen Bärenhunger, den anderen ging es genauso. Nur einer war noch immer nicht aufgetaucht- dieser komische Shin. Ich fragte mich, warum ich mir da so einen Kopf machte. Der würde schon auftauchen, wenn er wollte. Zum Abendbrot gab es Kartoffelsalat. Mochte ich nicht. Mum hatte echt keine Ahnung. Aber immerhin was zu essen. Die Erwachsenen blieben noch eine Weile sitzen, doch ich wollte einfach nur raus aus dieser stickigen Miefbude. Ich setzte meine Kopfhörer auf, drehte die Musik laut und verließ mit gesenkten Blick die Wohnung. Ich konzentrierte mich so stark auf den Beat und den Text, dass ich im Flur prompt mit jemanden zusammenstieß.

Ich stolperte zurück, -dabei flogen erneut die Kopfhörer raus- und hörte ein Scheppern. Klang so, als würde was aus Plastik zu Bruch gehen. Keine zwei Sekunden später erftönte ein angenervtes Stöhnen, gefolgt von einer leicht wütenden, aber dennoch sanften Stimme.

"Ouh man, kennst du das Wort 'Vorsicht'?"

Jemand bückte sich, um, wie ich jetzt sah, eine eingepackte CD aufzuheben. Ich hatte Glück- das Plastik der Hülle war nur ganz leicht eingerissen. Aber peinlich war es trotzdem. Ich traute mich endlich, meinen Gegenüber anzuschauen. Huiii- der war aber nun wirklich scharf. Ich verfluchte mich, dass ich so dachte, immerhin war ich ein Junge und er auch, aber.. ich konnte nicht anders. Oh Gott, ich glaubte, meine Mum würde austicken, wenn sie den sieht. Eigentlich genauso angezogen we ich. Nur viel extremer. Zerfetzte Klamotten, die schwarze Röhrenjeans hatte Löcher an beiden Knien, er trug einen Hoody mit schwarzweißen Schachbrettmuster- so einen, wie ich ihn mir schon immer gewünscht hatte! Die Haare waren gestylt, so wie meine- doch viel übertriebener und krasser. Hinten hochtoupiert, vorne etwas länger, pechschwarz und gestuft. Seine Augen waren stark mit schwarzen Kajal und Lidschatten betont und an der rechten Seite seiner Unterlippe baumelte lässig ein Piercing. Für einen Moment war ich so überrumpelt, dass mir fast die Spucke wegblieb.

"Hm, was starrst du so? Hab ich was im Gesicht?"

Er kratzte sich am Hinterkopf und strich mir den Fingern über das Cover der CD. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf. Alesana. Guten Musikgeschmack hatte er auch noch!

"Ähm, nein hast du nicht, außer Metall."

Er lachte über meinen Scherz nicht, sondern hob nur eine Braue, erwartungsvoll ob noch etwas von mir kam oder nicht.

"Ja, noch was. Sorry deswegen."

Ich deutete auf die CD.

"War zu sehr mit meiner eigenen Musik beschäftigt."

Der Andere steckte die CD in die Innentasche seiner Jacke.

"Hm, hab ich bemerkt. Und du bist?"

"Kai. Du musst Shin sein, richtig?"

Ich reichte ihn die Hand er nahm sie lustlos und schüttelte sie. Mir gefiel seine lässige Art.

"Shin, richtig."

Er sah sich im Flur um.

"Ganz schön beschissene Gegend, hier. Hab überhaupt keinen Bock auf Umziehen, aber nun ist es schließlich doch passiert. Was solls. Ich wollte sowieso bald von meinen Eltern weg."

Er ging zu seiner Wohnungstür und legte seine Hand auf die Klinke, drehte sich aber noch einmal um.

"Vielleicht sieht man sich mal, Partner."

Dann betrat er die Wohnung. Ich blieb noch ein paar Minuten draußen stehen und berührte meine Wangen. Sie waren heiß. Ich war rot im Gesicht. Erstmal raus aus dem Haus. Ein bisschen frische Luft würde mir jetzt bestimmt gut tun.

~Ausgesperrt.

Der Wind zerzauste meine Haare. Ich versuchte sie noch zu retten, indem ich sie immer wieder platt auf meinen Kopf drückte. Schließlich gab ich es auf und verbrachte die restliche Zeit draußen mit meinen Versuchen, meine Jacke etwas enger um den Körper zu ziehen, weil es Winter wurde und ich in der kommenden Kälte schon leicht zitterte. Meine Augen tränten widerlich, als kühler Wind in mein Gesicht blies. Scheiß Winter. Ich hasste den Winter. Genau wie Weihnachten. Ich ertrug so viel Kitsch auf einmal einfach nicht. Geschenke- immer her damit. Aber Liebe, Glück, Gefühle allgemein... weg damit. Ich hatte kein Glück in der Liebe. Und mit meinen Eltern verstand ich mich auch nicht besonders gut, aber das war mir egal, wenn sie es nicht anders wollten, sollten sie es nicht anders bekommen. Nach ein paar Runden, die ich um den Block geschlendert war, entschloss ich mich, dass mein Kopf nun wieder klar genug war um reinzugehen. Als ich an unserer Eingangstür stand, wurde mein Blick von einem Licht angezogen, was oben Links vom Hauseingang leuchtete. Das Fenster war angeklappt und laute Musik von Alesana schallte heraus. Das war also Shins Zimmer.

Ich verdrängte den Gedanken schnell, indem ich den Kopf wild schüttelte, was meine Frisur erst recht durcheinander brachte. Dann schloss ich die Haustür auf. Wohlige Wärme empfing mich. Langsam machte ich mich auf den Weg zu meiner Wohnung. Shins Musik wummerte noch immer dumpf hinter der Tür. Der hatte aber echt keine Skrupel, wenn es darum Musik laut zu hören. Ich fands cool, meine Mutter hätte mich schon längst umgebracht bei dem Krach. Ich allerdings ließ mich nicht davon stören. Immerhin war es meine Lieblingsband, die da polternd gehört wurde. Ich summte leise mit und betrat nach ein paar Sekunden mein Zimmer. Als ich leise die Tür ins Schloss fallen ließ, wurde auch die Musik etwas gedämpft, war aber trotz allem noch immer zu hören. Ich knipste das Licht an und ließ mich aufs Bett sinken, wobei mein Kopf schon wieder gefährlich nahe an der Schräge vorbeizog.
 

Am nächsten Morgen wusste niemand so recht, was er beim Frühstücken schönes erzählen sollte. Wir alle drei hatten starke Rückenschmerzen vom Möbel- und Kistenschleppen, außerdem sahen meine Eltern so aus, als hätten sie kaum Schlaf bekommen. Die Poltermusik schien sie ziemlich gestresst zu haben.

"Die neuen Nachbarn sind eigentlich ganz nett. Aber ihr Sohn... ich weiß ja nicht. Die Musik war gestern Abend mehr als nur störend. Oder Kai?"

Ich biss lustlos von meinen Nutellabrötchen ab, während Mum mich mit einen fast taxierenden Blick musterte und auf eine Antwort wartete.

"Hm... ehrlich gesagt, find ich gar nicht. War nämlich meine Lieblingsband."

"Na das war ja klar."

Schon wieder schüttelte sie den Kopf, doch das war mir egal. Sollte die doch denken, was sie wollte, interessierte mich doch nicht.

"Übrigens fahren wir heute weg."

Ich ließ das Brötchen fallen.

"Was?"

"Nicht du. Dein Vater und ich. Kommen morgen erst wieder, vielleicht übermorgen."

Ich atmete auf. Mit meinen Eltern wegzufahren war für mich immer die Hölle gewesen. Zum Glück würde ich diesmal nicht mitkommen. Ich trank einen Schluck Kakao und hörte gar nicht richtig hin, als meine Mutter erneut anfing zu reden.

"Während wir weg sind, könntest du mal was im Haushalt machen. Hockst die ganze Zeit nur in deiner Bude. Wäsche zusammenlegen und Spüle ausräumen. Außerdem den Flur draußen wischen, wir sind dran mit Putzdienst. Das schaffst du doch, oder?"

Ich murmelte genervt eine Antwort und stützte meinen Kopf mit dem Ellenbogen auf den Tisch ab, was meine Herrin Mutter natürlich garnicht gern sah.

"Setz dich richtig hin! Und rede vernünftig mit mir, immerhin bist du kein verdammtes Kind mehr. Die neuen Nachbarn kommen mit uns, aber Shin scheint keine Lust zu haben. Ist wahrscheinlich auch besser so."

Warum erzählte sie mir das? Es interessierte mich einen Scheißdreck! Sollen die doch mitkommen oder nicht. Ich war froh, dass sie wegfuhren.

"Kai, hörst du mir zu?"

Mein Kopf fuhr ruckartig nach oben.

"Ja doch, man!"

"Gut. Wir fahren jetzt los, die anderen warten schon. Benimm dich und mach keinen Ärger."

Ich folgte ihnen noch bis zur Tür. Ich konnte hören, wie die Nachbarin etwas zu Shin sagte, der wohl auch an der Tür stand. Er murrte eine kurze, knappe Antwort. Man hörte eine Tür knallen. Meine Mutter warf mir noch einen flüchtigen, aber dennoch strengen Blick zu, bevor auch ich meine Tür schloss. Kurze Zeit später konnte ich schon wieder das Schallen der Musik hören, diesmal noch lauter aufgedreht. Da ich nichts zu tun hatte, begann ich unsere Wohnung zu putzen. Ich spülte das Geschirr ab, wusch- und legte die Wäsche zusammen, räumte den Geschirrspüler aus, saugte die ganze Wohnung plus mein Zimmer ab, putzte die Fenster und die Spiegel und bezog alle Betten neu.

Dann machte ich mich daran den Flur zu wischen. Ich holte alles nötige Zeug her, ließ die Tür offen stehen und fing an. Scheiß Arbeit. Ich war doch keine Putze. Voll peinlich. Naja, dann musste ich es später nicht machen. Die Musik lief immer noch. Ich begann im Takt mitzuwippen, während ich mit den Wischlappen über den Flur fegte. Na hoffentlich würde mich niemand so sehen. Nach einer Weile war ich fertig. Ich brachte das Putzzeug rein und beschloss, jetzt wo meine Eltern nicht da waren, die Gelegenheit zu nutzen um draußen eine zu rauchen.

Ich holte meine Zigaretten, versteckt auf dem Schrank, zog meine karrierten Chucks an und verließ die Wohnung. Ich zog die Tür hinter mir zu und verließ den Hausflur. Ich musste aufpassen, dass mich niemand sah, unsere Nachbarn waren alle ziemliche Tratschtaschen. Meine Füße trugen mich automatisch um den Block herum. Wie oft war ich diesen Weg eigentlich schon entlanggelaufen? Ich wusste es nicht. Keine Ahung, auf jeden Fall schon sehr oft. Auch heute war es wieder kalt. Verdammt, ich hätte mich dicker anziehen sollen. Naja, halb so wild. Sind ja nur ein paar Minuten, die ich draußen in der Kälte verbringen musste. Als diese paar Minuten um waren und ich schon fast den Filter rauchte, schnippste ich den Zigarettenstummel weg, um mich auf den Weg ins Warme zu machen. Die Haustür stand offen und ich betrat den frisch gewischten Flur. Doch vor der Tür erwartete mich ein kleiner Schock. Sie war zu- klar, ich hatte sie auch rangezogen- aber ich hatte keinen Schlüssel dabei!

"Scheiße!"

Na das war ja wunderbar. Jetzt musste ich mir auch noch einen Schlüssel besorgen.

Als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, stand plötzlich Shin hinter mir.

Shishapause.~

Ich wäre fast wieder mit ihn zusammengestoßen. Mensch, ich bin aber auch ein Depp. Ich drehte mich um und da stand er plötzlich vor mir. Einfach so. Ich hatte ihn nicht mal kommen hören. Er war mindestens einen Kopf größer als ich und auch heute sah er wieder schrill aus. Die Haare nicht ganz so stark toupiert wie gestern, dafür die Augen diesmal zusätzlich mit einem dicken schwarzen Lidstrich betont. Er trug ein schlichtes schwarzes Hemd und hatte sich eine rote Krawatte umgebunden. Seine Hose war diesmal etwas weiter und hatte keine Löcher an den Knien, dafür aber eine seltsam, ausgewaschen wirkende graue Farbe, was aber trotzdem überaus stylisch aussah und zu seinen restlichen Outfit nahezu perfekt passte. Er sah sich im Flur um und steckte die Hände in die Taschen, bevor er den Kopf dann langsam zu mir drehte und mich fixierte.

"Der Kai. Was machst du denn hier so ganz alleine im Flur vor verschlossener Tür?"

Er fummelte an seinen Lippenpiercing rum und wartete auf eine Antwort von mir, die ewig nicht kommen wollte.

"Hm.. naja. Hab mich ausgesperrt.Kann ja mal passieren."

Meine Stimme klang seltsam angespannt, was er aber nicht zu bemerken schien. Ich wurde etwas nervös, als er mich von oben bis unten musterte.

"Und nun? Ich meine... unsere Alten sind für ein oder zwei Tage nicht da. Wo willste denn pennen? Draußen wohl eher nicht, oder?"

Ich biss mir auf die Unterlippe.

"Ich find schon irgendwas, keine Sorge.. Zur Not werd ich eine Nacht bei meiner Tante bleiben. Wird schon klappen. Ich werd jetzt erstmal hingehen und fragen ob sie einen Schlüssel hat. Vielleicht komm ich ja heute schon wieder in die Wohnung rein."

Shin nahm die Hände aus den Taschen, gähnte und streckte sich, bevor er zustimmend nickte.

"Wird wohl das beste sein, was du machen kannst."

"Richtig. Naja ich werd schon was finden, falls sie keinen Schlüssel hat."

Ich ging an ihn vorbei. Im gehen warf er mir noch einen Blick zu, der irgendwie abschätzend wirkte und eine leichte Gänsehaut auf meinem Rücken hinterließ. Fast fluchtartig verließ ich das Haus. Ich hoffte, dass die bald wieder ausziehen würden. Der Kerl war irgendwie komisch. Oder war vielleicht ich es der komisch war? Immerhin verhielt Shin sich ganz normal. Okay, seine Blicke hatten was unheimliches an sich. Irgendwie... anders als die Blicke, die ich sonst von meinen Eltern oder Nachbarn gewöhnt war. Meine Füße trugen mich, ohne dass ich selbst etwas mitbekam, zu meiner Tante. Ich war schon etwas verwundert, als ich plötzlich vor ihrer Tür stand, drückte aber dennoch die Klingel.

Der schrille Ton war selbst hier draußen deutlich zu hören. Zuerst tat sich gar nichts. Dann wurde die Tür geöffnet.

"Hey, Tantchen... will nicht lange stören, wollte nur fragen, ob du vielleicht nen Schlüssel für unsere Wohnung hast. Hab mich ausgesperrt und der Rest an Verwandtschaft ist nicht da."

Sie kniff in meine Wange, obwohl sie wusste, dass ich das hasste. Aber ich mochte sie trotzdem. Sie war so herzlich und offen- nicht so wie meine Eltern, die mich immer wieder zum Streit anregten.

"Herzchen, ich kann nur mit einen Schlüssel für dein Hausflur dienen. Tut mir leid."

Sowas hatte ich schon geahnt, doch ich gab mich gelassen und fragte, ob ich den vielleicht bekommen könnte. Dann würde ich eben im Hausflur pennen, denn auf einer Übernachtung bei meiner Tante war ich jetzt doch nicht mehr so scharf.

Ich bedankte mich, versprach den Schlüssel so schnell wie möglich zurückzubringen und verabschiedete mich wieder.

Nach ein paar Minuten Laufzeit, in der die Kälte mir immer weiter unter die Haut gedrungen war, schloss ich die Haustür auf, wobei meine Hände leicht zitterten. Die wohlige Wärme empfing mich mit offenen Armen, so als hätte sie gewusst das ich komme und auf mich gewartet. Vor unserer Wohnungstür stand eine Sitzbank. Wenn ich mich ganz klein machte und die Beine einzog, konnte ich mich mit Mühe und Not hinlegen. Aber mehr als eine Nacht würde ich so nicht aushalten.

Erstmal setzen und nachdenken. Geld hatte ich auch keins in der Tasche. Naja gut, ich würde wohl einen Tag ohne Essen auskommen können. Obwohl ich zu der Zeit schon wahnsinnigen Hunger hatte. Hätte ich die scheiß Kippe doch später erst geraucht, dann wäre mir mit Sicherheit auch eingefallen den Schlüssel einzupacken. Ich seufzte, als unten die Haustür erneut aufgeschlossen wurde. Shin -wer denn auch sonst, die anderen waren weg- trat ein und musste grinsen, als er mich leicht angeschlagen auf der Bank sitzen sah. Er hatte ein seltsam länglich-rundes Päckchen in der Hand, das in Silberpapier eingewickelt war.

"Na, wieder zuhause?"

Ich zuckte mit den Schultern.

"Ja, aber immer noch schlüssellos."

Ich deutete auf das silberne Päckchen.

"Was is das, wenn ich fragen darf? Sieht spannend aus."

Auf meine Frage hin musste er leicht lachen.

"Das hier? Kohlebriketts für meine Shisha. Waren mir ausgegangen, musste heute neue kaufen."

Auf mein Gesicht trat ein Ausdruck der Verwunderung.

"Wie, du rauchst Shisha?"

"Ja klar, warum nicht? Wollt mich jetzt ne Stunde ranhängen. Auch Lust?"

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Einerseits hätte ich aufspringen und Jubeln können, andererseits hätte ich misstrauisch sein müssen. Ich entschied mich für die goldene Mitte.

"Nur, wenn ich dich nicht störe."

Shin war schon dabei, die Haustür aufzuschließen.

"Du störst nich. Ich will dich zu nichts zwingen, aber seien wir doch mal ehrlich.. besser als draußen zu hocken und Langeweile zu schieben, oder?"

Nun musste auch ich leicht grinsen.

"Da hast du wohl Recht."

"Na also."

Er betrat die Wohnung, ich ging hinterher. Der Flur war noch immer ungestrichen, aber Laminat lag schon. Durch eine Nebentür konnte ich einen kurzen Blick ins Wohnzimmer werfen, wo die Couch stand. Ein Fernsehtisch mit entsprechenden Gerät war auch schon drin. Er führte mich den Flur geradeaus in sein Zimmer, stieß die Tür auf und ließ mich hinein. Ich hatte einen kurzen Moment Zeit mich umzusehen. Die Wände waren Lila gestrichen, das Laminat war heller als in den anderen Räumen. Drei viertel der Wandfläche waren geschmückt mit schwarzen Regalen, wo aller möglicher Krimskrams lag- CD's, DVD's, teilweise Handschuhe, Batterien, Schminkzeug... In einer Ecke war ein Regal angebracht, wo mehrere verschiedene Krawatten hingen. Auf dem Couchtisch stand eine schwarze Shisha.

"Nett hast dus hier."

Er hob nur eine Braue, während sein Blick leicht skeptisch wurde.

"Ganz ehrlich- ich hasse es! Ich will wieder zurück in meine alte Wohngegend. Da hatte ich alle meine Freunde, die ich hier nicht mehr habe!"

Ich unterdrückte das Verlagen ihn über den Arm zu streicheln, denn in dem Moment als er das sagte, sah er so deprimiert aus, dass ich garnicht mehr wusste was ich sagen oder machen sollte.

"Hey...das wird wieder, da bin ich mir sicher. Du wirst auch hier deine Freunde finden und neue Bekanntschaften machen."

Ich legte meine Hand auf seine Schulter und dass er sie nicht abschüttelte, war in meinen Augen ein gutes Zeichen. Langsam fasste er sich wieder, schaffte es sogar, ein mildes Lächeln hervorzubringen.

"Vielleicht hab ich ja jetzt hier schon einen neuen Freund.. setz dich."

Ich ließ mich auf die Couch sinken, während er die Shisha nahm und sie zu mir rüber trug. Er schraubte den Blechdeckel oben ab.

"So, du musst mir jetzt mal zur Hand gehen."

Die Shisha war ganz schön schwer. Wenn ich an die von meinem Cousin dachte, die war dagegen ein Leichtgewicht. Er holte die Packung und wickelte das Silberpapier ab, bevor er zu einer Zange griff, die in der Nähe auf dem Boden lag. Mit vorsichtigen Fingern nahm er ein Kohlebrikett heraus, das er dann mit der Zange fasste.

"Hast du mal Feuer?"

Ich zog schnell ein Feuerzeug hervor und reichte es ihn. Das Brikett fing an zu zischen, als es mit der Flamme in Berührung kam, es glich einer Wunderkerze. Nun musste Shin vorsichtig sein, indem er das Brikett schnell auf die freie Metallfläche der Shisha legte, bevor er den rundlichen Deckel wieder hochschraubte.

"Falls du dich wunderst, Gras ist schon drin. Hab beim Anmachen nur bemerkt, dass keine Kohlebriketts mehr da waren und bin schnell los, welche holen." Er stellte die Shisha auf den Boden, nahm den Schlauch und zog einmal kräftig. Das Wasser unten begann zu blubbern. Ich sah zu, wie langsam der Rauch aus seiner Mundhöhle blies. Dann reichte er den Schlauch an mich weiter.

"Ich hoffe du hast nichts gegen Honigmelonengeschmack."

Er grinste leicht, während ich nur den Kopf schüttelte und ebenfalls am Schlauch zog. Der Rauch drang augenblicklich in meine Lungen. Wieder blubberte es. Ich kannte diese Geschmacksrichtung noch nicht und war positiv überrascht. Im Vergleich zu Apfel oder Kirsche war das richtig "lecker".

"Erzähl mal ein bisschen, Kai."

"Was soll ich denn großartig erzählen?"

"Ja, keine Ahnung, gib mir mal den Schlauch wieder."

"Ja keine Ahnung. Du bist gut."

"Ich weiß."

"Ja was... hm. Lass kurz überlegen. Was willst du denn hören?"

"Irgendwas."

"Irgendwas, na toll. Ich hab nicht viel zu erzählen."

"Dann erzähl das, was du kannst."

"Ist zu langweilig."

"Für mich nicht. Ich höre gerne anderen Leuten zu."

"Ich red aber nicht gern."

"Tust du doch aber gerade."

"Ahhhrg!!"

Ich fasste mir an den Kopf und lachte. Wenns nach Shin gegangen wäre, hätten wir wahrscheinlich noch ewig so weiter diskutieren können. Auch er konnte sich das Lachen nicht verkneifen, während er ab und zu am Schlauch zog und ihn an mir weiterreichte.

"Erzähl du doch was von dir, Shin."

"Was denn?"

"Ja keine Ahnung, Hobbys, Lieblingsmusik und so weiter."

"Puuh. Naja meine Lieblingsmusik wirst du ja wohl die letzte Nacht gehört haben."

"Ja, stimmt die war nicht zu überhören, ganz zum Leidwesen meiner Mutter."

"Tz. Mir ist egal, was die scheiß Erwachsenen denken."

"Stimmt, mir auch. Meine Mutter hasst es zum Beispiel, wie ich rumlaufe."

Shin seufzte.

"Denkst du meine etwa nicht? Die wollte mich in die Klapse stecken. Darum sind wir auch umgezogen. Sie dachte echt, ich kleide mich so, weil meine Freunde das auch so haben."

"Klischeedenker halt. Meine Mutter war ehrlich gesagt auch nicht so erfreut, als sie dich gesehen hat. Sie dachte wahrscheinlich, dass du als braver neuer Nachbarsjunge mich irgendwie umstimmen kannst, damit ich mich ääähm... 'normal' kleide."

"Für normal gibt es keine Definition, weil jeder was Anderes unter normal versteht."

"Eben das ist es ja, aber meine Mutter versteht gerade das NICHT."

"Die ist ja auch dumm. Sorry, aber das ist meine Meinung zu solchen Menschen."

"Ich geb dir ganz Recht. Naja was solls. Meine Eltern können mich sowieso nicht ausstehen."

"Welcome to the club. Naja, mir ist es egal. Solange ich meine Freunde habe, ist das auch nicht weiter schlimm."

"Ja, da magst du Recht haben."

Er lächelte breit.

"Die Shisha geht aus. Noch einen letzten Zug?"

"Klar."

Der letzte Zug ist ja bekanntlich immer der beste. So war es auch bei mir. Ich genoss es richtig, während Shin mir zusah. In seinen Augen lag ein merkwürdiger Ausdruck.

Ich hustete leicht, als ich den letzten Rauch ausgepustet hatte. So ergings mir immer beim Shisharauchen. Ich stellte die Shisha weg und faltete die Hände.

"So und was machen wir nun?"

Shin zündete sich währenddessen eine Zigarette an, die irgendwie merkwürdig aussah. Das Papier, das normalerweise weiß ist, war bei dieser Zigarette schwarz. Der Rauch roch ein bisschen nach Vanille.

"Keine Ahnung, schlag was vor."

"Warum immer ich? Was sind das denn für Zigaretten? Hab ich ja noch nie gesehen."

"Kennste die echt nich? 'Black Devil', gibts an jeder Tankstelle. Meine persönlichen Lieblingszigaretten."

"Kann ich mal ziehn?"

"Klar."

Ich zog einmal kräftig. Der Qualm verteilte sich im Zimmer und hinterließ einen seltsamen Vanillegeschmack.

"Die sind ja lustig. Schmecken voll gut."

"Sind ja auch welche von mir."

Ich grinste und rückte mich auf der Couch zurecht. Shin schaltete unterdessen den Fernseher an und seppte durch die Programme.

"Welcher Tag ist heute?"

"Mittwoch."

"Kommt nur Scheiße im Fernsehen."

"Ich weiß."

"Bock auf DVD?"

"Was haste denn schönes?"

"Hm.. wie wärs mir 'Hooligans'?"

"Gern."

Eine Weile schauten wir uns den Film an, ohne etwas zu sagen. Allerdings viel mir auf, dass Shin irgendwie näher an mich herangerutscht war. Nicht, dass es mich gestört hätte, aber ich wollte wissen, ob er das unbewusst oder mit Absicht getan hatte. Als der Film zuende war, sah ich das erste Mal seit Langem auf die Uhr. Es war fast zwei Uhr morgens. Ich musste eingeschlafen sein. So wie Shin. Sein Kopf lag auf meiner Schulter, er atmete leise. Ich konnte seine Körperwärme spüren und empfand dieses Gefühl als äußerst angenehm, natürlich Freundschaftlich gemeint. Obwohl ich nicht mal wusste, ob wir überhaupt Freunde waren. Jetzt regte er sich leicht, aber er wachte nicht auf, sondern murmelte nur etwas und schlief dann mit leicht geöffneten Mund weiter, den Kopf noch immer auf meiner Schulter. Ich konnte nicht anders und streichelte ihn durchs Haar. Schön weich. Was machte ich eigentlich hier? Er schlief seelig und ich tatschte ihn an. Was dachte ich mir eigentlich dabei?

Ich hatte keine Ahnung.

~Gedankenströme.

Shin schwitzte leicht und sah auf die Uhr: halb vier. Für einen kurzen Moment hatte er geglaubt, dass Kai aufwachen würde. Aber er drehte sich nur auf die Seite und schlief seelenruhig weiter.

Die Luft war stickig. Seit dem Shisharauchen hatte er nicht mehr gelüftet. Während er zum Fenster ging, griff er sich an den Hals und lockerte den Krawattenbund. Es knackte laut, als er den Fensterhebel umlegte. Die kühle Nachtluft, die seine Haut berührte und eine leichte Gänsehaut hinterließ, empfand er als angenehm. Dann schaltete er den Fernseher aus, wo der Film nun schon seit Stunden immer und immer wieder abgespielt wurde. Kai murmelte im Schlaf.

Shin atmete einmal tief durch. Er machte ihn nervös. Verdammt nervös. Als er aufwachte war Kai die Couch etlang runtergerutscht und Shin, dessen Kopf die ganze Zeit auf seiner Schulter geruht hatte, war gleich hinterhergerutscht und hatte ihn so fast gänzlich unter sich begraben. Der Gedanke daran, dass sie so geschlafen hatten, brachte ihn beinahe um den Verstand. Aber Kai hat sich davon wahrscheinlich gar nicht stören lassen. So fest wie der immernoch schlief. Langsam zündete er sich eine Zigarette an und tastete nach dem Aschenbecher.Vanillerauch nebelte durchs Zimmer und das ständige Aufglühen der Kippe, wenn er daran zog, war die einzigste Lichtquelle im Raum.Er hörte die Uhr ticken. Mit der Zeit wurde das Geräusch unerträglich. Seine Hände zitterten, was aber nicht an der Kälte lag, die nun langsam durchs offene Fenster ins Zimmer wehte. Kai allein trug die Schuld, auch wenn Shin den Grund nicht herausfinden konnte. Wenn er ihn ansah, schnürte sich seine Kehle zu und seine Muskeln spannten sich an. Er fasste sich an die Stirn um seine Temperatur zu messen. Normal. Verdammt.

Er stemmte seinen Körper hoch und ging zur Couch, wo Kai nun alle viele von sich gestreckt lag und leicht schnarchte. Vorsichtig berührte er sein Gesicht, strich über die Wangen und durch die Haare. Kais Mundwinkel zuckte. Einen Moment lang verharrte Shin in seiner Bewegung. Doch als der andere sich nicht weiter regte fuhr er fort. Seine Hände glitten über seinen Hals und an den Schulterblättern entlang. Für einen kurzen Moment fuhren sie sogar unter sein Tshirt. Shin gefiel es ihn dabei zuzusehen, wie er sich bewegte, wie er auf jede Berührung selbst im Schlaf noch reagierte. Ein kleines Lächeln konnte er sich dabei nicht verkneifen, während seine Hand weiter hinunterwanderte und die Hand des anderen fasste, sie fest drückte. Der Mond schien hell durchs offene Fenster und beleuchtete Kais Gesicht, eingetaucht in einen seltsam- melanchonischen Glanz. Wunderschöner Mensch, wie Shin fand.

Er fragte sich, warum er schon nach kaum einen Tag imstande war, solche Gefühle für einen Menschen aufzubringen.Es gab so viele Gründe, ihn Misstrauen entgegenzubringen. Aber in den paar Stunden, die sie miteinander verbracht haben, hatte er so viele Dinge bemerkt, die ihn einfach liebenswert machen mussten. Ihm gefiel seine offene Persönlichkeit, die Art wie er redete und wie er sich bewegte.

Sein Hass gegenüber intoleranten Menschen.

Sein Musikgeschmack.

Die Grübchen die er bekam, wenn er lächelte.

Seine Haare.

Seine Augen.

Seine Stimme, wenn er sprach oder lachte.

Er verfluchte sich selbst.

Er kannte Kai noch nicht einmal, er wusste nichts über ihn.

Trotzdem. Forever in love.

Neuzuwachs.~

Ich wachte auf und wurde sofort von der Sonne geblendet, die knallig und hell ins Zimmer schien. Ihre Strahlen waren warum, obwohl sich draußen auf den Böden schon der erste Frost bildete. Im Zimmer war es dennoch kalt, da das Fenster sperrangeweit offen stand. Ich hatte aber keine Lust aufzustehen und es zu schließen. Mein Rücken tat weh. Die Couch war zwar nicht gerade unbequem, aber eine ganze Nacht drauf schlafen.. das konnte nicht einmal ich. Ok, schalt ich mir. Besser als auf der ollen Sitzbank draußen im Flur. Ich sah zu Shin rüber. Ihn musste es noch schlechter ergangen sein, denn erst jetzt fiel mir auf, dass ich der Länge nach auf der Couch lag und er kaum Platz hatte. Zur Hälfte liegend, zur Hälfte sitzend schlief er, die Beine angezogen, während sein Kopf auf meinem rechten Knie ruhte. Na wenn der mal keinen Kater hatte! Wie spät war es eigentlich? Ich sah auf meine Handyuhr. Um zwölf genau. Der halbe Tag war verpennt. Was solls. Waren doch Ferien. Ich zog mir mein Oberteil enger um den Körper. Die kalte Luft, die hereinwehte, ließ mich schaudern. Langsam rappelte ich mich hoch um das Fenster zu schließen. Dabei musste ich zwangsläuftig mein Knie unter Shins Kopf wegziehen. Dieser Sackte langsam auf die Couch. Shin schlief weiter und bekam von alledem garnichts mit.

"Moha, wie lange war der denn noch wach, dass der noch so tief pennt!"

Ich schloss schnell das Fenster. Als ein lautes Knacken ertönte, schreckte Shin auf, wobei der mit den rechten Arm den Tisch mit der Shisha umstieß. Diese landete mit einem lauten Knall auf dem Boden, war aber Gott sei Dank nicht weiter beschädigt, was Shin trotzdem nicht vom Fluchen abhielt.

"Au, verdammte Kacke, welcher Idiot macht denn am frühen Morgen solch einen Krach?"

Ich lächelte leicht belustigt.

"Ähm... ja, ich wünsch dir auch einen wunderschönen guten Morgen."

Er drehte sich zu mir um und wuschelte sich verschlafen durch die Haare.

"Ach du bists. Morgen... wenn man denn noch Morgen sagen kann."

Er sah auf seine Uhr und hob eine Braue.

"Hm. Wohl eher, guten Mittag. Warum is das denn schon so spät?"

Ich zuckte mit den Schultern.

"Tja, keine Ahnung. Wir haben halt ausgeschlafen. Naja ich zumindest. Du siehst noch nicht gerade wach aus."

"Ich und wach? Ich war noch bis vier Uhr morgens auf den Beinen und hab ferngesehen!"

Ich entfernte mich vom Fenster und ließ mich neben Shin auf die Couch fallen. Dieser streckte sie genüsslich und knackte zweimal laut mit dem Hals.

"Aber nen Kater hab ich jetzt und zwar mächtig gewaltig."

"Ist ja auch kein Wunder. So wie du geschlafen hast, völlig verrenkt. Naja okey, ist ja auch teilweise meine Schuld, weil ich mich die Nacht ganz schön breitgemacht habe."

Shin kratze sich am Hinterkopf und sah schnell in eine andere Richtung, was irgendwie verlegen rüberkam und mich wunderte.

"Hm, naja nicht so schlimm. Hätt ja auch ins Bett gehen können."

Jetzt war ich wirklich verwirrt. Wenn ich so darüber nachdachte... stimmt, das hätte er wirklich tun können...

"Und warum bist du nicht einfach ins Bett gegangen?"

"Keine Ahnung. Ich trample immer so laut und wollte dich nicht wecken."

"Gestern hast du aber auch nicht getrampelt."

"Ich trample ja auch nur wenn ich müde bin."

"Aber wenn du es geschafft hast, bis vier Uhr morgens wachzubeiben, kannst du ja gar nicht so müde gewesen sein."

"Pfft."

Shin zündete sich grinsend eine Zigarette an und reichte sie an mich weiter. Ich fands eigentlich nicht so gut gleich nach dem Schlafen und auf nüchternen Magen zu rauchen, aber goldene Ausnahmen sollte man ja auch mal machen, besonders wenn der Qualm nach Vanille schmeckte.

"Belassen wir es einfach dabei, Kai. Ich hab keine Lust schon am frühen Morgen zu diskutieren."

"Ich muss dich korrigiren: am frühen Mittag."

"Ja, oder so."

Plötzlich schreckte er heftig zusammen, als er ein tiefes Summen vernahm, dass aus seiner Hosentasche zu kommen schien. Er griff hinein und es kam ein schwarzglänzendes Handy zum Vorschein.

"SMS von den Alten. Kommen erst in drei Tagen wieder."

Er lächelte breit.

"Na da kommt Freude auf, oder?"

Sein Magen knurrte gewaltig. Er schlug sich mit der Hand auf den Bauch.

"Boah ich würd sagen, es ist mal Zeit was zu fressen. Mal schaun, ob wir was Essbares hier haben."

Er stand auf und verließ das Zimmer, mich im Schlepptau. Die Küche war spärlich eingerichtet, das Nötigste war drin, aber Tisch und Stühle waren nicht vorhanden.

Er klappte den Kühlschrank auf und starrte ein paar Sekunden gedankenverloren hinein. Dann knallte er mit einen leicht säuerlich wirkenden Gesichtsausdruck die Tür wieder zu, drehte sich auf dem Absatz um und fixierte mich.

"Bock auf Pizza?"

"Klar, warum nicht? Aber meinst du nicht auch, dass ich dir langsam zur Last falle?"

"Tust du nicht, warum auch? Ich mag Gesellschaft von Gleichgesinnten."

"Wie meinst du das?"

Er öffnete den Kühlschrank erneut und nahm eine Cola heraus.

"Naja. Wir haben halt sehr viele Gemeinsamkeiten."

Ich sah ihn dabei zu, wie er große Schlücke aus der Flasche nahm, sich den Mund abwischte und den Deckel wieder zuschraubte.

"Ich hab aber das Gefühl, dass ich dich trotzdem irgendwie nerve."

"Und wie kommst du darauf?"

"Keine Ahnung. Ist einfach so."

Shin lachte leise und patschte mir hart, aber herzlich auf die Schulter.

"Mensch Kai! Wenn du mich wirklich nerven würdest, dann erklär mir bitte, wieso hab ich dich dann nicht schon längst rausgeschmissen?"

"Aus Höflichkeit vielleicht?"

Er schlug sich lachend aufs Knie.

"Na du bist mir vielleicht einer. Ich bin immer ehrlich und direkt zu anderen. Auch zu dir."

"Und was denkst du über mich?"

Er hörte zu lachen auf und sah mich ernst an.

"Ich mag dich. Wenn wir beiden hübschen noch ein bisschen mehr Zeit miteinander verbringen würden, könnten wir richtig dicke Freunde werden."

Ich hob skeptisch eine Braue, grinste aber.

"Na wenn du das sagst."

"Klar. Also, was ist jetzt mit Pizza?"

"Immerdoch."

Shin zückte sein Handy und wählte die Nummer vom Pizzaservice. Nach ein paar Sekunden hörte ich sehr leise, wie sich jemand am anderen Ende der Leitung meldete.

"Jo, Shin Mudo hier. Ich hätte gern zweimal eine große Kentuckypizza im Menü. Ja, mit Cola. Straße? Ja, eh.. Kirschblütenweg zwei. Wie? Zehn Minuten? Okey, ich steh draußen. Jo. Bis gleich."

Er legte auf und sah zu mir.

"Kann ich mich so draußen blicken lassen?"

Ich musterte ihn prüfend von oben bis unten. Sein Hemd war an manchen Stellen aufgeknöpft, seine Haare waren leicht zerzaust, was irgendwie voll zu seinem Style passte und sein Makeup war kaum verschmiert, was mich wunderte.

"Richte deinen Lidschatten noch ein bisschen, ansonsten top. Und ich?"

Er sah mich einen Moment lang an, auch von oben bis unten, dann kam er langsam auf mich zu. Seine Hand berührte meine rechte Wange und strich zärtlich über die Haut, während seine Augen sich in die meinen bohrten.Für einen kurzen Moment schien mein Körper zu erstarren, während sein Daumen weiter nach oben zu meinen Auge wanderte. Er verstärkte leicht den Druck der Berührung und strich unter dem Auge entlang. Dann ließ er von mir ab. An seinem Finger schimmerte jetzt ein komischer schwarzer Fleck, wahrscheinlich Kajal oder so.

"So. Warst verschmiert. Jetzt bist du perfekt. Wunderschön."

Er wuschelte mir durch die Haare. Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss und durckte mich schnell unter seiner Hand weg.

"H-Hey, man! Jetzt sind meine Haare NOCH MEHR versaut!"

"Ach Quatsch, laber nich! Beeil dich lieber, wir müssen raus! Die Pizza wartet nicht auf uns!"

Ich zuckte mit den Schultern.

"Na gut, dann mal los."Er nahm den Hausschlüssel und war schon dabei im Flur in seine Schuhe zu steigen. Als ich endlich fertig war, hatte er schon unten die Haustür aufgerissen. Plötzlich hörte ich einen verdammt lauten Freudenschrei. Und wie der Schlüssel klappernd zu Boden fiel.
 

Derweil kam die Pizzabedienung im Kirschblütenweg an. Ein Mädchen, nicht älter als sechzehn Jahre. Ihr Kopf nickte im Takt der Musik, die durch Kopfhörer gepresst in ihren Ohren dröhnte. Sie saß auf einem Fahhrad, wo die beiden Pizzen auf dem Gepäckträger ruhten, und hielt das Gleichgewicht, indem sie sich mit einem Bein auf der Erde abstützte. Ihr Blick hatte etwas Stechendes, als sie mit halb geöffneten Augen die Haustür fixierte, hinter der noch immer nichts den Anschein erweckte, als würde da endlich mal jemand rauskommen um seine Pizza zu bezahlen. Sie wippte ungeduldig mit dem Fuß und verschränkte die Arme.

"Mensch, meine letzte Auslieferung heute und der kommt nicht runter, um sein Fressen abzuholen."

Lust auf Klingeln hatte sie auch nicht unbedingt. Einfach warten. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Fünfzehn Minuten.

"Boha, jetzt REICHTS! Ich lass mir doch nicht meinen Tag versauen! Soll der sich seine Pizza doch sonstewo hinstecken..."

Sie wollte sich gerade umdrehen und wieder fahren, als hinter ihr die Haustür aufgerissen wurde. Sie nahm genervt einen Kopfhörer heraus und drehte sich um.

"Wird ja auch Zei- ..."

Sie verstummte, als sie in das Gesicht von Shin blickte und der Mund blieb ihr offen stehen. Vor Schreck hätte sie beinahe die Pizza fallenlassen.

"SHIN? Was in drei Teufels Göttern?!"

"Chain-Yu? BIST DU DAS WIRKLICH?"

Shin strahlte und breitete unter Lachen die Arme aus, um das Mädchen fest zu drücken.

Jetzt ließ sie die Pizza doch fallen und quetschte ihn beinahe zu Tode, küsste ihn das Gesicht ab, während Kai nur bedröppelt danebenstand und zuschaute.

~Alte Freunde.

Ich verschränkte die Arme und konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Doch als sie sich fünf Minuten später noch immer nicht voneinander gelöst hatten, wurde ich langsam ungeduldig und tippelte mit dem Fuß.

"Ähm... ist das denn jetzt wirklich der passende Moment dafür?"

Als nichts geschah, außer dass sich Shin und das seltsame Mädchen nur noch fester umklammerten und hin und her schwankten, hob ich meine Stimme.

"Haaallo! Ich hab Hunger und meine schöne spendierte Pizza liegt auf dem Boden!"

Jetzt lösten sich die beiden voneinander, obwohl Shin noch immer ihre Hand hielt.

"Ich weiß, man. Aber ich hab sie jetzt so lange nicht mehr gesehen.."

Er sah aus, als hätte er gerade eine heftige Ohrfeige verpasst bekommen. Außerdem lag in seiner Stimme ein leiser Hauch von Sehnsucht, ich fragte mich ob die beiden wohl zusammen waren und irgendwie gefiel mir dieser Gedanke überhaupt nicht.

Er legte seinen Arm um ihre Schulter.

"Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, oder Kai?"

Die Pizzalieferantin schaute mit einen sehr frechen Gesichtsausdruck erst zu mir, dann zu Shin.

"Kai?"

Sie löste sich von ihn und kam auf mich zu. Ich zuckte leicht, als sie mein Kinn in die Hand nahm und meinen Kopf sanft nach oben drückte. Wohlmöglich wollte sie sehen wer sich dahinter verbirgt, denn sie strich sogar noch meinen Pony aus der Stirn und sah mir fest in die Augen.

"Süßer Name... Aber nicht so süß wie die Person, die ihn trägt."

Ich spürte, wie mir die Röte is Gesicht schoss und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Na die war ja alles andere schüchtern! Shin lachte leise im Hintergrund, wobei ich mich noch bescheuerter fühlte.

"Brauchst ja nicht gleich so rot zu werden, Schätzchen. Du bist ja richtig schnuckelig. Aus uns könnte echt mal was werden."

Sie lachte herzhaft, kam dann aber zu mir und streckte mit einen kessen Lächeln die Hand aus.

"Chain-Yu Sueh. Beste Freundin von Shin, sechzehn Jahre alt. Komme aus Thailand, was den bescheuerten und trotzdem irgendwie coolen Namen erklärt. Arbeite zurzeit als Pizzalieferanten und mache nebenbei mein Abitur auf einer Grafikschule. Zeichne gern und bin internetsüchtig. Und wer bist du?"

Ich schwankte einen Moment. Zu viele Informationen. Die war nicht nur total unschüchtern, sondern konnte auch noch labern wie ein Wasserfall. Dennoch schüttelte ich erfreut ihre Hand und wollte gerade den Mund aufmachen um auch etwas zu sagen, als sie mich unterbrach.

"Aber red bloß nicht zuviel, sowas ist ziemlich nervend. Vor allen wenn das Thema voll uninteressant ist. Naja was solls. Aah kann es vielleicht sein, dass ich gerade etwas zu viel rede? Eheheh... ich glaube du woltest etwas sagen, oder?"

Ich kratzte mich am Hinterkopf.

"Ähm..ja. Ich hoffe, dass Kai Arizawa fürs Erste reicht."

Sie kicherte erneut.

"Fürs erste, ja!"

Ich hatte Zeit, sie mir anzusehen. Eigentlich ziemlich hübsch. Lange schwarze Haare, sehr stark toupiert. Dunkel geschminkte Augen. Sie hatte sich mit Kajal einen Stern unters linke und einen Mond unters rechte Auge gemalt, was nur allzu gut zu ihren frechen Aussehen passte und sie irgendwie mangamäßig aussehen ließ.

Sehr helle Haut, rosane volle, aber nicht zu volle Lippen. Ziemlich groß, fast größer als Shin und ich. Lange, schlanke Beine, die in einer schwarzen Röhrenjeans steckten, die ihre Figur noch einmal richtig betonte. Dazu schwarze Chucks und ein pinkes T-Shirt, darüber eine schwarze Jacke, dekoriert mit neongrünen Totenköpfen. Im großen und ganzen war sie ziemlich auffällig, was mich an ihrer Stelle echt stören würde.

Inzwischen hatte Shin sich schon nach der Pizza gebückt.

"Hey man, dem Essen gehts gut. Gehn wa rein? Wird langsam ziemlich kalt hier raußen."

Tatsächlich, als er nach oben blickte, fiel ihn eine Schneeflocke auf die Nase. Der Winter kam langsam, doch die Kälte war schon da. Er hob die Pizza hoch und ging an uns vorbei.

"Kommt ihr nun?"

"Ja was denn. Gerade eben konntest du dich noch kaum von mir lösen und jetzt hetzt du uns auf einmal so."

Chain-Yu verschränkte die Arme und sah ihn schmollend an. Doch als Kai ihr liebevoll durch die Haare wuschelte, wurde ihr Blick wieder etwas weicher.

"Nagut. Gehn wa mal rein."

Shin betrat den Flur, ohne sich noch einmal nach uns umzudrehen. Jetzt war ich mit ihr allein draußen. Ich bemerkte aus dem Augenwinkel heraus, wie sich mich ansah und drehte mich zu ihr um.

"Und du... musst du noch arbeiten, oder kommst du mit rein?"

Sie lächelte mild und zog ein pinkes Handy aus ihrer Hosentasche.

"Gutes Timing. Hab geneu jetzt Schluss."

"Nadann, wollen wir rein? Ist echt ziemlich kalt draußen, Shin hat nicht unrecht."

Sie zuckte mit den Schultern.

"Ich friere nich."

"Das wundert mich. Du hast kaum was an, nur so ne olle dünne Jacke."

"Die Jacke is nich oll."

Sie zupfte an ihr herum.

"Aber naja. Lass mal wirklich reingehen. Sonst wird mein bester Freund noch böse..."

Sie ging an mir vorei und streifte leicht meine Schulter. Ich konnte ihren süßen Duft riechen und dachte schnell an was Anderes.

"Was ist denn nun, kmmst du oder nich?"

Man, die redete echt zu viel. Irgendwie ein bisschen nervig, aber dennoch symphatisch.

Oder so...

Einkaufszentrum.~

Ich bereute es, fingerlose Handschuhe angezogen zu haben, als ich die Wohnung verließ und mir die Kälte wie eine Wand vor den Kopf schlug. Verdammt, war das ätzend! Der Schnee lag inzwischen Knöchelhoch, was dazu führte, dass meine Hose unten nach ein paar Schritten völlig durchnässt und kalt war, dazu kam, dass ich meine Mütze vergessen hatte. Meine Ohren waren taub. Ach, das war doch wieder einmal ein wunderbarer Tag. Naja gut, schalt ich mir, besser als drin zu sein.

Meine Eltern waren wieder da. Kamen vom Urlaub, erholt wie noch nie, doch als sie dann die Wohnung gesehen haben...ich wollte gar nicht mehr daran denken, doch der Gedanke war einerseits lustig, andererseits aber auch verdammt krass. Mir war völlig entfallen, dass ich an dem Tag, wo ich mich ausgesperrt hatte, den Fernseher angelassen hatte. Der war drei Tage durchweg an und ist glatt und ganz spontan durchgebrannt. Meine Mutter hat die Tür aufgeschlossen und alles war voller Qualm. Die ist erst mal hustend rausgerannt, während Shin und Chain-Yu im Flur gestanden und lachend den Daumen nach oben gereckt haben. Das die da so ruhig bleiben konnten! Der Fernseher war jedenfalls hinüber. Naja, mir war’s eigentlich Rille, ich sah sowieso nie fern. Meiner Ma war das ganze nicht "so Rille". Die ist verdammt schlimm ausgetickt, schlimmer als sonst immer und hatte mich nun zum Einkaufen verdonnert. Dafür dass ich den Fernseher gesprengt hatte, eigentlich noch eine recht milde Strafe. Na gut, wenn man mal von der Kälte absah.
 

Als ich das Einkaufszentrum betrat, schlug mir sofort der süße Geruch der Bäckerei entgegen, die sich gleich rechts neben dem Eingang befand. Da draußen Minusgrade herrschten und drinnen mindestens fünfzehn Grad Plus waren, musste ich einen Moment lang stehen bleiben und mich an der Wand abstützen, weil mir durch den plötzlichen „Klimawechsel“ das Blut in den Kopf schoss und mir schwindlig wurde. Als ich mich beruhigt hatte, sah ich mich leicht orientierungslos um, bevor ich begann in meiner Hosentasche herumzuwühlen. Als ich endlich den Einkaufszettel herauszog, war ich schon längst auf der Rolltreppe, die nach oben zu den Läden führte.

Die Geschäfte waren voll bis oben hin, obwohl heute Samstag war. Ab und zu blieb ich stehen um mir den ein oder anderen Nietengürtel anzusehen, doch ich fand nichts Besonderes. Zumindest nichts, was man ohne Kreditkarte kaufen konnte. Man ey, der Scheiß wurde immer teurer und die Qualität bleibt gleich beschissen! Wieder ein Grund mehr zum Kotzen!

Als ich endlich vor dem Laden stand, wo ich einkaufen sollte, sah ich mir den Zettel zum ersten Mal richtig genau an. Ich musste stutzen. Alles was ich einkaufen sollte, war alkoholisch. Ich hatte so einige Zweifel. Ich hatte zwar einen Ausweis, aber Alkohol gab es generell erst ab achtzehn. Da ich erst siebzehn war, wusste ich eigentlich schon, dass es nicht klappen würde. Naja, besser so, als es gar nicht erst zu versuchen und mit leeren Händen nach Hause zu kommen, wahrscheinlich noch einen Anschiss kriegen und drei Monate Hausarrest noch oben drauf. Nein, dann lieber reingehen und probieren! Vielleicht hatte ich ja Glück!

Ich schritt grübelnd durch die Regale, da fiel mir eine Person ins Auge. Die länglichen schwarzen Haare, die ich sonst nur toupiert kannte, hingen lasch herunter und die Augen, die normalerweise schwarz umrandet waren, wiesen heute nur einen dünnen Kajalstrich auf, der kaum auffiel und seinen Blick leicht verschlafen wirken ließ. Er stand grübelnd vor den Zigarettenregal, griff schließlich nach „Black Devil“ und verschwand aus meinem Sichtfeld. Ich wusste nicht warum, aber ich griff nach den Weinflaschen, die ich mitnehmen sollte und folgte ihm. Wie ein Stalker. Bescheuert musste man sein.

Ich fand ihn im Süßigkeitenabteil. Er hatte schon mehrere Gummibeertüten in der Hand. Irgendwie sah er heute komisch aus. Die Haare nicht gemacht, die Augen kaum geschminkt und ganz andere Klamotten, als sonst.

Er trug ein weißes Hemd, was ihn etwas zu groß war und dessen Knöpfe an manchen Stellen offen waren. Seine Jeans war verwaschen und wies mehrere fransige Löcher auf, die besonders an den Knien sehr stark ausgeprägt waren. Das passte nicht zu ihn, aber irgendwie auch doch. Das machte mich stutzig. So anders. Wird wohl Gewöhnungssache gewesen sein. Ich hatte so einige Zweifel, aber es gab zwei Dinge, die mich überzeugten, dass es sich bei dem jungen Mann um Shin handeln musste:

Einmal dass er „Black Devil“ zu mögen schien, was nur sehr wenige mochten, wie ich von Chain-Yu erfahren hatte und das Andere war seine schottengemusterte Krawatte, die ungebunden um seinen Hals hing. Shin liebte Krawatten, und das wusste ich. Und wie ich ihn so beobachtete, fielen mir noch andere Dinge auf, Dinge, die eine ganze Persönlichkeit ausmachen konnten.

Er stand genau so da, wie Shin, den Oberkörper leicht nach hinten gebeugt. Der selbe leicht forsche Blick, der über die Regale glitt. Die gleiche Armbewegung, wenn er sich leicht verwirrt am Hinterkopf kratze. Die selbe lässige Art zu Laufen.

Er entschwand abermals aus meinem Sichtfeld. Ich fragte mich, warum ich ihn nicht einfach ansprach, aber das schien mir etwas zu leicht. Vielleicht verwechselte ich ihn ja wirklich nur. Dann sah ich auf die Uhr und erschrak. Ich hätte schon längst wieder zuhause sein müssen, also hieß es mal wieder „Beine in die Hand nehmen“. Das tat ich. Auf dem Weg zu den Kassen wurde ich wieder etwas langsamer.

Das Rauchen hatte meine Kondition erheblich abgeschwächt. Als ich die letzte Kurve nahm, viel mir eine weitere Person ins Auge, die komplett anders gekleidet war, als ich und äh…“Shin“.

Die übergroße Hose in den Socken, die viel zu weite Jacke mit goldenen Lettern bestickt. Kopftuch mit Cap, ein überheblich arrogant lächelndes Gesicht. Hip Hop Schwein. Das fehlte gerade noch! Naja was soll’s. Einfach ignorieren war angesagt. Doch das erwies sich als alles Andere, als leicht. Er brauchte mich nur anzuschauen und seine Gesichtszüge schienen ihm zu entgleiten., wurden ja schon fast wütend. Oh noh! Gott, bewahre mich! Klischeedenker auf halb neun! Was soll’s. Damit würde ich heute auch noch fertig werden. Plötzlich bekam ich von hinten einen kräftigen Stoß in den Rücken. Die Weinflaschen entglitten mir und landeten mit einem gewaltigen Scheppern auf dem Boden, wo sie in tausend Scherben zersprangen und der Boden mit Wein überschüttet wurde. Ich stöhnte angenervt auf, drehte mich um und hielt Ausschau nach einer Putzfrau, während der ach so coole Typ mich blöd von der Seite zulaberte.

„Na, mein kleiner Emo? Heute schon geheult und Gedichte geschrieben?“

Er zog sein Handy und fummelte an der Tastatur rum. Ein paar Sekunden später ging schallend ein Lied los.

Es ist hart, kleiner Emo, ich weiß…

Ich warf ihn einen gleichgültigen Blick zu, was ihn offenbar noch aggressiver machte.

„Was guckste denn so hässlich? Willste gleich’n Paar drauf oder erst später?“

Er rückte gefährlich nah an mich heran, doch ich machte keine Anstalten einen Schritt zurück zu treten und blieb seelenruhig stehen, was ihn offenbar zu verwirren schien, denn seiner Meinung nach hatten alle sogenannten „Opferkinder“ Angst vor den tollen Hoppern. Falsch gedacht. Sollte der doch kommen. Ich hatte keine Angst, höchstens vor dieser scheußlichen Musik. ´

Inzwischen hatte sich schon eine ganze Menschenmasse um uns herum versammelt, die wohl nichts besseres zu tun hatte, als mich und den Hopper anzustarren. Und sie gafften noch mehr, als sich von hinten eine Hand auf meine Schulter legte, sie ganz leicht drückte und eine sanfte Stimme etwas sagte, offenbar an mich gerichtet. Eine Stimme, die ich nur allzu gut kannte…

„Ach, hier bist du ja. Ich hab’ dich schon gesucht.“

Ich wusste gar nicht mehr, was überhaupt abging und drehte mich verwirrt um.

„Shin, was-?“

„Wie? Shin? Hahaha, ich glaube fast, du verwechselst mich.“

Er sah sich leicht argwöhnisch um, so als würde er jetzt erst checken, was abging.

„…Wasn hier los? So ne Sauerei. Die armen Putzen. Wer waren das?“

Sein Blick glitt suchend durch den Supermarkt und blieb schließlich am Hopper haften. Er hob eine Braue.

„Aah, verstehe… ein Obercooler wars.“

Der Obercoole sagte nichts mehr, sondern funkelte nur bösartig zu äh… Shin (??) rüber, während seine Scheusalmucke immer noch lief. Der Schwarzhaarige grinste schelmisch.

„Wie jetzt? Hat’s dir etwa die Sprache verschlagen? Wundert mich, bist ja sonst so redegewandt, mein alter Freund. Mach mal die Musik aus, is’ ja abartig.“

Er wandte sich wieder mir zu.

„So. Damit das nicht zu teuer wird, bezahle ich dir den kaputten Alk. Den neuen musst du dir aber selber kaufen. Du bist bestimmt noch nich achtzehn, oder?“

Ich sagte gar nichts, sondern schüttelte nur den Kopf.

„Hab ich mir gedacht. Gib mir das Geld, dann erledige ich das für dich. Mit deinem Alter wirst du da nicht weit kommen, glaube ich.“

Ich nickte nur stumm und fixierte ihn prüfend. Nein, diese Ähnlichkeit, das konnte nicht sein…

Er nahm mir wortlos die restlichen, noch ganzen Flaschen ab und begab sich zur Kasse, während ich noch stehen blieb und nichts Anderes als dumm gucken konnte. Was sollte das alles? Der kannte mich nicht und behandelte mich wie jemanden, mit dem er schon Jahre lang in Verbindung stand. Erst als er mich rief, schaffte ich es, meine Gedanken abzuschütteln.

„Was ist denn nun? Kommst du bald, oder was?“

Ich setzte mich in Bewegung und ließ mich noch einmal von dem Niveaulosen Hip Hopper anrempeln, ignorierte dies aber. Der andere war schon dabei, die Weinflaschen einzutüten.

Ich nahm sie ihn ab.

„Danke.“

„Nicht der Rede wert.“

Er öffnete die Tür vom Laden und verschwand. Aber das ging mir alles ein bisschen zu schnell und verwirrte mich immer mehr. Erst war er verdammt nett zu mir und nun schien es, als wolle er so schnell wie möglich weg von hier. Das ließ ich doch nicht auf mir sitzen!

Er war noch nicht ganz so weit entfernt und ich schaffte es glücklicherweise noch, ihn einzuholen.

„Hey, warte mal.“

Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

„Was gibt’s denn noch?“

Seine Stimme wirkte abweisend, was mich ein bisschen verunsicherte.

„Danke, dass du mich da rausgeboxt hast. Ich glaub, das Arschloch hätte mich nicht gehen lassen, wenn du nicht aufgetaucht wärst.“

Er drehte sich um und jetzt lächelte er plötzlich wieder.

„Kein Ding.“

Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sah sich leicht verunsichert um und erlaubte mir somit, ihn noch einmal prüfend anzusehen.

„…Sagmal frierst du nicht?“

Als Antwort zuckte er nur mit den Schultern und grinste.

„Nein, ich friere so gut wie nie. Keine Ahnung warum.“

„Komisch.“

„Ich weiß. Lust auf ein Eis?“

„Bei der Kälte?“

„Wie gesagt, mir ist nicht kalt.“

Ich überlegte kurz und zog mir die Jacke enger um den Körper, der leicht zitterte, als ein Windstoß uns passierte.

„…Vanille?“

Er lächelte mild.

„Vanille, Erdbeer, was immer du willst…“

„Nagut, aber wir setzen uns irgendwo hin, wo’s warm ist, okay?“

„Daran soll’s nicht scheitern.“

Es dauerte eine Weile, bis wir ein einigermaßen vernünftiges Kaffee fanden. Die Bedienung schlürfte heran, er bestellte für jeden einen Cappuccino und einen Eisbecher. Die heißen Getränke kamen, doch die Eisbecher ließen noch auf sich warten. Eine Zeit lang verloren wir beide kein Wort, entweder aus Schüchternheit oder aus Lustlosigkeit. Wahrscheinlich beides.

Nachdem er eine Weile lustlos in seinem Cappuccino rumgerührt hatte, legte er den Löffel zur Seite und warf mir einen Blick zu, der schon fast taxierend wirkte und eine Spur Anschätzung hinter sich her zog.

„Ich hab mal ne Frage.“

„Na dann frag.“

Sein Blick verschärfte sich leicht.

„Wie hast du mich vorhin noch gleich genannt?“

Ich hatte gerade lustlos mit den Fingern auf der Tischkante herumgetrommelt und blickte nun interessiert auf.

„Hm?“

„Der Name. Von vorhin.“

Hörte ich da eine Spur Aggression in seiner Stimme? Ich hob eine Braue.

„Shin, wieso-?“

Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit der rechten Hand über die Stirn.

„Also… hatte ich mich doch nicht verhört.“

Ich blickte ihn nur verwirrt an.

„Was ist denn so schlimm daran, dass ich dich mit jemanden verwechselt habe?“

Er setzte einen leicht angewiderten Blick auf.

„Dass dieser Jemand ausgerechnet Shin sein musste.“

„Wieso? Hast du was gegen ihn? Du scheinst ihn ja ziemlich gut zu kennen.“

„Ja, da hast du wohl recht. Und WIE gut ich den kenne… Er ist mein Zwillingsbruder.“

Mir fiel klappernd der Löffel aus der Hand, den ich eben erst genommen hatte.

„Was?“

Deshalb also diese Ähnlichkeit.

„Mensch, überrascht dich das etwa?“

Er lachte bellend auf und klang dabei fast genau wie sein Bruder, während ich nur verlegen dasaß. Ich hätte von alleine darauf kommen müssen.

„Naja. Shin hat mir nie erzählt, dass er einen Zwillingsbruder hat. Chain-Yu hat auch nie ein Wort darüber verloren.“

„Ach was? Chain-Yu, die Schnatterententussi ist auch hier? Na das wird ja immer besser.“

Darauf sagte ich nichts, also redete er einfach weiter.

„Ciello.“

Ich setzte einen verpeilten Blick auf.

„Bitte?“

„Ciello. Mein Name.“

„Ehrlich? Ciello?“

Ich fand den Namen Shin schon seltsam genug, aber „Ciello“? Der Name toppte das Ganze noch mal um ein Vielfaches. Die Eltern hatten wirklich einen ausgefallenen Geschmack.

„Ja. Naja. Eigentlich Billy Ciello, aber ich bevorzuge es, bei meinen Zweitnamen genannt zu werden, weil `Billy´ klingt in meinen Augen wie ein Kondom.“

Jetzt musste ich lachen.

„Ja stimmt, da hast du allerdings Recht.“

„So. Ich hab dir meinen verraten, jetzt will ich deinen.“

„Kai.“

„Schön, Kai.“

Er reichte mir die Hand, ich schüttelte sie und kam mir dabei gewaltig blöd vor. Normalerweise stellt man sich vor und geht dann erst ein Eis essen und nicht andersrum, oder?

Wieder saßen wir da und schwiegen.

Schließlich ergriff Ciello wieder das Wort.

„Wie lange kennst du Shin schon?“

„Schwer zu sagen. Anfang der Ferien ist er bei mir gegenüber in der Wohnung mit seinen Eltern… deinen Eltern eingezogen.“

„Puuh. Du arme Sau.“

Ich hob eine Braue.

„Wieso? Er ist doch eigentlich nett. Also ich versteh mich gut mit ihm.“

„Ehrlich? Lol… na dann viel Spaß..“

„Wieso denn?“

„Er ist ein Arschloch.“

„Glaub ich dir nicht.“

„Du kennst ihn ja auch gar nicht.“

„Ja wie denn auch? Ich hab ihn vor einer Woche zum ersten Mal gesehen.“

„Sag ich doch. Ich An deiner Stelle würde vorsichtig sein.“

„Was hat er denn so schlimmes gemacht?“

„Überleg mal, was denkst du wohl, warum er und meine Eltern schon wieder umgezogen sind?“

„Na, weil-…“

Er unterbrach mich.

„Moment. Er hat dir bestimmt die gleiche Geschichte aufgetischt, wie allen anderen, oder?“

„Na, seine Eltern..“

„…sind weggezogen, weil sie dachten er läuft wegen seiner Freunde so ‚komisch’ rum? Pah, dann kann ich dir nur sagen… Herzlichen Glückwunsch. Du bist echt darauf reingefallen.“

„Das war gelogen?“

„Ach ja… Shin war schon immer ein exzellenter Schauspieler. Hat er einen auf Mitleid gemacht? Hat er frustriert getan? Ich warne dich.“

„Wovor?“

„Vor meinen Bruder. Der und diese Chain-Yu, die passen zusammen wie der Deckel auf den Topf. Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig mit denen. Die sind nicht so nett, wie die immer tun.“

„Wie meinst du das?“

„Mensch Kai. Die verstellen sich aufs Derbste. Glaub mir. Die haben nicht nur das eine Gesicht.“

Ich nahm einen Schluck Cappuccino und sagte nichts weiter.

„Du glaubst mir nicht, oder?“

„Ich weiß nicht genau.“

„Wenn du schlau bist, hältst du dich fern von ihnen. Wenn du dich von ihnen einwickeln lässt, dann tust du mir leid.“

„Was haben sie gemacht?“

„Ouh, viele unschöne Sachen…“

„Sag schon.“

Sein Blick wurde spitz.

„Ich hab dir genug erzählt, frag sie selber. Ich bin mir sicher die berichten dir sehr gern davon.“

„Aber…“

Doch in dem Moment kam die Bedienung mit den Eisbechern angelatscht und von dem Moment an hatte Ciello bei dem Thema Shin und Chain-Yu plötzlich taube Ohren.
 

„Willst du das wirklich machen?“

„Ja.“

„Das wäre aber nicht so gut.“

„Achja?“

„Oh, ja. Eine kleine Prügelei mit dem Bruder von nebenan zieht ja in unserer kleiner Bude überhaupt keine Aufmerksamkeit auf sich.“

„Das lass mal meine Sorge sein.“

„Mensch Ciello. Wenn du das tust, bist du nicht viel besser, als er es angeblich ist.“

„Ist mir egal.“

Wir hielten beide an.

„So. Hier wohne ich. Und hier wohnt Shin.“

Ich schloss die Tür auf und er drängte sich hindurch.

Ich kam hinter her und bog am Treppenabsatz nach rechts ab, drehte mich aber noch einmal um.

„Ja genau die Tür. Du wärst ganz schön dumm, wenn du das jetzt tun würdest.“

„Dann bin ich halt dumm.“

Er ignorierte mich nun völlig und drückte auf den Klingelknopf.

~ Wahrheitsaussage

Ich stand nur da wie angewurzelt und konnte mich nicht rühren, geschweigedenn fortbewegen. Ich wusste nicht warum, denn ich hatte auch überhaupt keinen Grund- aber ich empfand ein seltsames Gefühl der Angst.

Zuerst tat sich gar nichts, es sah fast so aus, als wäre niemand da und ich hoffte es schon fast, denn ich sah den Stress schon förmlich vor mir stehen.

Dann wurde die Tür langsam geöffnet.

Shin sah verschlafen aus, leicht blass und gestresst. Die Haare waren verstrubbelt und das Make-Up verschmiert. Er sah aus, als wäre er gerade erst aufgewacht.

"Hm, wer da?"

Das sein Zwillingsbruder vor ihm stand, schien er erst nach ein paar Sekunden zu bemerken.

Seine Augen wurden größer, seine Augen weiteten sich vor Überraschung, sein Blick schlug schließlich in Schärfe um.

"Was zum Teufel?"

Ciello grinste böse und breitete scherzend die Arme aus, als wolle er ihn umarmen.

"Ach mein Bruderherz, ich freue mich auch dich zu sehen."

Shin wusste nicht was er sagen sollte, er war zu baff um überhaupt nur einen Ton herauszubringen.

"Aber, mein kleines Brüderlein? Warum bist du denn so still? Hat es dir die Sprache verschlagen, deine dunkle Vergangenheit in Form deines Bruders wieder zu treffen?"

"Ciello, sag mir einfach was du willst."

"Was ich will? Ich will dir einfach nur mal meine Meinung sagen. Und Kai vermutlich auch."

Er deutete über die Schulter mit den Daumen auf mich und ich sah ihn böse an, weil er mich da jetzt auch noch hineinzog.

"Wieso Kai?"

Ich entschied mich dazu, nichts zu sagen.

"Ach weißt du, mein lieber Shin, ich hab Kai gerade im Einkaufszentrum getroffen und ihn so einige schöne Sachen über dich erzählt."

Ciellos Stimme wurde mit jedem Wort gehässiger. Ich überlegte schon, ob ich nicht einfach in meine Wohnung gehen sollte, aber die Nervösität hielt mich an Ort und Stelle.

Shin schob die Tür weiter auf und betrat den Flur. Ciello rückte gefährlich nahe an ihn heran.

"Na, hat mein kleines Brüderchen wieder einen kleinen Ausraster? Will er wieder jemanden fast zu tode prügeln, oder Häuser in Brand stecken?"

"Ciello, lass es einfach."

"Was denn los, kleiner Shin? Nicht mehr so krass drauf wie füher?"

"Ich kann dir mal zeigen, wie krass ich drauf bin!"

"Na dann los, zeigs mir doch, so wie früher! Treib unsere Mutter erneut in die Alkoholsucht!"

Ich schaffte es gerade noch mich zwischen die beiden zu drängen, als ich sah wie Shin die Faust ballte und schließlich zum Schlag hob.

"Jetzt hört aber mal auf, ihr beiden! Was soll der Mist Ciello? Warum provozierst du ihn? Und du da-"

Ich drehte mich zu Shin um und drängte ihn ein Stück von seinem Bruder weg.

"Du lass dich doch nicht auf diese Scheiße ein, verdammt nochmal!"

In dem Moment erschien eine schwarzhaarige Frau im Türrahmen. Einen Moment sagte sie garnichts, während ihr Kopf von Ciello zu Shin und wieder zurück wanderte.

"Ciello? Was geht hier vor?"

Shin, ebenso Ciello sahen leicht erschrocken zu ihrer Mutter, während Shin langsam die Faust sinken ließ.

"Danke Kai. Du hast Recht. Auf dieses Niveau muss ich mich wirklich nicht herablassen."

Er drängte sich ohne restliche Worte an seiner Mutter vorbei und verschwand. Sie sah noch leicht erschrocken zu Ciello rüber, dann schloss sie die Tür.

Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte.

Ciello stand noch immer wie angewurzelt da, wahrscheinlich noch irritiert vom Auftritt seiner Mutter.

Dann drehte er sich zu mir um.

"So... ich werd dann mal geh'n."

"Ach ja? Na supertoll. Du ziehst hier so eine Show ab und verpisst dich dann einfach? Was soll die Scheiße?"

"Ich hab erreicht, was ich erreichen wollte."

"Ach du wolltest erreichen, dass ich sauer auf dich bin, ja?"

"Nein. Ich wollte, dass Shin weiß, dass ich wieder in seiner Nähe bin und ihn beobachte."

"Ahja."

"Ja und das hab ich geschafft. Du, Schnuckelchen, tut mir Leid, aber ich muss echt los, meine Adoptivmutter wartet mit den Essen und ich sollte schon vor über einer Stunde wieder da sein."

Er trat nah an mich heran und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

"Tschau!"

Ich sah ihn nach und berührte leicht verwundert die Stelle, wo seine Lippen meine Haut berührt hatte.

Der war ja noch seltsamer, als sein Bruder.
 

Eine Stunde später klingelte ich bei Shin. Die Mutter öffnete und wirkte immernoch leicht angeschlagen.

"Oh, hallo Kai. Du willst bestimmt zu Shin, oder? Komm rein..."

"Danke."

Ich klopfte an seiner Tür, doch er schien überhaupt keine Lust zu haben, zu öffnen.

"Shin? Mach auf, ich weiß, dass du da bist!"

Immernoch keine Antwort.

Ich drückte die Klinke runter und betrat das Zimmer. Shisharauch nebelte alles dicht.

"Was willst du?"

"Mit dir reden."

"Worüber?"

"Über das, was gerade passiert ist."

"Da gibt es nichts zu reden."

Ich schloss die Tür.

"Für dich vielleicht nicht, aber für mich schon. Ich will wissen was Sache ist und dir helfen, weil ich dich mag, Shin."

"Du magst mich?"

Ich verstand diese Frage nicht so genau, aber das war jetzt auch egal.

"Ja. Ich mag dich."

"Setz dich." Ich tat wie geheißen und setzte mich neben Shin auf die Couch, wobei unsere Arme sich leicht berührten.

"Also. Was hat mein Bruder dir erzählt?"

"Ähm, naja... nur ein paar Kleinigkeiten, nichts Besonderes..."

"Ich will verdammt nochmal wissen, was er gesagt hat!"

Ich erschrak etwas über seinen schneidenen Ton, den er bei mir sonst noch nie angewandt hatte.

"Ich solle mich von dir fernhalten, weil du nicht so bist, wie du dich gibtst und wenn er an meiner Stelle wäre, würde er aufpassen mit welchen Personen er sich abgibt."

Shin fasste sich an die Stirn und legte den Shishaschlauch bei Seite.

"Na supertoll. Hat er dich um den Finger gewickelt?"

"Er sagte zu mir, dass du das mit mir gemacht hast."

"Ach, hat er das."

"Ja hat er. Ich will einfach nur ganz ehrlich von dir wissen, ob das was er sagt stimmt oder nicht."

"Ich muss zugeben, dass es teilweise Stimmt."

"Was stimmt teilweise?"

"Muss ich dir darauf jetzt wirklich antworten, Kai?"

Ich sah ihn deutlich an, dass er unter meinen Fragen litt.

"Okay, lassen wirs..."

Er bedankte sich, sagte aber immernoch nichts weiter.

"Alles klar bei dir?"

"Geht... bin ein bisschen mies drauf."

"Weswegen, wenn ich fragen darf?"

"Wegen Ciello. Er hat gerade meine ganze schlechte Vergangenheit aufgewühlt. Nicht nur bei mir. Bei meiner Mutter auch."

Dann schwieg er wieder eine Weile.

"Ich hab Angst, dass sie wieder anfängt zu trinken."

Ich legte ihn eine Hand auf die Schulter. Er schüttelte sie nicht ab.

"Denk nicht an sowas. Das wird nicht passieren."

"Und was wenn doch?"

"Dann hast du meine Unterstützung, okay?"

Er antwortete nicht.

Ich wollte das Thema wechseln und fragte schnell etwas Anderes.

"Hast du heute Abend Lust, was mit mir zu unternehmen?"

"Was denn?"

"Weiß ich noch nicht wirklich. Wir könnten in meinem Zimmer rumgammeln, Shisha rauchen und Filme gucken, zum Beispiel?"

"Besser als bei mir zu hocken, da hast du Recht."

"Okay, komm heute Abend dann einfach klingeln. Pack die Shisha ein."

"Okay, mach ich."

"Gut, bis dann."
 

Meine Mutter stämmte die Hände in die Hüften und machte ein sehr wütendes Gesicht.

Ihr schien es gar nicht zu gefallen, dass "Der Nachbarsjunge" vorbeikam.

"Kai, das gefällt mir ganz und gar nicht! Der Junge ist kein guter Umgang für dich."

"Ach was weißt du schon? Du kennst ihn nicht einmal richtig!"

"Ja schön, aber du auch nicht! Schon allein wie er rumläuft ist doch-"

"Entschuldige mal! Ich laufe genau so rum!"

"Ja aber-"

"Aber was? Was ist eigentlich dein Problem? Du hast überhaupt keine Ahnung von Menschen!"

"Kai, ich dulde nicht, dass du so mit mir sprichst!"

"Wie soll ich denn sonst mit dir sprechen? Du kapierst es ja nicht anders, weil dein bescheuertes Klischeedenken dein ganzes Gehirn zu vernebeln scheint!"

Ich erhob mich vom Esstisch, als es an der Tür klingelte.

"Das ist der. Er kommt jetzt rein. Lass uns einfach in Ruhe, dann bemerkst du auch nicht, dass er hier ist!"

Ich öffnete die Tür und Shin trat ein.

"Hallo, Kai."

"Hi, Shin. Komm rein."

Aus den Augenwinkel sah ich mene Mutter am anderen Ende des Gangs stehen. Shin nickte ihr freundlich und dennoch abweisend zu. Ich kannte seine Meinung zu älteren Personen, die nur nach Klischee gingen.

"Gehen wir in mein Zimmer?"

"Klar."

Mein Zimmer war ziemlich unordentlich. Klamotten und Kippenstummel vom heimlichen Rauchen lagen im Zitter verstreut.

"Ist das dein Zimmer?

"Ähm.. ja. Ein bisschen unordentlich."

"Ach, passt schon."

"Okay."

Nach ein paar Minuten war die Shisha im Gange und ein Film am Laufen.

"Kai, ich will dich mal was fragen."

Ich zog kräftig am Schlauch.

"Dann frag."

"Glaubst du Ciello's Worten?"

"Wenn ich ehrlich bin, weiß ich das nicht so genau."

"Ich hoffe, dass es nicht so ist."

"Ich bin mir sicher, dass du schwere Fehler gemacht hast, aber du scheinst sie zu bereuten, wenn ich deinen Gesichtsausdruck vorhin richtig gedeutet habe."

"Ich bereue es auf jeden Fall. Ich hab mir selbst so große Schande bereitet, weil ich keine Aufmerksamkeit bekam. Aber lassen wir das."

"Okay. Tut mir leid, dass ich den Eindruck erweckt habe, ich würde dir nicht glauben."

"Kein Problem."
 

~
 

Es war inzwischen drei Uhr Morgens, Kai lag auf seinem Bett, alle Viere von sich gestreckt und schlief mit leicht geöffneten Mund. Das Bild erinnerte Shin an eine Szene vor ein paar Tagen, da war das gleiche, nur bei ihn im Zimmer. Wieder streichelte er seinen Körper, wieder fuhr er ihn durch die Haare, wieder betrachtete er ihn zärtlich.

Verliebt.

Es war ein tolles Gefühl. Und sogleich ein schlechtes, da die Gefühle unerwidert blieben.

Er musste das ändern. Kai würde ihn sonst kaputt machen. Er hattte alles auf der Welt, nur das Glück fehlte. Das wahre Glück.

Er musste das ändern. Er wollte ihn haben. Ihn besitzen. Aber wie?

Wie würde er es schaffen, einen Jungen rumzukriegen, der stockhetero war und viele andere Mädchen haben könnte?

Wie würde er ihn für sich gewinnen können, wenn sein Zwillingsbruder ihn nun wieder permanent bestalkte und alles daran setzte, Kai ihn wegzunehmen? Was sollte er tun?

Er hatte gewissermaßen keine Hoffnung mehr.

Doch er muusste etwas tun.

Irgendwas.

Mondlicht.~

Mein Blick fiel auf den Wecker mit den roten Zahlen, der inzwischen 5.45 Uhr anzeigte.

Im Zimmer war es brechend heiß, da das Fenster geschlossen war und die Luft aufgrund des Sauerstoffmangels immer dicker wurde. Ich war gerade augewacht und konnte noch nicht alles realisieren, was um mich herum geschah.

Doch etwas viel mir sofort auf: Shin war noch da und er schien noch wach zu sein. Er saß unmittelbar neben mir und mein Kopf lag auf seinen Schoß.

Das wunderte mich ein bisschen, denn ich konnte mich nicht erinnern so eingeschlafen zu sein.

Shin bewegte sich leicht. Seine Hand streichelte meine Wange. Diese Zärtlichkeit kam mir seltsam unvertraut vor. War es normal, jemanden im Schlaf SO zu berühren, wenn man nicht in ihn verliebt war? War es normal in der anderen Person damit ein Gefühl zu erwecken, dass kein normales freundschaftliches Verlangen war? Ich traute mich nicht, die Augen erneut zu öffnen, denn ich wollte sehen wie weit er ging, wenn er dachte, dass ich schlief. Er atmete schwer und schien auch leicht zu zittern, was mich beunruhigte.

Die Minuten vergingen, ohne dass er etwas anderes tat, als mein Gesicht zu berühren. Als er sich zurechtrückte, rutsche mein Kopf auf die Matratze, doch ich tat so, als würde ich noch schlafen. Ich hörte, wie er einmal tief durchatmete. Dann war seine Hand wieder an meiner Wange.

Mein Mundwinkel zuckte unwillkürlich, ich bemerkte wie er leicht zurückschreckte.

"Fuck..."

Seine Stimme klang seltsam. Ruhig, aber auch emotional. Anders als vorher...

"Was mach ich hier eigentlich? So wird das doch nie was..."

Er sprach im Flüterton, doch ich konnte alles hören, aber nicht verstehen. Was meinte er mit "So wird das doch nie was..."? Ich hatte ein komisches nervöses Gefühl in der Magengegend, das Übelkeit auslöste.

Wieder vergingen die Minuten. Das Licht des Mondes war durch mein Dachfenster, das genau über mir war, gedrungen und blendete mich, obwohl ich die Augen weiterhin geschlossen hielt. Er stand auf um das Rollo herunterzulassen und gleich noch das Fenster zu öffnen.

Als er wieder in meiner Nähe war, kniete er sich neben das Bett und sah mich wahrscheinlich lange an. Da ich nichts sehen konnte, erahnte ich nur, was er tat. Er war mir ziemlich nahe. Ich konnte seinen Geruch wahrnehmen. Sogar sein Shampoo konnte ich definieren. "Apfel-Lemon-Grass", das nahm ich auch immer. Es machte die Haare angenehm leicht und sie ließen sich einfacher toupieren.

Auf einmal war er mir noch näher.

Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut und traute mich, die Augen nur einen Millimeter zu öffnen. Ich konnte ihn sehen- er war zur Hälfte über mich gebeugt, sein Gesicht lag im Schatten verborgen. Seine Hand war bei meinen Haaren, wo er immer wieder einzelne Strähnen in die Hand nahm und um seinen Finger wickelte. Ich schloss die Augen lieber wieder. Meine Nervösität wuchs, denn ich hatte im Gefühl, was gleich passieren würde und wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte.

Und jetzt kam er tatsächlich noch näher. Ich begann zu zittern, als seine vorderen Haarsträhnen auf meine Wangen fielen. Ich zitterte so sehr, dass es mich wirklich wuderte, dass er meine Wachheit nicht mitbekam.

Als seine Lippen die meinen berührten, zuckte mir ein eiskalter Schauer den Rücken entlang, doch es war auf keinen Fall unangenehm. Im Gegenteil.

Eine Weile verharrte er so, dann ließ er von mir ab. Doch schon wenige Sekunden später hing er wieder an mich dran. Seine Lippen bewegten sich langsam. Ich wurde rot und war froh, dass er mich in der Dunkelheit nicht wirklich sehen konnte.

Seine Lippen waren weicher als ich erwartet hatte, schön warm und trocken. Mit jeder Sekunde wurde es für mich schwerer den Schlafenden zu spielen, denn in mir wurde ein seltsames Verlangen geweckt, was ich nur mit größter Mühe unterdrücken konnte, bis es einfach nicht mehr ging.

Ich ließ alle Vorsicht fahren und öffnete meine Lippen ein wenig.

Shin schien es zu bemerken und zu verstehen und in dem Moment, als sich unsere Zungenspitzen berührten, schien er in einen seltsamen Rausch zu verfallen.

Der Kuss wurde mit einem Mal intensiver. Er küsste nicht nur mit den Lippen.

Er küsste mit seinen ganzen Körper. Seine Hände gruben sich in meine Haare ein, massierten meinen Nacken, umklammerten meine Finger.

Mit einer schnellen Bewegung landete er auf dem Bett und legte sich auf mich.

Er war nicht schwer, das Gewicht lag angenehm auf meiner Brust, außerdem konnte ich so besser meine Arme um seine Schultern legen.

Ich konnte die Hitze spüren, die von ihn ausging.

Wie lange wir uns küssten wusste nich nicht. Ich wusste nur, dass es ein sehr intimer Kuss wahr, wahrscheinlich der schönste Kuss, den ich jemals gehabt hatte.

Doch mit der Zeit wurde ich von der Realität überschwemmt. Ich dachte an meine Eltern, an Shins Eltern, an Ciello, an Chain-Yu.

Ich dachte an meine wirkliche Sexuelle Neigung, an die skeptischen Blicke der anderen, das glotzen, das Gaffen.

Und ich dachte daran, wie schade das doch war.

Meine Hände legten sich an Shins Brust und drückten ihn von mir weg.

Ich hatte kaum noch Luft und ihn schien es nicht besser zu gehen.

"Was ist?"

Ich sah ihn peinlich berührt an.

"Shin, das von gerade eben..."

"Was?"

Ich sagte einen Moment nichts, sah an ihn vorbei aus dem Fenster.

"Es tut mir leid. Aber das war ein Fehler."

Er hatte rote Wangen und sah mich halb irritiert, halb finster an.

Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

"Na super. Das war ja wohl klar."

"Wie meinst du das?"

"Ich habe noch nie so ein krasses Gefühl gehabt beim Küssen. Ich mache mir wirklich ernsthafte Hoffnungen und der kleine Kai hat nichts besseres zu tun, als mich zu verarschen."

"Shin, das stimmt nicht und das weißt du auch."

"Nichts weiß ich. Das ist es ja. Der böse Verbrecher namens Shin. Der der das Feuer gelegt hat, in dem jemand umgekommen ist. Der, der jemanden halb bewusstlos geprügelt hat. Der, der seine Mutter in die Alkoholsucht getrieben hat."

"Shin-"

"Hör VERDAMMT NOCHMAL auf, mich bei meinen Namen zu nennen, Kai Arizawa! Wenn ich ihn noch einmal aus deinem Mund höre, kotz ich hier auf den Boden!"

Er packte seine Jacke und verließ fluchtartig das Zimmer.

"Hey, warte doch mal!"

Doch er hatte schon den Hausflur durchquert und seine Wohnungstür zugeschlagen.

Jetzt herrschte Stille, nur mein Gewissen laberte mich innerlich zu.

~.Stimmungswechsel

Als ich am nächsten Tag schon sehr früh wieder aufwachte, dauerte es eine Weile, bis mir wieder einfiel, was vor knapp zwei Stunden passiert war. Schlafen konnte ich jedenfalls nicht mehr. Als es ungefähr gegen elf Uhr war, beschloss ich zu ihn rüber zu gehen.

Ich klingelte eine Weile, doch es öffnete keiner. Als ich mich gerade wieder umgedreht hatte und gehen wollte, wurde die Tür rasselnd von innen aufgeschlossen, doch nicht Shin stand dort, sondern seine Mutter.

Sie sah nun noch mehr gestresst aus.

"Kai. Was ist passiert? Shin ist vorhin völlig in Rage an mir vorbeigestürmt und-"

"Ich weiß."

"Kai, was war da los?"

"Es tut mir Leid. Ich glaube, ich habe einen riesen Fehler gemacht. Ist Shin zu sprechen?"

"Tut mir Leid, aber ich glaube nicht. Ich klopfe auch schon die ganze Zeit."

"Scheiße!"

Die ganze Zeit dachte ich immer, dass Shin und Ciellos Mutter genauso war, wie meine Eltern. Doch dieser Gedanke löste sich nun komplett in Rauchwolken auf, als sie ein Stück näher trat und mich in die Arme nahm.

"Kai, ich bin mir sicher, das wird sich wieder legen. Ganz gleich, was passiert ist. Ich kenne meinen Sohn. Er ist zwar sauer, aber ich merke, dass du ein sehr wichtiger Mesch für ihn bist."

"Danke."

Die Träne, die nun meine Wange hinunterlief konnte und wollte ich mir nicht verkneifen, geschweige denn wegwischen. Ich war eigentlich nie der Typ der so groß rumheulte, aber diese Umarmung hatte es geschafft, alle Gefühle, die sich in der letzten Nacht in meinen Kopf abgespielt hatten, an die Oberfläche gleiten zu lassen.

Als Shins Mutter wieder ihre Wohnung betrat und mir noch ein sanftes Lächeln zuwarf bevor sie sie schloss, blieb ich noch eine ganze Weile dort stehen und kam nicht um den Gedanken herum, dass ich soeben eine neue Bezugsperson gefunden hatte.
 

Die Tage vergingen.

Shin bestrafte meine Abfuhr mit Ignoranz, die schon fast in Verachtung wich. Mir tat die Geschichte total Leid, ich wollte nicht, dass es zwischen uns so weit kam, denn ich dachte ich hatte in Shin einen neuen guten Freund gefunden, doch unter diesen Umständen war das wahrscheinlich erst einmal nicht möglich.

Ciello ließ sich alle paar Tage bei mir blicken und ich freute mich über seine Gesellschaft, denn er war momentan der Einzigste, der mir Aufmerksamkeit schenkte.

Selbst Chain-Yu ignorierte mich vollkommen. Sie stand ganz und gar hinter Shin und ich respektierte ihre Meinung.

Ich blickte auf, als es an meiner Zimmertür klopfte und meine Mutter keine Sekunde später öffnete.

"Kai, du hast... Besuch."

"Wer denn?"

"Keine Ahnung. Könnte Shin sein."

"Shin?"

"Naja, er sieht jedenfalls genau so aus."

Sie ließ Ciello rein und schloss dann hinter sich die Tür.

Er warf ihr noch einen komischen Blick hinterher.

"Wie war die denn drauf?"

"Keine Panik, die ist immer so."

Er setzte sich neben mir aufs Bett.

"Was ist denn los? Du wirkst so geknickt."

"Bin halt schlecht drauf."

"Warum?"

"Weil Shin immernoch sauer auf mich ist."

Er seufzte und lehnte sich angenervt, ja schon fast eifersüchtig gegen meine Schräge.

Ich hatte ihn keine Einzelheiten über das, was vorgefallen war, erzählt, nur das es halt einen heftigen Streit zwischen uns gegeben hatte.

Ich hob eine Braue.

"Was kotzt du denn so ab?"

"Naja überleg doch mal. Eigentlich müsstest du doch sauer auf Shin sein, oder?"

"Wieso?"

"Vergiss nicht, was er früher alles gemacht hat. Seine Fehler."

"Ach du meinst ganz zufällig die Fehler, die er verdammt nochmal bereut?"

"Das meinst du. Aber ich hab ihn vermittelt, dass ich ihn beobachte und er wird schon wieder genau wie früher. Er ist ziemlich leichtsinnig und so einfach zu durchschauen..."

"Wie meinst du das."

Er lachte hämisch und wollte gerade antworten, als meine Mutter erneut die Zimmertür öffnete.

"Kai, bring mal bitte den Müll raus."

Ich warf Ciello einen entnervten Blick zu, dann erhob ich mich.
 

Als ich die Haustür öffnete und rausgehen wollte, kamen gerade Shin und Chain-Yu rein.

Wir alle drei blieben stehen und sagten einen Moment gar nichts.

Shin sah in eine andere Richtung, doch Chain-Yu blickte mir direkt in die Augen. Als die Stille langsam anfing peinlich zu werden, fasste ich mir ein Herz.

"C...Chain-Yu? Kann ich dich mal kurz sprechen?"

Sie warf einen hilflosen Blick zu Shin, der noch immer auf die Wand stierte und kaum merklich nickte.

"Geh ruhig. Ich bin in meinem Zimmer."

Er betrat die Wohnung und schlug laut die Tür zu.

Wieder sagten wir eine Weile nichts.

"Warte mal bitte kurz. Ich bring nur schnell den Müll weg."

Sie verschränkte die Arme und setzte sich auf die Treppe. Ich beeilte mich, denn ich hatte das bösartige Gefühl, dass sie sonst ihren besten Freund folgen könnte. Doch Gott sei Dank, war sie noch da.

Ich schloss rasch meine Wohnungstür auf.

"Hier rein, es wird nur eine Minute dauern."

Als wir mein Zimmer betraten, blickte Ciello überrascht auf und verzog dann angewidert das Gesicht, bevor er sich schnell erhob, offensichtlich sauer, dass er nun nicht mehr mit mir allein war.

"Ich seh schon, ich gehe besser."

Chain-Yu sah ihn hinterher und warf ihn einen sehr abgeneigten Blick zu,bevor sie sich leicht zögerlich auf meinen Bettrand setzte.

"Was willst du?"

"Erstmal das hier mit Ciello klarstellen. Er ist nur hier, weil ich sonst keine andere Gesellschaft habe. Ich kann ihn nicht ablehnen, aber er geht mir trotzdem auf die Nerven."

"Sonst noch was? Du willst mir nur erzählen, dass du auf Ciello stehst?"

"Nein. Ich stehe absolut nicht auf Ciello, sonst hätte ich Shin ja wohl nicht geküsst."

Das schien der Wunde Punkt an ihrer schlechten Laune zu sein.

"Sag mir einfach was du willst, damit ich schnell wieder gehen kann."

Ich seufzte, denn sie machte es mir ganz schön schwer.

"Mensch Chain-Yu. Das war nicht mein Ziel. Ich wollte nicht, dass ihr beide sauer auf mich seid. Darum habe ich Shin auch gesagt, dass..."

"Ach, so ist das also! Und jetzt ist alles gegessen oder was? Wenn du wüsstest, was er mir alles über dich erzählt hat. Wie er von dir geschwärmt hat. Sowas habe ich bei ihn noch nie erlebt. Und dann kommst du und baust so eine SCHEIßE!"

Sie zitterte leicht, als sie sich eine Hand vors Gesicht hielt um ihre Tränen zu verbergen.

"Verstehst du das nicht? Wegen dir... Shin nimmt wieder Drogen, verdammt noch mal! Und er hat jetzt schon Schulden bei seinen Dealer! Und wenn das so weiter geht, muss er wieder in Häuser einbrechen und Leute überfallen. Dann kommt der alte Shin wieder! Wegen dir!"

Sie verbarg nun ihre Angst nicht mehr und wischte sich die jetzt schon nassen Augen ab.

"Hast du mal ein Tachentuch?"

"Klar..."

Was ein einfacher [!] Kuss nicht so alles auslösen konnte.

Hätte ich das gewusst, dann wäre ich niemals darauf eingegangen.

"Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass Shin sich falsche Hoffnungen macht und erst Recht nicht das, was jetzt passiert. Ich... keine Ahnung, verdammt nochmal! Glaubst du etwa, der Kuss hat bei mir nichts ausgelöst? Ich musste das stoppen, sonst hätten wir beide uns gegenseitig unglücklich gemacht."

Sie sagte eine Weile gar nichts, dann erhob sie sich.

"Ich sollte jetzt gehen, Kai. Wirklich."

"Chain-Yu. Es tut mir Leid. Sag Shin das. Ich will das klären, ich leide selbst darunter."

Sie nickte unsicher und lächelte dann mild, bevor sich mich kurz an sich drückte.

"Kai, du solltest wissen, dass ich nicht sauer auf dich bin. Ich find dich immer noch ganz toll. Und Shin ist es auch nicht. Er ist deprimiert. Jeder macht mal Fehler, in diesen Fall ist es zwar ein größerer, aber..."

"Okay. Ich versteh schon."

Bevor sie die Zimmertür schloss, warf sie mir noch einen leicht besänftigten Blick zu.

Hoffentlich eine Sorge weniger.

Morgen war Schule und ich musste noch Mathe, Physik, Chemie, Deutsch und Latein machen.

Was Für tolle Aussichten.

Schulstress~

Als ich am nächsten Morgen vom lauten Schellen des Weckers geweckt wurde, hatte ich anfangs erst keine Ahnung, warum der eigentlich klingelte, bis mir einfiel, dass die Ferien ab heute nun vorbei waren.

Mühsam rappelte ich mich auf, es war erst fünfundvierzig nach fünf, aber ich brauchte die Zeit um zu duschen, zu frühstücken und mich fertig zu machen.

Meine Mutter war schon wach, als ich das Bad verließ und mir die Haare trocknete.

"Pass auf, dass du auf dem Laminat keine Fußabdrücke hinterlässt, ich hab keine Lust, heute schon wieder zu wischen!"

Na das war ja eine tolle Begrüßung.

"Ja, ich wünsch dir auch einen guten Morgen."

Ich ging in mein Zimmer und zog mich schnell an.

Meine schwarze Röhrenjeans, mein Liebslingstshirt, darüber mein neuer Hoodie mit Karomuster, den ich mir vor einer Woche gekauft hatte, dazu meine grauen Stulpen und mein weißer Nietengürtel, der lässig unterhalb der Hüfte hing, sollten es sein.

Als ich die Küche betrat und nebenbei meine ausgefranste Schultasche im Flur fallen ließ, warf mir meine Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu, um mich auf mein "unnormales Outfit" aufmerksam zu machen, sagte aber nichts weiter, denn sie wusste, sie konnte meine Einstellung nicht ändern.

Ich beschmierte mein Brötchen mit Erdnussbutter und Marmelade und biss ab. Es schmeckte wie Gummi.

Lag wohl am mangelnden Hungergefühl.

Als ich zuende gefrühstückt hatte, ging ich in mein Zimmer und meine halbtrockenen Haare zu föhnen. Das dauerte ungefähr fünf Minuten.

Dann kam kämmen, glätten, toupieren und mit Haarspray zudieseln. Man will ja gut aussehen. Dann noch schnell ein dünner Kajalstrich.

Jetzt war es dreiviertel sieben.

Da der Unterricht erst um acht Uhr begann, ließ ich mir Zeit mit den Rest und gammelte immernoch sehr verschlafen auf meinem Bett rum. Das sah meine Mutter natürlich gar nicht gern, als sie das Zimmer betrat.

"Na du scheinst ja sehr viel Zeit zu haben, bist du schon fertig?"

"Ja, sieht man doch wohl, oder?"

"Nein ich sehe das anders. Ist deine Mappe schon gepackt?"

"Ja."

Hast du alle Hausaufgaben erledigt?"

"Ja."

"Und da bist du dir ganz sicher?"

"Ja."

"Hast du schon gefrühstückt?"

"Ja man, wass willst du eigentlich? Ich hab sogar meinen Teller schon abgewaschen, wars das jetzt?"

"Ja."

Sie schlug die Tür zu und ich lehnte mich angenervt zurück, wo ich mir erneut und bestimmt schon zum hundertsten Mal in meinen Leben den Kopf an der Schräge stieß.

"Verdammtes Teil!"
 

Als es dann halb acht war, schlüpfte ich in meine Chucks und verließ langsam das Haus, erleichtert die Gesellschaft meiner Mutter nicht mehr ertragen zu müssen. Ich ging sehr langsam, denn die Schule war nicht weit entfernt und ich hatte noch alle Zeit der Welt.

Vielleicht knapp zwei Minuten vor dem Unterrichtsklingeln kam ich in meiner Klasse zur ersten Stunde -Kunst- an. Ein paar begrüßten mich, ein paar nicht, was mich nicht störte, denn ich wusste, wer meine wahren Freunde waren. Ich setzte mich an meinen Platz. Mittelreihe vorletzte Bank. Der Platz naben mir war leer, die Bank hinter mir ebenso, aber mir war das nur Recht. So hatte ich wenigstens meine Ruhe.

Der Lehrer kam eine ganze Weile nicht. Die anderen nutzen dies, um eine wilde Papierknäulschlacht zu veranstalten. Ich duckte mich ab und zu, denn weil meistens nur die hinteren Reihen beteiligt waren, saß ich komplett in der Schusslinie.

Dann kam endlich der Lehrer.

Die Schlacht hörte augenblicklich auf. Bevor er das Klassenzimmer ganz betrat, wandte er sich noch einmal um und sprach offenbar mit jemanden, den ich nicht sehen konnte.

"Wartet bitte draußen."

"Okay."

Die Stimme kam mir bekannt vor, doch weil sie ziemlich weit entfernt war, konnte ich es nicht richtig einschätzen.

Dann sprach der Lehrer zu uns.

"Schön euch alle wohlauf zu sehen. Ich hoffe, ihr habt euch gut erholt, denn jetzt wird es wieder astrengend für euch. Die Prüfungen-"

"Die hier sowieso keiner schaffen wird!" Warf jemand ein. Ich schmunzelte.

"-stehen kurz bevor, ihr müsst euch anstrengen, denn ihr wisst, was auf dem Spiel steht."

Ja ja ja.

Bla bla bla.

Ich konnte es nicht mehr hören.

"Aber jetzt ein etwas anderes Thema. Ihr bekommt heute zwei neue Mitschüler."

Ein interessiertes Raunen ging durch die Klasse. Mir schwahnte Fürchterliches, denn ich hatte einen schlimmen Verdacht.

"Kommt rein."

Und meine engsten Befürchtungen verwirklichten sich, als Shin die Klasse betrat, gefolgt von keiner anderen, als Chain-Yu.

Ich hätte am liebsten die Hände über den Kopf geschlagen und laut losgeheult. Das fehlte gerade noch! Die würden meinen Schulstress nochmal so richtig aufmischen. Die Ruhe, die ich hier hinten immer hatte, konnte ich nun vergessen!

Shins Blick fiel gleich auf mich und seine Laune schien noch schlechter zu werden, als sie es ohnehin schon war. Dummerweise folgte Chain-yu seinem Blick.

"Oh, was zum Geier! Kai! Na so eine Überraschung aber auch! Du siehst ja geil aus, heute!"

Sie schien wieder bester Laune zu sein.

Alle Köpfe wandten sich zu mir und starrten mich an. Ich spürte, wie ich rot anlief.

Der Lehrer hob eine Braue.

"Ach sie kennen sich schon? Naja, das ist jetzt erstmal egal. Stellen sie sich doch zuerst einmal vor."

Shin verschränkte die Arme und starrte stumm gegen die Decke, doch Chain-Yu verbeugte sich.

"Ich bin CHain-Yu! Und das hier ist, äh.. Shin. Naja, er hat zurzeit etwas schlechte Laune und redet nicht viel, aber das kann ich ja für ihn übernehmen."

"Gut. Shin, setzten sie sich bitte zu Kai und Chain-Yu nimmt an der hinteren Bank Platz."

Er schien bemerkt zu haben, dass man Chain-Yu niemanden zumuten konnte und das sie lieber alleine sitzen sollte und da ich der Einzigste war, der nun noch allein saß, hatte ich wohl auf deutsch gesagt die Arschkarte gezogen.

Als sie sich setzten, gaffte ihnen fast die ganze Klasse hinterher, besonders für Chain-Yu schienen sie einige Blicke übrig zu haben.

Shin setzte sich ziemlich weit an den Rand der Bank und würdigte mich keines Blickes.

"Du kannst dich ruhig richtig hinsetzen, ich werd' dich schon nicht beißen."

Er warf mir einen sehr abweisenden Blick zu und rückte ein Stück näher heran, sodass ich jetzt wieder sein Deo riechen konnte, das er schon damals in dieser bestimmten Nacht trug.

Ich schüttelte den Kopf um diese Gedanken daraus zu verbannen.

"Hätte ich gewusst, dass du in dieser Klasse sitzt, wäre ich in eine andere gegangen."

"Schön, das lässt sich jetzt aber nicht mehr ändern."

"Da hast du leider Recht."

"Können wir nicht einfach wieder normal miteinander umgehen?"

"Wie denn, bitteschön?"

Wir sprachen im Flüsterton, doch trotzdem schien die ganze Klasse uns zu hören. Erst als Chain-Yu ganz leise "Psssst!" sagte, fiel mir auf, dass der Lehrer vor uns stand.

"Hört mal Jungs, es ist zwar sehr schön, dass ihr euch kennt und euch viel zu erzählen habt, aber könntet ihr das nicht bitte auf die Pause verschieben?"

Shin wandte den Blick ab und lief leicht rot an.

Ich wusste nicht warum, aber dieser Anblick besänftigte mich wieder etwas.
 

Nach der Schule nahmen wir drei den Weg zurück nach Hause.

Chain-Yu plapperte und plapperte, sie war überglücklich, weil Shin und ich wieder miteinander redeten, auch wenn das meiner Meinung nach noch ein bisschen sehr gezwungen war.

"Das ist echt verrückt, dass wir drei jetzt in einer Klasse sind. Ich find das ja mal total toll! Und die Lehrer hier sind alle so nett und-"

"Hey, Shin!"

Wir alle wandten uns um, als hinter uns eine klare kalte Stimme erklang und ich in ein Gesicht sah, dass Shin aus kalten, eisgrauen Augen anblickte, halb verdeckt von langen Strähnen aus pechschwarzen Haar.

"Du schuldest mir noch Geld, mein Freund!"

~Schuldenfalle

Um uns herum herrschte nur der übliche Straßenlärm, während ich mich nicht von diesen silbrigen Augen loslösen konnte, die so hell waren, dass sie schon fast blind aussahen und mich in eine neblige Trance versetzten. Doch sein Blick galt nicht mir- er sah Shin fest in die Augen, der genauso fest erwiderte und keinen Ton sagte. Selbst Chain-Yu war verstummt, was für ihre Verhältnisse sehr ungewöhnlich war.

Er war offenbar heimatlos. Seine blasse Haut wies sehr viele blaue Flecken auf, wahrscheinlich durch die ganzen Prügeleien um die besten Schlafplätze. Dafür, dass er aber in so schlechten Verhältnissen lebte, sah er ansonsten ausgesprochen gepflegt aus.

Noch immer bedachte er Shin mit schon fast bösen Blicken, während er sich an die kalte Mauer hinter ihn lehnte und sich einen Joint anzündete. Ich erkannte sofort was es war, erstmal am Geruch und an der Form. Mal ehrlich: Jeder weiß doch wie so ne Tüte aussieht. Allein der Gestank führte dazu, dass ich taumelte. Ihgitt, wie konnte man sich sowas nur reinziehen? Der Fremde zog ein paar Mal kräftig und beobachtete Shin, wobei er sein rechtes Auge zukniff.

"Was ist nun mit meiner Kohle?"

Shin wurde etwas unsicher, weil schon die ersten Passanten innehielten und rüberstierten. Sein Blick wanderte immer wieder zum Joint hin und ich bemerkte, dass seine Hände leicht zitterten. Chain-Yu schien das auch mitbekommen zu haben, denn sie umschloss seine Finger schnell mit ihren eigenen, sagte aber noch immer nichts.

"Whitey, warum bist du hergekommen?"

"Das sag ich dir jetzt zum dritten Mal. Ich. Brauche. Mein. Geld."

Ich fragte mich, ob Whitey sein richtiger Name war. Passen würde er ja. Mit seiner Blässe glich er schon fast einen Albino.

"Ja tut mir Leid, aber gerade siehts echt nicht gut aus mit dem Geld..."

Whitey warf den Stummel bei Seite und drückte ihn mit den nackten Fuß aus.

"Dann haben wir ein Prolem."

Shin zuckte verunsichert mit den Schultern.

"Sieht wohl ganz danach aus."

"Weißt du Shin, ich kenn dich schon sehr, sehr lange und ich mag dich richtig gern. Aber bei Geld hört die Freundschaft auf. Schon schlimm genug, dass die Mafia bei mir Schulden hat."

"Ja dann vertick doch erstmal den Rest."

"Welchen Rest, ich hab schon lange keinen Rest mehr. Ich kann mir nichmal neues Zeug anschaffen, das ich dann verticken kann."

"Dann musst du warten, bis ich wieder Geld habe."

"Wer weiß, wann das sein wird. Ich brauchs sofort. Sonst wach ich irgendwann nicht mehr auf."

Chain-Yu, die, als sie diese Worte hörte, aus ihrer seltsamen Sprachlosigkeit erwachte, trat einen Schritt nach vorn.

"Du hast Shin gehört. Er hat die Kohle jetzt noch nicht, du wirst sie schon noch bekommen."

Er wandte sich ihr zu und sein Gesichtsausdruck wechselte von gereizt zu ausdruckslos. Er schien sie nicht sonderlich zu mögen.

"Das will ich hoffen. Wenn nicht, wird er Bekanntschaft mit der Mafia machen."

"Was soll das heißen?"

"Na was denn wohl? Dann werd ich meine ganzen Probleme mit denen auf ihn ablagern, so einfach is' das."

"Das wagst du nicht."

"Lass es lieber nicht drauf ankommen. Wenn ich in einer Woche meine Kohle nicht habe, dann kann dein Freund sich drauf verlassen, bald ein paar sehr nette Leute kennen zu lernen."

Shin sah ihn wütend an, drehte sich um und ging zügig das letzte Stück zurück nach Hause. Chain-Yu und ich hatten Mühe mit ihn mitzuhalten. Ich warf noch einen kurzen Blick zurück und sah, wie Whitey den Kopf in den Nacken legte und verträumt vor sich hin lächelte. Offenbar hatte der Joint endlich seine Wirkung gezeigt.

"Shin?"

Ich hatte die ganze Zeit über keinen Ton heraus gebracht, doch jetzt war Shin derjenige, der nichts sagte.

"Shin?"

"Was ist?"

Er war noch immer sehr abweisend zu mir, was mir ein immer größer werdenes Gewissen bereitete.

"Was willst du jetzt tun?"

"Das Geld besorgen."

"Und wie?"

Jetzt meldete sich Chain-Yu.

"Ich hoffe nicht indem du irgendwo einbrichst oder Leute überfällst!"

Sie hatte noch nicht zuende gesprochen, doch wir alle drei wussten sofort, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Shin blieb stehen und sah sie an, dabei war sein Gesichtsausdruck so bösartig, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.

"Schönen Dank auch. Wenn du das wirklich noch von mir denkst, dann bist du ja eine richtig gute Freunden, man was für ein Glück."

Inzwischen waren wir bei unseren Haus angekommen.

Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, schloss er auf und verschwand.

Ich drehte mich zu ihr um. Die gute Laune die sie noch hatte, bevor wir Shins Dealer getroffen hatten, war nun komplett verflogen. Sie war am Boden zerstört, weil Shin nun auch noch sauer auf sie war.

"Du brauchst gar nichts zu sagen, ich weiß, dass ich gerade Scheiße gebaut hab'."

"Wollte ich gar nicht, aber egal. Wir müssen Shin helfen und das Geld irgendwie rankriegen."

Der Gedanke, dass sein Dealer was mit der Mafia zu tun haben könnte, machte mich sehr nervös, auch wenn ich die Geschichte nicht ganz glauben konnte, so utopisch wie die klang. Aber bei Dealern wusste man nie.

Ich sah wieder zu ihr und merkte, dass sie Tränen in den Augen hatte, die sie sich aber gleich wegwischte.

"Ich...ich weiß was zu tun ist."

Ich blickte verdutzt.

"Was denn?"

"Ich werde den Dealer heute noch mal besuchen."

"Bist du dir sicher? Ich meine, so bekifft, wie der zum Schluss war?"

"Ich muss es versuchen."

"Was soll das bringen?"

"Ich weiß schon was ich tue."

Einen flüchtigen Augenblick konnte ich in Chain-Yus Augen etwas Glitzern sehen, das nichts mit Angst oder Sorge um Shin zu tun hatte. Wenn ich mich nicht täuschte, war es Zärtlichkeit.

"Magst du den Dealer?"

Das glitzern entschwand augenblicklich.

"Wie kommst du nur immer auf so eine Scheiße, Kai?"

Ihre Stimme klang sauer, doch komischerweise lief sie bei ihren Worten rot an.

"Okay, tut mir Leid."

Sie warf einen traurigen Blick auf Shins Zimmer, wo nun schon wieder Musik zu hören war.

Wolken zogen am Himmel auf, es roch nach Regen.

"Ich werd jetzt auch hochgehen, du weißt schon, Hausaufgaben und so..."

"Okay."

"Pass ja auf dich auf, wenn du da heute nochal hin willst."

"Werd ich."

Bevor ich die Tür aufschloss, drehte ich mich noch einmal um.

"Sagmal... heißt er eigentlich wirklich 'Whitey'?"

"Nein, das ist nur sein Spitzname."

"Und sein richtiger ist?"

"Kai, das tut jetzt nichts zur Sache, oder? Das lass mal unsere kleinste Sorge sein."

Ich war etwas enttäuscht, denn ich konnte nicht verleugnen, dass ich diese Person sehr interessant fand.

"Okay. Sei vorsichtig."

"Ja doch."

Als sie sich entfernte sah ich ihr noch hinterher, mit einem Gefühl das eine Mischung aus Frustration, Angst und Hoffnung war.

Ich hatte die furchtbare Ahnung, dass sie, mit dem was sie später tun würde, ein riesigen Fehler begann.

Camillo~

Sie blickte nach links und nach rechts, die Augen weit aufgerissen um mehr sehen zu können, was bei den starken Regen aber alles Andere, als möglich war.

Ihre Beine trugen sie hektisch durch die nun menschenleeren Straßen, während sie mit jeden Schritt schneller wurde. Es dauerte nicht lange und sie stolperte über ihre eigenen Füße.

Ihre Lieblingsstrumpfhose riss am rechten Knie auf, als sie unangenehm auf den harten Boden aufschlug. Es blutete schlimmer als sie gedacht hätte, doch sie schaffte es die Blutung zu stoppen, indem sie ein großes Stück Stoff von ihrer nun sowieso schon kaputten Hose abriss und es sich ums Bein wickelte.

Der Regen hatte sie völlig aufgeweicht, ihre sonst immer so gestylten Haare hingen nass und klebrig bis über ihren Rücken, Wasser lief über ihre Schultern und in den Ausschnitt.

Sie frohr erbärmlich in der brechenden Kälte und bereute es, nur ihre dünne Strickjacke über ihren pinken Tshirt und die Strumpfhose ohne Socken angezogen zu haben. Ihre Chucks waren völlig durchnässt, ihre Finger klamm, ihre Füße taub. Sie wunderte sich, dass sie überhaupt noch richtig laufen konnte. Ihr Blick fiel auf ihre Handyuhr. Drei Uhr morgens. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie diese Nacht nicht überleben, spätestens wenn jemand merkte, dass sie nicht im Bett war, würde es Ärger geben. Gewaltigen Ärger. Doch sie fand ihn nicht. Sie fand ihn einfach nicht. Vielleicht war er schon wieder weg? Doch das konnte sie sich nicht vorstellen. Warum auch? Er brauchte sein Geld und er würde es sich auch holen, so wie sie ihn einschätzte. Trotzdem war er nirgends aufzuspüren. Oder hatte sie ihn wegen den vielen Regen einfach nur übersehen? Das war auch ausgeschlossen. Sie war bald an der Stelle, wo sie ihn vor nur ein paar Stunden seit Langem wiedergesehen hatte. Als sie die Stelle erreichte, war er verschwunden. Womöglich weiter hinten in den Gassen. Und wenn sie einfach nach ihn rief? Mit Mühe und Not schaffte sie es sich in eine der nebenliegenden Gassen zu quetschen. Von dort aus gelang sie in eine breitere Nebenstraße.

"Camillo?"

Keine Antwort.Wenn er schon weg war, wäre sie ganz schön angeschissen gewesen. Sie tappste weiter in die Gasse hinein. Wasser hagelte auf ihren Körper, sie zitterte.

"Camillo!"

Sie erschrak sich, als sie sah, wie sich etwas in der Dunkelheit bewegte. Aber es kam nicht auf sie zu, sondern schien vor ihr zu flüchten. Sie rannte los, wurde aber wieder langsamer, als sie nur noch zwei Meter von der Person entfernt war. Er war wirklich so hell, dass er in der Dunkelheit zu leuchten schien.

"Warte mal, ich muss mit dir reden."

Er blieb stehen, sagte aber nichts.

"Du bist doch Camillo, oder?"

"Ich frage mich, wer das denn wissen will."

"Ich wills wissen. Bist du es, oder nicht?"

Er drehte sich um, in der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen.

"Ich hab jetzt keine Zeit, können wir das nicht verschieben?"

Er drehte sich um und wollte gehen, doch sie packte ihn am Arm, der nicht weniger nass war, als der ihre und hielt ihn fest. Seine Haut war ungewöhnlich warm, was sie bei dieser Kälte nicht erwartet hätte und er selbst schien auch nicht zu frieren.

"Es ist wichtig! Bitte!"

"Wer bist du eigentlich? Kenn ich dich?"

Diese Fragen verunsicherten sie.

"Verarsch mich nicht. Du hast mich vorhin noch mit Shin gesehen!"

"Shin? Welcher Shin?"

"Tu verdammt nochmal nicht so! Der Shin der dir ne ganze Menge Geld schuldet."

Er riss sich von ihr los.

"Ach der Shin. Ja und? Bist du deswegen hier?"

"Ja. Ich will seine Schulden begleichen."

"Hast du Geld?"

"Nein, aber-"

"Vergiss es."

Er drehte sich um und ging nun tatsächlich, doch sie ließ nicht locker und rannte hinterher.

"Bleib stehen!"

Er machte keinerlei Anstalten und noch immer prasselte der Regen auf sie ein.

"Verdammt nochmal, bitte!"

"Ich dachte, es wäre alles geklärt."

"Nein, ist es nicht! Ich kann dir was anderes geben."

"Achja? Was soll das denn sein?"

Mit zittrigen Fingern zog sie eine Flasche mit bernsteinfarbiger Flüssigkeit aus ihrer Tasche. Da Camillo nicht erkennen konnte, was sie da in der Hand hielt, schraubte sie kurz den Deckel ab und ließ ihn den Geruch einatmen, woraufhin er ein Stück näher kam.

"Ich weiß von deiner Alkoholabhängigkeit. Wenn du Shin in Ruhe lässt, bekommst du jede Woche eine."

Seine Finger berührten schon die Flasche, doch er zog sie wieder zurück.

"Verarsch mich doch nicht."

"Ich habe keinen Grund, das zu tun."

"Achja? Beweis es mir."

"Wie denn?"

Sie drückte ihn die Flasche in die Hand, die, wie sie jetzt bemerkte, leicht zitterte.

"Nimm ruhig, ich trink sowas nicht."

"Und was ist der Haken?"

"Der Haken? Du lässt Shin einfach in Ruhe, okay?"

"Magst du ihn?"

"Wäre ich sonst hier? Er ist mein bester Freund."

"Dieses Mögen meinte ich nicht."

"Welches dann?"

"Tu nicht so dumm. Du bewegst dich gerade mit heißen Füßen auf sehr dünnen Eis..."

"Was meinst du damit?"

Bildete sie sich das nur ein, oder war er näher gekommen? Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.

Ein leises Klackern verriet ihr, dass er gerade die Flasche auf den Boden abgestellt hatte. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, wusste sie in dem Moment genau, was er tat.

"Das ist auch der Grund, warum ich Shin nicht besonders mag. Er macht mich ganz schön eifersüchtig."

"Was willst du?"

Sie wich ein paar Schritte zurück und spürte die harte, nasse Backsteinmauer in ihren Rücken. Weiter kam sie nun nicht mehr.

Auf einmal war er noch näher. Er roch gut, das musste die zugeben. Und sie selbst wusste auch, dass sie ihn schon ein bisschen verfallen war. Doch das ging ihr zu schnell. Doch dann durchzuckte ein sanfter Schauer ihren Körper, als er mit seinen Lippen ihren Hals berührte und mit den Händen über ihre Tailie strich, während der Regen auf sie niederprasselte und Wasser an ihrer Haut runterlief. Die Kälte schien zu einem Feuerball zu gerinnen, der sich in ihre Lungen einbrannte, sodass sie kaum noch Luft bekam, seine Lippen waren jetzt nur noch Millimeter von den ihren entfernt-

Sie stieß ihn mit aller Kraft von sich.

"Spinnst du? Notgeil und alkoholabhängig, das sind mir die Richtigen!"

Sie richtete ihre Klamotten und schüttelte die Haare aus dem Gesicht.

"Denk an unsere Abmachung! Nächsten Mittwoch bekommst du die nächste Flasche und dafür lässt du Shin in Ruhe, kapiert?"

Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte sie sich aus der Gasse und lief, so schnell sie nur konnte die Straßen entlang, zurück.

Inzwischen war er halb fünf Uhr morgens.

~Krankenzimmer.

Die Angst, die ich nach dem Treffen mit Shins Dealer hatte, schwoll noch ein bisschen an, als Chain-Yu am nächsten Tag nicht in der Schule erschien.

Shin war so redegewandt wie immer, nämlich gar nicht, und verlor kein Wort über ihre Abwesenheit. Wahrscheinlich war er noch sauer auf sie, wegen dem Satz, der gestern unwillkürlich aus ihr herausgebrochen war.

Dennoch, ihr Fehlen stimmte mich unruhig.

Mein Kopf tat weh. Als ich früh aufstand, war es nur ein nervendes Pochen über dem rechten Auge. Aber mit der Zeit ist es dann immer schlimmer geworden.

Die erste Stunde kam und ging, ohne das Shin mich ansah, geschweige denn irgendein Lebenszeichen von sich gab.

Mir ging es mit jeder Minute schlechter. Es dauerte nicht lange und meine Gedanken schweiften ab, vernebelten sich und wurden wieder klar. Wir sollten ein bestimmtes Kapitel in Deutsch über irgendeine Sage lesen, doch meine Augen wanderten immer wieder über die selbe Zeile, ohne auch nur ein einzigstes Wort zu registrieren.

Shin, der sich mit mir ein Buch teilen musste, weil die Lehrerin nicht genug hatte, warf mir beim Lesen gelegentlich fragende Seitenblicke zu, sagte aber nichts.

"...Kai!"

Ich schreckte hoch. Ich wäre fast eingeschlafen und hatte nicht bemerkt, dass die Lehrerin an unseren Tisch getreten war und mir eine Frage stellte.

"Was? Wie bitte?"

"Ich wollte wissen, was deine Auffassung zu Siegfried ist. Handelt er richtig, oder macht er das Falsche?"

"Ähm..."

Ich wusste die Antwort natürlich nicht, da ich nicht wirklich mitgelesen hatte und hatte nun den strengen Blick der Lehrerin im Nacken.

"Gehts dir gut, Kai? Du siehst blass aus."

"Nein, nein, alles in Ordnung."

"Nagut, wie du willst. Hat denn jemand Anderes eine passende Antwort für mich parat?"

Sie entfernte sich wieder von meiner Bank. Schwein gehabt. Es war nicht selten, dass sie schlechte Noten verteilte, wenn jemand nicht mitgearbeitet hatte.

Wenige Minuten später klingelte es. Ich war der letzte, der den Raum verließ.

Hofpause.

Die frische Luft tat gut. Ich hatte eigentlich gedacht, dass sie meine Kopfschmerzen etwas lindern würde, aber nichts da.

Als ich zur nächsten Stunde in den Chemieraum kam und diesen üblen Geruch von verbrannten Socken (wie ich selbst immer dazu sagte) wahrnahm, wurden meine Kopfschmerzen, soweit es überhaupt nicht ging, noch schlimmer.

Ich ließ mich auf meinen Platz sinken und stützte mich auf dem Ellenbogen ab. Auf Auspacken hatte ich keine Lust.

Als Shin sich neben mich setzte, spürte ich ein seltsames Kribbeln in der Rückengegend, doch ich konnte das Gefühl nicht richtig deuten.

Das Unterrichtsklingeln klang seltsam schrill in meinen Ohren.

Die Lehrerin redete wieder über Alkane, Alkene, Alkine und Alkanole und brachte meinen Kopf damit fast zum Platzen.

Ich schloss die Augen, ganz langsam...

Ich wollte so gerne schlafen...Einfach nur entspannen und nichts tun...

Mal relaxen und den ganzen Stress hinter sich lassen, alle Sorgen...

Meine Leistung in der Schule wurde immer schwächer und Shin redete nicht mit mir...

Noch dazu kam, dass Chain-Yu nicht aufgetaucht war. Hoffentlich war ihr nichts passiert...

Ciello stresste Shin und seine Mutter ziemlich. Shins Vergangenheit...

Warum machte ich mir überhaupt solche Sorgen um ihn?

Es ging mich nichts an, warum mischte ich mich da ein...

Ich hatte keine Ahnung.

Shins Deo wehte rüber, als er sich auf seinen Stuhl zurecht rückte.

Es war das gleiche wie er in der einen Nacht getragen hatte...

Mein Kopf war so schwer, ich wunderte mich, dass ich ihn überhaupt noch tragen konnte.

Aber noch verwunderter war ich, dass ich gerade innerlich einen Dialog mit meinem zweiten Ich führte, ohne dass ich es vorher mitbekommen hatte.

Shin hatte mich geküsst...

Oh mein Gott, musst du ausgerechnet jetzt daran denken?

Es war ein sehr schöner Kuss.

Ja, aber du hast ihn danach abserviert, schon vergessen?

Das tut mir aber Leid.

Naund? Du hast es ihn nie gesagt, oder?

Ja, aber das kann ich ja nachholen.

Findest du nicht auch, dass es dafür ein bisschen spät ist?

Es ist nie zu spät.

Bild' dir doch nichts ein.

Mach ich nicht.

Natürlich machst du! Was soll er denn davon halten?

Ich will, dass wir wieder Freunde sind.

Tzüah! Freundschaft! Du weißt ganz genau, dass er mehr will!

Es ist mir egal, ich komme damit klar, nur er muss es auch schaffen.

Falsch! Er kommt darauf klar, aber du nicht und das weißt du auch!

WAMM. Mein Knopf knallte auf die Tischplatte. Wahrscheinlich war ich eingedöst und meine Hand konnte meinen Kopf nicht mehr tragen, aber es war mir egal, denn jetzt machte mir noch ein zusätzliches Stechen einer dicken Beule an meinen Kopf zu schaffen, was die Kopfschmerzen nicht gerade linderte.

Ich blinzelte verstohlen im Licht. Ausnahmslos alle Klassenkameraden hatten sich zu mir umgedreht, selbst Shin beugte sich jetzt auf die Bank, damit er mir ins Gesicht schauen konnte. Als er mich leise fragte, ob denn alles in Ordnung sei, konnte ich ihn nicht in die Augen schauen, denn mein innerer Konflikt mit meinen Gewissen brannte noch in meinem Kopf.

Ich antwortete nicht, stattdessen sah ich vor zur Lehrerin, die mit relativen Interesse zurückblickte.

"Kai, alles in Ordnung mit dir?"

"Nein, ich denke nicht, mir gehts nicht so gut."

"Ja, das sieht man, du bist ganz blass. Geh runter ins Sekräteriat, dich abmelden und dann nach Hause."

"Okay."

Da ich garnicht erst ausgepackt hatte, konnte ich den Raum ziemlich schnell velassen.

So schnell ich konnte, ging ich zum Lehrerzimmer und klopfte. Die stellvertretende Schulleiterin öffnete.

"Kai. Du siehst krank aus."

"Ist meine Klassenlehrerin da?"

Während ich diese Frage formte fiel mir auf, dass wir fast nur weibliche Besetzungen als Lehrer hatten, und, fragt mich nicht warum, aber dieser Gedanke kam mir plötzlich ziemlich lustig vor.

"Nein, die ist nicht da. Willst du dich abmelden?"

"Ja, bitte, ich will nach Hause und mich hinlegen."

"Ist jemand da bei dir?"

"Ich weiß nicht..."

Sie begleitete mich in den kleinen Raum. Die fette Sekräterin wählte zuerst die Nummer von der Arbeit meines Vaters, doch der Steckte in einer wichtigen Besprechung. Zuhause ging niemand ran, also war meine Mutter wahrscheinlich auch nicht da.

"Na, was machen wir denn da?"

Sie stemmte mit Mühe und Not ihren dicken Körper vom Stuhl auf und klopfte an der Tür, die gegenüber von ihren Schreibtisch war, wo "Schulleiterin" draufstand.

Als sie anklopfte, ertönte fast sofort von der anderen Seite leicht gedämpft ein "Herein".

Sie öffnete.

"Wir haben hier ein kleines Problem."

"Was denn..oh."

Die Direktorin und gleichzeitig meine Englischlehrerin war sonst immer sehr streng, doch diesmal musterte sie mich mit einen Ausdruck von leichter Besorgtheit, während ich leicht benommen zurückblickte.

"Schicken sie ihn ach Hause."

"Das wäre schon längst passiert, wenn jemand dort wäre. Es gibt auch niemanden weiter, der ihn abholen könnte."

Die Direktorin musterte mich erneut.

"Du wohnst doch gleich um die Ecke, oder?" Ich nickte nur stumm.

Sie schien zu überlegen.

"Naja, ich würde dich ja jetzt nachhause schicken, aber das kann ich nicht solange sich niemand von deiner Verwandschaft meldet, der dich begleitet, oder dir erlaubt nach Hause zu gehen. Wenn ich das jetzt machen würde und es würde was passieren, dann bin ich dran, dann bist du nicht versichert, so käsig, wie du aussiehst."

Ich nickte wieder knapp.

"Hm. Dann musst du leider in den Krankenraum gehen, zumindest solange, bis sich jemand hier meldet."

Ohne noch etwas zu sagen, stand ich auf und folgte der Sekräterin in den Flur. Fast gleich gegenüber befand sich eine Tür, die sie für mich aufschloss.

"Wenn sich jemand hier meldet, komm ich dich holen, solange kannst du dich hier hinlegen."

"Okay."

Sie schloss die Tür hinter sich.

Der Raum war ziemlich klein und diente wahrscheinlich sonst immer als Abstellkammer für allen möglichen Krempel.

Eine Liege stand am Fenster, über ihr eine Steppdecke. Ich setzte mich hin und wartete.

Eine halbe Stunde verging, dann eine Stunde.

Das war einer von den wenigen Momenten in meinen Leben, wo ich froh war, dass ich mein Handy dabeihatte. Die Musik -es war ein seltsamer Mix aus Slipknot, Enter Shikari und Bring me the Horizon- die drauf war, half mir, über die Langeweile hinwegzukommen.

Ich lehnte mich gegen die Wand und wippte im Takt mit, als For Stevie Wonders Eyes Only von BMTH lief. An ein paar Stellen war ich gezwungen zu Headbangen, musste aber leider sofort wieder aufhören, weil mein Kopf das nicht mit sich machen lassen wollte.

Vom Fenster aus konnte ich den Schulhof sehen, die anderen hatten jetzt Hofpause.

Ich sah Shin angeregt mit der Direktorin plaudern, die draußen stand und fragte mich, was die sich zu erzählen hatten.

Ob er sie über meinen Zustand ausfragte?

Ach komm, mach dir doch keine Hoffnungen, zischte es mir unwillkürlich durch den Kopf.

"Du hälst die Klappe!", sagte ich laut in den leeren Raum hinein und kam mir dabei ganz schön blöd vor.

Ruhig bleiben, Kai.

Wegen Kopfschmerzen schon mit sich selbst zu reden, war in meinen Augen kein gutes Omen.

Ich sah wieder aus dem Fenster und beobachtete, wie die Direktorin sich von Shin abwandte und ins Schulgebäude zurückkehren wollte, doch Shin lief ihr hinterher und redete weiter auf sie ein, während sie nur energisch den Kopf schüttelte. Dann waren sie aus meinen Sichtfeld verschwunden.

Ich lehnte mich zurück und genoss das nächste Lied -Snuff- von Slipknot, in der Hoffnung, dass ich bald von dort wegkonnte, als ich im Flur zwei Stimmen hörte.

Ich drehte den Ton leiser um zu lauschen, hörte aber trotzdem nur Bruchstücke.

"...ich...weg...bringen..."

"...nicht...Eltern..."

"..egal...hinlegen..."

"...unverantwortlich..."

Ich wollte gerade aufstehen, um an der Tür zu horchen, doch das wurde mir erspart, weil Shin plötzlich seine Stimme hob, offenbar rasend vor Wut.

"Was soll daran falsch oder schlecht sein, wenn ich ihn nach Hause bringe?"

Auch die Direktorin erhöhte ihre Lautstärke.

"Jetzt benehmen sie sich mal, Herr Mudo! Es geht nicht! Wir dürfen ihn nicht weglassen, solange wir keine Erlaubnis von seinen Eltern erhalten haben!"

"Achso und wenn der da drin abklappt ist das viel besser, oder was? Das haben seine Eltern dann ganz bestimmt gewollt!"

"Hören sie auf, hier so rumzubrüllen!"

"Warum sollte ich? Ich höre erst auf, wenn sie anfangen, mal vernünftig über die Situation nachzudenken! Überlegen sie doch mal! Er hockt da drin, da wo es stickig ist, er hat Kopfschmerzen und sonstewas, ich biete ihnen an, ihn nach Hause zu bringen, schaffe ihnen damit das Problem vom Hals und sie haben nichts Besseres zu tun, als zu sagen ' Das geht nicht.' Hallo? Wo ist das Problem?"

Es klingelte.

Entweder übertönte das schrille Geräusch ihre Stimmen, oder sie sagten einen Moment lang wirklich nichts.

Dann meldete die Direktorin sich wieder zu Wort, ihre Stimme hatte nun ganz ihre strenge Art zurückgewonnen.

"Nagut, aber machen sie schnell. Die anderen Schüler müssen das ja nicht unbedingt sehen. Und falls irgendetwas passiert-"

"Es wird nichts passieren."

"-werde ich sie dafür verantwortlich machen.", sprach sie weiter, ohne sich anmerken zu lassen, dass er sie gerade unterbrochen hatte.

Ein paar Sekunden später ging die Tür auf. Ich tat so, als hätte ich von seinen Streit nichts mitbekommen, obwohl ich es nicht vermeiden konnte, dass meine Wangen sich leicht rosa färbten, warum auch immer.

Einen Moment lang sagte er gar nichts.

Ich hob verwundert den Kopf, als wüsste ich nicht, was Sache war.

"Was gibts? Hat jemand angerufen?"

"Nein, aber ich darf dich nach Hause bringen."

"Wie hast du das denn geschafft?"

"Ich hatte gerade eine hübsche, kleine Auseinandersetzung mit der Schulleitung."

Ich hob gut gespielt eine Braue.

"Wie jetzt?"

Shin schnaubte verächtlich.

"Ist doch Bockwurst jetzt, ich dachte dir gehts nicht gut, aber scheinbar hab ich mich geirrt, weil du ja noch blöde Fragen stellen kannst."

Ich setzte mich ruckartig auf.

"Schön, wenn du das denkst. Dann kann ich ja alleine nach Hause gehen."

Doch er hielt mich am Arm fest, als ich gerade aus der Tür schlüpfen wollte.

"So meinte ich das nicht, und das weißt du auch."

Seine Augen suchten die Meinen, doch ich wich seinen Blick aus und befreite mich aus seinen Griff.

"Na dann los, bevor du noch mehr Stress mit der Direktorin bekommst."

Wir verließen das Gebäude über den Lehrereingang, der eigentlich nicht für Schüler war. Ein paar Minuten sagten wir beide gar nichts. Ich sah entschlossen in eine andere Richtung, doch mir viel auf, dass wir sehr langsam und eng beieinander liefen. Nach einer Weile fragte Shin:

"Wie gehts dir?"

Ich antwortete nicht sofort, denn ich war schon wieder im Gedanken versunken.

"Hm. Geht so. Kopf platzt gleich, ist aber aushaltbar."

"Okay, sind ja Gott sei Dank gleich da, dann kannst du dich hinlegen."

Seine Stimme klang jetzt viel weicher und nicht mehr so kalt, wie vorhin und ich traute mich, ihn einen kurzen Seitenblick zuzuwerfen, den er erwiderte, doch ich hielt das nicht sehr lange aus und sah wieder weg.

Als Shin erneut zu sprechen begann, klang sein Tonfall etwas unsicher.

"Alles klar bei dir? Ich meine, außer den Kopfschmerzen jetzt?"

Ich zuckte mit den Schultern.

"Ja. Nein. Weiß nicht, ich fühl mich zurzeit irgendwie komisch."

"Inwiefern komisch?"

"Kann ich nicht erklären."

"Okay..."

Wieder verfielen wir in Schweigen.

Als wir bei mir zuhause ankamen, begleitete er mich noch in den Flur.

Das ist deine letzte Change. Jetzt, wo ihr euch wieder halbwegs versteht.

Mein Gewissen stresste mich.

"Nagut, ich muss wieder zurück zur Schule, sonst gibts wirklich Ärger."

Er wandte sich bereits um, doch diesmal war ich es, der ihn am Arm packte und festhielt.

"Warte mal."

Er drehte sich wieder um.

"Was denn noch?"

"Ich bin noch nicht dazu gekommen, mich wegen der Sache zu entschuldigen, die vor ein paar Tagen passiert ist."

Als er mich fragend anschaute, wurde ich wieder unsicher.

"Du weißt schon. Der Abend, wo du bei mir warst."

"Achso. Mach dir keine Sorgen. Ich bin weder sauer, noch mache ich dir einen Vorwurf. Ich muss jetzt."

Er sah auf einmal sehr abweisend aus.

Doch ich packte noch fester zu und zwang ihn, sich wieder umzudrehen.

"Du verstehst das falsch. Ich hab an den Abend absolut unfair reagiert, weil ich nicht wusste wohin mit meinen Gefühlen! Mir ist jetzt klar, was ich will!"

In meiner Stimme lag jetzt etwas Flehendes.

"Bitte Shin, ich glaube ich mag di-"

Doch weiter kam ich gar nicht mehr, denn Shin hatte sich schon regelrecht auf mich gestürzt und seine Lippen auf die meinen gedrückt.

Kribbeln.~

"Shin, warte-"

Aber er dachte gar nicht daran und küsste mich stürmisch. Ich erwiderte den Kuss nicht minder heftig, denn ich wusste, ich tat das Richtige, doch mein Kopf machte mir zu sehr zu schaffen und da war Küssen nunmal nicht das beste Mittel dagegen.

"Mein Kopf, Shin-"

Doch ich brauchte den Satz nicht zuende sprechen, denn Shin lies bereits von mir ab, was er aber, wie mir keine zwei Sekunden später auffiel, nicht freiwillig tat.

Jemand hatte ihn mit Gewalt von mir weggezogen und dieser Jemand entpuppte sich als Ciello, der Shin von hinten an der Schulter gepackt hatte, das Gesicht wutentbrannt verzerrt. Shin schüttelte seinen Bruder ab, nicht minder wütender.

"Was willst du? Wir sind beschäftigt, wie du gemerkt hast!"

"Nein seid ihr nicht! Was soll das denn, bitte?"

"Was soll was?"

"Warum machst du dich so an Kai ran?"

Sie fingen an sich mächtig zu zoffen und ließen mich außen vor, obwohl ich dazu eigentlich auch was sagen wollte.

"Was geht dich es an, an wen ich mich ranmache? Du bist Gott sei Dank nicht meine Mutter!"

"Nein, aber du hast dich nicht an Kai zu vergreifen!"

"Leute, hört mal-"

"Vergreifen! Ha! Du hast ja keine Ahnung! Was willst du überhaupt hier?"

"Ich hab euch beide vom Auto aus gesehen und bin euch gefolgt!"

"Also hast du und bestalkt, oder wie darf ich das verstehen?"

"Nein, ich hab nur geahnt, dass sowas wie gerade eben passieren wird!"

"Hey, ihr beiden-"

"Jetzt komm mir ja nicht mit der Beschützernummer! Du bist doch nur neidisch, weil ich noch jemanden abkriege, im Gegensatz zu dir-"

"Halt doch dein dummes Maul, wir beide wissen doch ganz genau, dass Kai früher oder später mir gehören wird, wie alle anderen auch, die du liebtest-"

"KÖNNT IHR JETZT BEIDE MAL FREUNDLICHERWEISE EURE KLAPPE HALTEN UND EUREN STREIT WOANDERS HIN VERLEGEN?"

Die beiden verstummten sofort und sahen mich leicht erschrocken an. Sie waren sich beim Streiten so nahe gekommen, dass ihre Nasenspitzen kaum noch einen Zentimeter auseinander waren. Shin hatte seinen Bruder am Kragen gepackt und Ciello beide Fäuste erhoben, bereit zuzuschlagen, falls es nötig sein würde. Doch jetzt ließen sie voneinander ab, sahen sich aber immernoch sehr feindselig an.

Mein Kopf pochte laut, was aber nur ich hören konnte. Ich musste mich endlich hinlegen, sonst war der Rest des Tages für mich gelaufen.

"Kai, du siehst so blass aus, hat er dir irgendwas von seinen Zeug gegeben?"

"Bist du des Wahnsinns, du Bastard-"

"HÖRT AUF, VERDAMMT NOCHMAL!"

Meine Worte hinderten die beiden daran, aufeinander loszugehen.

"Ciello, du hörst bitte auf so eine Scheiße zu erzählen. Shin, musst du nicht zur Schule? Wenn ihr euch prügeln wollt, dann macht das draußen. Falls es euch nämlich noch nicht aufgefallen ist, hier wohnen noch andere und die wollen das bestimmt nicht mit anhören. Ich geh jetzt rein, ich brauch Ruhe."

Ohne noch was zu sagen, drehte ich mich um und schloss die Tür auf.

Als ich die Tür schloss und noch einen letzten Blick auf den Flur warf, waren beide schon verschwunden. Ich hörte auch nichts, was daraufhin deuten könnte, dass sie draußen weiterstritten.

Als ich in meinen Zimmer ankam, zog ich die Rolläden herunter, um das Licht abzuschirmen.

Dann zog ich mich bis zur Unterhose aus, legte mich hin und zog die Decke bist zum Kinn hoch. So konnte ich am besten und am schnellsten einschlafen.

Ich träumte etwas komisches. Wir waren in der Schule und der Dealer von Shin unterrichtete uns in Mathe. Chain-Yu saß neben mir und hatte ein Weihnachtsmann-Kostüm an. Sie warf mir einen schrägen, leicht verpeilten Blick zu und bot mir Kopfschmerztabletten an, die sich als Diamanten entpuppten und dann verwandelte sie sich plötzlich in Ciello, der mir eine durchsichtige Verpackung hinhielt, die oben zugeschweißt und mit einen seltsamen weißen Pulver gefüllt war, und sagte zu mir:

"Hier, das Zeug ist ganz neu, hab ich von Shin geklaut, das dürfte deine Kopfschmerzen auch lindern."

Ich schreckte auf. Einen Moment lang blinzelte ich verschlafen. Draußen wurde es bereits dunkel. Mein Blick fiel auf den Wecker. Ach du grüne neune es war schon 19:00 Uhr durch und ich hatte, noch keine Hausaufgaben gemacht-

WAMM. Mein Kopf knallte gegen die Schräge, als ich mich ruckartig aufrichtete. Die Kopfschmerzen, die Gott sei Dank verschwunden waren, kamen nun schlagartig wieder, blieben aber nicht lange.

"Na na, nicht so stürmisch."

Mein Kopf schnellte herum, etwas zu schnell, denn es knackte laut. Oh man, es war wirklich nicht mein Tag. Shin saß auf dem Boden, direkt neben dem Bett und sah mich verschmitzt an.

Ich zog mir reflexartig die Bettdecke wieder zu den Schultern hoch. Das mit uns beiden, das war ja alles kein Problem, aber soviel von meinen Körper musste er vorerst nun auch nicht kennen.

"Keine Panik, ich werd dir schon nichts weggucken. Ich hab genau das gleiche, bin nur ein bisschen dunkler, als du."

Seine Worte machten es nicht gerade besser- meine Wangen erröteten.

Er patschte mir zärlich auf den Kopf.

"Hey hey. Ist dir das etwa peinlich?"

Ich schüttelte den Kopf, immernoch knallrot.

"Seit wann bist du denn hier?"

Er sah auf seine Uhr und runzelte die Stirn.

"Naja. Sagen wir mal seit mindestens vier Stunden."

"Was? Du bist doch verrückt."

"Nein, ich bin verliebt."

Falls es überhaupt möglich war, errötete ich noch mehr.

Er lachte belustigt.

"Du bist zu niedlich."

Ich grinste verlegen.

"Wer hat dich überhaupt reingelassen?"

"Deine Mutter. Sie war überhaupt nicht begeistert, doch dann hab ich ihr erklärt, was heute in der Schule loswar. Dann hat sie mich durchgelassen."

"Oh man. Naja die ist halt so, damit muss man klarkommen, oder man lässt es."

"Stimmt schon. Sagmal.."

Er schaute mich interessiert an.

"Du hast im Schlaf so gezappelt. Hast du schlecht geträumt?"

"Ja. Naja. Nein. Weiß nicht... war voll komisch."

"Naja, jetzt bist du ja sowieso wach."

"Was war eigentlich mit dir und Ciello? Habt ihr mit den Rumgezicke aufgehört, oder draußen weiter gemacht?"

"Nee. Er hat mir nur ne Ansage gemacht, von wegen, wir werden noch sehen, zu wem du, Kai, später noch gehen wirst."

Sein Blick wirkte nun sehr betrübt, auch wenn er es mit einem Lächeln überspielen wollte.

Als er mich dann wieder ansah, wirkte er verunsichert.

"Weißt du... Er hat es bis jetzt immer geschafft."

Er sah an mir vorbei, starrte die Schräge an.

Ich hatte mich aufgesetzt. Mein Blick war seltsam steinern. Die Erinnerungen an die alten Zeiten schienen Shin nicht gut zu tun.

"Er hat schon so viel in meinem Leben kaputt gemacht, Freundschaften und Beziehungen zerstört. Er hasst mich. Und ich kenn noch nicht einmal den Grund."

Ein paar Sekunden vergingen, man konnte nur die Stille hören, die durch den Raum waberte.

"Und...er hat einfach so damit angefangen?"

"Das ging los, da waren wir beide zwölf und ich hab mal jemanden abbekommen, den er gern gehabt hätte. Seitdem..."

Er hatte sich nun wieder einigermaßen gefasst und versuchte nun das Thema zu wechseln.

"Naja. Egal... Ich hab übrigens mit der Schulleitung geklärt, dass du zu morgen keine Hausaufgaben machen brauchst."

"Achso? Wie hast du das denn gemacht?"

Er zuckte mit den Schultern.

"Och, naja. Hab ein bisschen den Charme spielen lassen."

"Ahja, etwa so, wie vorhin?"

Er lachte bellend.

"Nein, da war ich nur so außer mir, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Verdammt große."

"Aha. Ich hatte doch nur Kopfschmerzen."

"Ja schon, aber du hättest dich mal sehen sollen. Beim nächsten Horrofilm hättest du die Hauptrolle mit Leichtigkeit übernehmen können."

Diesmal war ich es, der lachte.

"Oh, wie nett von dir."

"Nein, ich meins ganz ernst. Aber jetzt sieht du wieder besser aus. Viel viel besser..."

Meine Wangen, die gerade erst aufgehört hatten zu glühen, wurden schlagartig wieder rot. Ich sah leicht bestürzt zur Wand.

"Sag doch sowas nicht."

"Warum nicht?"

Als ich mich wieder zu ihm drehte,war sein Gesicht direkt vor mir. Ich wich reflexartig ein Stück zurück und stieß mir den Kopf heute zum hunderttausendsten Mal an der Schräge.

"Au, verdammt!"

Doch bevor ich selbst meine Hand auf die Beule legte, war seine schon längst dort. Er gab mir keine Chance, seinen Blick auszuweichen und so musste ich zurückblicken, in diese stahlgrauen Augen.

"Tut es weh?"

"Geht..."

Er atmete ziemlich schwer, wahrscheinlich musste er sich in desen Moment sehr zurückhalten. Doch ich konnte ganz plötzlich zwischen uns das Knistern spüren. Das Kribbeln. Warum sollte ich mich wehren? Warum sollte ich jetzt nicht auf den Kuss eingehen, den er mir erneut auf die Lippen presste? Warum nicht? Es war das Richtige. Das wusste ich. Ich war erstaunt darüber, das Lippen so weich sein konnten.
 

Als ich die Augen aufschlug, war es bereits Morgen. Die Sonne warf ihre warmen Strahlen durchs Fenster und kitzelte mein Gesicht. Einen kurzen Augenblick war ich völlig verdattert. Dann fiel mein Blick auf den Wecker. 06:35 Uhr. Wir hatten noch Zeit, die Schule fing erst in zwei Stunden an. Ich blinzelte und rieb mir die Augen, bevor ich die noch schlafende Person anstubste, die neben mir im Bett lag und leicht schnarchte.

"Hey. Hey. Aufwachen. Wach auf."

Er regte sich und setzte sich auf, wobei er knapp die Schräge verfehlte, die Haare verstrubbelt und den Blick ziemlich verschlafen.

"Wasn los?"

"Wir müssen aufstehen. Schule und so."

"Ach ja, ich dachte, heut ist schon Wochenende."

"Schön wärs. Naja, los. Steh auf."

Meine mutter war nicht da, wahrscheinlich einkaufen. Sie wusste wahrscheinlich nicht, dass Shin über Nacht hiergeblieben war. Sollte sie lieber auch nicht, darum mussten wir uns beeilen. Wir gingen nacheinander Duschen und sagten, während wir uns fertigmachten kein Wort, entweder zu verschlafen, oder.. naja egal.

Ciellos Worte geisterten mir die ganze Zeit schon im Kopf rum und ich wusste nicht, wie ich Shin darauf ansprechen sollte. Schließlich fasste ich mir ein Herz.

Wir waren gerade im Flur, er wollte nochmal in seine Wohnung, wenigstens ein bisschen Schulzeug einpacken. Als er gerade reingehen wollte, hielt ich ihn zurück.

"Warte mal."

"Was denn? Wir kommen zu spät, ich muss mich beeilen."

"Ich wollte dir nur noch was sagen."

"Na los."

"Naja, ähm... wegen Ciello. Ich wollte dir nur sagen, dass er mich nicht so schnell von dir wegbekommt, wie er vielleicht denkt, das ist alles."

Ich glaub das war das erste Mal, das ich ihn richtig ehrlich lächeln sah.

"Danke."

~Veränderung.

Die Tatsache, dass Kai Arizawa mit Shin Mudo ging, schien sich im Schulhaus regelrecht wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Jetzt war das Geschreie groß- zumindest bei den Gaffern. Der Unterricht wurde unerträglich, ich spürte ihre Blicke im Nacken, besonders die der Mädchen, die wohl eifersüchtig waren. Denn wie es sich, wahrscheinlich durch private Umfragen, herausgestellt hat, hatte Shin eine sehr hohe Beliebtheitsquote bei ihnen. Mir war das nur Recht. Dann wussten die gleich, dass sie keine Chance hatten. Trotzdem wurde ihr Gegucke mit der Zeit unerträglich. Meine Konzentration ließ erheblich nach und ich hatte an manchen Tagen das Gefühl unter Verfolgungswahn zu leiden.

Aber das war nur das kleinere Problem.

Chain-Yu fehlte nun schon fast zwei Wochen und langsam begann ich mir wirklich Sorgen zu machen. Sie ging nicht an ihr Handy ran und öffnete die Tür nicht, wenn ich klingelte. Was soll man denn da denken? Es war zwar so, dass ich sie kaum kannte, weniger noch als Shin, doch bei dem Gedanken daran, dass ihr in der Nacht, als sie diesen komischen Whitey aufgesucht hatte, etwas passiert sein könnte, raubte mir noch meinen letzten Rest an Kraft. Es mag zwar kindisch gewesen sein- aber schlafen konnte ich kaum noch.

Shin schien ihre Abwesenheit gar nicht zu stören. Er war wohl noch immer sauer auf sie, weil sie an dem bestimmten Tag aus der Haut gefahren ist und ihn schlimme Dinge aus seiner noch schlimmeren Vergangenheit an den Kopf geworfen hatte. Trotzdem, Shin benamm sich wie im Kindergarten. Sie hatte sich entschuldigt, doch er hatte mal wieder auf stur geschalten und ihr nicht zugehört.

Und jetzt war sie weg.

Hätte ich sie doch nur begleitet! Ich verfluchte mich dafür.

Aber noch etwas anderes bereitete mir Sorgen. Der Dealer selbst hatte sich seit dem Tag nicht mehr blicken lassen. Einerseits war es gut, denn so konnte er mich und Shin nicht mehr belagern. Andererseits war es komisch, weil er doch so scharf auf seine Kohle war- und schwuppdiwupp! Er kam nicht mehr. Hieße das nun, dass er aufgegeben hatte? Oder war er mit Chain-Yu abgehauen? Entführung? Oh man, ich dürfte mir darüber keine Gedanken machen. Optimistisch sein. So wie Shin.

Ihn schien das alles ja nur zu perfekt in den Kram zu passen. Scheißchenwas! Wenn man keine Drogen bekommt, bekommt man eben Entzugserscheinungen. So war das im Drogenbuisness. Aber von einen Tag auf den anderen keine Drogen mehr, das ist hart! Da konnte ich noch so sauer auf ihn sein, da musste ich einfach gemeinsam mit ihm durch. Ich versuchte ihn, wo immer es auch ging, beizustehen. Er hatte jetzt immer wieder ein paar Konzentrationsschwächen und kleinere Aussetzer, die zumeist und völlig unpassend auftraten. Meistens im Unterricht. Fingerzittern, Schwitzattacken, Magenkrämpfe, dazu kamen unerträgliche Schmerzen. Das schlimmste daran war, dass er dann nicht einmal schreien oder auf Klo konnte. Nein, er musste still dasitzen und abwarten bis die Stunden zuende waren. Ein weiteres Problem war seine Unberechbarkeit, die er sich unfreiwillig angeeignet hatte. Kleine und größere Ausraster, die er nicht kontrollieren konnte, wobei schon manche wertvolle Dinge zu Bruch gegangen sind, wie zum Beispiel einige Regale aus seinen Zimmer und seine wunderbare Shisha, was ihn wohl mit am meisten ärgerte.

Und so kam es, dass wir beide kaum noch die Schule besuchten und unsere Leistungen, besonders meine, dadurch erhebliche Verschlechtungen erzielten. Ganz zum Leid-und Wutwesen meiner verehrten Mztter, die mittlerweile so gereizt war, dass sie es mit mir nicht mehr in einem Zimmer aushielt, ohne mich anzuschreien. Mir war das gerade Recht, denn wie man vielleicht mitbekommen hat, mochte ich sie überhaupt nicht. Da war ich froh, wenn ich sie meiden konnte, was aber selten funktionierte. Auch wenn sie mich zurzeit überhaupt nicht mochte, sie ließ es sich nicht nehmen, mich wie üblich zu bespitzeln und dumme Fragen zu stellen.

Zum Beispiel den einen Tag, als ich zu Shin rüber wollte. Ich zog mir gerade meine Schuhe an, als sie plötzlich vor mir stand.

"Wo willst du hin?"

"Weg."

"Wie weg?"

"Was versteht du daran denn nicht?"

"Ich will wissen wohin, mein Lieber!"

"Geht dich aber nichts an."

"Oh doch, Freund Blase, das geht mich wohl was an. Glaubst du, ich merke nicht, dass du irgendeine Scheiße mit diesen Junkie von nebenan baust?"

"Das muss ich mir doch jetzt wohl nicht anhören, oder?"

Ich drängelte mich an ihr vorbei und knallte beim Rausgehen die Wohnungstür extra laut zu. Die sollte sich mal um ihre eigene Scheiße kümmern. Ich hatte im Augenblick genug Probleme, da musste die alte Schreckschraube mich nicht auch noch voll labern. Als ich nebenan klopfte, dauerte es eine Weile, bis jemand öffnete. Ich erschrak mich etwas, als ich in Ciellos Gesicht blickte und ein erstauntes "Was machst du denn hier?" konnte ich mir nicht verkneifen. Er zuckte mit den Schultern und blickte finster.

"Nichts weiter. Ich wollte sowieso gerade gehen."

Er betrat den Flur und schlüpfte in seine Schuhe. Es kam mir so vor, als wenn er ziemlich wütend war. Vielleicht auf mich? Na dann hätte ich aber zu gern den Grund dafür gewusst. Seine Mutter erschien in der Tür und umarmte ihn zum Abschied. Ich drehte mich weg, als sie ihn etwas Privates ins Ohr flüsterte und leicht schluchzte. Das ging mich nichts an. Wenig später hörte ich Fußgetrappel und eine Tür zuknallen, dann herrschte Stille. Ich drehte mich um, Shins Mutter lächelte mich herzlich an.

"Shin schläft ein bisschen."

"Darf ich trotzdem mal nach ihn sehen?"

"Natürlich, komm rein."

Sie hielt mir die Tür auf und ich ging direkt auf Shins Zimmer zu, dass am Ende des Ganges war. Langsam, unendlich sachte öffnete ich die Tür. Er lag auf dem Bauch und hatte die Decke abgestrampelt. Ich hatte seinen nackten Rücken vor Augen und lief unwillkürlich wieder rot an. Ich konnte nichts dafür, er machte mich einfach an, doch ich ließ mir nichts anmerken und ging zu ihm hin. Er schwitzte sehr stark und murmelte im Schlaf. Ich hörte öfters den Namen Chain-Yu. Also machte er sich doch Sorgen, der Idiot. Ich drehte mich wieder um und schloss die Tür ganz leise. Shins Mutter stand noch immer im Flur und sah jetzt wieder deutlich mitgenommen aus.

"Möchtest du eine Tasse Tee, Kai?"

"Gern."

Wir gingen gemeinsam zur Küche.

Während das Wasser für den Tee langsam zu kochen begann, unterhielten wir uns ein bisschen. Schließlich konnte ich mir die Frage nicht mehr verkneifen.

"Darf ich fragen, was Ciello hier wollte?"

Sie blickte überrascht auf und antwortete erst, als sie endich den Tee fertig zubereitet hatte.

"Er wollte nach seinem Bruder sehen."

"Aber sie mögen sich doch nicht besonders."

"Ja, das mag vielleicht sein, aber Ciello... bleibt trotzdem seine zweite Hälfte."

Zweite Hälfte? Ich wusste nicht was sie damit meinte, bis mir auffiel, dass sie damit nur meinen konnte, dass sie Zwillinge waren.

"Achso."

Ich war mir nicht sicher, aber ich glaubte, das Ciello nicht aus dem Grund hier war. Aber ich behielt diesen Gedanken lieber für mich.

"Ich finde es sehr nett von dir, dass du dich um meinen Sohn kümmerst. Alleine würde ich das wahrscheinlich nicht schaffen."

Ihre Hände zitterten leicht und sie schien nicht zu wollen, dass ich davon etwas merkte, denn sie umklammerte ihre Tasse plötzlich viel fester.

"Ich glaube ohne dich, Kai, hätte ich schon längst aufgegeben."

Ich senkte den Blick etwas.

"Sie müssen es so sehen, ohne mich hätten die ganzen Probleme gar nicht wieder angefangen. Ich hab ihn ziemlich verletzt."

"Das mag sein. Aber früher oder später wäre seine Sucht wieder ausgebrochen, es war alles nur eine Frage der Zeit."

"Darf ich sie noch was fragen?"

"Nur zu."

"Warum hasst Ciello Shin eigentlich so sehr?"

Sie seufzte und dachte lange nach, bevor sie antwortete.

"Früher waren beide mal in ein und das selbe Mädchen verliebt. Damals waren die beiden noch die allerbesten Freunde. Ciello hat ihn von seiner Liebe zu ihr erzählt, doch Shin hat geschwiegen und nichts gesagt. Sie hat sich dann für ihn entschieden. Das war der erste Schritt zum Krieg der beiden. Jedenfalls... Shin hat ihr das Herz gebrochen. Ciello hat das natürlich auch mitbekommen. Er fing an Shin zu hassen, weil er ihr mit Sicherheit nicht das Herz gebrochen hätte, er hätte sie auf Händen getragen, wie eine Göttin. Und Shin... er hat sie zum Schluss behandelt, wie de letzten Dreck. Das führte soweit, bis Ciello eines Tages einen Abschiedsbrief von ihr fand, wo drin stand, dass sie einen Fehler gemacht hatte, der nicht mehr rückgängig zu machen ging. Er ist sofort zu ihrer Wohnung gefahren, doch es war zu spät. Er fand sie, leblos auf dem Boden liegend. Ich glaube von dem Tag an, hat er sich geschworen, jede Liebe, die Shin zu irgendjemanden aufbaut, zu zerstören. Wahrscheinlich will er ihn den selben Schmerz zufügen. Er ist noch nicht über ihren Tod hinweg."

Ich schluckte. Das hatte ich nicht geahnt.

"Und was ist mit Shin? Was denkt er über ihren Tod?"

"Zu dieser Zeit war er drogenabhängig. Aber trotzdem spricht er nicht gern darüber. Und bitte, frage ihn auch nicht danach."

"Keine Angst, hatte ich auch nicht vor."

Ich blieb dann nicht mehr lange. Das Gespräch musste ich erst einmal verdauen.

Meine Mutter erwartete mich schon und fiel gleich über mich her, als ich noch nicht einmal richtig in der Wohnung war.

"Was denkst du dir eigentlich? Einfach so abzuhauen?"

"Lass mich in Ruhe."

"Nein, tu ich nicht."

Ich ignorierte sie und ging in die Küche um einen Schluck Cola zu nehmen, während sie mich weiter bequatschte.

"Hast nur noch krumme Dinger am Laufen, deine Noten werden immer schlechter, was ist bloß los mit dir?"

Ich antwortete nicht und ging in mein Zimmer, sie kam hinterher gewatschelt.

"Hallo? Bekomm ich auch mal eine Antwort von dir?"

"Hau doch jetzt mal ab, alter!"

"Nein, ganz sicher NICHT!"

"SCHÖN!"

Ich stand auf und griff nach meiner Jacke.

"Wenn du nicht gehen willst, werde ich gehen!"

Und zum zweiten Mal knallte ich laut die Tür hinter mir zu.

Ich ging so energisch und vor Allem so schnell, dass ich gar nicht mitbekam, dass ich die kleine Stadt nach nur ein paar Minuten hinter mir gelassen hatte.

Ich konnte die Möven kreischen hören, da unsere Stadt fast unmittelbar an der Ostsee lag. Warum nicht mal hingehen? Mal abschalten. Scheiße, ich hatte die Zigaretten vergessen. Naja gut, bei der Belagerung von meiner Mutter hätte ich sowieso keine Chance gehabt die einzupacken. Sogar das Rauschen des Meeres war schon sehr leise zu hören. Ich beschleunigte meine Schritte noch mehr. Am Wasser konnte ich mich schon früher wahnsinnig gut entspannen und mich abregen. Nach ein paar Minuten weiteren Laufens kam die komplette Landschaft in mein Sichtfeld. Ich blieb kurz stehen, leicht verdattert starrte ich auf einen Felsen ganz nahe an der Brandung. Dort saß ein Mädchen mit langen, weißblonden Haaren. Sie war ungefähr in meinem Alter und ließ ihre nackten Füße im Wasser baumeln. Ich fragte mich, wie sie das aushalten konnte, es musste eiskalt gewesen sein. Irgendwie kam sie mir vage bekannt vor. Ich musterte sie noch immer, als ich ich in ungefähr zehn Meter Entfernung auf einen anderen Felsen niederließ. Ihre lila-gelb gestreifte Leggins betonte ihre langen, schlanken Beine wunderbar. Sie war über dem rechten Knie aufgerissen und entblößte eine fast gänzlich verheilte Schürfwunde. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie leise vor sich hin summte. Ihre klare Stimme war selbst aus dieser Entfernung noch deutlich zu hören. Sie hielt lässig eine pinke Zigarette in der Hand, an der sie öfters zog und den Rauch elegant ausblies und schien mich noch nicht bemerkt zu haben, war wahrscheinlich im Gedanken versunken. Ihr Blick wanderte über die Wellen, die weißen Schaum schlugen und ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann, als sie den Kippenstummel wegschnipste, wanderten ihre Augen nach oben zu mir. Unsere Blicke trafen sich und der Mund klappte mir auf.

Es war Chain-Yu.

Gedächtnissplitter.~

Stille herrschte. Nur ab und an ein sachtes Rauschen, wenn die Wellen aufeinander schlugen. Wir sagten beide kein Wort. Hocken nur da und blickten uns an. Ich konnte in ihren Augen die kalte Sonne aufblitzen sehen, dann sprang ich auf, lief auf sie zu und fiel ihr um den Hals, so stark, dass es uns beide vom Felsen riss und sie nun unter mir auf dem weichen Sand lag.

"Na na, nicht so stürmisch, du bist vergeben schon vergessen?"

Ich spürte zwar einen leicht belustigten Unterton in ihrer Stimme, den sie sonst immer an den Tag gelegt hatte, dennoch war diese kaum noch wieder zu erkennen. Ich rappelte mich auf und ließ von ihr ab, leicht beschämt. Sie stand ebenfalls auf und klopfte sich den kalten Sand von den Klamotten.

"Wo warst du die ganze Zeit, verdammt nochmal? Ich hab die ganze Zeit probiert dich zu erreichen! Ich hab bei dir geklingelt und angerufen und nie hast du reagiert! Die ganze Zeit haben wir sonstewas gedacht, Shin stirbt bald vor Sorge und ich-"

"Ja..."

Sie war gar nicht richtig da. Ihr Blick war trüb und leer aufs Wasser gerichtet. Wenn ich nicht wüsste, wen ich da vor mir hatte, dann hätte ich geglaubt, dass eine ganz andere Person vor mir stehen würde.

"Was ist los mit dir? Du hast dich..."

Mein Blick wanderte über ihre komplette Gestalt, über die gebleichten, untopierten Haare, die vorne nun bunte Strähnen aufwiesen, über ihre Augen, die zwei verschieden farbige Kontaktlinsen trugen, eine pink, eine leuchtend grün und anders geschminkt waren, ohne Kajalstern, aber dafür mit umso mehr schwarzen Lidschatten. Ihr Gesichtsausdruck war bis vor zwei Wochen noch fröhlich und unbeschwert gewesen, aber jetzt trug sie tiefe Sorgenfalten auf ihrer Stirn. Allgemein war sie dünner geworden, wenn nicht sogar dürr. Sie sah verzerrt aus, wie jemand der in kurzer Zeit ziemlich schnell gewachsen war.

"..verändert."

Sie sah mich an, sagte jedoch nichts, sondern setzte sich nur auf den Felsen und lächelte milde. Langsam wurde ich echt sauer. Wie konnte sie nur so ruhig bleiben?

"Warum hast du dich die ganze Zeit nicht gemeldet?"

"Ich brauchte etwas Abstand..."

Ooh, sie antwortete mir. Welch ein Wunder.

"Abstand? Wovon? Etwa vor uns?"

Sie schreckte leicht zurück. Warum ließ sich sich jetzt so schnell einschüchtern, nur weil ich etwas lauter wurde? Ich verstand die Welt nicht mehr. Das war nicht die Chain-Yu, die ich kannte. Was war mit der alten passiert?

"Hör mal, Kai, es tut mir Leid. Ich musste über sehr viele Dinge nachdenken."

Ich sagte einen Moment nichts, ballte aber meine Hände zu Fäusten um mir ein schnippisches Kommentar zu verkneifen, dann setzte ich mich zu ihr.

"Worüber denn?"

Sie ging nicht auf meine Frage ein. Also stellte ich eine andere, eine, die mir nichts bedeutete, aber sie vielleicht zum Reden brachte.

"Warum hast du dich äußerlich so verändert? Deine Haare zum Beispiel."

Sie nahm gedankenverloren eine Strähne und die Hand und zwirbelte sie zwischen ihren Fingern.

"Camillo mag helle Haare."

Ich wusste nicht, wer zum Geier schon wieder Camillo war, aber das war mir in dem Moment sowas von egal.

"Seid wann springst du, wenn jemand so etwas sagt?"

"Ich mag ihn halt."

"Und du willst ihn auf diese Art und Weise gefallen? Glaub mir, das ist nicht der richtige Weg."

"Als wenn du eine Ahnung hättest. Du weißt überhaupt nicht, was bei mir gerade abgeht. Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus."

Sie stand auf und wollte gehen, doch ich hielt sie am Handgelenk fest. Und als meine Hand ihren Arm umschloss, merkte ich, dass sie wirklich dünner geworden war. Beunruhigend dünn.

"Dann erklärs mir doch."

Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Leidendes an sich, sie schüttelte den Kopf, machte aber keine Anstalten mehr, einfach so abzuhauen, im Gegenteil, sie setzte sich wieder.

"Es geht nicht, okay?"

"Warum nicht? Ich will dir helfen. Und Shin will das auch."

"Glaub mir, wenn Shin davon erfährt, ist er der letzte, der mir helfen wird."

"Er ist dein bester Freund."

"Nein, das war er mal."

"Wie kommst du auf so einen Müll?"

Als sie nicht sofort antwortete, und ich ihr einen Seitenblick zuwarf, bemerkte ich, dass ihr Tränen in den Augen standen.

"Weil ich wirklich so bescheuert war, mich ausgerechnet in Camillo zu verlieben."

Die Tränen kullerten ihr jetzt über die Wangen, sie wischte sie weg, doch es kamen immer wieder neue.

"Wer ist dieser Camillo? Bitte, Chain- Yu."

Sie schüttelte nur den Kopf und konnte sich eine ganze Weile nicht beruhigen. Ich wartete. Scheiße war nur, dass ich keine Taschentücher dabei hatte.

"Shin wird mich hassen."

"Wird er nicht. Er liebt dich. Er ist dein bester Freund!"

"Ja, aber er wird es nicht mehr sein, wenn er herausfindet, dass seine beste Freundin eine Affäre mit seinem Dealer hat!"

Daraufhin folgte eine Stille, die so lange dauerte, dass mein Mund ganz trocken wurde. Meine Zunge fühlte sich an, als hätte ich sie verschluckt, ich versuchte etwas zu sagen, doch es klappte bei den ersten fünf Versuchen gar nicht erst.

Dann, als ich beim sechsten Sprechansatz etwas herausbekam, klang meine Stimme zwar etwas kehlig, aber dennoch stark genug, um als wütend eingestuft werden zu können.

"Du hast was mit Shins Dealer?"

Sie sah in eine andere Richtung, sagte aber nichts. Ich sah, dass sie am ganzen Körper zitterte und sah ein, dass wütend sein nichts brachte. Sie würde mir das schon erklären, irgendwie. Und für Gefühle konnte man nichts. Ich und Shin waren dafür ein Paradebeispiel.

"Kai, das mit Camillo ist jetzt erstmal nicht so wichtig. Er hält sich von Shin fern. Gott sei Dank hört er auf mich."

Ich setzte mich neben sie auf den Felsen.

"Wie hast du das geschafft?"

"Ich hab doch gesagt, ich geh zu ihm hin. Ich habs gemacht, es war zwar ziemlich kalt und alles, aber es hat sich gelohnt."

Sie hielt an und zögerte, bevor sie fortfuhr.

"Er...ist alkoholabhängig. Und weil er kein Geld für das Zeug hat, bring ich ihn einmal in der Woche was. Und dafür lässt er Shin in Ruhe."

Das machte mich stutzig.

"Aber... um Gottes Willen, wo nimmst du das Geld dafür her? Das ist doch sau teuer."

Als sie mir nicht antwortete, kam mir ein furchbarer Gedanke.

"Du stellst dich doch nicht etwa an den Straßenrand, oder?"

Ihre Hand kam so schnell, dass ich nicht einmal reagieren konnte. Heiß wie glühendes Eisen traf sie meine rechte Wange und hinterließ dort einen brennenden Abdruck, der sich lansam von rot zu blau und von blau zu lila färbte. Ich war einen Moment lang so verdattert, dass es mir glatt die Sprache verschlug. Dann sah ich in ihre Augen und ihr Blick versetzte mir fast noch einen größeren Schock. Sie bebte am ganzen Körper, ihre Wut ließ die Luft buchstäblich knistern.

"Sag.. das nie wieder, kapiert? Es ist schon schlimm genug, dass mir andere Leute sowas unterstellen, oder es sich viel mehr von mir wünschen, wie zum Beispiel Camillo! Er will, dass ich auf den Strich gehe, damit ich wieder mehr essen kann! Willst du die Wahrheit hören, Kai? Immer wenn mir meine Mutti Geld gibt, damit ich mir Essen kaufen kann, renne ich zum nächsten Getränkemarkt um das Zeug zu holen, was Camillo braucht. Schon seit Wochen esse ich nichts mehr, ich trinke nur noch Wasser um wenigstens überhaupt was im Magen zu haben, damit er irgendwas zu tun hat und wenn ich mal was esse, dann nur irgendwelches Zeug, dass noch im Kühlschrank rumliegt, was sowieso keiner mehr braucht, wo es nicht auffällt und glaube mir, das kommt nicht zu oft vor!"

Und sie begann wieder zu weinen, heftiger als jeh zuvor. Ich versuchte sie mit allen Mitteln zu beruhigen, doch das erwies sich als aussichtslos. Sie krallte sich in meine Klamotten, weinte nur umso mehr und erzählte weiter.

"Aber was soll ich denn machen, wenn ich ihn das geben will, was er braucht? Was bleibt mir denn anderes übrig, als meine eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen, damit er zufrieden ist und Shin außer Gefahr bleibt? Was soll ich machen, wenn ich jeden Tag mit der Angst leben muss, dass mein Geld für seinen scheiß-beschissenen Whiskey nicht mehr reicht, nur weil ich für mich was zu Essen kaufe? Dann esse ich lieber gar nichts, als wenn wegen mir die anderen zugrunde gehen! Und Hunger habe ich sowieso keinen mehr! Shin will nichts mehr mit mir zu tun haben, Camillo benutzt mich nur und du machst mir nur Vorwürfe! Meine Mutter beschattet mich, mein Vater lebt nicht mehr bei uns und in der Schule klappt es auch nicht mehr."

Sie sah von meinem nun vollgeheulten Tshirt auf und blickte mir direkt in die Augen. Ihr Blick schockierte mich so sehr, dass ich fest rücklinks vom Felsen gefallen wäre. In ihren Augen spiegelte sich der reine Selbsthass.

"Und das Schlimmste ist.. das Schlimmste ist-"

Sie begann nun schmerzhaft auf meine Brust einzutrommeln, doch ich hielt sie nicht davon ab, ihren Frust endlich mal rauszulassen. Dafür waren Freunde immerhin da.

"...dass ich Shin diese schrecklichen Dinge gesagt habe, an dem Tag, als ich ihn das letzte mal sah."

Ich erinnerte mich vage an ihren Satz. Ich hoffe nicht indem du irgendwo einbrichst oder Leute überfällst! Und an Shins Gesichtsausdruck danach. Böse. Mehr als böse. Hasserfüllt. Aber ich verstand es nicht richtig. Klar, das was sie gesagt hatte war falsch, aber dass sie sich jetzt wirklich solche Sorgen machte, brachte mich ins Grübeln. Da musste noch mehr dahinter stecken.

"Aber Chain-Yu. klar, das war scheiße, aber doch bestimmt noch lange kein Grund, dass er jetzt nichts mehr mit dir zu tun haben will."

Sie ließ mich gar nicht erst zuende sprechen, ihre Stimme drohte sich zu überschlagen, als sie mir über den Mund fuhr und sich kaum noch zügeln konnte.

"Weil du keine Ahnung hast, Kai. Absolut keine Ahnung! Du weißt nichts, nichts, NICHTS!"

Sie saß jetzt fast ganz auf meinem Schoß und vergrub ihr Gesicht in meiner Schulter. Sie war tatsächlich so leicht, dass ich ihr Gewicht kaum spürte.

"Dann erklärs mir doch."

Sie schütelte zunächst energisch den Kopf, fuhr dann aber ein paar Herzschläge später doch fort. Wahrscheinlich hatte sie sich es anders überlegt.

"Wie viel weißt du über das Mädchen, dass an der Beziehung mit Shin zerbrochen ist?"

"Du meinst das Mädchen, dass sich umgebracht hat?"

Sie nickte nur stumm.

"Nur so viel, dass Shin und sein Bruder in sie verliebt waren und dass sie sich wegen Shin das Leben genommen hat, aber wie weiß ich nicht. Seitdem hasst Ciello seinen Zwilling."

Sie nickte erneut. "Ja. Und mich hasst er jetzt auch."

Das verstand ich nicht. "Aber warum dich?"

Sie holte einmal tief Luft und begann zu erzählen.

"Naja. Ich weiß nur soviel, dass Shin und Ciello beide in sie verliebt waren. Damals waren sie noch die besten Freunde, ich mittendrin. Wir haben uns supergut verstanden.

Dann hat sie sich für Shin entschieden. Ciello, der nichts von Shins Gefühlen gewusst hatte, war davon natürlich gar nicht begeistert. Erst recht nicht, als er herausfand, dass Shin sie aufgrund seines Drogenkonsums schlecht behandelte. Meine und Shins Freundschaft zu ihn zerbrach dadurch immer und immer mehr, aber Shin hat es nicht interessiert. Er war permanent berauscht. Dann gab es diesen einen Vorfall..."

Ihre Stimme versagte kurz und sie konnte erst nach ein paar Minuten, in denen sie unaufhaltsam geschluchst hatte, weitersprechen.

"Shin hatte kein Geld für Drogen mehr, er wollte sich welches verschaffen, doch sie wollte ihn davon abhalten. Sie warf ihn schlimme Sachen an den Kopf, er solle daran denken, dass wegen ihn jemand in einem Feuer umgekommen sei, dass er nicht wieder irgendwo einbrechen und Leute überfallen sollte."

In meinem Kopf begann es langsam zu dämmern. Chain-Yu hatte ihn genau das gleiche gesagt. Aber ich unterbrach sie nicht, als sie fortfuhr.

"Daraufhin hat Shin sie halb tot geschlagen. Als er weg war, wollte sie Ciello anrufen, aber er ging nicht ran. Mit letzter Kraft schrieb sie einen Brief an ihn und schob ihn unter seiner Wohnungstür durch. Sie wohnten zu der Zeit gegenüber. Dann schleppte sie sich wieder in ihre Wohnung, warf Pillen ein und... und..."

Sie unterbrach sich erneut. Ich wollte nichts mehr hören, mir war schlecht. Ein Gefühl aus Abscheu und Mitleid durchdrang meinen Körper. Noch immer konnte sie sich nicht beruhigen. Ihre Stimme hatte beim Sprechen so stark gezittert, dass ich sie nur mit Mühe verstand. Doch sie schien noch immer nicht fertig zu sein.

"Jedenfalls hat Ciello sie gefunden, aber es war zu spät. Zu spät... Er hat versucht sie wieder zurück zu holen, aber es ging nicht, es ging verdammt nochmal nicht!"

Sie beugte sich vor, vergrub ihre Hände in den langen blonden Haaren, während wie verbissen gegen den Drang ankämpfte, laut loszuschreien.

"Und dann vor vielen vielen Wochen stand ich vor Shin, ich sah aus wie sie, ich hatte die selbe Stimme, den selben Gesichtsausdruck wie sie und ich sagte genau das gleiche wie sie. Sie war meine Schwester." Einen kurzen Moment blieb mir komplett die Luft weg. Shin hatte ihre Schwester auf dem Gewissen. Ihre Schwester.

"Verstehst du jetzt, warum Ciello ihn so hasst? Und warum er mich so hasst?"

Ihre Schwester.

"Weil ich trotz allem zu Shin gehalten habe, weil ich ihn verziehen habe, obwohl er im Unrecht war!"

Ihre Schwester.

"Obwohl sie nie gestorben wäre, wenn sie sich nicht für Shin entschieden hätte! Und weil ich ihr so verdammt ähnlich sehe."

Ihre Schwester. Chain-Yu blickte mir erneut in die Augen, ihre waren blutunterlaufen und angeschwollen. Ich wunderte mich, dass sie überhaupt noch was sehen konnte.

Ihre Schwester... Jetzt begann selbst ich zu zittern, als ich verstand, welch große Last seit Jahren auf ihnen lag, auf Shin, auf Ciello, auf Chain-Yu, auf ihren Eltern, auf Shins und Ciellos Mutter. Und gerade weil diese Last so groß war, bewunderte ich sie alle dafür. Besonders Shin und seinen Bruder. Chain-Yu hatte sich komplett entrüstet, müde und schlaff lag sie in meinen Armen, die Augen halb geschlossen. Sie bewegte sich kaum noch. Und als ich sie fragte, ob alles in Ordnung seie und keine Antwort bekam, bemerkte ich mit wachsender Panik, dass sie das Bewusstsein verloren hatte.

"Chain-Yu? Chain-Yu? Antworte mir!" Ich rüttelte sie, doch sie wachte nicht mehr auf.

"Scheiße! SCHEIßE!"

Ich wunderte mich, dass ich einen klaren Kopf behielt, als ich sie auf meinen Rücken hiefte und so schnell ich konnte zur Stadt zurück rannte. Inzwischen stand die Sonne halb hinter den Hügeln am Horizont, die Dämmerung machte sich breit. Und während ich rannte, sprach ich mehr zu mir, als zu ihr.

"Ich bring dich hier weg. Es wird alles gut werden. Du bist jetzt in Sicherheit..."

~Kollabieren.

Wie schnell und wie lange ich rannte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich waren es keine fünf Minuten. Die Strecke vom Stand bis zu meiner Haustür war mir nicht mehr im Gedächtnis geblieben. Ich weiß nur noch, wie ich die Tür ausriss, die Treppen hoch hastete, stolperte und mir an den Stufen schmerzhaft beide Knie aufschlug. Chain-Yu, die noch immer nicht bei Bewusstsein war, wäre beinahe von meinem Rücken gerutscht und mit dem Kopf hart auf dem Boden aufgekommen, wäre da nicht Ciello gewesen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

"Was ist los? Ist das etwa Chain-Yu? Was ist passiert?"

"Sie ist es. Ich erklär dir später alles, aber hilf mir jetzt bitte!"

Er sah sie an und seine Augen spiegelten den Schmerz wieder, den er dabei empfiden musste. Jetzt, wo ich alles wusste, konnte ich sein Verhalten viel besser verstehen. Ich konnte so ziemlich alles nachvollziehen was er getan hat und war ihm nicht mal richtig böse deswegen.

"Okay. Ich komme grad von meiner Mutter! Sie ist noch wach, Gott sei Dank!"

Ich sah auf die Uhr und erschrak. Es war bereits nach 22 Uhr. Wie spät es dunkel wurde im Sommer. Kaum wusste ich, dass es so spät war, wurde mein Körper schwer. Meine Augen wollten sich kaum noch offen halten und mein Bedürfnis zu schlafen überwältigte mich fast. Doch dann drängte sich Chain-Yu in mein Bild und ich wusste, dass ich jetzt nicht schlapp machen dürfte.

Ich hiefte mich auf und stand auf sehr wackeligen Beinen. Ciello half mir Chain-Yu vorsichtig abzusetzen, nahm sie dann Huckepack und lief die Treppen hoch. Ich wollte eigentlich hinterher, aber meine Beine spielten nicht mehr mit. Ich klammerte mich am Treppengeländer fest. Die letzten Stufen schaffte ich mit Mühe und Not, dann brach ich im oben Flur zusammen. Der kalte Schweiß lief mir vom Gesicht, ich zitterte am ganzen Körper. Ich spürte, wie sich Wut und Verzweiflung in mir anstauten. Die ganzen Erlebnisse der letzten Wochen waren wohl doch zu viel für mich gewesen. Ich dachte immer, ich wäre stark, aber jeder scheint irgendwo seine Grenze zu haben. Es kotze mich an, dass ich weder die Kraft hatte, Shin beizustehen, noch Chain-Yu helfen zu können.

Ich bemerkte meine Tränen erst, als sie schon dabei waren, auf den Boden zu tropfen und plötzlich hatte ich das Bedürfnis zu schreien. Ich hob meine Faust und begann auf den Boden einzutrommeln um meine Wut irgendwo rauslassen zu können. Jemand packte mich und zerrte mich in die Wohnung von Shin, gab mir eine Ohrfeige und versuchte mich zu beruhigen, doch ich konnte nicht mehr an mich halten. Was war bloß passiert? Wie konnte Shin mein so perfektes Leben nur so auf den Kopf stellen? Seit er da war hatte ich nur noch Sorgen, Stress mit meinen Eltern, kein eigenes Leben mehr. Permanent musste ich für ihn da sein, ohne dass auch nur ein Dankeschön zurückkam. Ich hatte keine Lust mehr auf dieses Leben, das beste wäre, wenn Shin und alle anderen verrecken würden, dann hätte ich endlich wieder meine Ruhe.

Irgendjemand schluchzte. "Kai, was sagst du da bloß?"

Ich war so aufgewühlt, dass ich die Person von mir stieß, ohne sie wirklich zu sehen, sie anschrie.

Hatte ich meine Gedanken etwa lauf ausgesprochen? Auch gut! Sollten sie doch alle wissen, was ich denke! Meine Wut staute sich weiter an, wurde noch größer. Jetzt erst erkannte ich, dass ich die ganze Zeit Shins Mutter anschrie.

"Lass mich, lass mich IN RUHE! VERRECKT DOCH ALLE!"

"Kai, was hast du nur? Ciello, ruf den Krankenwagen!"

Ich hörte, wie Ciello eine Nummer in sein Handy eintippte und dann undeutlich die Adresse murmelte. Wollten die mich etwa in die Klapse stecken? Diese Schweine!

"Ich brauch keinen Krankenwagen, lasst mich verfickt nochmal alle in Ruhe! Kümmert euch um Chain-Yu!" Ich wollte aufstehen, doch sie drückte mich zurück. Ich saß auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gepresst, wollte raus aus dieser scheiß Wohnung, mich aus ihren Griff befreien, aber es ging nicht, meine Beine wurden taub. Meine Atmung war flach, meine Klamotten shweißdurchnässt.

"Kai, beruhige dich. Du hast einen Nervenzusammenbruch. Du kommst gleich hier raus."

Wie sollte ich mich beruhigen? Ich hatte das Gefühl mein ganzes Leben lang durchschreien zu müssen. Alles schien den Bach runter zu gehen. Mein Körper bebte.

Dann öffnete sich links von mir die Tür, die zu Shins Zimmer führte. Er betrat halb verschlafen die Diele, wahrscheinlich aufgescheucht durch den Lärm, den ich machte. Ich hatte gerade beschlossen mich irgendwie zu beruhigen, doch als ich in sein verschlafenes, ahnugsloses Gesicht blickte, brach alles aus mir heraus, was nur ausbrechen konnte.

Ich konnte selbst nicht so schnell gucken, wie ich auf den Beinen stand und ihn gegen die nächstbeste Wand geschubst hatte.

"Du dummes, widerliches ARSCHLOCH!"

Shin war so perplex, dass er im ersten Moment gar nicht wusste, was er sagen sollte.

"Kai, was ist denn-" Ich ließ ihn nicht aussprechen, sondern begann jeden Zentimeter seines Körpers mit meinen Fäusten zu bearbeiten. Ich hätte niemals gedacht, dass eine Situation so ausarten könnte. Ciello und seine Mutter schrien durcheinander und versuchten mich von Shin weg zu zerren, aber in meinem Hass entwickelte ich so eine Kraft, dass es ihnen nicht gelang, wie sehr sie sich auch anstrengten.

"Wie KONNTEST du nur? Wie konntest du ihr so etwas antun? Du hast sie in den Tod getrieben! Und es hat dich einen SCHEIßDRECK interessiert, was das aus ihr gemacht hat!" Mit jedem Wort steigerte ich mich mehr in meine Wut hinein, ich zerkratze ihn die Haut, schlug auf ihn ein und er stand nur da und tat nichts. Warum sagte der Scheißkerl nichts dazu?

"Jeden Tag belastest du uns mehr mit deiner scheiß Drogennehmerei, ich pass auf dich auf, Tag und Nacht und als Dank kommt von dir ein Tritt in die Fresse! Hast du eigentlich mal an dein Umfeld gedacht? Hast du nur ein einziges Mal an deine MUTTER gedacht, oder an CHAIN-YU? Weißt du, was sie getan hat für dich? WEIßT DU DAS? Du hast kein Plan von nichts oder? Du liegst nur im Bett rum und wartest darauf, dass dir dein beschissenes Glück in den Schoß fällt, während sich andere für dich abrackern, für dich nicht mehr essen und daran fast verrecken!"

Seine Nase blutete. Ich sah ihn in die Augen, die in Tränen standen.

"Und weißt du was das Schlimmste daran ist, Shin?" Auch ich war kurz davor, zu weinen. Ich presste mich mit aller Kraft gegen seinen Körper und vergrub das Gesicht in seinen Hals.

"Das Schlimmste daran ist, dass ich einfach nicht aufhören kann, dich zu lieben. Dass deine Mutter immer für dich da ist, obwohl sie weiß, dass sie dir damit nicht wirklich helfen kann. Dass Chain- Yu am Ende ihrer Kräfte ist und trotzdem noch weiterhin alles für dich tun wird." Meine Hände verkrallten sich in seinen Haaren, unsere Lippen berührten sich fast, als ich weitersprach. "Ich habe Chain- Yu gefunden. Sie ist hier und wird gleich mit mir ins Krankenhaus fahren. Ihr geht es überhaupt nicht gut, sie hat mir ihr Herz ausgeschüttet und ist danach zusammen gebrochen. Wochenlang hat sie nichts gegessen, weil sie dich beschützen wollte. Habe endlich den Respakt und sage DANKE! Sonst wirst du eines Tages ganz allein auf der Welt sein!"

Draußen ertönte die Sirene eines Krankenwagens. Ich ließ von Shin ab, der mich mit tränenüberströmten Gesicht ansah. Draußen war auf einmal eine Menge Fußgetrappel zu hören, dann wurde die Wohnungstür aufgerissen. Ich wurde von Shin weggerissen und auf eine Trage gelegt. Neben mir geschah mit Chain- Yu das selbe.

Und als ich aus der Diele getragen wurde, hörte ich noch das laute Wimmern, das aus Shins Richtung kam.

Zittern.~

Das Piepen durchdrang mit langsamer Gewalt seinen Kopf.

Seine Schultern waren verspannt vom Stundenlangen sitzen und die Haare standen ihm zu Berge. Es war ziemlich kalt. Er konnte sich kaum noch bewegen, sein Körper war versteift, er war müde und fühlte sich schlapp. Schon fast zwei Tage saß er durchweg auf diesen Stuhl, hatte die Augen nie abgewendet von dem Bett und kein einziges Mal hatte sie sich geregt. Nicht die kleinste Bewegung. Sie lag da wie tot. Wenn er nicht wüsste, dass sie es war, hätte er sie nicht einmal erkannt, auch nicht, als sie bewusstlos vor ihn im Flur gelegen hatte. Hätte er nicht ihren Namen genannt...

Diese Veränderung war einfach zu groß. Seine Augen wanderten über ihre langen, dünnen Finger, über die knochigen Handgelenke, über die abgemagerten Arme und blieb schließlich an ihrem blassen Gesicht hängen. Die langen weißblonden Haare wurden unter einer Haube verborgen. Ihre Augen waren geschlossen, die Wimpern sahen unendlich lang aus. Wie Schmetterlingsflügel. Das hatte er früher schon so empfunden, in den Zeiten, wo alles noch in Ordnung war. Es war das Einzige, dass sich in den ganzen Jahren nicht geändert hatte. Ihre Wimpern. Sie atmete ruhig und tief. Überall waren diese schrecklichen Schläuche. Das Piepen schien mit jeder Sekunde lauter zu werden.

Dann öffnete sich die Zimmertür und seine Mutter betrat den sterilen Raum. In den ersten paar Minuten sagten beide kein Wort, dann legte sie die Hand auf seine Schulter.

"Ruh dich aus." Er schüttelte stur den Kopf.

"Nein. Erst wenn sie aufgewacht ist und ich mit ihr reden konnte."

Der Druck auf seiner Schulter verstärkte sich.

"Sei doch vernünftig. Du brauchst schlaf und hast bestimmt Hunger. Und deine letzte Dusche ist auch schon ein paar Tage her."

"Bitte, Mum. Mir gehts gut."

"Dir gehts nicht gut, ich bin deine Mutter und sehe sowas. Komm bitte erstmal mit nach Hause.."

Eine Weile schwieg er und dachte nach.

"Ist Kai schon aufgewacht?"

"Nein. Seine Lage ist unverändert. Seine Eltern schauen jeden Tag nach ihm. Die Ärzte rechnen damit, dass er frühestens morgen aufwacht."

Er gab es auf und erhob sich. Auf dem Weg zur Tür warf er ihr noch einen kurzen Blick zu. Seine Mutter hatte Recht. Er kämpfte noch immer mit seinem Entzug und musste sich langsam wirklich einmal ausruhen. Es nützte nichts, die ganze Zeit zu warten, wo doch eh nichts passierte-

"Warte."

Er war stehen geblieben und fixierte das Bett. Nein, das war keine Täuschung. Seine Mutter blickte ihn fragend an, doch er hob nur die Hand und spitzte die Ohren, trat wieder einen Schritt näher heran. Da war es wieder. Sie schnappte sehr leise, aber dennoch zu hören nach Luft. Jetzt sah er auch, dass ihr Mundwinkel zuckte. Sie schien wieder aufzuwachen. Sein Herzschlag verschnellte sich dramatisch. Plötzlich schiehn ihn der ganze Mut zu verlassen und er drehte sich um.

"Lass uns lieber gehen, Mum."

"Warte." Es war wie ein Elektroschock, der in seinen Adern pulsierte. Seine Nackenhaare stellten sich auf und ein kalter Schauer kroch seinen Rücken entlang. Die Stimme war vom Bett gekommen, leise und schwach hatte sie geklungen.

"Warte..."

Er blieb stehen, drehte sich aber nicht erneut um. Seine Finger zitterten und er ballte sie zur einer Faust. Dann, mit einen stummen Blick, forderte er seine Mutter auf, den Raum zu verlassen. Sie schaute ihn nur genervt an, ging an ihr vorbei und schlug die Tür hinter sich zu. Dann herrschte Stille. Keiner von beiden sagte etwas. Und dann, nach gefühlten Stunden, wie es ihn vorkam, hörte er ihre Stimme erneut.

"Ich habe dich vermisst...Shin."

~Sprechen üben.

Sein Körper verkrampfte sich, seine Hand verharrte an der Türklinke. Wie lange war es her, seit er ihre Stimme zuletzt gehört hatte? Ein paar Tage? Oder vielleicht sogar Wochen oder Monate? Hatte sie schon immer so schwach geklungen? So zerbrechlich.

Er bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper.

Es wollte einfach nicht funktionieren, als er versuchte sich umzudrehen. Seine Finger zitterten. War es wegen den Drogen, oder lag es einfach an seiner extrem hohen Nervosität? Er hatte in den letzten Wochen alles falsch gemacht, obwohl er doch nur das richtige tun wollte. Aber Drogenexzesse, Alkoholabstürze, Kai schlecht behandeln und auf Chain-Yu scheißen war absolut nicht das richtige. Er war so ein verdammter, hirnverbrannter Idiot. Und was hatte das alles gebracht? Nichts. Nur Unglück, Ärger. Kai hatte einen Nervenzusammenbruch, Chain-Yu einen Schwächeanfall. Beides innerhalb weniger Minuten. Kai würde ihn wahrscheinlich nie wieder sehen wollen. Seit seinem Zusammenbruch vor zwei Tagen war er nicht mehr aufgewacht. Er hatte gerade an seinem Bett gesessen, da stürmten Kais Eltern das Zimmer. Sein Vater konnte nicht an sich halten, riss ihn mit roher Gewalt vom Stuhl herunter. Shin konnte gar nicht reagieren, da hatte er schon seine flache Hand im Gesicht. Darauf folgten Vorwürfe, Beleidigungen, Drohungen. Shin hatte das alles wortlos über sich ergehen lassen. Wo er doch so recht mit allem hatte. Sie haben ihn aus dem Zimmer gestoßen. Er würde Kai nie wieder sehen wurde ihn noch hinterhergeschrien. Seitdem durfte er den Raum nicht mehr betreten. Aber das war jetzt unwichtig, jetzt wo er im Zimmer seiner ehemals besten Freundin stand und sich nicht mehr bewegen konnte, vor Furcht ihr in die Augen zu sehen.

All das schoss ihm innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf.

Er bemerkte es erst, als er schon am Boden kniete und bitterlich weinte. All diese Ereignisse brachen plötzlich über seinen Kopf zusammen und überschütteten ihn mir dem eiskalten Regen der Vergeltung, bohrten riesige klaffende Löcher bis zu seinem Herzen. All seine Qualen,der Entzug, der Kampf um die Gefühle für Kai- das alles lag in Trümmern. Und das schlimmste daran war, dass er es die ganze Zeit gewusst hatte und dass es ihm so gleichgültig gewesen war. Und jetzt war es zu spät für diese Erkenntnis.

Eine zarte Hand legte sich auf seine Schulter und drückte sie sanft. Er fuhr ruckartig herum und sah Chain-Yu, die sich irgendwie von den Schläuchen befreit haben musste, ohne den Alarm auszulösen, mit ängstigen Augen an. Sie wirkte grau und sehr sehr gebrächlich. Aber trotz ihres Zustands war ihr Blick überraschend fest. Er wich von ihr zurück, wandte den Blick ab und begann vor Reue zu hyperventilieren. Sie fasste ihn am Kinn und drehte seinen Kopf wieder in ihre Richtung. Warme Augen suchten nach ihn. "Beruhige dich, Shin." Ein Zitterkrampf durchfuhr und schüttelte seinen Körper. Er musste mit krampfhaften Zuckungen kämpfen. Seine Zähne begannen zu klappern. "Ssssch."

Sie tastete sich näher an ihn heran und zog ihn in eine sanfte Umarmung. Er erstarrte für ein paar Sekunden und hielt die Luft an. Doch dann atmete er kräftig aus und drückte ihren Körper mit so einer Kraft an sich, dass sie zu zerbrechen drohte. "Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir..." Er begann mit ihr in den Armen auf den Boden hin und her zu wippen. Sie wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht und gab ihn einen flüchtigen Kuss, wobei sich ihre Lippen nur so kurz berührten, dass man das eigentlich gar nicht Kuss nennen durfte. Das beruhigte ihn jedoch ungemein.
 

"Und das alles hast du nur getan, um mich vor Camillo zu schützen?" Inzwischen waren fast zwei Stunden vergangen, sie saßen mittlerweile auf Chain-Yu's Krankenbett. Shin hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, hatte Chain-Yu angefangen zu sprechen und bis gerade eben nicht aufgehört. Sie war froh, dass sie nun alles loswerden konnte, die schwere Last die auf ihren Schultern lag, war abgefallen und verlieh ihr nun ein wunderbares Gefühl der Leichtigkeit. Ihre Augen waren schwer vor Müdigkeit, doch sie hielt sich wach um noch ein wenig mehr Zeit mit Shin zu verbringen. Dieser hatte seine Position noch immer nicht geändert. Sie war sich ihm gegenüber unsicher, immerhin wusste er jetzt auch über ihre Gefühle für Camillo bescheid. Dann nach gefühlten Stunden nahm er seine Hände vom Gesicht und sah sie tränenverschmiert an.

"warum bist du nicht früher damit zu mir gekommen, Chain-Yu? Warum?"

Sie zuckte unsicher mit den Schultern und warf ihm einen flehenden Blick zu. "Ich konnte einfach nicht. Ich hab mich so schuldig gefühlt, weil ich die Person liebe die dir großes Leid zufügen könnte, wenn du nicht aufpasst."

Er lachte gehässig auf, doch dann nickte er bestätigend. "Ja, das leuchtet ein. Aber Camillo ist durchschaubar. Sehr sogar. Ich weiß nicht wie du es geschafft hast Gefühle für ihn zu entwickeln - und glaub mir, ich wills auch gar nicht wissen. Aber ich bin dir nicht sauer. Ich bin nur traurig, dass ich, als dein bester Freund nicht als erster erfahre, dass meine beste Freundin unenlich doll verknallt ist."

Jetzt lief sie rot an. "Naja. Wie gesagt... du weißt schon. Beim nächsten Mal erfährst du es als erstes!"

"Ich hoffe, dieses 'nächste Mal' passiert sehr schnell. Ich glaub aber nicht daran."

Sie legte ihn einen Arm um die Schulter. "Wir werden sehen." Dann wurde aus dieser sanften Bewegung plötzlich eine Umarmung. Eine sehr feste. Shin mochte sich täuschen, aber er glaubte, ihre Knochen knacken zu hören. Das beunruhigte ihn.

"Ich hab dich vermisst, Shin."

"Ich dich doch auch. Die ganze Zeit über."

"Du sollst nicht schon wieder weinen."

"Tut mir so leid. Ich kann nicht anders."

Er wollte noch etwas sagen, doch dann riss ein gellender Schrei die beiden aus ihrer Umarmung. Shin war sofort auf den Beinen. "Scheiße, das war Kai!" Er rannte los.

"Warte, ich komme mit!"

"Nein, bleib im Bett, du bist zu schwach dafür!"

Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, bevor er aus dem Zimmer stürmte und sie mit besorgtem Ausdruck im Gesicht stehen ließ.

Das Zimmer war zwei Flure entfernt, trotzdem hatte Kai so laut geschrien, dass man es bis an Chain-Yus Zimmer gehört hatte. Ein Adrenalinstoß fuhr durch Shins Körper, er malte sich das Schlimmste aus.

Dann, endlich, erreichte er die Tür und stieß sie auf, ohne sich um die Folgen Gedanken zu machen. Der Anblick schockierte ihn.

Kai war wach und sein Gesicht voller Verzweiflung. Seine Eltern standen mit leerem Gesichtsausdruck an seinem Bett und sahen wortlos zu, wie drei Krankenschwestern ihn gepackt hielten und seinen zum Bersten angespannten Körper im Zaun hielten, der so verkrampft war, dass vermuten ließ, dass Kai einen erneuten, noch viel heftigeren Anfall hatte. Dann trafen sich ihre Blicke.

Einen kurzen, kaum merklichen Augenblick trat Hoffnung in Kais Gesicht und er streckte die Hand nach Shin aus, dass ihm wie ein verdammter Hilferuf vorkam. Dann wurde Shin wast umgerissen, als irgend ein verdammtes Arschloch von Arzt ins Zimmer gerannt kam und ihn dabei anrempelte. Kai begann erneut zu schreien.

"Du verfickter Hurensohn, nimm deine Gichtkrallen von mir!"

Dann bekam er eine Ohrfeige von seinem Vater, die sich gewaschen hatte. Als Rache spuckte Kai ihn an. Er wehrte sich mit Händen und Füßen, doch die Schwestern waren stärker als er. Eine hielt seinen Arm so gestreckt, dass die Vene hervortrat und der Arzt, dieses abgefuckte Arschloch, rammte ihn eine verdammt große und breite Spritze in die Ader. Fast im selben Moment rollten sich Kais Augen nach innen und er sank, offenbar schlafend, in die Arme der Frauen zurück.

Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden.



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Kommentare zu dieser Fanfic (153)
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Von:  Yeliz
2011-07-19T15:53:14+00:00 19.07.2011 17:53
Endlich hab ich mir Zeit nehmen koennen um das neue Kapitel zu lesen, was fuer mich sehr unerwartet gekommen ist. Ich hab mich aber wahnsinnig drueber gefreut.

Du hast meine Erwartung vollkommen erfuellt, wenn nicht uebertroffen. Das war wirklich atemrauebnd und ich konnte mich garnicht von den Zeilen losreiszen !
Meine Gefuehle sind wieder mal aufgewuehlt. (:
Zum Inhalt noch, also ich bin ja mer als zufrieden, dass die beiden geredet haben und.. ehrlich der Anfang, sowie das Ende hat mich umgehaun.
Shin's Gedankengaenge am Anfang waren wirklich ein schoene Einleitung und haben alles irgendwie zurueckgeholt, was passiert ist.
Das Ende mit Kai war schockierend und es war total schnell gegangen und mein Herz ist auch stehen geblieben. Danach hat sich mein Herzschlag um das Doppelte verschnellert.

Danke'schoen fuer dieses Kapitel.
Liebe Gruesz Traeumerin. (;
Von: abgemeldet
2011-07-02T18:55:19+00:00 02.07.2011 20:55
yeay! es geht weiter!
find ich voll super! *-*
ich fiinds sau cool das es weiter geht und freu mich schon auf weitere kapis!
Von:  FairsSister
2011-06-25T10:45:05+00:00 25.06.2011 12:45
...omg ... das war echt ... alles voll fiel
dennoch wie gesagt ich finds super das du weiterschreibst, deine ff kann man so schnell durchlesen weil du alles so schön beschreibst und man kommt perfekt mit

danke danke !!!
Von: abgemeldet
2011-06-25T04:57:59+00:00 25.06.2011 06:57
neues.kapi.




oh mein gott..kai..
Von:  Hisashi7
2011-06-11T10:35:28+00:00 11.06.2011 12:35
So. Ich hab die ganze FAncis in einem Rutsch durchgelesen, und ich muss echt sagen: es ist einfach toll! Vor allem das letzte Kapitel, Also kai's nervenzusammenbruch...dqas es so weit gekommen ist. Und natürlich alle schönen szenen und momente, die werd eich sicher lange nicht vergessen ^^ Freue mich natürlich wenn es weitergeht !
Ein riesen Kompliment nochmal, du hasts echt drauf!! :D
liebe liebe Grüße ;*
Hisashi
Von: abgemeldet
2011-04-19T08:52:36+00:00 19.04.2011 10:52
got ich brauche ein neues kapi.!!!!
Von: abgemeldet
2011-04-19T08:48:28+00:00 19.04.2011 10:48
ach du meine fresse
Von: abgemeldet
2011-04-19T08:25:16+00:00 19.04.2011 10:25
damn,hab ich nicht erwartet
Von: abgemeldet
2011-04-19T05:58:27+00:00 19.04.2011 07:58
erstens...snuff is eins der besten lieder aller zeiten.zweitens bmth is die beste band aller zeiten.ich war bei allen concerts in san diego und in der naehe zu denen ich gehen konnte und drittens..ENDLICH.!!!yeii~

uhuu ich liebe enter shikari <3
Von:  Yeliz
2011-02-06T23:04:08+00:00 07.02.2011 00:04
deine Geschichte hat grad mit meinen Gefühlen gemacht was sie wollte ^-^'
ich habe die ganzen Kapitel in einem Mal durchgelesen &&'nd bin mal wieder begeister
dein Schreibstil wie immer faszinierend *-*
&&'nd ehrlich gesagt kann ich es kaum erwarten zu erfahren welches Gespräch zwischen den beiden zustande kommt
Gefühlswirrwarr !

ich bin so gespannt auf's nächste Chap. >-<
liebe Grüsze von einer mehr als aufgeregten Träumerin ,)


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