~Kollabieren.
Wie schnell und wie lange ich rannte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich waren es keine fünf Minuten. Die Strecke vom Stand bis zu meiner Haustür war mir nicht mehr im Gedächtnis geblieben. Ich weiß nur noch, wie ich die Tür ausriss, die Treppen hoch hastete, stolperte und mir an den Stufen schmerzhaft beide Knie aufschlug. Chain-Yu, die noch immer nicht bei Bewusstsein war, wäre beinahe von meinem Rücken gerutscht und mit dem Kopf hart auf dem Boden aufgekommen, wäre da nicht Ciello gewesen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
"Was ist los? Ist das etwa Chain-Yu? Was ist passiert?"
"Sie ist es. Ich erklär dir später alles, aber hilf mir jetzt bitte!"
Er sah sie an und seine Augen spiegelten den Schmerz wieder, den er dabei empfiden musste. Jetzt, wo ich alles wusste, konnte ich sein Verhalten viel besser verstehen. Ich konnte so ziemlich alles nachvollziehen was er getan hat und war ihm nicht mal richtig böse deswegen.
"Okay. Ich komme grad von meiner Mutter! Sie ist noch wach, Gott sei Dank!"
Ich sah auf die Uhr und erschrak. Es war bereits nach 22 Uhr. Wie spät es dunkel wurde im Sommer. Kaum wusste ich, dass es so spät war, wurde mein Körper schwer. Meine Augen wollten sich kaum noch offen halten und mein Bedürfnis zu schlafen überwältigte mich fast. Doch dann drängte sich Chain-Yu in mein Bild und ich wusste, dass ich jetzt nicht schlapp machen dürfte.
Ich hiefte mich auf und stand auf sehr wackeligen Beinen. Ciello half mir Chain-Yu vorsichtig abzusetzen, nahm sie dann Huckepack und lief die Treppen hoch. Ich wollte eigentlich hinterher, aber meine Beine spielten nicht mehr mit. Ich klammerte mich am Treppengeländer fest. Die letzten Stufen schaffte ich mit Mühe und Not, dann brach ich im oben Flur zusammen. Der kalte Schweiß lief mir vom Gesicht, ich zitterte am ganzen Körper. Ich spürte, wie sich Wut und Verzweiflung in mir anstauten. Die ganzen Erlebnisse der letzten Wochen waren wohl doch zu viel für mich gewesen. Ich dachte immer, ich wäre stark, aber jeder scheint irgendwo seine Grenze zu haben. Es kotze mich an, dass ich weder die Kraft hatte, Shin beizustehen, noch Chain-Yu helfen zu können.
Ich bemerkte meine Tränen erst, als sie schon dabei waren, auf den Boden zu tropfen und plötzlich hatte ich das Bedürfnis zu schreien. Ich hob meine Faust und begann auf den Boden einzutrommeln um meine Wut irgendwo rauslassen zu können. Jemand packte mich und zerrte mich in die Wohnung von Shin, gab mir eine Ohrfeige und versuchte mich zu beruhigen, doch ich konnte nicht mehr an mich halten. Was war bloß passiert? Wie konnte Shin mein so perfektes Leben nur so auf den Kopf stellen? Seit er da war hatte ich nur noch Sorgen, Stress mit meinen Eltern, kein eigenes Leben mehr. Permanent musste ich für ihn da sein, ohne dass auch nur ein Dankeschön zurückkam. Ich hatte keine Lust mehr auf dieses Leben, das beste wäre, wenn Shin und alle anderen verrecken würden, dann hätte ich endlich wieder meine Ruhe.
Irgendjemand schluchzte. "Kai, was sagst du da bloß?"
Ich war so aufgewühlt, dass ich die Person von mir stieß, ohne sie wirklich zu sehen, sie anschrie.
Hatte ich meine Gedanken etwa lauf ausgesprochen? Auch gut! Sollten sie doch alle wissen, was ich denke! Meine Wut staute sich weiter an, wurde noch größer. Jetzt erst erkannte ich, dass ich die ganze Zeit Shins Mutter anschrie.
"Lass mich, lass mich IN RUHE! VERRECKT DOCH ALLE!"
"Kai, was hast du nur? Ciello, ruf den Krankenwagen!"
Ich hörte, wie Ciello eine Nummer in sein Handy eintippte und dann undeutlich die Adresse murmelte. Wollten die mich etwa in die Klapse stecken? Diese Schweine!
"Ich brauch keinen Krankenwagen, lasst mich verfickt nochmal alle in Ruhe! Kümmert euch um Chain-Yu!" Ich wollte aufstehen, doch sie drückte mich zurück. Ich saß auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gepresst, wollte raus aus dieser scheiß Wohnung, mich aus ihren Griff befreien, aber es ging nicht, meine Beine wurden taub. Meine Atmung war flach, meine Klamotten shweißdurchnässt.
"Kai, beruhige dich. Du hast einen Nervenzusammenbruch. Du kommst gleich hier raus."
Wie sollte ich mich beruhigen? Ich hatte das Gefühl mein ganzes Leben lang durchschreien zu müssen. Alles schien den Bach runter zu gehen. Mein Körper bebte.
Dann öffnete sich links von mir die Tür, die zu Shins Zimmer führte. Er betrat halb verschlafen die Diele, wahrscheinlich aufgescheucht durch den Lärm, den ich machte. Ich hatte gerade beschlossen mich irgendwie zu beruhigen, doch als ich in sein verschlafenes, ahnugsloses Gesicht blickte, brach alles aus mir heraus, was nur ausbrechen konnte.
Ich konnte selbst nicht so schnell gucken, wie ich auf den Beinen stand und ihn gegen die nächstbeste Wand geschubst hatte.
"Du dummes, widerliches ARSCHLOCH!"
Shin war so perplex, dass er im ersten Moment gar nicht wusste, was er sagen sollte.
"Kai, was ist denn-" Ich ließ ihn nicht aussprechen, sondern begann jeden Zentimeter seines Körpers mit meinen Fäusten zu bearbeiten. Ich hätte niemals gedacht, dass eine Situation so ausarten könnte. Ciello und seine Mutter schrien durcheinander und versuchten mich von Shin weg zu zerren, aber in meinem Hass entwickelte ich so eine Kraft, dass es ihnen nicht gelang, wie sehr sie sich auch anstrengten.
"Wie KONNTEST du nur? Wie konntest du ihr so etwas antun? Du hast sie in den Tod getrieben! Und es hat dich einen SCHEIßDRECK interessiert, was das aus ihr gemacht hat!" Mit jedem Wort steigerte ich mich mehr in meine Wut hinein, ich zerkratze ihn die Haut, schlug auf ihn ein und er stand nur da und tat nichts. Warum sagte der Scheißkerl nichts dazu?
"Jeden Tag belastest du uns mehr mit deiner scheiß Drogennehmerei, ich pass auf dich auf, Tag und Nacht und als Dank kommt von dir ein Tritt in die Fresse! Hast du eigentlich mal an dein Umfeld gedacht? Hast du nur ein einziges Mal an deine MUTTER gedacht, oder an CHAIN-YU? Weißt du, was sie getan hat für dich? WEIßT DU DAS? Du hast kein Plan von nichts oder? Du liegst nur im Bett rum und wartest darauf, dass dir dein beschissenes Glück in den Schoß fällt, während sich andere für dich abrackern, für dich nicht mehr essen und daran fast verrecken!"
Seine Nase blutete. Ich sah ihn in die Augen, die in Tränen standen.
"Und weißt du was das Schlimmste daran ist, Shin?" Auch ich war kurz davor, zu weinen. Ich presste mich mit aller Kraft gegen seinen Körper und vergrub das Gesicht in seinen Hals.
"Das Schlimmste daran ist, dass ich einfach nicht aufhören kann, dich zu lieben. Dass deine Mutter immer für dich da ist, obwohl sie weiß, dass sie dir damit nicht wirklich helfen kann. Dass Chain- Yu am Ende ihrer Kräfte ist und trotzdem noch weiterhin alles für dich tun wird." Meine Hände verkrallten sich in seinen Haaren, unsere Lippen berührten sich fast, als ich weitersprach. "Ich habe Chain- Yu gefunden. Sie ist hier und wird gleich mit mir ins Krankenhaus fahren. Ihr geht es überhaupt nicht gut, sie hat mir ihr Herz ausgeschüttet und ist danach zusammen gebrochen. Wochenlang hat sie nichts gegessen, weil sie dich beschützen wollte. Habe endlich den Respakt und sage DANKE! Sonst wirst du eines Tages ganz allein auf der Welt sein!"
Draußen ertönte die Sirene eines Krankenwagens. Ich ließ von Shin ab, der mich mit tränenüberströmten Gesicht ansah. Draußen war auf einmal eine Menge Fußgetrappel zu hören, dann wurde die Wohnungstür aufgerissen. Ich wurde von Shin weggerissen und auf eine Trage gelegt. Neben mir geschah mit Chain- Yu das selbe.
Und als ich aus der Diele getragen wurde, hörte ich noch das laute Wimmern, das aus Shins Richtung kam.