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Des Feuervogels Glut II

Fortsetzung des ersten Teils
von

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Prolog / Spielregeln

<<< Liebe Leser, hier beginnt endlich die Fortsetzung meiner Fanfic "Des Feuervogels Glut".
 

WICHTIG: Das hier ist der zweite Teil. Um alle Zusammenhänge zu verstehen, empfiehlt es sich, zuerst den ersten Teil zu lesen. Auch wenn ich dazu sagen muss, dass die ersten 16 Kapitel vor mehreren Jahren entstanden sind und noch nicht meinem heutigen Schreibstil und -Niveau entsprechen. Seid nicht böse und lest sie trotzdem.
 

An alle Leser, die mir bis jetzt die Treue gehalten haben:

Vielen dank für die ganzen Kommentare. Aktuell sind es ganze 115 Stück!!!

Allerdings bekomme ich in letzter Zeit immer weniger. Und dabei haben so viele User meine FF auf ihre Favoritenliste gesetzt. Ich würde alle Leser, die die Geschichte verfolgen aber keine Kommentare hinterlassen, eben genau darum bitten. Es ist echt frustrierend, wenn man so viele Kapitel verfasst und sich bemüht, regelmäßig etwas Neues hochzuladen...und dann bekommt man nur so wenig Featback.

Bitte nutzt den Neuanfang und schreibt mir Kommentare...
 

Ansonsten viel Spaß mit der Fortsetzung.
 

-pale- >>>
 

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Tokio (Japan), Stadtmitte, Anfang Dezember
 

Wie im Flug war seither ein ganzes Jahr verstrichen.

Es schien ihm, als wäre die Zeit stehen geblieben. Und doch kamen ihm die Erinnerungen daran vor, als seien sie nichts als die Spielereien seines Verstandes. Unwahrheiten. Fiktionen. Träume.
 

War auch das hier nichts anderes als ein Traum?
 

Sein Blick wanderte flüchtig durch den Raum, um die grobe Struktur des Augenblicks zu erfassen. Sein Schlafzimmer lag wie immer in tiefer Dunkelheit. Mittels der Jalousien der Dachfenster hatte er selbst das silberweiße Mondlicht ausgesperrt.

Die seidene Bettwäsche war unordentlich und zerklumpt, bedeckte seinen Körper nur zum kleinen Teil. Unten in den Straßen fuhr ein Auto vorüber. Draußen herrschte die kalte, trockene Winterluft über die Stadt und machte auch vor seiner Wohnung nicht Halt. Doch das störte ihn nicht weiter, zumal er konsequent sträubte, endlich die Heizung anzuschalten.

Seit er wieder die Universität besuchte, zog es ihn mehr denn je zu allem hin, das mit Kälte zutun hatte oder sie beinhaltete. Seine Träume kreisten all zu oft und weiße, neblige Wüsten aus Eis und Schnee. Fern ab aller Zivilisation. Nur von Zeit zu Zeit sah er inmitten der unendlichen Weiten aus winzigen gefrorenen Wasserkristallen einen hohen Berg, um dessen Spitze sich in Ring aus dunklen Wolken gelegt hatte und den Blick verwehrte.

Je häufiger er davon träumte, desto bewusster wurde ihm, dass irgendetwas von dort aus nach ihm rief.

Von hier an wiederholte sich dasselbe Spiel nacht für Nacht.
 

Ohne es zu merken, hatte er sich allmählich auf den Berg zu bewegt. Seine Schneeschuhe trugen ihn ohne große Probleme über die pulvrige Schneedecke, in die er sonst vermutlich bis zur Hüfte eingesunken wäre. Ein dicker, gelber Overall hielt ihn warm, doch schmerze die sterile Winterluft in seinen Lungen.

Er begann zu rennen.

Immer schneller. Er kam erstaunlich gut voran...

Bald war ihm, als würde er über die Eisdecke gleiten. Er flog. Direkt auf den Berg zu. Immer schneller. Er löste sich auf, verschmolz mit der klirrendkalten Luft...

Es rief nach ihm...!
 

Kai schüttelte den Kopf, um sich von den unliebsamen Gedanken zu befreien. Auch wenn er es nicht gerne zugab, beunruhigten sie ihn...machten ihm in gewisser Weise Angst...ihm fiel gerade kein besseres Wort ein, also begnügte er sich ausnahmsweise mit diesem Begriff.
 

Abermals wanderte sein Blick durchs Zimmer.

Alles war, wie er es kannte.

Und doch war es nur für ein Wochenende. Eine einzige Nacht, die er ausnahmsweise zu Hause schlief. Morgen Abend schon musste er zurück zur Universität.

Der quälende Alltag holte ihn zurück in die Monotonie des Lernens zurück. Normalität. Einöde. Es kam ihm vor wie ein Sarg aus bleierner Müdigkeit, der ihn gefangen zu halten schien, sobald er die Bildungsanstalt betrat. Seine Noten waren zufriedenstellend, aber in der Hinsicht waren sie das Einzige. Sonst gab es nichts. Nur die Normalität eben.
 

Er spürte, wie sich die Person an seiner Seite zu ihm drehte und ihre weiche Handfläche über seine Brust gleiten lies.
 

"Hast du geschlafen?“, fragte er in die Dunkelheit hinein, den Blick starr und unverändert zur Zimmerdecke gerichtet.

Sie verneinte und setzte ihre Liebkosungen fort.

Er hatte vergessen, dass sie in seinem Beisein niemals zu schlafen pflegte. Offenbar blieb sie jedes Mal die ganze Nacht lang wach und holte den versäumten Schlaf erst nach, wenn sie ihn in den frühen Morgenstunden verlassen hatte. Fast, als gäbe es nichts Spannenderes, als ihm beim Schlafen zuzusehen.
 

Skeptisch reckte der junge Mann seinen Kopf schräg nach hinten, um einen Blick auf die Anzeige des Digitalweckers auf seinem Nachtschränkchen zu werfen. Es blieb noch genug Zeit bis zur Dämmerung....

Mit einem Schnaufen ließ er sein Haupt zurück in eine entspanntere Haltung sinken.
 

"Es ist viel zu kühl hier drinnen...komm unter die Decke", drang ihr Flüstern an sein Ohr. Sie führte ihre Hände um seine Taille und zerrten seinen Leib in eine feste Umarmung. Ihre schützende Wärme begann ihn einzuhüllen. Zärtlich fuhren ihre Lippen über seine Wange, suchten in der Finsternis nach seinem Mund.

Er wandte sich zur Seite, ließ sich aus der Umarmung gleiten und setzte sich auf.

Irritiert ließ wie von ihm ab.

Kai schenkte ihr keine Beachtung, schob seine Beine über die Bettkante und verharrte auf der selbigen sitzend.

Einen Moment lang schwiegen beide.
 

Draußen begann es zu schneien.
 

"Was ist los?", flüsterte die Schönheit, kroch an seinen Rücken, legte ihre Handflächen auf seine Schultern und ihre Wange auf seinen Nacken.
 

"Nichts", entgegnete er, "Es ist alles in Ordnung. Ich bin wohl nur etwas überarbeitet."
 

"Dann komm wieder ins Bett und ruh' dich aus oder lass uns -"
 

"Nein...hab heute Abend keine Lust."
 

Mit einem dezent erbosten Unterton in der Stimme lies sie von ihm ab.

"Was ist nur mit dir los? Du redest nicht mehr mit mir, du isst nicht, schläfst nicht und lässt dich weder körperlich noch seelisch auf mich ein...Ich erkenne dich kaum wieder."
 

"Quatsch", protestierte der junge Mann, "Ich war noch nie besonders von körperlicher Nähe begeistert. Und den Rest bildest du dir nur ein..."
 

"Hör auf, mir zu sagen, ich bilde mir das alles nur ein..."
 

"Jetzt übertreib nicht. Ich bin nun mal so, wie ich bin. Akzeptier das oder lass es. Ich kann mich nicht ändern."
 

"Du bist nur zu faul, um Kompromisse einzugehen", fauchte sie ihn an und stieß ihn fast von der Matratze, „wenn dir nicht mehr an unserer Beziehung liegt, dann liegt mir ab sofort auch nichts mehr an dir.“

Mit diesen Worten kletterte sie aus dem Bett, tapste zielsicher durch den Raum und schaltete das Licht an.
 

"Mmmh...! Muss das sein?!", meckerte Kai, ließ sich rückwärts auf das Laken fallen und verbarg sein Gesicht unter einem Kissen. "Jetzt komm mal wieder runter...und mach das verdammte Licht aus. Das ist doch viel zu hell..."
 

Als Antwort warf sie ihm seine Hose auf den Bauch, über die sie kurz zuvor beinahe gestolpert wäre.
 

"Spinnst du?!", fuhr er sie an, sprang auf und schleuderte sein Kissen quer durch den Raum, sodass es sie nur knapp verfehlte und an den Kleiderschrank knallte. Unbeeindruckt stand sie da, schaute ihn an.

"Du brauchst dich nicht zu wundern, wenn du überall dein Zeug herumliegen lässt und mich provozierst."
 

"Wenns dich stört dann räum doch auf!"
 

"Es ist deine Wohnung! Bin ich dir so wenig wert, dass du auf gar nichts mehr achtest?"

In ihrem Blick lag eine Mischung aus Wut, Trauer und Enttäuschung über Kais schlechtes Benehmen. Je länger er sie musterte, desto mehr überkam ihn die Reue.
 

Noch ehe er reagieren konnte, hatte sie sich ein paar Kleidungsstücke übergestreift und sich der Türe zugewandt.

"Warte....", wollte er ihr noch hinterher rufen, doch sie hatte das Schlafzimmer bereits verlassen und knallte die Tür zu. Der Siebzehnjährige folgte ihr hinaus auf den Flur, sah, wie sie auf halbem Weg durchs Wohnzimmer ihre restlichen Kleider und Schuhe anzog und auf den Balkon hinaus trat.
 

"Jetzt warte doch...es tut mir ja leid, aber..."
 

"Sei still. Du kannst ja sehen, wo du ohne mich bleibst. Deine kleinen bunten Pillen werden mich nicht ersetzen können!"

Ehe er sie hätte aufhalten können, war sie über das Geländer auf das Dach des Nachbarhauses gesprungen. Wenig später verschluckte sie die Dunkelheit.
 

"Kann sie nicht wenigstens das Treppenhaus benutzen, so wie ein normaler Mensch?", fragte sich der junge Mann und schloss die Glastüre.

Hatte er sich im vergangenen Jahr wirklich so sehr verändert? Oder spinnte sie einfach nur? Apropos "Sie": Sie hatte ihm noch immer nicht gesagt, wie sie hieß oder wo sie wohnte, pflegte es, immer mal wieder ein paar Wochen am Stück spurlos zu verschwinden...

Auf dieser Basis konnte ihre Beziehung ja nur scheitern.
 

Mit einem müden Lächeln schritt der Siebzehnjährige zurück durchs Wohnzimmer in den Flur.
 

Auf eine merkwürdig verdrehte Art und Weise...fehlte sie ihm. Die Nähe, die sie einst verbunden hatte. Die schützende Geborgenheit...Sie waren wie zwei Körper, die sich dieselbe Seele teilten. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr sie sich von einander entfernt hatten. Ob ihm deshalb das Jahr so kurz vorgekommen war?
 

Er war wirklich gänzlich unfähig, eine halbwegs gesunde Beziehung auf die Beine zu stellen...
 

Als er das Schlafzimmer erreichte, ließ er sich frustriert aufs Bett fallen. Die Stelle, an der sie gelegen hatte, war noch warm und duftete nach ihr.

Das Übel nimmt kein Ende

Tokio (Japan), Stadtmitte, Anfang Dezember
 

"[[Sie haben - eine - neue Nachricht. Nachricht - eins - am - 17. - Dezember - um - 10 - Uhr - und - 23 - Minuten:"]]
 

"Kai? Hier ist Mr. Dickenson. Wenn du Zuhause bist, dann bitte geh ans Telefon...es ist wirklich wichtig....

Kai? Also gut...wenn du diese Nachricht abhörst, begib dich bitte umgehend zum Firmenhauptsitz der BBA….

Beeil dich bitte!"
 

"[[Ende der Nachricht - eins. Keine – weiteren Nachrichten.]]"
 

Damit hörte das rote Lämpchen am Telefon auf zu blinken.

Kai legte den Hörer auf und trug die fast leere Einkaufstüte in die Küche. Er war gerade einmal eine halbe Stunde weg gewesen und ausgerechnet dann musste Mr. Dickenson ihn anrufen.

"Hoffenltich ist das wirklich so wichtig, wie er sagt...das Wochenende ist eh schon im Arsch", murmelte er vor sich hin und verließ postwendend die Wohnung.
 

Über Nacht hatte es geschneit. Zu beiden Seiten der Straße türmten sich schmutzig-graue Schneewalzen, die allmählich vor sich hin schmolzen. Überall liefen die Menschen durch die Gegend, eingehüllt in dicke Wintertracht und mit hochgezogenen Schultern. Der nächtliche Wolkenbruch aus Eiskristallen schien sie überrascht zu haben, obwohl die vergangenen Dezembertage mit die kältesten der vergangenen Jahrzehnte waren.
 

Kai genoss das raue Wetter, während er sich durch die frierenden Menschenmassen den Weg zum gewaltigen BBA-Hauptgebäude bahnte. Er hätte auch eines der öffentlichen Verkehrsmittel nehmen können, doch dort hatten die Fahrer üblicherweise die Heizung bis zum Anschlag hochgedreht, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte.
 

Als sich die automatische Glastür vor ihm öffnete, wehte ihm schon wieder eine der überhitzten Luftwolken entgegen und ließ ihn ernsthaft daran zweifeln, seinen Weg ins Innere des Gebäudes fortzusetzen.

Sein mühsam anerzogenes Pflichtbewusstsein zwang ihn dennoch hinein.
 

Am Schalter ließ man ihn sofort weiter und führte ihn persönlich zu den Privataufzügen der höheren Angestellten. So viel Aufmerksamkeit verunsicherte den jungen Mann dann doch. Irgendetwas stimmte hier nicht...Oder sein Erscheinen war wirklich wichtig.
 

Misstrauisch verfolgte er die Zahlen, die das aktuelle Stockwerk anzeigten. Es ging hoch hinaus...Wie hoch, konnte er nicht einschätzen. Ein Mann vom Schalter, der ihn bis zum Lift begleitet hatte, hatte für ihn die Etage ausgewählt.

Oben angekommen öffneten sich die Türen und gaben den Blick auf einen spiegelblanken Fußboden aus Marmorfliesen frei. Am Ende des Flurs prangten die reichlich verzierten Flügel einer massiven Holztür. Dahinter lag Dickensons Büro.
 

Als der Siebzehnjährige gerade einen Schritt aus der Fahrstuhlkabine machen wollte, hörte er aus dem anliegenden Treppenhaus lautes Gelächter und polternde Schritte. Gebannt blickte er auf die Tür. Der oder die Verursacher des Höllenlärms bewegten sich auf ihn zu...
 

Und schon wurde der Durchgang mit einem gewaltigen Ruck aufgerissen. Zwei junge Männer stolperten hindurch und schlitterten durch den Flur. Einer von ihnen, der hatte dichtes, dunkelrotes Haar und war an die zwei Meter groß, verlor das Gleichgewicht und schlug der Länge nach hin. Der Andere, westlicher Abstammung, zerrte ihn mühsam hinter sich her.

"Beeilung! Wir schaffen es noch!"

"Oh nein, da ist er schon. Schnell, steh auf, sonst überholt er uns doch noch!"
 

Beschämt sah Kai den beiden nach. Es waren Alex und Brian, die soeben prustend vor Lachen ihr Wettrennen gegen den Halbrussen gewannen, in das jener wohl noch nicht eingeweiht war...

Wenn der Anlass für sein Erscheinen hier nichts als ein Streich der beiden gewesen war, in den sie Mr. Dickenson kurzerhand mit einbezogen hatten, war dies das letzte Mal, dass er einer solchen Einladung gefolgt war. Frustriert setzte seinen Weg fort und versuchte bemüht, möglichst verärgert auszusehen.
 

Energisch stieß er die beiden Torflügel auf und trat ins Innere des geräumigen und edel eingerichteten Zimmers. Den Boden zierten große Teppiche und an einer Wand befand sich ein antik wirkender Kamin. Hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß Dickenson, der ihn bereits erwartete.

Schnaufend hatten die beiden jungen Männer auf dem für sie bereitgestellten Sofa Platz genommen und grinsten um die Wette.

"Wir haben dich doch noch besiegt...", hustete Brian albern und knuffte den ebenfalls nach Luft ringenden Amerikaner in die Seite.
 

Applaudierend musterte nun Mina die beiden mit den Worten "Ihr hättet auch einfach den Fahrstuhl nehmen können."

Kai hatte gar nicht bemerkt, dass sie auch auf dem Sofa saß.

"Ja, aber das wär’ doch langweilig gewesen..." schmunzelte Alex und lächelte sie zufrieden an. Den beiden ging es offensichtlich richtig gut, seit sie zusammen Wohnten. Eigentlich hatte Kai darauf spekuliert, dass Brian durch Alex' Anwesenheit ein wenig ruhiger werden würde, doch das genaue Gegenteil war passiert. Statt einem hyperaktiven Suppenkasper saßen da jetzt zwei. Der Philippine schien sogar sein einst übertrieben großes Interesse an Mina verloren zu haben.

"Sie sind fast wie ein schwules Pärchen", kommentierte er ihre Erscheinung in Gedanken.
 

Erst jetzt bemerkte er, dass sich außer den beiden auch die junge Frau verändert hatte. Ob Brians Mangel an Interesse damit zusammenhing?

Die Transsylvanierin sah aus, als hätte sie in letzter Zeit nicht sonderlich viel geschlafen. Tiefe Ringe und eingefallene Wangen zierten ihr Gesicht. Und auch sonst wirkte sie nicht sonderlich gesund. Ihren entkräfteten, austrainierten Körper versuchte sie eher erfolglos mit weiter, dicker Kleidung zu tarnen. Trotz des gut geheizten Raumes schien sie zu frieren.

Sie bemerkte Kais neugierige Blicke und wies ihn mit einem harten, kalten Augenwink ab.
 

"Gut, gut...nun seid ihr vollzählig...", schaltete sich nun auch Dickenson ein, "Das ging schneller als ich erwartet hätte."
 

"Wir können gerne wieder geh’n und später wiederkommen", feixte Alex und wurde von Brian mit applaudierendem Gelächter belohnt.
 

"Nein. Das ist schon gut so", setzte der Firmenchef seinen Monolog fort, "Was ich euch jetzt mitteile, müsst ihr streng vertraulich behandeln. Es geht um das Leben der Granger-Brüder."
 

"Jetzt nehmt das ganze doch etwas ernster, ihr zwei!" fuhr Mina die jungen Männer an, die nichts Besseres zutun hatten, als sich gegenseitig zu ärgern und zu kichern. Als Dank erntete sie nur spöttische Blicke, doch der gewünschte Effekt stellte sich schließlich doch noch ein.
 

Dickenson ergriff eine Fernbedienung und wies damit auf die ihm gegenüberliegende Wand. Aus einer Vertiefung fuhr ein Plasma-Bildschirm hervor, über den kurz darauf das Firmenlogo sauste.
 

"Dieses Video hat die BBA vor knapp einer Woche erhalten. Es ist auf seine Echtheit geprüft.", kommentierte er sein Handeln. Dann betätigte er einen Knopf auf der Fernbedienung, woraufhin das Testbild verschwand.

Was nun zu sehen war, erschreckte seine vier Gäste. Selbst Alex und Brian schienen den Atem anzuhalten.

Das Band zeigte die verängstigten, geschundenen Gesichter von Tyson und Hiro Granger, die auf dem Boden knieten. Hinter ihnen standen mehrere vermummte Männer. Sie trugen Kalaschnikows mit sich.

Die Kamera schwenkte ein Stück zur Seite und zeigte die Koordinaten eines bestimmten Ortes, die man mit großer Schrift auf eine Tafel geschmiert hatte.

Das Bild erlosch.
 

Wie versteinert hielten die vier Gäste inne. Niemand sagte etwas. Der Schrecken steckte ihnen noch in den Gliedern, und selbst Mr. Dickenson, der das Video nicht zum ersten Mal sah, schien sichtlich ergriffen zu sein.
 

Kai war hinüber zum Kamin gegangen und war dabei, ein komplettes Glas von dem vermutlich alkoholhaltigen Getränk, das sich in der Karaffe auf dem Sims befand, in einem einzigen Zug zu leeren. Er schluckte den letzten Rest, nahm einen tiefen Atemzug und fragte mit ruhiger Stimme, den Blick zum Boden gerichtet:

"Das Video ist keine Fälschung?"
 

Dickenson verneinte.
 

"Wer ist der Entführer? Was fordert er? Und was geht uns die Sache an?"
 

"Wir haben nichts. Keine Forderung. Keinen Namen. Nur die Koordinaten - "
 

"WAS...geht uns die Sache an?" fiel Kai ihm ins Wort und schien erheblich gereizt.
 

"In der vergangenen Woche haben wir mehrere Einheiten unserer Elitesoldaten dort hin geschickt. Doch nur Minuten nach der Landung ihrer Helikopter...ist der Kontakt auf unerklärliche Weise abgerissen. Bei einigen noch vorher. Wir rechnen mit dem Schlimmsten.

Vor zwei Tagen haben wir einen Brief der Entführer, der noch auf seine Echtheit geprüft wird. Allerdings gehen wir davon aus, dass er keine Fälschung ist. Außer mir und der Regierung weiß niemand von der Entführung, womit ein Amateurbrief eigentlich auszuschließen ist.

Jedenfalls...ist darin gefordert, dass wir...euch...dort hin schicken. Keine Einsatzkommandos, kein Militär. Nur euch vier."

Er stand auf und schritt hinüber zum Kamin, wo sich Kai sich bereits das zweite oder dritte Glas genehmigte. Entschieden packte er den Jungen am Handgelenk, entnahm ihm das Getränk und stellte es energisch zurück auf den Sims.
 

Aufgebracht riss der Halbrusse sich los und nahm mit reichlich Distanz zu den anderen auf dem Sofa platz.
 

"Welcher Entführer kommt auf die Idee, die Granger-Brüder zu kidnappen und anschließend zu fordern, dass nur die Phoenix zu einem Ort kommt, der nur durch Koordinaten festgelegt ist?", fragte Mina präzise nach.
 

"Sei still.", fuhr Kai ihr ins Wort, "die Phoenix gibt es nicht mehr."
 

Für diesen Hinweis erntete der Siebzehnjährige einen giftigen Blick ihrerseits, bevor sie erneut das Gespräch mit Mr. Dickenson suchte.

"Nicht, dass ich selbst ein Problem damit hätte. Mir geht es nur um die Sicherheit der anderen. Aber es ist unverantwortlich, diese drei jungen Männer und mich alleine zu einem Wahnsinnigen zu schicken, dessen Absichten wir weder kennen noch einschätzen können -"
 

"Nur damit das klar ist, ich werde mich mit Sicherheit nicht auf solche hirnrissigen Ideen einlassen", unterbrach sie Kai erneut, "aber Alex, Brian und ich sind alt genug, um das selbst zu entscheiden. Du bist nicht unsere Ziehmutter."
 

"Und du bist noch nicht mal volljährig, sondern eigentlich sogar der Jüngste unter uns."
 

"Hört auf, euch zu streiten. Natürlich ist es unverantwortlich von uns, es überhaupt in Erwägung zu ziehen, euch nach Sibirien zu schicken. Ich selbst bin strikt dagegen, aber die Regierung hat verfügt, euch dieses Band zu zeigen und euch persönlich vor die Wahl zu stellen...

Und...sie machen jedem von euch, der an der Rettungsaktion Teil nimmt, ein Angebot..."

Er verstummte und blickte beschämt in die Glut des Kamins.

"Jeder von euch, der mitmacht, egal ob die Aktion erfolgreich ist oder nicht, bekommt 30 Millionen Yen als Belohnung."
 

"Also ich bin dabei!", willigte Brian direkt ein und erhob sich stolz vom Kanapee.

"Wenn du mitmachst, bin ich auch dabei.", folgte nun Alex seinem Beispiel.

Mina hingegen schien noch einen Moment zu überlegen.
 

"....wie pervers...", murmelte Kai.

"Für 30 Millionen sein Leben zu riskieren...Wir wissen noch nicht mal, auf was genau wir uns einlassen. Sibirien, sagten sie? Sibirien ist groß, kaum besiedelt und lebensfeindlich. Ein Brief der Entführer, der uns dort hin bestellt? Aber man kann uns natürlich keine Kopie davon zeigen, nicht wahr? Ich halte das ganze für nichts Anderes als einen Schwindel. Mehr nicht."
 

"Ich mache auch mit.", fiel ihm Mina ins Wort, ehe sich Dickenson oder ein anderer äußern konnte.
 

Fassungslos sah sie der Halbrusse an. Dass sie in ihrer schlechten Verfassung bereit war, sich auf so ein gefährliches Unterfangen einzulassen? Nun gut, sie musste entweder lebensmüde oder völlig verblödet sein, mal ganz abgesehen von ihrer hoffnungslosen Geldgeilheit.

Boshaft schlug er mit der Faust auf die Lehne des Sitzmöbels, sprang auf und schrie: "Ihr seid doch alle nicht mehr ganz dicht! Ihr könnt gerne nach Sibirien und für 30 Millionen euer Leben für diese Verarsche aufs Spiel setzen! Aber ich nicht!"
 

Verblüfft über seinen Wutausbruch, und ebenso verunsichert, schauten ihn die anderen an. Wortlos, ohne irgendeine Reaktion.
 

"Ich hab es nicht nötig...", murmelte er und stapfte auf die massive Holztüre zu. Unterwegs nahm er seinen Mantel von der Garderobe, die er in seiner Hektik beinahe umgeworfen hätte. Dann verließ er den Raum.

Was als normales Wochenende begonnen hatte, war nun endgültig zu einer einzigen Katastrophe geworden.
 

Regungslos saßen Alex, Brian und Mina da, schauten ihm nach.
 

"Mein Wort steht.", durchbrach die Stimme der jungen Frau das Schweigen.
 

"Mein Kind, weißt du, auf was du dich da einlässt?!", entgegnete Dickenson verwundert.
 

"Besser, als sie denken. Wann brechen wir auf?"

Scherbenhaufen

Tokio (Japan), Stadtmitte, Anfang Dezember
 

"Das darf doch alles nicht wahr sein..."
 

Wutentbrannt schmiss Kai die Tür hinter sich zu.
 

"Was ist denn mit dir los? Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?", hallte die Stimme der jungen Frau aus dem Wohnzimmer.
 

"Ich nicht, aber die anderen!", brüllte der Siebzehnjährige zurück. "Die spinnen doch! ...und was machst du eigentlich schon wieder hier?!"
 

"Ob du’s glaubst oder nicht, ich wollte dich noch ein letztes Mal sehen."
 

Ihre Aussage fachte seine Wut nur noch mehr an.

"Was soll denn jetzt der Mist?!", brüllte er.
 

"Siehst du? Du nimmst mich noch nicht mal ernst!", keifte sie und stürmte geradewegs an ihm vorbei ins Schlafzimmer.
 

"Was gibt das denn, wenn das fertig ist? Willst du mich etwa verlassen?!"

Belustigt blickte ihr der Halbrusse hinterher.
 

"Wonach sieht’s denn aus?! Ach ja, wahrscheinlich versperrt dir dein Ego mal wieder die Sicht!"
 

"Hey! Man hat mir heute 30 Millionen Yen geboten, wenn ich nach Sibirien gehe -"
 

"Ich weiß...Vollidiot. Du hast dich dagegen entschieden."
 

"Was denn? Bin ich dir noch nicht reich genug? Hey...ich hab mich für DICH entschieden!"
 

"Ja klar! Verarsch dich selber! Und hör verdammt noch mal auf, deine Feigheit hinter so einem billigen Vorwand zu verstecken!"
 

Feigheit...? Billiger Vorwand...?

Ohne es zu merken, hatte er ihr gerade ehrliche, ernst gemeinte Gefühle offenbart...doch sie glaubte ihm nicht. Es war das erste Mal, dass er sie so außer sich erlebte. Sonst war sie immer sein Ruhepol gewesen, hatte ihn besänftigt wenn ihn gerade wieder irgendetwas zur Weißglut trieb. Doch jetzt überschlugen sich die Ereignisse. Seine Welt geriet aus den Fugen.
 

Verwirrt betrachtete er ihren zierlichen Leib, der sich über die Schublade seines Nachttischs gebeugt hatte. Offenbar musste etwas darin ihr gehören. Sie nahm es an sich, hielt jedoch inne. Dann holte sie noch etwas anderes hervor, drehte sich um und sah Kai vorwurfsvoll an.

„Willst du mich verarschen?“, sagte sie in unpassend ruhigem Ton, lediglich begleitet von einem drohenden Unterton in ihrer Stimme.

In ihrer Hand hielt sie ein kleines Plastikgefäß, das fragwürdige Medikationen beinhaltete.
 

Wortlos wie ebenso beschämt ließ Kai seinen Blick zu Boden sinken. Wieder stieg die Wut in ihm auf. Angefacht von dem Scham, den die Konfrontation mit seinen „Schwächen“ in ihm auslöste.
 

„Wie lange schon?“, harkte sie weiter nach, „Du weißt, dass du das nicht nötig hast…und ich hab es genauso wenig nötig, dir dabei zuzusehen, wie du dich selbst damit zu Grunde richtest.“

Langsam schritt sie auf den jungen Mann zu, während sie weiter sprach.

„Ich hätte dir alles gegeben, was du dir von diesem Zeug versprichst. Du hättest es nur anzunehmen brauchen.“
 

Er schwieg weiter. Irgendetwas hinderte ihn am Sprechen. Und abgesehen davon fürchtete er, er würde sie nur noch mehr verärgern, ganz gleich, was er sagte.
 

„Du hattest die Chance auf etwas Besseres. Aber du hast dich für unser beider Unglück entschieden.“
 

Sie ging an ihm vorbei und verließ das Schlafzimmer. Ausnahmsweise steuerte sie nun keines der Fenster oder die Balkontüre an, sondern durchquerte gesittet das Foyer.

Als sie die Wohnungspforte hinter sich ins Schloss zog, überströmte den jungen Halbrussen ein beklemmendes Gefühl. Ein dicker Kloß blockierte seinen Hals und hinderte ihn am Atmen. Ihm wurde übel. Doch kurz darauf packte es ihn. Er stürmte ihr hinterher, riss die Tür auf und brüllte:

„Ich weiß, dass du mich hören kannst! Ich geh’ nach Sibirien und rette die Granger-Brüder noch vor den anderen. Ganz Japan wird mich als Helden feiern!!!“

Eine Antwort erhielt er nicht.

Seine Worte verklangen. Das Licht flackerte auf. Aus einigen Wohnungen hörte man erboste Mieter, die sich über den nächtlichen Lärm beschwerten.

Erst jetzt bemerkte er, dass die im Treppenhaus installierte Beleuchtung nur durch ihn ausgelöst worden war.

Hatten die Bewegungsmelder nicht reagieren müssen, als Schatten kurz zuvor gegangen war…?

Oder hatte es sie nie gegeben? War sie nichts als eine Spielerei seines von Drogen durchschwemmten, zermaterten Verstandes gewesen? War er inzwischen verrückt geworden?

Er fragte sich, an was er noch nicht zu zweifeln begonnen hatte. Sein Leben stürzte zusammen wie ein Kartenhaus. Alles, was ihm einst Sicherheit gegeben hatte, war fort…oder hatte möglicherweise nie existiert.

Woran sollte er jetzt noch glauben?
 

„….ich geh’ nach Sibirien und dann liebst du mich wieder…!
 


 

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„Ich sehe in den Spiegel und blicke in das Gesicht eines völlig zerstörten, ehemals menschlichen Wesens. Das bin ich nicht. Doch ich weiß nicht, wer ich selbst bin. Ich renne ohne Persönlichkeit und ohne das Wissen um eine eigene Identität durch die Welt, blind und ohne Ziel, auf der flucht vor etwas, das ich als meinen eigenen Verstand definieren würde

Das ist kein leben mehr. Doch das Tor zur normalen Welt ist schon lange zu.“
 


 

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Abseits der Stadt Tokio (Japan), Anfang Dezember
 

In der kalten Winterluft bildete ihr Atem kleine Kondenswölkchen. Das Einzige, das sie erstmals seit Monaten daran erinnerte, dass sie noch nicht tot war.

Zu vieles ließ sie inzwischen daran zweifeln. Insbesondere in letzter Zeit…

Die Strapazen des vergangenen Jahres hatten an ihren Reserven gezehrt. Blaue Flecke zierten ihre knochig gewordenen Arme. Fast täglich spritzte man ihr irgendwelche Substanzen oder entnahm ihr Blut- und Gewebeproben.

Eine quälende Prozedur. Doch sie hatte sich gelohnt. Auch wenn sie nun hoch verschuldet war.
 

Sie erreichte das rostige, gut versteckte Tor des Castels. Seit einem ganzen Jahr war sie nicht mehr hier gewesen. Ob Kai es inzwischen besucht hatte? Oder hatte er es wieder verkauft oder vermietet? Würde sie es überhaupt betreten können?

Sie fürchtete, dass der Besitz den Eigentümer gewechselt hatte oder inzwischen so weit verfallen war, sodass sich das Sicherheitsschloss nicht öffnen lassen würde.
 

Es überraschte sie, dass es sie ausgerechnet jetzt zu diesem Ort zog. Doch auf sonderbare Weise wollte sie noch ein letztes Mal die vertrauten Räumlichkeiten besuchen, die einst so etwas wie ihr zweites Zuhause dargestellt hatten.
 

Langsam glitten ihre geschundenen Hände über die raue Oberfläche der Stahltüre. Sie betastete den versteckten Mechanismus, löste ihn vorsichtig aus. Ein Bildschirm fuhr aus der Wand und flimmerte grün auf. Offenbar war die Anlage noch intakt.

Zögernd streckte sie die Hand danach aus.

Sie hielt inne.

Was wäre wohl, wenn sie der Scann nicht mehr erfassen würde?

Zu viel hatte sich im letzten Jahr verändert. Dass sie und ihre damals so treuen Freunde gealtert waren, war nur die geringste Veränderung.

Die Geldnöte plagten sie. In der Schmiede hatte sie den Großteil ihrer Habseligkeiten zur Aufbewahrung hinterlegt. Tags über lief sie oft ziellos durch die Straßen oder hielt sich, sofern sie einen der unzählbar gewordenen Termin hatte, in den Versuchsräumen des Labors auf.
 

Sie war auf das Geld angewiesen, das man ihr für die bevorstehende Mission versprochen hatte. Auch wenn ihr Körper in alles anderem als einer guten Verfassung war. Möglicherweise würde es aus der Eiswüste keinen Rückweg für sie geben. Doch sie war bereit, dieses Risiko einzugehen, wenn ihre Bemühungen nun wenigstens das Leben ihres Schützlings retten würden.

Das ganze vergangene Jahr hatte sie ihren Körper bereitwillig dafür geopfert. Und schon lange davor hatte sie ihr eigenes Leben aufgegeben.

Wieder richtete sich ihre Zukunft auf das Wohlergehen von ihm aus. Wieder blieb ihr keine Wahl.
 

Vorsichtig legte sich ihre Handfläche über den flackernden Monitor. Eine Lichtschranke fuhr unter ihr durch und erfasste sie.

Stille. Nichts.

Sie hielt den Atem an.

Sekunden verstrichen, kamen ihr vor wie ganze Dekaden.

Endlich setzte sich die Mechanik im Inneren des Tores in Gang. Dann öffnete sich das gewaltige Schloss. Ächzend sprang die Tür auf.
 


 

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„VERDAMMT!“
 

Voller Wut schleuderte Kai die leere Wodkaflasche gegen den großen Spiegel im Kraftraum. Das Gefäß zersprang klirrend und tränkte den Teppichboden mit den Resten der Flüssigkeit.

Über die silbrige Fläche zog sich ein schmaler Riss.

Ein so ernüchterndes Resultat fachte seinen Zorn nur noch mehr an. Entschlossen griffen seine Hände nach einer herumliegenden Hantel und warfen sie der Flasche hinterher.

Diesmal hielt der Spiegel nicht stand und zerbarst in tausende kleiner Splitter.

Mit einem gezielten Tritt stieß er ein Regal um, das er nachträglich noch mehrmals mit dem Fuß bearbeitete, bis die Rückwand krachend nachgab.

Dann rannte er blind vor Wut direkt auf den zweiten, noch intakten Spiegel zu und schlug mit der blanken Faust dagegen.

Die blutigen Scherben säumten seine Füße.

Einen Moment lang kam er zur Ruhe. War es der Anblick des flüssigen Rots auf seiner Haut, das ihn erschaudern ließ?

Seine Erinnerungen versuchten zurückzukommen. Es gab nichts mehr, das sie hätte fern halten können. Der Schutz, der ihn die ganze Zeit über umgeben zu haben schien, war fort.
 

Die schlecht verheilten Narben auf seinem Körper begannen zu brennen. Vor seinem inneren Auge blitzen die Bilder der Vergangenheit auf. Sibiriens schneebedeckte Weiten. Die brennenden Trümmer. Schrapnelle, die sich in seinen Rumpf gebohrt hatten wie riesige Zähne.
 

Wieder schlug er zu. Wieder regnete es Glasscherben.
 

Jemand packte ihn, hielt ihn gewaltsam fest. Erbost setzte er sich zur Wehr, doch es gelang ihm nicht, sich los zu reißen. Taumelnd kämpfte er sich weg vom Scherbenhaufen, doch die Person in seinem Rücken war zu stark, als dass er sich hätte befreien können.
 

„Schhhh….“, hauchte ihm die Stimme ins Ohr. Ihre kalte Stimme jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
 

„Lass mich los!“, schrie er panisch und versuchte um sich zu schlagen. Man hielt seine Arme fest, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und drückte ihn zu Boden.

Er gab auf. Seine blutende Hand schmerzte. Sein Körper erlag der Erschöpfung und der Wirkung des Alkohols.
 

„Beruhig dich.“, flüsterte die Stimme.

Sie gehörte zu Mina. „Ich helf dir jetzt hoch. Achtung.“

Mit einem beherzten Ruck richtete sie sich und den Halbrussen auf und zerrte ihn mit sanfter Gewalt in den Duschraum. Dort angekommen ließ sie ihn auf den gekachelten Boden sinken, lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Wand und drehte die sich über ihm befindende Brause auf. Ein Gluckern ding durch die alten Rohre, doch Sekunden später ergoss sich ein harter Schwall eisigen Wassers über ihn.

Unbeeindruckt von der Kälte schaute die junge Frau hinunter zu ihm. Die Berührung des Nasses schien sie in keinster Weise zu beeinträchtigen. Er selbst musste feststellen, dass er erstmals seit einem Jahr richtig fror.

„Du bist betrunken.“

Devot ließ Kai den Blick herabsinken. Die kalte Dusche hemmte die Wirkung des Alkohols allmählich. Es war frustrierend, wie ausgesprochen wenig trinkfest er war, und das als Halbrusse. Er schämte sich.

Die Achtzehnjährige ließ sich zu ihm auf den Boden sinken und ergriff seine stark blutende Hand.

„Halt still…“, hauchte sie emotionslos.

Erst jetzt bemerkte Kai, dass eine Scherbe darin steckte. Noch ehe er ihr Vorhaben richtig einordnen konnte, hatte sie sie bereits herausgezogen und durch die offen stehende Tür nach draußen befördert. Vorsichtig untersuchte sie die Wunde auf weitere Fremdkörper.

Eine größere Menge Blut verschwand im Ausguss.

Kai verzog das Gesicht. Sein Kopf sank zurück, bis der an den Fliesen der Wand lehnte. Harte Wassertropfen prasselten auf seine Stirn.

Er verspürte einen Druck auf der Wunde und sah nach. Mina band ein Taschentuch darum, um die Blutung zu stillen.

Obwohl sie dabei nicht sonderlich zärtlich war, begann er ihre Berührungen irgendwie zu genießen.

Er begann zu zittern. War sich nicht sicher, ob es nur wegen der Kälte des Wassers war.

Ernst und Wortlos kniete sie über seinem Schoß, hielt in der einen Hand noch immer seinen verletzten Arm und legte die andere auf seine knochige Schulter. Ihr Haar war durchnässt und hin in langen Strähnen über ihre Schultern. Schwarze Tränen liefen über ihre Wangen, obgleich sie nur aus Schminke bestanden, die dem klaren Fluss nicht länger widerstand.

Ihr schlichter Pullover und ihre übrigen Kleider hatten sich längst mit Wasser voll gesogen.

Über Kais Wangen legte sich ein leichter Schleier aus Purpurrot.
 

Fragend legte sie den Kopf zur Seite.

Ihre sonst so leblosen Augen enthielten plötzlich einen warmen Glanz, der die Kälte aus seinem Leib vertrieb. Ihre hohen Wangenknochen und blassen Lippen glänzten nass.
 

Und auf eine merkwürdige Art und Weise musste er sich eingestehen….dass er sie in diesem Augenblick….wunderschön fand.

Kaltes Wasser

Abseits der Stadt Tokio (Japan), Anfang Dezember
 

Der ihn in diesem Moment überkommende Impuls purer Lust ließ ihn den Schmerz in seinem Arm völlig vergessen. Klatschend schlug seine Handfläche gegen die gekachelte Wand, die seinen Rücken stützte, und suchte dort nach Halt.

Ein erlösender Schrei schallte durch das Labyrinth von Gängen.

Sein Echo verklang. Stille folgte.
 

Hart prasselten die massiven Wassertropfen auf Haupt und Schultern. Allmählich wich die glühende Hitze aus seinem Leib. Er konnte die Kälte wieder spüren.

Keuchend rang der Siebzehnjährige nach Luft.

Nur langsam begann er die Situation zu begreifen.
 

Seine Fingerkuppen lösten sich von der glitschigen Wand und legten sich eher instinktiv als gewollt auf den unteren Rücken der Frau, die auf seinem Schoß kauerte. Der weite Pullover, der als einziges Kleidungsstück ihre Blöße bedeckte, hatte sich hoffnungslos mit Wasser voll gesogen und klebte auf ihrer Haut.

Die Achtzehnjährige neigte ihr Kinn nach unten. Nasse, fast schwarze Haarstränen verbargen ihr Gesicht.
 

Kai lehnte den Kopf zurück und streckte den unverletzten Arm nach oben, um das fortlaufende kalte Wasser endlich abzustellen. Er schloss die Augen.

Nass und frierend kauerten sie auf dem Boden des steril wirkenden, schmucklosen Duschraums.

Die trockene, kalte Winterluft, die auch in die staubigen, toten Gänge des Castels Einzug gehalten hatte, zerrte jegliche Wärme aus ihren fast nackten Körpern.
 

Mina hob ihr Haupt und strich sich mit einem sanftmütigen Lächeln das nasse, bodenlange Haar aus dem Gesicht.

„Alles in Ordnung?“, hauchte sie und blickte prüfend in seine Augen.
 

„Wieso fragst du mich das?“
 

Sie schüttelte den Kopf. „Mir war nur irgendwie danach“, antwortete sie, senkte kurz den Blick und lächelte noch sanfter.

Beide schwiegen einander an.

Die altbekannte Distanz schob sich langsam zwischen sie, ehe sie überhaupt begreifen konnte, wie nahe sie sich in diesem Augenblick waren.
 

Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihren Atem auf seiner Haut spüren zu können, wo er sie, seit sie sich das erste Mal begegnet waren, so sehr verabscheut hatte. Nie war er wirklich nahe an sie herangetreten. Nie hatte sie ihn wirklich berührt. Doch nun kribbelte seine Haut, sobald sie ihn nur kurz anfasste.

Er konnte nun nicht länger leugnen, dass er sie schön fand. Zeitlos schön. Sie faszinierte ihn.

Zu seiner Überraschung ertappte er sich sogar bei dem Gedanken, wie er sie dazu bringen können würde, den viel zu weiten Pullover endlich auszuziehen. Doch sobald er sich vorstellte, wie sie wohl darunter aussah, begann sein Herz zu rasen. Gelähmt vor ungekannter Schüchternheit, verblieben seine Hände und sein Mund starr und unbeweglich.
 

„Was siehst du mich so an?“
 

Die Worte der jungen Frau rissen ihn unsanft aus seinen Gedanken. Die klirrendkalte Nässe und die Nacktheit der Wände töteten seine durchaus angeheiterte Stimmung.
 

„Kai…“, sagte sie bedrückt, „ich werde mich nicht mit dir einlassen. Weder auf eine Beziehung noch auf eine Affäre. Bitte – „
 

„Wie viel?“, fiel er ihr abrupt ins Wort und unterbrach den Blickkontakt. Zwischen ihnen triumphierte wieder die nüchterne Entferntheit.
 

„Was meinst du?“
 

„Du bekommst eine Abpfändung für deine Gefälligkeit.“, erklärte er kühl.
 

Etwas ratlos suchte sie einen Moment lang nach den richtigen Worten. Sie kicherte ein wenig belustigt.

„…nicht mal du könntest einen Betrag aufbringen, der mich käuflich werden ließe. Ich bin keine Hure. Wir haben eine Dummheit begangen. Mehr nicht.“
 

Stille.
 

Irgendwie schmerzten ihre Worte, obgleich er doch nie eine engere Bindung zu der schönen Rumänin aufgebaut hatte. Ob er gerade dabei war, damit anzufangen? Vielleicht das nächste Unglück, in das er sich hineinstürzte? Aber wenigstens zweifelte er diesmal nicht an der Existenz seines Gegenübers.
 

„Es tut mir leid. Aber ich habe meine Prioritäten.“, fügte sie in altbekannter Kühle hinzu und erhob sich von seinem Schoß. Beschämt zog er seine Boxershorts zu recht. Fühlte sich plötzlich nackt und ohne jeden Schutz. Die Stellen, an denen ihn ihre bloße Haut berührt hatte, kribbelte noch etwas. Sie war ihm so nah und gleichzeitig so fern wie nie.
 

„Ich habe drüben in meinem Spind mal ein paar Kleider vergessen. Wir haben vielleicht etwas Trockenes zum anziehen.“, sagte sie kühl und tonlos, während sie beiläufig ihr Haar auswrang und routiniert hochsteckte. Der nasse Pullover klatschte ihr beim Laufen gegen die bleichen Oberschenkel, die zwar erheblich dünner waren als in seiner Erinnerung, jedoch nicht an Anmut und Kraft verloren zu haben schienen.

Barfuss tapste sie über die weißen Kacheln. Ihre Füße hatten beinahe dieselbe Farbe wie der leblose, nasse Untergrund. Sie waren etwas groß geraten und dennoch sehr feingliedrig. Ihre Nägel hatte sie schwarz lackiert.

Bisher hatte er einem weiblichen Körper, gleich welcher Schönheit, nie solche Aufmerksamkeit gewidmet, doch bei diesem Anblick verfluchte er sich selbst. Wie konnte er so ignorant sein?
 

Sie blieb kurz stehen, drehte sich ein letztes Mal zu dem Halbrussen um, der noch etwas mitgenommen auf dem Boden saß und sie aus den Augenwinkeln beobachtete.

“Du…bist sehr hübsch.“, flüsterte sie und zwinkerte ihm provokant zu. Ein kurzes Lächeln blitze für den Bruchteil einer Sekunde über ihr sonst so strenges Gesicht. Dann ließ sie den Siebzehnjährigen alleine.
 


 

Erst, ihm ein Handtuch und trockene Kleidung in einen trockenen Winkel des Duschraums gelegt und schließlich gegangen war, kehrte wieder die herrschende Stille in die Katakomben des Castels ein.

Obwohl er fror, hatte er keine Gänsehaut. Er drehte sogar das kalte Wasser wieder auf, ohne genau zu wissen warum.

Während die eiserne Flut auf ihn einprasselte, lauschte er der gespenstigen Ruhe. Selbst das Rauschen des Wassers verschwamm zu einem monotonen Säuseln, bald versank es in der Tiefe der geräuschlosen Dunkelheit, einem schwarzen Loch gleichend, das alles Akustische in sich hineinzog und bis in alle Ewigkeit verschlossen hielt.
 

Er fiel.
 

Hinein in die unendliche Schwärze. Und bewegte sich in Wirklichkeit doch keinen Millimeter aus dem von fahlem, hartem Licht durchfluteten Raum. Unweigerlich schlugen die erbarmungslosen Wassermassen auf ihn ein. Seine Haut war gerötet und schmerzte, doch die Kälte betäubte das Gefühl. Betäubte alles. Und doch hörte er nicht auf zu fallen. Immer weiter in die Tiefe. Ziellos. Nichts würde sein Fallen aufhalten können.
 

Allein…
 


 


 

Ihm schien, als habe er sie dadurch, dass er ihr so nahe gewesen war, nun endgültig verloren. Eine undurchdringliche Barriere prangte zwischen ihm und der schützenden Wärme, die er inmitten ihrer unnahbaren Kälte zu finden geglaubt hatte.

War auch dies nichts als eine weitere Spielerei seines Verstandes gewesen? Die unvermeidbare Folge der unzähligen Misshandlungen, die er, solange er sich erinnern konnte, über sich ergehen lassen hatte? Wortlos, Wehrlos, ohne den Grund für die lebenslängliche Strafe zu verstehen oder zu hinterfragen. Das geschundene Unterbewusstsein erstickte jedes kleinste „Warum“ schon im Keim, bevor es ihn überhaupt mit dem ganzen Ausmaß der Zerstörung konfrontieren konnte.

Längst hatte er die Augen vor sich selbst verschlossen. Zu grausam war sein eigener Anblick.
 

Er fiel unweigerlich hinein in die geisterhafte Dunkelheit. Gefühle, Emotionen, Hoffnungen und Ängste, alles verlor sich wie ein Echo und versank mit ihm in der eisigen Kälte.
 

Die Wirkung des reichlich überdosierten Medikaments setzte ein. Schwächte degenerative Prozess ab und heizte ihn zugleich erst richtig an. Er vermochte nicht länger zu unterscheiden, was wahr und was Einbildung war. Er…ertrank in den tiefen seines Bewusstseins. Das Nichts umfing ihn, zog ihn immer weiter weg von dem, was er nun nicht länger bloß in Frage stellte sondern an das er ganz und gar jeglichen Glauben verloren hatte. Die Welt dort draußen, die als Grauschleier am oberen Ende der Tiefe schummerte, es hatte sie womöglich nie gegeben. Woher er einst gekommen war, wohin er ging, es war ihm egal.
 

Das dunkle Grau versank im unendlich scheinenden, dumpfen Schwarz und mit ihm verschwand auch jeglicher Bezug zu der in weiter Ferne liegenden leeren Hülle, die langsam auskühlte. Das Pulsieren in ihren Adern kam zum Stillstand. Der Atem stockte.
 

Hinab in die Endgültigkeit gleitend ließ er die Hand los.
 

Er fiel.

Schicksal

Grenzenlose Unendlichkeit.
 

Unmöglich zu sagen, ob er in sie hinein gesogen wurde oder sie nur durchquerte. Zu unwirklich breitete sich die schneeweiße Fläche unter ihm aus, verschmolz mit allen Konturen, verschluckte den bleichen Himmel, entstellte den Horizont.
 


 

Die Fensterscheibe beschlug von seinem Atem.

Unruhig wandte er den Kopf ab, ließ den Blick rastlos und widerwillig umherwandern.
 

Er befand sich im Inneren eines Militärhelikopters, außer ihm und den anderen befanden sich zwei Piloten und drei Eskorten. Soweit er es erkennen konnte, waren sie unbewaffnet.
 

Der Platz zu seiner linken war leer. Rechts befand sich das Fenster.

Hinter ihm befanden sich Alex und Brian, schlafend. Letzterer ersoff allmählich in seiner eigenen Speichelpfütze.

Vor ihm saß Mina, die sich mittels überdimensionaler Kopfhörer und dem kreischenden Scheppern eines verzerrten E-Basses oder etwas ähnlichem den letzten Rest Gehirn von der inneren Schädeldecke fetzte.
 

In den letzten zwei Tagen (so lange hatten die Vorbereitungen gedauert) hatte sich ihr Verhältnis um Hundertachtzig Grad gedreht. Sie hatten sich ohnehin kaum gesehen, und die wenigen Male, die sie einander über den Weg liefen, tauschten sie nichts als wort- und emotionslose Blicke.
 

Sie hatte für sich behalten, was er getan hatte. Ein weiteres Mal. Doch verstand sie es, ihn fortan mit ihrem Schweigen und ihrer Ignoranz zu strafen. Ob sie ihn dazu bringen wollte, sich selbst zu stellen (falls man das in diesem Zusammenhang so nennen konnte).
 

Die Verletzung in seiner Hand verheilte relativ gut für seine ansonsten überaus schlechte körperliche Verfassung. Inzwischen konnte er auf einen Verband verzichten. Doch hatte er sich noch nicht dazu durchgerungen, ihr das Taschentuch wieder zu geben. Wohlbehütet lag es bei ihm zuhause, sorgfältig hatte er es von den Blutflecken befreit und noch immer haftete ihr schwacher Duft an den Fasern. Jedes mal, wenn er sich die Tatsache vor Augen führte, schämte er sich regelrecht für diese neu entdeckte, viel zu sensible Neigung. Aber dieses kleine Stückchen Stoff hatte etwas an sich, das...
 

Es zog seinen Blick zurück nach draußen.

Unter ihm breiteten sich die schneebedeckten Weiten Nordsibiriens aus.

Vor Stunden hatten sie Tokio, das Meer, Wladiwostok hinter sich gelassen. Kälte war mehr und mehr ins Innere des Helikopters eingedrungen, obwohl die Kabine gegen Außentemperatur, niedrigen Luftdruck und den Lärm des Motors isoliert war.
 

Der widerliche Kloß in seinem Hals war auf unerträgliches Volumen angeschwollen. Hinderte ihn am Atmen. Am klaren Denken. Wie lange würde er es durchhalten, bevor die Erinnerungen zurückkehrten?
 

Hinter ihm lagen ein geordnetes, komfortables Leben und die Möglichkeit, seine Vergangenheit zu vergessen. Er musste den Verstand verloren haben, all das für einen Horrortrip nach Sibirien zurückzulassen...ausgerechnet Sibirien, dem Ursprung all seiner Probleme.

Tage, vielleicht Wochen, alleine, mitten im Schnee, abgeschottet von der Außenwelt. Umgeben von Leuten, die ihm nichts bedeuteten. Um Leute zu retten, die ihm nichts bedeuteten. Eines Geldbetrages wegen, der ihm nichts bedeutete.
 

Doch er selbst bedeutete ihm auch nichts.

Es gab nichts, weswegen er darauf Wert legen sollte, weiter zu leben.

Er hatte nichts zu verlieren. Sein Körper war schon so gut wie tot, die Kälte betäubte den letzten Rest seiner Wahrnehmung. Innerlich hatte ihn das schwarze Nichts bereits zerfressen.

Was immer er tat, es war gleichgültig. Was immer ihm widerfahren würde, er würde es hinnehmen wie es kam. Und sollte es für ihn keine Heimreise geben, so empfand er angesichts dessen sogar eine Art Vorfreude…
 

Vor einem Jahr hatte es damit begonnen, dass er die kalte, trockene Luft des Nordens zu riechen glaubte. Und jetzt führte ihn sein Schicksal ein letztes Mal hier her....
 


 


 

Eine Erschütterung riss Kai unsanft aus seinem Schlaf. Offenbar mussten ihm für einen Moment die Augen zugefallen sein, denn er konnte sich nicht daran erinnern, wirklich geschlafen zu haben.

Doch dann bemerkte er, dass sich der Helikopter auf festem Untergrund befand. Allmählich kam das Heulen des Motors zum Stillstand.

Halbherzig fand er sich damit ab, vermutlich doch ein paar Minuten geschlafen zu haben, und rieb sich mit der unverletzten Hand durchs Gesicht.
 

Einer der Männer wies ihn darauf hin, sich auf den Ausstieg vorzubereiten. Geistesabwesend steckte er seine knochigen Arme in den warmen Anorak, den man ihm gereicht hatte, und überprüfte noch einmal, dass er nichts vergessen hatte.
 

Sein Blick fiel auf Mina, die bereits fertig angezogen auf der Armlehne eines Sitzes saß, Beine überkreuzt, Arme verschränkt, das Gesicht hinter einer großen dunklen Sonnenbrille. Es war unmöglich zu sagen, ob sie ihn beobachtete oder bloß vor sich hin starrte.
 

Brians lautstarkes Gähnen riss ihn aus seinen Überlegungen. Kurz darauf sog der Philippine lautstark einen Speichelfaden in den Mund und ärgerte sich noch halb schlafend über den Rest der nassen Bescherung, dessen Ursprung er im Augenblick nur zu erahnen schien. Zeitgleich hatte er damit auch Alex geweckt, der sich als allererstes über die Sauerei lustig machte, dann aber feststellen musste, dass er selbst mit der übel riechenden Flüssigkeit beschmiert war.
 

"Du stinkst aus dem Maul wie ein Klärbecken..."
 

Kai gab sich größte Mühe, die Fassung zu bewahren und den sich anbahnenden Streit so gut es eben ging zu ignorieren. Stattdessen bekam er mit, dass die Tür des Helikopters so eben geöffnet wurde und ein eisiger Schwall der trockenen Winterluft schoss ins Innere der Kabine.
 


 

Sibirien, Mitte Dezember
 

Es war ein eigenartiges Gefühl, plötzlich den tiefen, pulvrigen Schnee unter den Füßen zu spüren.
 

Während die Eskorten das Fluggerät ausluden, war Kai nach draußen getreten, um die Landschaft zu Begutachten und den Blutfluss seiner Beine wieder in Gang zu bringen.

Die Luft war so klar, dass man Kilometerweit hätte blicken können, wären sie nicht umgeben von mit verschneiten Nadelbäumen gespickten Höhen.

Kondenswölkchen von Atemluft gefroren sofort zu kleinen glitzernden Kristallen. Hoffentlich kam Brian nicht auf die glorreiche Idee, an die nächste Tanne zu urinieren...
 

In etwa 300 Metern Entfernung erkannte Kai eine verlassen wirkende Siedlung, aus der man mit Schneetauglichen Transportern Ausrüstung zu ihnen brachte. Offenbar hatte man hier ein kleines Basislager eingerichtet. So wirklich hatte er vorhin bei der Lagebesprechung nicht zugehört. Wieso auch? Es war ohnehin ungewiss, was sie jenseits des Fußes des Todesbergs erwartete…
 

"Heilige Scheiße!", hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Als er seinen Blick zum Ausgang des Fluggerätes wendete, erkannte er Brian, der sich starr vor Kälte von Alex die Rampe hinunter schieben ließ.

"Warum zur Hölle ist es hier so verfickt kalt?!"
 

"Was bitte hast du erwartet? Du warst doch so scharf drauf, nach Sibirien zu fliegen. Also, hier sind wir.", machte Kai ihm den Sachverhalt mehr oder weniger verständlich.
 

"Ja schon…aber…niemand hat gesagt, das es so SAUUUUUUUUUUUUUMÄßIG kalt wird! Und wieso liegt hier so viel von diesem gefrorenen Zeug rum?! Das ist kein Land sondern ein Eiswürfel!", protestierte der Philippine, der trotz mangelnder Erinnerungen an seine Vergangenheit immer noch an das warme Klima des Südens gewöhnt sein musste. Anscheinend wollte er noch etwas hinzufügen, doch dazu kam er nicht. In dem tiefen Schnee verlor er das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf die Nase. In seiner Verzweiflung hatte er sich an Alex festgekrallt, ihn aus dem Gleichgewicht gebracht und schließlich unter sich begraben.
 

Kai verdrehte die Augen und sah nach den Transportern. Er hoffte, möglichst bald zur eigentlichen Mission aufbrechen zu können.
 

"Willkommen in Sibirien, Mr. Hiwatari. Wir bringen sie jetzt zum Basislager, wo sie ihre Ausrüstung und eine warme Mahlzeit erwarten. Folgen sie mir bitte.", begrüßte ihn ein nach ranghohem Offizier aussehender Mann und deutete auf das Fahrzeug, mit dem er gekommen war. Wortlos setzte Kai seine Sonnenbrille auf und folgte seiner Anordnung. Mina ergriff die Initiative, stapfte an dem immer noch im Schnee liegenden und blöd vor sich hin gaffenden Alex-Brian-Gemisch vorbei und kletterte nach dem Siebzehnjährigen in das Fahrzeug.
 


 

Die holperige Fahrt durch den Schnee dauerte nicht all zu lange. Im Zentrum der Siedlung angekommen erkannte der Halbrusse, dass die meisten der Hütten nicht leer standen, sondern als Betriebs- und Lagerräume sowie als Unterkunft zur Verfügung standen. Eine ziemlich gute Tarnung, die Kais Meinung nach aber mehr als überflüssig war. Unter Garantie wusste er Entführer längst von der Existenz des Lagers, wenn nicht sogar, dass er und die anderen so eben eingetroffen waren.

Man brachte ihn und die anderen zu einem der Häuser. Es roch nach drittklassigem Kantinenfraß, doch das interessierte ihn nicht weiter. Er hatte ohnehin nicht vor gehabt, etwas zu sich zu nehmen. Brian hingegen verdarb es gehörig die Laune.
 

„Kai!“

„So lange ist es her….“
 

Der Halbrusse fuhr zusammen, als er plötzlich die Stimmen hinter sich hörte. Eigentlich wollte er sich gar nicht erst umdrehen, tat es dann aber doch.
 

„Was wollt ihr hier?“, gab er den dreien unsanft zu spüren, was er davon hielt, sie wieder zu sehen.
 

Es handelte sich um niemand anderen als um Bryan, Spencer und Ian, die drei verbliebenen der ehemaligen Demolition Boys.
 

„Ihr habt hier nichts zu suchen. Das hier geht euch nichts an, also verschwindet."

Trotz der schützenden Barriere, die die Sonnenbrille bot, vermied er die Konfrontation ihrer Gesichter.
 

Die drei schwiegen eine Weile, dann ergriff Bryan noch einmal das Wort. „Nun gut, du freust dich offensichtlich nicht über unser Wiedersehen. Dennoch wirst du nicht drum herum kommen, uns die nächsten Tage um dich zu haben.“
 

„Wir bringen euch höchst persönlich nach ganz oben!“, verkündete Ian stolz und wies dort hin, wo in der Ferne dunkle Wolken einen Berggipfel verschluckten, „Ihr seid nicht die einzigen, die so ein fetter Batzen Geld lockt.“
 

Kais Fingernägel bohrten sich ins Fleisch seiner zu Fäusten geballten Hände, die er der Kälte wegen in die Jackentaschen gestreckt hatte.
 

„Mich interessiert das Geld nicht. Wenn ihr so geil drauf seid, euren Arsch zu riskieren, um euch selbigen mit bunten Scheinen abwischen zu können, dann sucht euch nen anderen von diesen Drecksbergen, klettert hoch und springt von mir aus wieder runter. Mein Preisgeld könnt ihr gerne haben, aber haltet euch aus meinen Angelegenheiten raus.“
 

Der Wortwechsel hatte die Aufmerksamkeit seines Gefolges und einiger Soldaten erregt, die den Halbrussen verständnislos anstarrten. Dennoch wagte niemand, etwas zu sagen.
 

„Kommt. Wir gehen.“

Entschieden kehrten die Demolition Boys ihm den Rücken.
 

"Na toll! Und wie sollen wir uns jetzt in diesem Gefrierfach zurechtfinden?", nörgelte Brian, am Kantinenessen kauend, und blickte seinem Namensbruder und dessen zwei Gefolgsleuten nach.
 

"Ohne die drei sind wir in jedem Fall besser dran...", murmelte Kai und beschloss spazieren zu gehen, wo die anderen doch sowieso nichts anderes zu tun hatten als zu essen.
 

"Mach dir nichts draus. Ich hab da hinten ein paar Karten gefunden. Ich denke, damit werden wir schon irgendwie zu Recht kommen.", beruhigte Alex seinen aufgebrachten Kumpanen, "und irgendwie hat Kai auch Recht mit dem was er sagt."
 

"So? Meinst du?"
 

"Ja. Je weniger wir sind, desto schneller kommen wir voran. Und außerdem sollten wir die drei nicht noch unnötigen Gefahren aussetzen. Einen Teamkollegen haben sie schon verloren."
 

Mit diesen Worten verschwand Alex, gefolgt von Brian, wieder im Inneren des Gebäudes.

Es war besser, sich auf die bevorstehende Reise zu konzentrieren und sich nicht unnötig wegen Meinungsverschiedenheiten zu verausgaben. Zuerst sollten sie in Ruhe essen und dann das Equipment sorgfältig überprüfen.

Kopfchaos

Sibirien, Mitte Dezember
 

Wieso? Wieso ausgerechnet jetzt? Es reichte doch schon, dass alles voller Schnee war. Es reichte, zu wissen, wo er sich befand - im gefrohrenen Herzen der Sibirischen Tundra, auch wenn ihn selbst jetzt noch tausende Kilometer von jenem Ort trennten, an dem....

Noch ließ ihn die Droge, unter der er stand, nicht im Stich. Sein Bewusstsein war stumpf und betäubt, er fühlte nichteinmal den kalten Wind an seiner Nase, noch sonst irgendetwas.

Doch wie lange würde die Wirkung anhalten? Tage? Stunden? Augenblicke? War sein nächster Atemzug schon einer zuviel? Wie lange würde seine Ration noch ausreichen?
 

Es war zu viel gewesen, ihre Stimmen hören zu müssen. Ihren Gesichtern, ausgezehrt dreinblickenden Augen auszuweichen, war ihm gelungen, doch wie verschloss man wirksam seine Ohren?
 

Das schon längst vertraut gewordene Stechen in seiner Schläfe ließ ihn taumeln. Zwar vermochten die überdosierten Medikamente den drohenden Flashback zu verhindern, doch der unbeschreibliche physische Schmerz, dessen Ursache ihm kein Arzt hatte erklären können, schien dadurch erst richtig genährt zu werden. Binnen Sekunden wurde der Druck in seinem Kopf unerträglich, es schien als würde sein Schädel jeden Moment zerbersten und in tausend Stücke zerschmettert werden.
 

Wie froh wäre er gewesen, handelte es sich nicht um das bloße Gefühl sondern um Realität...
 

Ehe er näheres begreifen konnte, verschwamm das Bild vor seinen Augen. Eilig schleppte er sich hinter die Rückwand einer der vielen Baracken, wo er sich unbeobachtet fühlte. Sein Rücken prallte gegen die rohe Holzverkleidung, Dunkelheit umfing ihn.
 

In der Ferne lag etwas, schien auf ihn zu warten. Eine Stimme? Ein Mensch?
 

War ER es? Er, den er damals hatte sterben sehn? Wartete er nun auf der anderen Seite auf ihn? Würde ihn zu sich holen?
 

Vollkommen gleich, was es war, das nach ihm rief. Es terrorisierte seinen Verstand seit zwei langen Jahren und machte ihm das zielgerichtete, unverklärte Denken unmöglich. Vielmehr nahm es ihm den Willen zu leben. Kein Hunger. Keine Selbstachtung. Mit der Zeit hatte es das letzte bisschen Leben in seinem Inneren zerstört.
 

........vielleicht war es auch nur die sibirische Winterluft, die seiner Nase einen Streich spielte, doch für den Bruchteil einer Sekunde, so glaubte er zumindest, hatte er sie riechen können.
 

Ihr zarter Duft, der wie ein fast durchsichtiger Nebelschleier aus Seide ihre unbeschreibliche Schönheit umsäumte.
 

Schatten.
 

Vermutlich hatte sie längst die Stadt verlassen, doch er hatte sich zu sehr in die Illusion der Wartenden verliebt, als dass er sich mit der Realität - der Tatsache, dass er sie für immer verloren hatte - hätte abfinden können.
 

Sie war so wunderschön.

Haut und Haare so bleich wie der pulvrige Schnee Sibiriens. Augen in so tiefem, dunklen Blau wie das eisige Wasser des Baikalsees. Ihre unendlich zarten Hände, wie sie schützend über seinen geschundenen Körper glitten.
 

In der gesamten Menschheitsgeschichte gab es wohl niemanden, keinen Philosophen, Schriftsteller, Dichter oder sonstigen Künstler, der den Schmerz hätte beschreiben können, den ihr Verlust ihn ihm auslöste. Niemand hätte je verstehen können, wie sehr sie ihm fehlte.
 

Wie gern läge er ein letztes Mal in ihrer schützenden Umarmung, ihre bloßen Körper versteckt unter der seidenen Bettwäsche. Umgeben von der psychedelischen Halbdunkelheit seines ihm im Laufe der Jahre zu seinem wohl einzigen, wirklich vertrauten Ort der Ruhe gewordenen Schlafzimmers.
 

Ein ganzes Meer läge zwischen ihm und dem Ursprung aller Probleme.

Wie gerne würde er einfach alles hinter sich lassen. Den grauen Alltag, all seine lästigen Pflichten und diesen völlig bescheuerten Auftrag, der ihn nach Sibirien zwang. Am liebsten hätte er einfach alles weggeworfen und hätte all seine Besitztümer geopfert, wenn er den Rest seines Lebens und sein Nachleben bis in alle Unendlichkeit mit ihr in diesem schmucklosen Schlafzimmer hätte liegen dürfen...
 

Und wenn ihm schon das weiche Bett verwehrt geblieben wäre, so hätte er auch mit den kalten, nassen Duschraum im Phoenix-Castel Vorlieb genommen.
 

!Wie kam er gerade auf diesen Ort?!
 

Es konnte unmöglich das fragwürdige, völlig unrealistische Zusammentreffen mit Mina sein, das sich so tief in sein Unterbewusstsein gegraben hatte, das es ihn selbst hier fand...
 

Sein Hass auf sie war seither unverändert geblieben. Die Tatsache, wie ignorant und abweisend sie sich seither verhielt, verstärkte das sogar noch. Doch irgendwie...vermischten sich ständig die wundervollen Züge Schattens mit dem rauen, kalten und doch ausdrucksstarken Antlitz Minas...
 

Er ließ den schon so oft verfluchten, dann doch wieder verdrängten Augenblick, an dem er der Rumänin näher gewesen war als an jedem anderen, noch einmal vor seinem inneren Auge aufleben.

Die unendlich reine, weiße Ferne der sibirischen Berge verwandelte sich in die schmucklosen, regelmäßig gekachelten Wände, bis diese ihn vollends umschlossen und er sich auf dem Boden des Raumes zu befinden glaubte. Unermüdlich prasselte der aus Millionen kleiner harter Wasserperlen bestehende Monsun auf seine Schultern und sein Haupt herab.

Er lag direkt unter einer der Duschen, die Wand in seinem Rücken hielt ihn aufrecht. Hemd und Hose waren vollständig durchnässt und klebten ihm am Körper. Die Schuhe hatte sie ihm ausgezogen, bevor sie das Wasser aufgedreht hatte.

Zögernd und unsicher ließen ihre sonst so starken Finger seine schmerzende Hand entgleiten

Fuhren langsam seine Schultern hinauf, bis sie sein Haupt erreichten und sich in seinem nassen Haar festkrallten.

Nur wenige Zentimeter trennten ihre Lippen von einander, und dich küsste sie ihn kein einziges Mal.

Ob sie den letzten Rest Distanz hatte wahren wollen? War es ein Fehler gewesen, sie nicht zu küssen? War es ein Fehler gewesen, sich überhaupt auf sie einzulassen?

Auch wenn ihm diese Tatsache Kopfzerbrechen bereitete, so bereute (!) er es, sie nicht einfach gepackt und leidenschaftlich geküsst zu haben. Jetzt kitzelte ihn umso mehr die Frage, wie sich wohl ihre wohlgeformten, praktisch farblosen Lippen anfühlten....
 

Schatten.
 

Er konnte nicht auf sie verzichten, so sehr er das Erlebnis mit Mina genossen hatte. Niemand wusste besser als er, dass es ihm nicht bekam, einer oder gleich zweien hinterher zutrauern, doch so sehr er binnen der letzten Tage versucht hatte, sich gegen die ihn plagenden Gedanken zu wehren - es gelang ihm einfach nicht.
 

Ihn überkam von Zeit zu Zeit sogar die vollkommen absurde Vorstellung, sie beide seinen ein und dieselbe Person. So müsse er sich wenigstens nicht entscheiden und hätte zu jeder Zeit beide zur Verfügung. Und abgesehen davon gäbe es unter ihnen keine Eifersucht oder Zickenkrieg.
 

Nein. Was für ein Schwachsinn. Das zog das ganze bloß unnötig ins Lächerliche.
 

In Wahrheit hätte er sie in Ehren gehalten. Alle beide, oder nur eine, hätte sie ihm nur eine Chance gelassen.
 

"Du hattest deine Chance", hallte Schattens Stimme in seiner Erinnerung wieder.

In diesem Moment hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Wie konnte er so dumm gewesen sein, sie zu verlieren?!
 

Schlagartig kam ihm die Erinnerung hoch, wie er fast nackt und hilflos auf dem Boden des Duschraums gelegen hatte. Die Tabletten hatten ihn nicht umbringen können. Sein viel zu empfindlich gewordener Magen hatte sie kurzerhand hervorgewürgt, sodass er in einer wässrigen Pfütze aus Wodka, Erbrochenem und halbverdauten Medikamenten zu sich kam, nachdem kochendheißes Wasser ihn aus seinem Nahtoderlebnis zurückgezerrt hatte.
 

Das nächste, was er verspürte, war Minas Hand, die mit ziemlicher Wucht auf seinem Gesicht aufschlug. Es dauerte einen Moment, doch nach ein paar Sekunden war sein Gehirn wieder im Stande, Schmerz zu registrieren. Und den gab es anscheinend im Überfluss.
 

"War unser Sex so schlecht, dass du dich für den Freitod entscheidest?!", fragte ihn die junge Rumänin sarkastisch. Sie hatte sich über sein Haupt gebeugt, sah ihn in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung an. Obwohl ihre Stimme so aufgewühlt klang, musste Kai überrascht feststellen, dass sie keine einzige Träne vergoss. Ihr Blick blieb unverändert kalt und leblos.
 

"Los, wasch dich erstmal, oder willst du auch den letzten Rest Würde in diesem erbärmlichen Gestank ersäufen?!"

Teilnahmslos wandte sie den Blick von ihm ab, richtete sich auf und überprüfte ihre Kleidung. Sie hatte trotz allem peinlichst genau darauf geachtet, nicht noch einmal nass zu werden. "Und dann zieh dich um und geh nach Hause, schlaf dich erstmal aus."
 

Im Begriff, den Raum zu verlassen, hielt sie noch einmal inne. Ohne sich zu ihm umzudrehen, sagte sie tonlos: "Ich behalte es noch einmal für mich, aber leg es nicht drauf an. Ich begleite dich nachhause, und dann nehme ich dich mit nach Sibirien. Vielleicht kriegst du durch die Kälte wieder einen klaren Kopf."
 

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Somit war Kai alleine, obgleich er genau wusste, dass sie in der Umkleidekabine wartete und lauschte, ob er ihren Anweisungen folgte oder erneut im Begriff war, eine Dummheit zu begehen.

Er kam nicht auf die Idee, ihr zu widersprechen. Hatte er doch selbst schon beschlossen, sich auf die lebensmüde Expedition nach Sibirien zu begeben. Doch sollte sie ruhig in dem Glauben bleiben, sie selbst hätte ihn überredet...
 

Langsam kehrte Stille ein.
 

Es war das einzige Mal, dass sie einander so nahe gewesen waren, und geendet hatte es in purer Demut. Für ihn wie für sie.

Für Ihn, für Mina, - für Schatten?
 

Seine Eskapaden, seine ungesunde, acht- und respektlos geführte Beziehung, seine unverhoffte Begegnung mit Mina, deren langfristige Folgen er immer noch nicht abschätzen konnte...

Zu was hatte das alles geführt? Wie konnte er so tief sinken? In war er nur hineingeraten als er sich damals auf die schleierhafte weißhaarige Gestalt eingelassen hatte?

Es führte doch zu nichts! Zu nichts.....außer zu Schmerz.
 

"Kai? Ist dir nicht gut?"
 


 


 

"Hey!“
 

Jemand stieß ihn mit dem Fuß an, versetzte ihm einen regelrechten Tritt. Dann packte man ihn und hob ihn gewaltsam vom Boden auf.

Er wehrte sich nicht.
 

Allmählich begriff er, dass es Mina war, die ihn gefunden hatte. Glücklicherweise hatte sie darauf Wert gelegt, leise zu sprechen, damit nicht noch mehr Leute auf ihn aufmerksam wurden.

Mühsam öffnete der Siebzehnjährige ein Auge. Er hatte Schnee im Gesicht, oder das Sehzentrum seines Gehirns verweigerte den Dienst. Jedoch verursachte die plötzliche Lageveränderung einen weiteren stechenden Schmerz in seinem Kopf, der ihn zu einem leichten Protest trieb.

Unbeeindruckt hielten ihn die starken Hände umklammert, schleppten und zerrten ihn an die überdachte, fensterlose Rückwand der kleinen Baracke. Er schien auf so etwas wie einer Kiste zu sitzen.
 

"Reiß dich gefälligst ein mal zusammen! Du hättest nicht mitkommen sollen, wenn dir die Kälte nicht bekommt!", schalt ihn die nur mit Mühe gedämpft klingende Stimme. Provoziert von der respektlosen Umgangsform versuchte Kai seinen Blick auf ihren Besitzer zu fixieren. Er erkannte das Gesicht von Mina und stieß sich von ihr weg.

"Pah!", schnauzte er, "Die Witterung kann mir nichts anhaben. Ich bin hier aufgewachsen - "
 

"Ach so? Dein Körper besteht praktisch aus Eis?", mokierte sie sich.
 

"So in der Art. Und jetzt lass mich in Ruhe. Ich brauche deine Hilfe nicht."
 

"Klar. Kai braucht niemandes Hilfe. Als ob! Weißt du eigentlich, dass du hohes Fiber hast?"
 

"Ich hab was? Verarschen kann ich mich selber, also verzieh dich!"

Was fiel ihr ein, ihn ausgerechnet jetzt in einen Streit zu verwickeln? Wenn sie der Meinung war, er sei krank, so konnte sie doch wenigstens Rücksicht darauf nehmen.
 

"Was bitte soll mich davon abhalten, dich umgehend zu melden und zurück nach Tokio bringen zu lassen? Ich Idiot. Ich hätte mich gar nicht erst darauf einlassen sollen..."
 

"Worauf einlassen sollen?", harkte der Halbrusse provokant nach.
 

"Ich hätte dich direkt nach deinem ersten Selbstmordversuch in eine gute Nervenklinik bringen sollen, statt darauf zu hoffen, dass du von alleine wieder zur Vernunft kommst. Aber dazu bist du viel zu Stur!"
 

"Halt den Mund! Du spinnst doch?! Wer ist hier bitte unvernünftig?!"
 

"Du hast recht. Ich hätte wissen müssen, dass du nicht dazu fähig bist, Verantwortung für dich selbst zu übernehmen."

Sie packte ihn am Kragen und schüttelte ihn.

"Wenn einem von uns unter deiner mangelnden Führung auch nur irgendetwas zustoßen sollte, ", fauchte sie, "dann gnaden dir alle erdenklichen Götter der Menschheit."
 

Sie stieß ihn so heftig von sich weg, dass sein Kopf gegen die Rückwand des Hauses schlug und er obendrein fast den Halt verloren und von seiner Kiste gefallen wäre.
 

Verärgert sah der junge Mann ihr nach.

Wie konnte sie...

Was fiel ihr ein, in diesem Ton...

Krank? Er und krank? Was...

Stur? Er war alles andere als Stur. Er konnte sehr wohl die Verantwortung...
 

Wie er es auch drehte und wendete, in allem was sie gesagt hatte, hatte sie so verdammt recht, dass es ihn innerlich zerriss.
 

Seine Bosheit wich einer tiefen Verzweiflung und der Angst, das Leben der Menschen, die sich auf ihn verließen, in Gefahr zu bringen.
 

Nach einer Weile senkte er den Blick und sah seine Sonnenbrille auf dem Boden liegen. Er musste sie verloren haben, als er vorhin gestürzt war.

Die Sonne stand tief und blendete ziemlich, doch das störte ihn nicht. Er hatte schon viele dieser wolkenlosen sibirischen Wintertage erlebt und seine Augen hatten sich daran gewöhnt. Er trug sie lediglich, weil so viele Menschen in der Nähe waren, die er nicht kannte aber mit denen er trotzdem verkehren musste. Ob Mina sie wohl aus demselben Grund trug?
 

Schluss! Die Gedanken an sie und Schatten waren pure Zeitverschwendung. Es war Zeit, den Kopf wieder frei zu bekommen... Auch wenn das im Augenblick eher ein Wunschtraum als ein realisierbares Ziel war. Er musste zumindest die elenden Weiber aus dem Kopf kriegen.
 


 

Noch leicht benommen erhob er sich von seinem Sitzplatz und sah sich um.

Zu seiner Rechten befand sich nichts als die unendliche kalte Eiswüste, der nur hier und da kleinere, verschneite Nadelwäldchen Einhalt boten.

Er beschloss, nach links zu gehen. Dorthin, wo er das Zentrum des kleinen Scheindorfes vermutete. Und somit auch das Equipment.

Wohl oder übel würde er dort wieder auf die anderen treffen, aber das ließ sich binnen der nächsten Tage ohnehin nicht vermeiden. Er war gezwungen, jede einzelne Sekunde mit mindestens drei anderen Personen zusammen zu sein. Keine Privatsphäre. Keine ruhigen Momente. Intimität.
 

Ihm wurde Speiübel, als ihm diese Worte in den Sinn kamen.
 

Doch daran führte jetzt keim Weg mehr vorbei. Je mehr er seiner Rolle als Anführer gerecht kam, je mehr er sie antrieb, schneller zu klettern, umso schneller wäre dieser ganze Alptraum wieder vorbei. Umso schneller war er die Bürde seiner Verantwortung los.
 

Und so begab er sich gemächlich auf den Weg zurück zu der Baracke, wo das Equipment für die Reise verstaut war.
 

Irgendetwas schien nicht zu stimmen.

Irritiert versuchte sich der junge Mann einen Überblick der Lage zu verschaffen. Wichtig wirkende Personen rannten wild und wie ziellos durch einander, von einer Hütte zur anderen und zurück.

Anscheinend gab es einen triftigen Anlass für den hellen Aufruhr. Er spitzte die Ohren, um vielleicht ein paar Gesprächsfetzen aufzuschnappen.
 

Zwecklos.
 

Ehe er etwas halbwegs Sinnvolles mitbekommen hatte, hatte ihn Brian mit einem groben Ruck an der Schulter gepackt, herumgewirbelt und mit sich gezogen.

"Los, mitkommen. Auf geht's", kommandierte ihn der knapp zwei Meter große Philippine und schleifte ihn hinter sich her. Ziel war eine der nahe gelegenen Behausungen, in der man ihn bereits zu erwarten schien.
 

"...neue Nachricht bekommen. Sie verlangen, dass nur ihr vier auf den Berg steigen dürft. Sie drohen damit, euch und das gesamte Personal hier umgehend zu töten, sollte sich auch nur ein einziger Unbefugter dem Sperrgebiet nähern."
 

"Wie pervers ist das denn?", kommentierte Alex die Situation skeptisch.
 

"Pervers ist nur", mischte sich Kai ins Geschehen ein, "wie blöd wir sein müssen, um freiwillig dort hinauf zu gehen. Absolut niemand sonst käme einer so hirnrissigen Forderung nach."
 

"Na und?"

Mina betrat den Raum. Ohne dass Kai sie eines einzigen Blickes würdigte, verfluchte er sie für ihre Anhänglichkeit. Dafür, dass sie hier war. Dass sie überhaupt lebte.

"Wir wussten von Anfang an, worauf wir uns einlassen.", sprach sie weiter, "Davon gehe ich jedenfalls aus. Der Entführer hat die BBA in seiner Gewalt. Nicht nur durch Tyson."
 

"Sondern", harkte Brian patzig nach.
 

"Weißt du, ich gehe davon aus, dass Dickenson uns nur eingeweiht hat, weil er keine andere Möglichkeit sieht, sich, die BBA, vielleicht ganz Japan zu schützen. Wir wissen gar nichts über den Entführer. Er könnte ein harmloser, aufgeblasener Fatzke, aber auch einer der mächtigsten Terroristen unserer Zeit sein. Wir wissen es nicht, aber ich bin gern bereit, dort rauf zu gehen und es herauszufinden. Auch wenn es meine schlimmsten Erwartungen übertrifft. Ich kann nicht anders."
 

"Jawoll!", schrie der Rothaarige, als applaudierte er einer politischen Rede (, was massiv der Tatsache widersprach, dass Brian vermutlich nicht im Stande dazu war, irgendetwas von Politik zu verstehen.)
 

Kai schluckte seinen erneut aufkeimenden schwarzen Humor herunter und schwieg.

Willkommen in der Todeszone

Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember
 

"Wie...weit...ist es noch?"
 

"Bitte? Wir sind erst vor 30 Minuten losgelaufen. Komm, lass mal jemand anderes den Schlitten ziehen wenn du jetzt schon so am jammern bist."
 

"Du spinnst wohl! Auf keinen Fall!"
 

Allgemeines Kopfschütteln und Augenrollen.
 

Es war offensichtlich, dass Brian weder mit der Kälte noch mit der trockenen Luft halbwegs zurecht kam. Trotzdem kam auf keinen Fall in Frage, das Seil auch nur eine Minute abzugeben. Dazu war er einfach zu stur, und so schleppte sich seine Sturheit höchstpersönlich den Berg hinauf, Millimeter für Millimeter, denn von viel mehr als das war ohnehin nicht zu sprechen.

Und während sich sein Stolz gegen die Schwerkraft durchzusetzen versuchte, trat ihm sein Ego buchstöblich auf die Füße; durch Brians unermüdliches Meckern gab es zu verstehen, dass die Führung nicht der Sturheit allein gehörte.
 

Dezent genervt musterte er kurz den tollpatschigen bis jämmerlichen Anblick, den der Neunzehnjährige abgab. So lange diese lästige Aufgabe ihm selbst erspart blieb, durfte der Philippine den Schlitten gerne bis ins Himalaya ziehen, aber ging das nicht auch ein bisschen leiser?!
 

Prüfend warf er einen Blick nach oben, wo nach einem steilen Weg queerfeldein der verschneite, alte Bergpass auf sie warten würde.

Noch befanden sie sich am flachen Fuß des Berges. Sie hatten die seichteste Flanke gewählt, um den Schlitten überhaupt mitnehmen zu können. Der eigentliche Zugang zum Pass war vor langer Zeit von einer Lavine unpassierbar gemacht worden. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob dies nicht noch an anderer Stelle passiert war. Es bestand sogar die Möglichkeit, dass sie den Gipfel gar nicht erst erreichten, und dafür gab es mehr als nur einen Grund.

Niemand konnte genau sagen, was auf sie lauerte, wo die schwarzen Wolken den schroffen Berggipfel verschluckten.

Ihr Überleben würde an einem seidenen Faden hängen, der an ihr mitgeführtes Equipment geknüpft war. Sollte etwas schief gehen, wären sie komplett auf sich gestellt.

Dennoch sein wirklicher Grund zur Sorge. Sie waren bestens auf das hier vorbereitet und sollten höchstens darauf achten, unterwegs nichts Wichtiges zu verlieren.

Doch sollte Brian sich weiterhin so ungeschickt anstellen...
 

Wie überhaupt war es bitte möglich, sich trotz bester Schneeschuhe so langsam zu bewegen?!

Zweifelsohne war Brian das beste Beispiel für den Fall, dass die Dinger komplett versagten. Und das lag garantiert nicht an den Schuhen. Bei allen anderen funktionierten sie tadellos! Nur bei dem Rothaarigen musste man bei jedem Schritt fürchten, dass er über seine eigenen Füße stolperte!
 

Der Halbrusse stieß ein kaum hörbares, genervtes Schnauben aus und sah dem ausgespieenen Kondenzwölkchen nach bis es vollständig verschwunden war.
 

Vor ihnen breitete sich der Berg aus, lag da wie ein unter der schneeweißen Bettdecke Sibiriens schlummernder Riese. Zu beiden seiten erstreckte sich dumpfe Unendlichkeit, die in der Ferne mit dem Horizont verschmolz.

Über ihnen spannte sich der trübe Himmel wie ein graues Leichentuch.

Raue, klare Winterluft. Die Sicht war klar, trotz der toten Wolkenfetzen über ihnen. Kein Wind.

Die Ruhe vor dem Sturm?
 

"Todesberg...", dachte er und behielt den Blick noch einen Moment lang auf die unnatürlich dunklen Wolkenmassen gerichtet, die sich um den furchigen Berggipfel ringten.

"Ein bescheuerter Name. Und noch dazu ein bescheuerter Ort, um die Grangerbrüder hier her zu bringen."

Bescheuert. Dieses Wort traf es einfach am besten.

Nur etwas irritierte ihn:

Wieso hatte er noch nie von diesem Berg gehört? Trotz der enormen Größe kannte Sibirien mehr als ausgesprochen gut. Und wenn nicht von Expeditionen, dann doch zumindest aus Karten und Atlanten sowie - er erinnerte sich nur ungern daran - durch die "Erzählungen" seines Großvaters.
 

Alles, was ihm und den anderen kurz Antritt der Reise mitgeteilt wurde, war, dass dieses Gelände seit etwa 20 Jahren als Sperrgebiet gekennzeichnet war. Flugzeuge und Forschungsteams, die seitdem diesen Ort passiert hatten, waren spurlos verschwunden. Rund um diese Ereignisse rankten sich alle möglichen und unmöglichen Spekulationen. Sogar von einem riesigen Wurmloch oder einem zweiten Bermudadreieck sei die Rede gewesen, doch Kais Meinung nach waren das alles nur Spinnerein von Leuten, die zu viele Filme gesehen hatten. Schwachsinn, nichts weiter.
 

Hatte Dickenson nicht davon berichtet, dass man erst vor kurzem den Kontakt zu mehreren Bergungsteams verloren hatte? Zugegeben, etwas merkwürdig fand der Halbrusse das schon...
 

!!!Wie hirnrissig mussten sie sein, diesem undurchsichtigen Auftrag nachzugehen? Wenn schon Hunderte Menschen hier verschwunden und ihnen die Begleitung weiteren Personals strikt untersagt waren - sie also vollkommen auf sich gestellt und ohne die nötige Erfahrung oder einen Reiseführer hier rauf stiegen...die Sache roch so faul, dass man sie noch aus dem Weltall hätte wahrnehmen können! (Und da gab es ja noch nicht mal Luft...)
 

Von diesem Standpunkt aus betrachtet war es blanker Wahnsinn, überhaupt noch einen einzigen Schritt weiter zu gehen!
 

"Was ist denn jetzt los?"

Alex' verwunderter Ausruf riss Kai aus seinen Gedanken, und als sei das nicht genug, zog er sofort die Aufmerksamkeit der gesamten Meute auf sich. Völlig irritiert betrachtete der Amerikaner den kleinen Gegenstand in seiner Faust.

Mina, die vor dem Blondschopf gelaufen war, erreichte ihn als erstes und versetze beiläufig Kai durch seine Sicherungsleine einen kräftigen Ruck. Widerwillig folgte er ihrer Anordnung und tapste ihr teilnahmslos hinterher; gerade so weit, dass sie den Amerikaner erreichen konnte.
 

Wer war auf die glorreiche Idee gekommen, sie alle an einander fest zuketten? Außer Brian würde unterwegs schon niemand umfallen, und mal abgesehen davon schränkte es ihre Bewegungsfreiheit massiv ein und erforderte ein hohes Maß an Koordination und Zusammenarbeit. Wie sehr er beides hasste, wollte er gar nicht erst zu beschreiben versuchen.
 

Ohne Kai überhaupt eines Blickes gewürdigt zu haben, erreichte sie Alex und beugte sich über das kleine Ding in seiner Hand. Kurz darauf trat sie ein Stück zur Seite. Für einen kurzen Moment war für Kai sichtbar, wie sie bei dem Anblick ihr Gesicht verzog.
 

Jetzt schaffte die Neugierde es doch, den Siebzehnjährigen zu kitzeln. Zögernd trat er näher, um sich selbst ein Urteil zu verschaffen.

Bei der Apparatur in Alex' Faust handelte es sich um einen simplen Kompass.

Als Kai ihn schließlich erreicht hatte, warf er einen genaueren Blick auf die Apparatur und geriet zu seiner Verärgerung an einen Punkt, den er ganz besonders hasste: Den Punkt, an dem er für etwas beim besten Willen keine Erklärung fand.

Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er es wahrscheinlich nicht geglaubt, sondern vielmehr Alex und Brian beschuldigt, mal wieder zu viele Science-Fiction-Filme gesehen und/oder zu viel gesoffen zu haben.

Doch so blieb ihm nichts Anderes übrig, als in seinem Schrecken darauf zu hoffen, dass sich bald eine glaubwürdige Erklärung finden würde.

...aber mal abgesehen davon verstand er jetzt wenigstens, was der Grund für die ganze Unruhe war.
 

Völlig wirr und ziellos drehte sich die Kompassnadel nach allen Richtungen, schwankte, drehte sich dann wieder ziellos umher und zeigte einfach überall hin, nur nicht dorthin, wo sie sollte.
 

"Na toll.", stellte Mina fest, "Und was macht das Navigationssystem?"
 

"Das hat schon vor einer ganzen Weile den Geist aufgegeben....und meine digitale Uhr ist auch stehen geblieben. Einfach so, obwohl sie kälteresistent bis - 75° sein soll. Ich hatte sie noch ganz neu"
 

Kai verschränkte die Arme und ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Situation verunsicherte. Stattdessen beobachtete er aus den Augenwinkeln Mina, die einen provokanten Blick in Richtung Berggipfel warf und so etwas Ähnliches wie "Dead-Zone" nuschelte.
 

"Wat für'n Ding?"

Frustriert ließ Brian das Zugseil des Schlittens los und hüpfte unbeholfen mit den Schneeschuhen heran. Dabei sah er weniger aus wie ein Sprinter, sondern viel mehr wie Barney bei einer seiner Tanzeinlagen.

Kai spekulierte, dass der Rothaarige sogar besser vorangekommen wäre, hätte er sie einfach ausgezogen.

(Im Übrigen verdankten sie es dem unwahrscheinlichen Glück, dass die Kufen des Schlittens mit einer Robbefell-ähnlichen Spezialschicht überzogen waren und nur deshalb nicht dank Brians "Umsichtigkeit" rückwärts den Abhang runterrutschte.
 

"Ach so, richtig. Ihr habt vorhin mal wieder nicht zugehört, wie?", interpretierte die Rumänin die sie umgebenden ratlosen Gesichter.
 

"Um was geht's denn überhaupt?!", schnaubte Brian, als er endlich die drei anderen erreichte. Energisch grabschte er Alex den Kompass aus der Hand - starrte ihn an als wäre er nicht fähig gewesen, einen defekten von einem funktionstüchtigen zu unterscheiden - und schüttelte ihn heftig.
 

"Wir sind hier in einer so genannten Todeszone, oder Dead-Zone.", begann Mina ein in widerlicher Akademikersprache ausformuliertes Kurzreferat. Kai hörte ihr halbherzig zu. Was blieb ihm auch anderes übrig, wollte er nicht so unwissend bleiben, wie er es im Augenblick war.
 

"Ihr dürftet mitbekommen haben, dass man den Kontakt zu all den hier her gesandten Bergungsteams und Flugzeugen verloren hat. Als sie den Berg überflogen haben, ist vermutlich erst der Funk ausgefallen, und anschließend die Bordelektronik. Den Rest könnt ihr euch denken."
 

"Jetz’ versteh’ ich zumindest", kommentierte Alex, "wieso wir so weit außerhalb gelandet sind. Aber was - "
 

"Und das heißt?", fiel Brian den beiden ungeduldig ins Wort, "Was ist denn jetzt diese T...Toblerone und wieso spinnt dieses Ding?"
 

"Todeszone. Jetzt hör endlich auf, den Kompass zu malträtieren. Davon geht er höchstens noch ganz kaputt.", sie räusperte sich, "Als Todeszone bezeichnet man Gebiete, in denen es ungewöhnlich starke elektromagnetische Aktivitäten gibt. Die sind wiederum Ursache für plötzlichen Defekt oder Fehlfunktionen von allen Geräten, die mittels Magnetismus oder komplizierteren Schaltkreise funktionieren. Zum Beispiel der Kompass in deiner Hand oder eben der Computer an Bord eines Flugzeuges oder Helikopters."
 

"W...was? Igitt! Weg! Weg! Weg!

Angewidert schleuderte der Rothaarige den Kompass in Richtung Alex und taumelte ein paar Schritte zurück.

"Nimm bloß das Ding weg von mir!"
 

Sein Gegenüber rollte mit den Augen, ließ die unglaubliche Dummheit und die daraus folgende Unwissenheit des Philippinen auf sich beruhen und kümmerte sich erstmal um seine eigenen Fragen.

"Todesberg...Todeszone...So was gibt’s wirklich? Oder hast du zu viel Science-Fiction-Romane gelesen und willst und verarschen?"
 

"Also wenn dir der Elektroschrott an deinem Handgelenk, das kaputte Navi und dieser verwirrte Kompass noch nicht Beweis genug sind: Du bist gerade mitten in einer drin.", reflektierte Mina sein geschmackloses Feixen.
 

"Und wie orientieren wir uns jetzt?"
 

"Wir müssen uns, Wohl oder Übel, am Stand der Sonne und an den Sternen orientieren.", schaltete sich Kai mit übertriebener Arroganz ein zog seinerseits an der Führungsleine; er wollte den Weg endlich fortsetzen.
 

"Na wunderbar, Kai! Jetzt brauchen wir nur noch jemanden, der das kann!", zischte Brian, den Kais Verhalten mal wieder binnen Sekunden zur Weißglut trieb, "Und wenn wir noch jemanden zur Todesberg-Party mitnehmen, werden wir unterwegs weggesprengt!"
 

Unbeeindruckt von dem plötzlichen Wutausbruch, zog der Halbrusse eine Augenbraue hoch und grinste.
 

"Pah! Als ob du so was könntest! Dann macht Kai jetzt eben den Anführer und Navigator. Aber den Schlitten behalte ICH!", Brian rechnete nicht wirklich mit einer Antwort.
 

Kai nickte abfällig und machte seine Hoffnungen zunichte.

"So was lernt man eben, außer man ist zu blöd dazu. Sei lieber froh, dass wenigstens einer von uns die Orientierung behält.", setzte der Halbrusse noch einen nach.
 

Mina hingegen schwieg und hoffte, die beiden würden es damit auf sich beruhen lassen. Dieses ganze sinnlose Hickhack war pure Energieverschwendung und ging sie obendrein nichts an. Im Notfall würde sie sich auch ohne Kai zurecht finden, doch das brauchte er nicht notwendig zu erfahren. Es reichte, wenn sie ihn im Auge behielt und seine Entscheidungen gegebenenfalls korrigierte.
 

"Okay. Haben wir sonst noch nutzlosen Elektroschrott, den wir hier lassen können?", fragte Brian und warf dem überladenen Schlitten einen verächtlichen Blick zu.
 

"Um ehrlich zu sein, nein.", bedauerte ihn die Rumänin, "Das Team hat darauf geachtet, "Todeszonen-sicheres" Material einzupacken. Zum Beispiel haben wir gasbetriebene Campingkocher und einen kleinen Wasserboiler. Wir haben simple Taschenlampen und Batterien, aber nichts mit richtig aufwändiger Elektronik."
 

"Und woher weißt du das so genau?", meinte der Rothaarige flapsig.
 

"Na woher wohl?", ging der Amerikaner auf seine Frage ein, "sie hat wahrscheinlich die ganze Zeit daneben gestanden und auf einer Liste angekreuzt, was alles eingepackt wird und was nicht. Apropos: Habt ihr eigentlich eure Beyblades mitgenommen?"
 

Ohne es zu wissen, traf der Achtzehnjährige damit genau ins Schwarze.
 

"Ist doch logisch! Wieso sollten wir die bitte nicht mitnehmen?", prahlte Brian und begann eifrig in einer seiner Taschen zu kramen.
 

"Ich hab meinen auch dabei. Sonst hätte ich gar nicht erst gefragt. Ich wollte ihn nicht zuhause lassen. Besonders für den fall, dass..."

er sprach nicht weiter.
 

Mina sprach aus, was den anderen auf der Zunge lag.

"Falls wir nicht zurückkommen. Ich bin nicht sonderlich scharf drauf, aber für den Fall der Fälle würde ich Black Dranzer auch bei mir haben wollen."
 

"Hast du ihn nur deswegen mitgenommen?"

Einen kurzen Augenblick lang hatte die sonst so ausgeglichene Stimme des Amerikaners etwas Trauriges an sich.
 

"Pah! Hört auf mit dem Mist.", durchbrach Kai das drückende Schweigen und zerrte noch einmal am Sicherungsseil, so dass Mina beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und ihrerseits erbost einen kräftigen Ruck durch die Schnur gehen lies. Kai, der nicht damit rechnete, verlor der Halt. Das Gewicht des Equipments auf seinen Schultern erledigte das Übrige.
 

"Hast du Dranzer etwa zu Hause gelassen?", empört und versuchte vergebens aus dem zu pulvrigen Schnee eine Granate zu formen, um dem Siebzehnjährigen sein vorlautes Mundwerk zu stopfen.
 

"Was soll ich noch damit? Ich bin kein Blader mehr.", faselte der Halbrusse, richtete sich wieder auf und setzte sich trotzig in Bewegung.

Widerwillig folgten ihm die anderen. Sie hatten schon genug Zeit verloren, und es würde nur wenige Stunden hell sein.
 

"Alte Kackbratze...", maulte der Philippine und zerrte den widerspenstigen Schlitten hinter sich her
 

Von jetzt an setzten die Gefährten ihren Weg fort, ohne ein einziges Wort zu verlieren. Unangenehm kaltes Schweigen legte sich über ihre Häupter und haftete selbst dann noch an ihnen, als die Sonne allmählich in der Ferne versank und die schroffe Bergflanke in goldrotes Licht hüllte. Für einen kurzen Moment verwandelten sich die leblosen Wolkenfetzen am Firmament in lodernde Flammen, unter denen die unendlich weite Schneedecke in allen Farben zu glitzern begann.
 

Nach allem endlich ein erster Moment der Rest, der sie für die ganzen Strapazen zu entschädigen schien.

Schweigsam saßen sie in der Felsnische, in der sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Vor ihnen lag ein unwirklich schönes Gemälde, das mit seiner warmen Farbenpracht über die klirrende Kälte dieses Ortes hinwegtäuschte.

Endstation Tod

Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember
 

So also fühlte es sich also an....
 


 

Sie verspürte das aufdringliche Verlangen, auf die Uhr zu schauen.
 

Obgleich sie wusste, dass die Zeitmesser hier ihren Dienst verweigerten. Ein merkwürdiges Gefühl, so abgeschottet von der Außenwelt. Ganz isoliert von allem, selbst von der Zeit oder zumindest den Dingen, die die Menschen erfunden hatten, um selbige zu messen.
 

Wenigstens die Flüssigkeit im Thermometer verhielt sich glaubwürdig. Sie zeigte gesunde -53° Celsius an, was für momentane Verhältnisse relativ warm war. Sie hatten ausgesprochenes Glück, auch mit dem Wetter.
 

Hatte der mysteriöse Entführer (sie mochte diese Bezeichnung ganz und gar nicht und beschloss bei Zeiten nach einem besseren zu suchen) das wohl geplant? Wenn ja, wozu?
 

Unwichtig.

Es war bloß Zeit- und Energieverschwendung, sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen.

In den Plänen eines Wahnsinnigen gab es nichts, wofür es sich lohnen würde, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, maßregelte sie sich selbst.
 

Von klein auf hatte sie das Bestreben gehabt, die Gedankengänge anderer nachzuvollziehen. Erst das vollkommene Verständnis ihrer Umwelt ließ sie zur Ruhe kommen. Wenn auch nur eine Frage offen blieb, die die Beziehung zwischen ihr und einem wichtigen Menschen betraf, so dauerte es oft nicht lange, bis die Bindung an ihrer Unruhe und Wissbegierigkeit zerbrach.

Sie gab sich selbst die Schuld, obwohl ihr nichts klarer war als die Tatsache, dass vermutlich all ihre Beziehungen um ein Vielfaches besser funktioniert hätten, wenn die Menschen bloß ehrlich zu ihr gewesen wären.

Der Wunsch nach einer festen Bindung, zu tiefgründiger Liebe und zu vollstem Vertrauen lag fest in ihrem Herzen verankert. War es allein das, was sie die Jahre am leben gehalten hatte? Die Suche nach dem einen Menschen, der so was wie sie selbst? Der sie verstand - und, vor allem, sich verstehen ließ? Jemand, der so fühlte wie sie?

Diese eine Hoffnung, für die es auf Grund unzähliger Enttäuschungen schon längst keinen Grund mehr gab, zu existieren?

Das war doch...grotesk!

Und dabei bestand der Sinn des Lebens vieler Menschen darin, die so genannte große Liebe zu finden.

Die große Liebe...daran glaubte sie nicht mehr.

Ebenso wenig wie an das Bestehen einer Ehe. An Vertrauen. An verlässliche Freundschaft. Oder an den Schutz des Elternhauses. Diese Dinge hatten in ihrer Welt nie existiert.

Ihr Leben war weitaus kälter als dieser Ort. Und viel dunkler als die dunkelsten Fantasien eines Menschen, der nicht eben so schreckliche Erinnerungen mit sich trug wie sie selbst.

Man musste es selbst erlebt haben, um es verstehen zu können.

Um SIE verstehen zu können.

Um sie lieben zu können.
 

Und hier war Endstation. An diesem Punkt sollte der klägliche Rest ihrer Hoffnung eigentlich in tausend kleine Teile zerspringen.

Es gab nichts, wofür es sich lohnte, weiter an einem eigenständigen Leben festzuhalten.

Jede form der Logik bestätigte es.

Und sie wäre schon vor langer, langer Zeit dieser form von Logik gefolgt. Wäre da nicht die Bürde, die man ihr auferlegt hatte.
 

Sie war eines der ersten Dinge, an die sie sich erinnern konnte. Etwas, dass sich fest in ihr Gedächtnis gebrannt und den Verlauf ihrer Lebens grundlegend bestimmt hatte. Die eine Aufgabe, die sie am sterben hinderte. Die ihr halbtotes Bewusstsein weiter vorwärts trieb.

Die Aufgabe, deren Erfüllung sie sich voll und ganz gewidmet hatte. Wieso auch nicht? Außer ihr gab es nichts mehr. Sie hatte keine Wahl, als ihr zu folgen.

Allein aus Respekt vor dem Augenblick, als sie ihr Versprechen ablegte. Das alte Foto der kleinen, hilflosen Person, die sie die ganze Zeit ungläubig angestarrt hatte. Zu klein, um überhaupt zu verstehen, dass sie selbst einmal das Zentrum von Mina Blazes Leben darstellen würde. Dass wegen ihr eine ganze Familie auseinanderbrach. Oder welch schreckliche Zukunft sie einmal erwartete.

Diese Person...ein kleiner Junge, wegen dem Menschen zu Monstern wurden.
 

Minas Eltern mit eingeschlossen. Die ihre Tochter damals an die Eltern des Jungen "verkauften", geblendet vom Ruhm und Reichtum seiner wohlhabenden und einflussreichen Familie.

Nachdem die Eltern des Jungen verschwanden, verloren ihre eigenen das Interesse an dem damaligen Beschluss und überließen Mina sich selbst. Im Strudel einer gnadenlosen, unglücklichen Kindheit gefangen, entfernte sie sich mehr und mehr von den Menschen, die sich selbst als ihre Familie bezeichneten, und machte die ersten Schritte in eine unsichere, kalte und feindliche Welt.
 

Seit dem Moment, in dem sie ihr Versprechen gegeben hatte, glich ihr Leben dem freien Fall in die Dunkelheit. Nichts vermochte ihn zu bremsen oder abzufangen. Der immer näher rückende Aufprall war mit der Zeit zum besten Freund geworden. Eine Erlösung des aussichtslosen Leidens, auf das sie nicht noch länger warten wollte.
 

Als sie schließlich den Glauben an alles Gute in der Welt verloren hatte, kam der Tag, an dem sie sich noch einmal zurückerinnerte. Sie stand kurz davor, den erlösenden Aufprall selbst herbeizuführen, als sie in ihrer Geschichte rückwärts ging.

Vorbei an all der Enttäuschung, an all dem Schmerz, an all der Boshaftigkeit der Menschen. Immer weiter, bis sie schließlich in ihrer frühen Kindheit angelangt war und in die Augen des kleinen Jungen sah, dessen Eltern sie ihr Versprechen gegeben hatte.

Und sich an die folgenschwere Zeit danach erinnerte.
 

Die Narben an ihren Unterarmen stammten von unzähligen Zugängen, Spritzen und entnommenen Gewebeproben.

Man hatte versucht, aus ihr etwas zu machen, was sie nicht sein wollte. Sie wusste, das das nicht ihr Schicksal sein konnte, doch ihr Versprechen lähmte ihren Willen.

Die Eltern des kleinen Jungen hatten sich mehrfach gegen das ausgesprochen, was mit Mina geschehen sollte. Schließlich führte es dazu, dass die Familie des Jungen zerbrach. Kurz darauf stand fest, dass das Experiment Mina fehlgeschlagen war. Man hatte keine Verwendung mehr für sie und gab sie zurück in die Obhut ihrer eigenen Familie.

Man hatte auch hier das Interesse an ihr verloren, da sie keine Geldquelle mehr darstellte und in den Augen aller versagt hatte.
 

Von dort an sollte ihr Leben eine einzige Qual sein.
 

Die Erinnerung daran war so schmerzhaft, dass es ihr immer wieder den Brustkorb zusammenschnürte und sie zu ersticken drohte.

Ihr Entschluss stand fest. Was sie bis hier hin hatte durchmachen müssen, war die reinste Zumutung. Es gab keinen Grund, an diesem durch und durch nicht lebenswerten Leben festzuhalten. Ihr letzter Wunsch war, bloß nicht noch einmal wiedergeboren zu werden.
 

Sie war bereit. Nichts hielt sie mehr davon ab.

Ihre Zukunft lag als Straße ohne Abzweigungen durch Trümmerfeld voller Glasscherben vor ihr. Ihr Inneres war tot. Tot und kalt wie die Welt, in der sie wie in einen Käfig eingesperrt war.
 

Ein letztes Mal sog sie Luft in ihre Lungen, schloss die Augenlider und...sah das Gesicht des Jungen vor sich. Sie hörte die Stimmen seiner Eltern. Sie höre ihre eigene, kindliche Stimme und spürte die alte Last der Bürde auf ihren Schultern. Von einem Moment zum nächsten war sie fest gekettet. Auf ewig gebunden an dieses kleine Geschöpf, das selbst noch nicht mal verstand, was das für sie beide bedeutete.
 

Da es sie hinderte, sich ihrem letzten eigenständigen Handlungsdrang hinzugeben und sie sich ohnehin für innerlich tot erklärt hatte, widmete sie sich stumm, taub, blind und ohne eigenen Willen der Erfüllung ihrer Aufgabe, um in ihrem Leben wenigstens die Eltern des Jungen zufrieden zu stellen.
 

Von dort an war sie das Spielzeug des kleinen Jungen, der allmählich erwachsen wurde und auf seine Weise feststellte, wie grausam die Welt war, in die er hineingeboren wurde.
 

Die junge Frau seufzte.

So weit weg von aller Zivilisation machte sie sich noch Gedanken um diese Dinge...und verschwendete ihre Energie, während die anderen schliefen.

Hier draußen war sie nicht mehr das Mädchen von damals. Hier war sie niemand. Frei von allem. Frei von den Menschen. Frei von den störenden Lichtquellen der überfüllten, lebensfeindlichen Städte. Frei von der stickigen Luft und der Hektik.
 

Über ihr breitete sich der pechschwarze Himmel aus, bespickt mit unzähligen Sternen, die sie noch nie so sehr hatte funkeln sehen. Nie zuvor hatte sie eine derart hell schimmernde Mondsichel gesehen, die die umliegenden Wolken dumpf und warm leuchten ließ wie aufgeblähte Lampions.

Nie hatte sie so einen sauberen, glasklaren Wind auf ihrer Haut gespürt.
 

Auf sonderbare Weise war es schön hier draußen. Sie vermochte beinahe den Grund zu vergessen, wegen dem sie überhaupt hier war, und begann sich auszumalen, wie wohl ihr Leben ausgesehen hätte, wenn sie nur nicht sie selbst hätte sein müssen.
 

In einem anderen Leben hätte sie den Großteil ihrer Lebenszeit bestimmt an einem Ort wie diesem verbracht.

Vielleicht in einem schönen Haus mit dunklen, antiken Holzmöbeln und kunstvoller Mustertapete, etwa mit französischen Lilien als Motiv. Ein großes Himmelbett hätte sie gehabt, mit Kaskaden aus dunkelrotem Samt. Und einen stämmigen Kamin.

Sie hätte ein ruhiges Leben geführt, mit ein paar wenigen, aber dafür ihr sehr vertrauten Bekanntschaften. Hätte Geld gehabt. Kein riesiges Vermögen wie das, auf dem Kai saß. Aber eben genug, um wegzukommen von der Armutsgrenze, und den einen oder anderen Wunsch zu erfüllen.
 

Wenn sie ein solches Leben geführt hätte, dann sicher in so einer Gegend. Nur vielleicht nur ein bisschen wärmer.
 

Sie drückte die Arme gegen ihren Körper und spürte das weiche, flauschige Material ihres Overalls. Irgendwie mochte sie dieses Gefühl, wie es sich an sie schmiegte und sie wärmte.

Unterhalb des schützenden Polsters trug sie einen eng anliegenden Anzug aus sowohl gut isolierendem als auch atmungsaktivem Textil. Eine Spezialanfertigung. Für Expeditionen wie diese entwickelt. Angeblich das Neueste und Beste. Somit also auch anständig teuer, obwohl sie sich unter dem Begriff nie wirklich etwas hatte vorstellen können.
 

Egal. Hauptsache, es hielt warm.
 

Tief in den Wirrungen ihrer Gedanken versunken, saß sie auf dem Boden der Felsspalte. Den Blick starr in die Dunkelheit hinaus gerichtet. Über ihr tanzten die kleinen Kondenswölkchen ihrer Atemluft davon, bis sie ganz und gar aus dem schwachen Licht der Batterieleuchte hinaus in die grenzenlose Schwärze glitten.
 

____________
 


 

Kai überraschte der bisher fast reibungslose Verlauf der Expedition.
 

Binnen 10 Minuten waren Lager und Zelte aufgerichtet gewesen.

In einem lag das nötigste Equipment, in einem anderen schliefen sie, das dritte war Ersatz. Eigentlich war alles perfekt. Sie waren weit vorangekommen. Die Wetterbedingungen konnten nicht besser sein. Man hatte ihn sogar als Anführer akzeptiert.

Alles lief geordnet und ruhig ab, doch irgendetwas stimmte nicht...
 

Trotz seiner Müdigkeit konnte er nicht schlafen. Geistesabwesend starrte er an die orangefarbene Decke der kleinen Schlafzelle. Glücklicherweise besaß das Zelt Trennwände im Inneren. Ohne diesen Hauch von Privatsphäre hätte er erstrecht keine Ruhe gefunden.
 

An der Decke hing eine Taschenlampe, die dank ihres simplen Stromkreises nicht den Geist aufgegeben hatte. Trotzdem flackerte sie von Zeit zu Zeit.

Allmählich fiel es ihm schwer, zu glauben, dass dieses elektromagnetische Feld keine Auswirkungen auf ihn und die anderen hatten.

Es schien zwar unsinnig, aber auf sonderbare weise wurden alle vier immer verschwiegener, je näher sie dem Gipfel kamen.
 

"Ach was", entwertete er den Gedanken, "das hat ganz bestimmt nichts mit diesem Feld zutun."
 

Trotzdem fragte er sich, was es damit auf sich hatte. Wie es erzeugt wurde, und wozu. Bloß zur Abschreckung? Um zu Verhindern, dass komplizierteres technisches Gerät oder dergleichen angeschleppt wurden? Um den Kontakt zur Außenwelt zu verhindern?
 

Ob man verhindert wollte, das die Außenwelt etwas entdeckte, das sich hier befand? Was konnte so wichtig sein, dass man es durch solche Maßnahmen vertuschte?
 

Früher oder später würden sie es herausfinden. In etwa zwei Tagen würden sie den Gipfel erreichen und sehen, was jenseits der dunklen Wolkenschicht lag, die die Bergkuppe umringte.
 

Als glaubte, beinahe eingeschlafen zu sein, riss ihn etwas aus seinen Gedanken. Mit einem Schlag war er hellwach und lauschte angestrengt.

Ihm war, als hätte er etwas gehört. Er steckte den Kopf aus dem Schlafsack hinaus in die Kälte und löschte das Licht, um zu erkennen, ob sich außerhalb des Zeltes etwas bewegte.

Minuten vergingen.

Nichts.

Und dabei war er todsicher gewesen, ein Geräusch gehört zu haben. Sollte das wirklich Einbildung gewesen sein? Es kam ihm so real vor...

Einen kurzen Moment hielt er noch inne, doch dann wurde er es leid und rutschte wieder in die schützende Wärme des Schlafsacks.
 

Die Trennwand seiner Schlafzelle wurde schlagartig aufgerissen, oder besser: Sie wurde aufgeschlitzt, und zwar von einer scharfen Klinge. Das Geräusch jagte einen Impuls von lähmender Angst durch Kais Körper. Bis eine heiße Flüssigkeit auf seinem Gesicht landete. Er begriff, dass es sich dabei um Blut handelte.

Reflexartig versuchte er sich aus dem Schlafsack zu befreien, der ihm zur tödlichen Falle wurde. Zwar konnte er sich aufrichten und in die hinterste Ecke seiner Schlafzelle zu kriechen, doch er war blind. Gefangen in der Dunkelheit. Dem, was auf ihn lauerte, schutzlos ausgeliefert.
 

Die unerträglich gewordene Angst schnürte ihm die Kehle zu, während sein Herz so schnell schlug, dass es ihm vermutlich jeden Moment die Hauptschlagadern platzen ließ.

Wie durch ein Wunder gelang es ihm, eine Hand freizubekommen. Blut rann über seine Wangen, während er Atemlos nach der Taschenlampe tastete.

Wo war das verdammte Ding?!
 

Seine Hände zitterten so sehr, dass er sie vermutlich nicht mal hätte einschalten können. Und selbst wenn, hätte es dieses...DING nicht aufgehalten. Trotzdem packte er zu, als sein Ringfinger gegen etwas stieß, wovon er hoffte, dass es etwas Nützliches war. Doch im selben Moment spürte er einen dumpfen Ruck an seiner Schulter, dessen Wucht ihm fast das Genick zu brechen schien. Er wurde ein paar Meter weit geschleudert und landete im Schnee. Offenbar hatte ES das Zelt auseinander genommen.

Er wagte es gar nicht, sich vorzustellen, was es wohl mit den anderen gemacht hatte.
 

Ohne jegliche Orientierung lag er zusammengekauert auf dem Boden und wusste nicht, was schlimmer war: Der unerträgliche Schmerz, der grauenhafte Schrecken oder die Angst vor dem, wovon er noch nicht mal wusste, was es überhaupt war oder was es mit ihm vorhatte.

Noch immer war er blind, und zu allem Überfluss hatte er die Taschenlampe fallen lassen. Verzweifelt klammerte er sich an die Hoffnung, das Ding würde von ihm ablassen, wenn er sich ganz ruhig verhielt. Möglicherweise würde es glauben, er sei bereits tot. Oder vielleicht war es ja in der Dunkelheit genauso blind wie er selbst...

Er versuchte den Atem anzuhalten, um jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Doch das bereute er sofort, als er hinter sich die Zeltstangen klappern hörte. Hinzu kam ein beängstigendes Röcheln, von dem er nicht sagen konnte, ob es sich dabei um einen Menschen oder ein Tier handelte. Und es bewegte sich auf ihn zu!

Das war's!

Vor Angst und Entsetzen gelähmt blieb ihm nichts mehr übrig, als auf sein Ende zu warten. Die Zeit, die dieses Ding brauchte, um sich ihm zu nähern, zog sich ins Endlose. Wieso konnte es nicht einfach vorbei sein? Es gab wohl nichts Fürchterlicheres, als in dieser kompletten Dunkelheit auf den eigenen Tod zu warten und nicht mal zu wissen, WAS...
 

Die Schritte blieben direkt hinter ihm stehen. Sturzbäche von Blut tropften hinunter auf seinen Oberkörper und auf sein Haupt. In diesem Augenblick war es totenstill.

Kai kniff die Augen zusammen und beschloss seine letzten Gedanken seinem Schutzgeist Dranzer zu widmen.

Dann hörte er, wie das Ding in seinem Rücken das schwertähnliche Werkzeug vom Boden hob. Es schien zum Todesstoß auszuholen.
 

Kai schickte ein Stoßgebet zu seinem Phönix.

Eine gewaltige Welle von Adrenalin schwappte durch seinen Körper. Es gelang ihm, sich im richtigen Moment zur Seite zu rollen. Deine Hände bekamen die Taschenlampe zu fassen, die unmittelbar vor ihm gelegen haben musste. Als der die Wand der Felsspalte in seinem Rücken spürte, schaltete er sie ein und richtete den Lichtkegel reflexartig in die Richtung, aus der der Hall des vermutlich tödlichen Hiebs zu ihm drang. Er sah, was ihn verfolgte, doch wurde ihm klar, dass er besser unwissend hätte sterben sollen. Was er jetzt sah, war das abscheulichste, barbarischste und grausamste, das er jemals gesehen, gedacht oder geträumt hatte.
 

Im grellen Licht erkannte er das von reiner Boshaftigkeit und grenzenlosem Wahnsinn entstellte Haupt Voltaires; blutüberströmt. In seiner einen Hand hielt er eine Machete, in der anderen hielt er die Köpfe von Alex, Brian und Mina bei den Haaren. Fassungslos konnte er nur noch zusehen, wie Voltaire mit einem diabolischen Schrei ausholte und ihm seine Waffe durch die Brust jagte.

Pechstäne

Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember
 

Gedämpft drang das Klappern von Metallgegenständen zu ihm durch. Er hörte das Geräusch von Reißverschlüssen und ein paar Laute, die er nicht direkt zuordnen konnte. Dazwischen Stimmen.
 

Zögernd hob er eines seiner Augenlider.

Über ihm lag die Plane des Zeltes. Unversehrt und orange.

Er ließ den Kopf auf die Seite rollen und sah auf die Trennwand. Keine Einschnitte, kein Blut. Stumm und leblos hing sie da, als wäre nichts gewesen.
 

Es war kalt an diesem Morgen.
 

Schritte näherten sich, dann trat jemand erbost gegen die Außenwand des Zeltes.
 

"Wird's bald? Alte Schlafmütze! Steh' endlich auf, sonst lassen wir dich hier bis aus dir ein Tiefkühlfischstäbchen geworden ist!"
 

Kai zuckte zusammen. War das nicht Brians Stimme?

Das Bild seines blutig triefenden, abgetrennten Kopfes flammte vor seinem inneren Auge auf; er hatte grüße Mühen, seinen Brechreiz zu unterdrücken und verkroch sich in seinem Schlafsack.

Der Schrecken saß tief, auch wenn es sich nur um einen Traum gehandelt haben sollte.

Dass das alles nicht real gewesen sein sollte...schien so unbegreiflich. Dazu war es einfach viel zu realistisch.
 

"Kai! Jetz’ mach endlich! Wir wollen los!"
 

Diesmal war es Alex' Stimme, die nach ihm rief. Er musste etwas weiter vom Zelt weg sein. Und auch Brians Schritte entfernten sich wieder. Stattdessen näherte sich jemand anderes rasch.

Kurz darauf hörte Kai, wie der Zelteingang geöffnet wurde und jemand ins Innere kroch. Dann wurde der Eingang wieder geschlossen.

Vorsichtig wurde die Trennwand geöffnet und Mina streckte den Kopf zu ihm herein.

Kai erstarrte.

Ohne jede Vorwarnung schwebte ihr beinahe farbloses Gesicht direkt über seinem.

Es war dieser Blick, der ihm den Atem raubte und sein Blut wie wild durch seine Adern rauschen ließ.

Der Anblick ihrer blassen Lippen...der unendlich tiefen dunklen Augen mit sonderbar rötlichen Schimmer...es war haargenau der Gesichtsausdruck von damals, im Duschraum des Phoenix Castels.

Und genau wie damals schaffte sie es, seine Herzfrequenz von einer Sekunde auf die andere zu verdoppeln.

Seine Wangen erröteten.

Regungslos sah er sie an, sog den ihm so vertrauten und doch das Gefühl der absoluten Unnahbarkeit mit sich bringenden Duft ein. Lag einfach nur da, vollkommen erstarrt. In diesem Augenblick wäre er im Stande gewesen, die komplette Welt zu vergessen und nur mit dieser Frau ins unendliche Nichts zu stürzen.
 

Ihr Blickkontakt riss ab, als sie sich weit über ihn beugte.

Er konnte sehen, dass sie ihren Overall nicht ganz geschlossen hatte. Der Reißverschluss des darunter liegenden hautengen Iso-Anzugs war leicht geöffnet, sodass er die milchig blasse Haut ihres Halses sehen konnte. Seine Augen folgten dem Spalt bis weit hinunter, wo sich der Ansatz ihrer wohlgeformten Brust erahnen ließ. Er konnte die unendliche Weichheit ihres warmen Fleisches auf sich spüren. Erinnerte sich wieder an den Geschmack ihrer Lippen.
 

Ein Zucken ging durch ihren anmutigen Körper und zog ihn ganz und gar in ihren Bann.

Doch was tat sie?

Ebenso schnell, wie sie erschienen war, zog sie sich jetzt zurück. Sah ihn nicht einmal an. Als hätte sie nichts bemerkt. Nichts gespürt....Dieses Kribbeln, wie es durch seinen Körper strömte, war nie zuvor so stark gewesen wie jetzt. Wie konnte sie davon nichts mitbekommen haben?
 

"Wie lange willst du noch da rum liegen?", riss ihn ihre Stimme mit gewohnter Kälte und Teilnahmslosigkeit in die raue Gegenwart zurück. "Hier ist dein Overall. Und drück dich nicht um die Morgentoilette. Du stinkst ja schlimmer als Brian."

Damit brachte sie Kai endgültig aus dem Konzept. In seiner Verwunderung realisierte er erst jetzt, dass sie sich nur so weit über ihn gebeugt hatte, um seine Besitztümer an sich zu nehmen. Und, ohne dass er es bemerkt hätte, seinen Schlafsack zu öffnen.

Der Verzweifelte Blick, mit dem er sie entsetzt ansah, half jetzt auch nichts mehr.

Ein beherzter Ruck ihrerseits, und Kai landete unsanft auf dem überraschend harten Zeltboden.
 

Kurz darauf war sie schon wieder nach draußen verschwunden. Wenigstens war sie so rücksichtsvoll, den Zelteingang hinter sich zu schließen. Wenn nicht, würde jetzt vermutlich ein Strom eisiger Luft zu ihm ins Innere strömen.
 


 

______________
 


 

Nach ein paar Stunden des wortkargen Wanderns und Kletterns erreichte die kleine Gruppe schließlich den Pass. Von hier an war der Weg zwar weiter tief verschneit, dafür aber nicht so unwegsam und steil wie der Fuß des Berges. Von hier an war es wenigstens nicht mehr so leicht, sich zu verlaufen. Man musste lediglich zu deuten verstehen, wo der Pass aufhörte und der Hang anfing, was mal mehr, mal weniger gut zu erkennen war.
 

"Gar nicht mal so schlecht, was?"
 

"Die Aussicht? Stimmt. Die ist echt der Wahnsinn."
 

"Bitte? Nur weil mir die Kälte nicht bekommt, fällt mir noch lange nicht der Schwanz ab! Ich meinte den Weg, den wir schon zurückgelegt haben."
 

Brians und Alex' form der gepflegten Konversation.

Nach einigem Zögern sah der Philippine dann aber doch kurz über den Rand des schmalen Gebirgspfades; hinweg in die Ferne.
 

Kai hingegen lief etwas abseits und studierte die Karte. Die Gesprächsthemen der beiden Jungs hatten ihn noch nie interessiert. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Erreichen des Berggipfels, und das möglichst zielstrebig. Da passte die Tatsache, dass er heute Morgen der letzte war, gar nicht recht ins Bild.

Zu allem Überfluss kam noch die Müdigkeit hinzu.

Er fühlte sich, als hätte er gar nicht geschlafen. Und überhaupt, wie konnte ein ihm so kurz vorkommender Traum eine ganze Nacht dauern? Ob das wohl alles mit diesem merkwürdigen Ort zusammen hing?

Seit seiner Ankunft hatte er einen Tiefschlag nach dem nächsten einstecken müssen, angefangen bei der Begegnung mit seinen ehemaligen Teamkollegen über seine Alptraum bis hin zum diesmorgentlichen Fehlstart; Minas Finte mit einbegriffen.
 

Er machte sich zwar keine größeren Gedanken darum, aber seine Laune war mal wieder im Keller. Die Tatsache, dass die anderen ihre erste Nacht im Freien so gut überstanden hatten, machte es auch nicht besser; im Gegenteil.

Aber egal. Je schneller das alles vorbei war, desto besser.
 


 

...ob es wohl ein Fehler gewesen war, mitzukommen?"
 

"Kai! Pass auf! Hinter dir!"
 

"Was - ?!"
 

Zu spät.

Irgendetwas Schweres traf ihn mit gewaltiger Wucht an der Rückseite seiner Schulter. Der Einschlag ließ eine regelrechte Schockwelle durch seinen Körper jagen. Einen Augenblick lang verlor er jeglichen Bezug zur Realität, bevor er sich schließlich auf dem Boden liegend wieder fand. Dann erst setzte der Schmerz ein.
 

Es fühlte sich an, als wäre sein rechter Arm restlos abgetrennt worden, und die meisten seiner Knochen zertrümmert. Er konnte nicht mal den Kopf drehen, um zu sehen, was um ihn herum passierte. Regungslos und taub war er an den Boden gekettet, selbst zum Schreien war der Schmerz einfach zu stark. Die Schwelle zur Ohnmacht rückte in beinahe greifbare Nähe.

Er überschritt sie nicht.

Dass er trotz der unbeschreiblichen Pein noch bei Bewusstsein war, schockierte ihn.
 

War sein Alptraum nur ein Ohmen, das ihn auf das hier vorbereitet hatte? Starb er jetzt wirklich?

Hauptsache, der dieser entsetzliche Schmerz hörte endlich auf!

Pechsträne, die zweite

Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember
 

Er musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass weder er bewusstlos werden, noch der Schmerz nachlassen würde.

Und was er selbst nicht für möglich gehalten hatte, trat nach ihm geradezu endlos erscheinender Zeit doch noch ein:

Es wurde beinahe erträglich.

Zumindest glaubte er das, als er allmählich seinen Orientierungssinn zurückerlangte. Er verdrehte die Augen so weit, dass er sehen konnte, wie Alex und Brian an ihm vorbeistürmten. Sie schienen zu flüchten...oder verfolgten sie etwas?

Sie hatten doch nicht vor, ihn hier einfach liegen zu lassen?!
 

Einer der beiden rief etwas. Seine Stimme hallte in seinem Kopf wieder; er konnte beim besten Willen kein Wort verstehen. Obwohl er mehr oder weniger bei Bewusstsein war schien außer dem Orientierungssinn alles andere zu streiken.

Wieso konnte nicht auch sein Schmerzempfinden dazu gehören?
 

Und wo zur Hölle war Mina?
 

Ehe er den Gedanken wirklich zu Ende denken konnte, spürte er, wie jemand auf seinen ohnehin mürben Rücken sprang. Der dadurch verursachte Schmerz übertraf den des vorangegangenen Einschlags noch einmal um Längen - und der hatte die ihm bis dahin bekannte Grenze des Ertragbaren schon völlig neu definiert. Diesmal tat es so entsetzlich, dass es einen fürchterlich klingenden Schrei aus ihm herauspresste.
 

"Sei still...", hauchte ihm eine gut bekannte Stimme ins Ohr. Zu seiner Überraschung konnte er sie klar und deutlich verstehen, jedoch nicht sofort zuordnen.

"Bleib ganz ruhig liegen. Du hast einen Pfeil in der Schulter."
 

...war das etwa Mina, die auf ihm kniete?!

War sie jetzt völlig verrückt geworden?!!! Er konnte förmlich spüren, wie die Bruchteile seiner Knochen unter ihrem Gewicht in alle Richtungen verschoben wurden und sich in seine inneren Organe bohrten. Als er schließlich das Knirschen in seinem Rücken hörte, war das einfach zu viel.
 

"...sofort... runter, verdammt!", presste er mit fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrter Stimme hervor und versuchte reflexartig mit dem weitestgehend unbeeinträchtigten Arm nach ihr zu greifen.

Er bereute es sofort, als ihn Mina brutal niederschmetterte und mit einem ihrer Knie fixierte.

"Ich hab gesagt, nicht bewegen! Du machst es nur noch schlimmer."
 

Schlimmer? Sie war doch diejenige, die ihn gerade zu Tode quälte! Moment…was hatte sie da von einem Pfeil erzählt?
 

"Halt jetz’ still. Ich muss ihn rausziehen."
 

...rausziehen?!!!!

Sie musste den Verstand verloren haben...oder Mordgelüste. Oder das zweite führte zum ersten.
 

Glücklicherweise wartete sie nicht auf Kais Einverständnis sondern nutzte den Moment der völligen Überraschung, sodass der Halbrusse nicht auf die Idee kam, sich dagegen zu wehren und sich unter Umständen noch schwerer zu verletzen.

Trotzdem war die Prozedur alles andere als angenehm.
 

Auf sein Entsetzen folgte ein weiterer, unglaublich schmerzintensiver Ruck, ausgehend von seiner Schulter. Der Impuls zog sich bis in Fingerspitzen und Zehen. Es war ihm, als würde ihm mit einem Male der gesamte Brustkorb inklusive Wirbelsäule herausgerissen.

Zwar wusste er jetzt, dass sein rechter Arm noch da war wo er hingehörte. Doch das war eher ein Fluch als ein Segen. Denn der tat von allen Extremitäten nun zweifellos am meisten weh.

Tränenflüssigkeit schoss ihm in die zusammengekniffenen Augen. Ein markerschütternder Schrei folgte.
 

"Jetzt beruhige dich! Sonst kommen die wieder und jagen dir noch mehr Pfeile in den Körper. Willst du als Nadelkissen enden?"
 

Das Schreien blieb ihm in der Kehle stecken. Pfeile? Ach ja richtig, er hatte einen Pfeil in der Schulter!

Saurer Magensaft quoll ihm hoch.
 

Bevor er dazu kam, sich zu übergeben, jagte noch ein dritter Schmerzimpuls durch seinen Körper. Diesmal konnte er deutlich spüren, wie der Fremdkörper entfernt wurde.
 

"Was soll das?!", hustete er, "Hättest du mir nicht sagen können, dass du zwei von den Dingern rausziehen musst?!"
 

"Reg dich ab. Das war noch mal derselbe. Er war nur so tief drin, dass ich ihn nicht gleich rausbekommen -"
 

"Na toll....hey, was machst du denn jetzt? Bist du wahnsinnig?!"

Er fühlte, wie sie hektisch die Rückennaht seines Overalls und des darunter liegenden Isolationsanzugs auftrennte. Trotz der eisigen Witterung wurde es um die Wunde herum angenehm warm.
 

"Kai! Halt still", hörte er plötzlich Alex' Stimme hinter sich. Seine Schritte näherten sich rasch.
 

"Das versuche ich ihm auch klar zu machen", rief Mina ihm entgegen, "aber auf mich hört er nicht".
 

"Drück was auf die Wunde. Ich bin gleich wieder da." Der Amerikaner rannte gleich weiter zum Schlitten, den Brian in der Eile zurückgelassen hatte.
 

Hatte er Mina gerade die Anweisung gegeben, auf die Wunde zu-?!
 

"Ahhhrg! Bist du des Wahnsinns?!"
 

"Hör endlich auf zu...zicken..."

Ihre Stimme änderte sich mitten im Satz. Von einer Sekunde auf die nächste klang sie völlig geistesabwesend. Irgendetwas musste sie verunsichert haben.
 

"Der Pfeil ist wahrscheinlich infiziert"; teilte sie ihm trocken mit, drückte ihn dann aber erneut zu Boden und rutschte etwas weiter abwärts.
 

Was faselte sie da für wirres Zeug? Wurde sie gerade ohnmächtig? Was sollte denn das jetzt wieder?!

Zwar konnte noch immer nicht sehen, was sie da auf seinem Rücken trieb (schließlich lag er immer noch unbeweglich auf dem Bauch - mit einem Loch in der Schulter), aber wenn sie jetzt schon nicht bei der Sache war, sollte sie wenigstens bei Bewusstsein bleiben. Schließlich spielte sie sich hier mal wieder als die große Heldin auf. Und überhaupt -
 

Was zum...
 

Das waren doch eindeutig ihre Lippen, die sich da auf seine Wunde pressten und...kräftig saugten!
 

Schlagartig erinnerte er sich zurück an die Meisterschaft, genauer gesagt an die Situation, als er den Geschmack von Minas Faust hatte kennen lernen müssen. Urplötzlich hatten ihre Augen dieses diabolische Funkeln...und die Länge ihrer Eckzähne hatte sich nahezu verdoppelt!

Eigentlich glaubte er nicht an solchen Schwachsinn, und er weigerte sich vehement, überhaupt daran zu denken, sie mit so etwas Groteskem zu assoziieren.

Doch wirkte die Tatsache, dieses äußerst fragwürdige Weib in dieser noch fragwürdigeren Situation auf seinem Rücken zu wissen, äußerst beunruhigend. Besonders der merkwürdige Zufall, dass sie sich gerade wie eine Zecke mit seinem Blut voll sog, machte ihn irgendwie nervös...
 

Ehe er dazu kam, sie mit wildesten Beschimpfungen zu verjagen, ließ die Transsylvanierin wieder von ihm ab.

Sie spie eine beträchtliche Menge seines Lebenssaftes direkt neben sein Gesicht in den Schnee. Erstmals konnte Kai das Resultat seines übermäßigen Tablettenkonsums sehen: Es hatte aufgrund der Verunreinigungen eine beängstigend dunkle Farbe.

Scheinbar hatte auch sie gemerkt, dass es alles andere als genießbar war...und es womöglich deshalb wieder ausgespuckt?
 

"Verdammt...!", schnaubte sie und sog noch ein weiteres Mal an der Wunde. Diesmal noch kräftiger.
 

Wo blieb Alex? Er sollte endlich dieses blutdurstige Gruftmonster von ihm runterzerren, bevor es ihn noch ganz auffraß!
 

Eine weitere Blutlache landete neben ihm im Schnee. "Wie fühlst du dich?", fragte sie beunruhigt.
 

"Bitte? Willst du mich verarschen? Das ist ja wohl die blödeste Fangfrage, die ich -"
 

"Fühlst du dich irgendwie verändert?"
 

"Na ja, du hast mir grade einen Pfeil aus dem Rücken gezogen und mich anschließend ausgesaugt wie eine überreife Mango. Wie soll ich mich bitte fühlen?"
 

"Was machst du denn mit Kai?!"

Alex’ Stimme klang wie der Gesang eines Engels. (Ausnahmsweise war ihm der schwuchtelige rosa Beigeschmack seiner Metapher egal)
 

"Sieh mal"

Mina schien ihm irgendetwas zu zeigen, worauf sich Kais Hoffnungen, die Alex in ihm geweckt hatten, sofort wieder in Luft auflösten.
 

"Leute, kann mir mal endlich jemand sagen, was hier los ist?!", beschwerte sich der Halbrusse, "Und geh du gefälligst von mir runter!"
 

Unbeeindruckt von Kais Brüllerei ließ sich die junge Frau gemächlich von ihm herunterrutschen und begann in den Taschen ihres Overalls herumzukramen.
 

"Erinnerst du dich noch an das biomechanische Virus, das wir in Voltaires Labor gefunden haben? Jetzt wissen wir, wofür er es entwickelt hat. Ich habe versucht, einen Teil durch die Wunde auszusaugen, aber ich fürchte, das hat nicht funktioniert. Der Pfeil ist zu tief eingedrungen."
 

"Moment, Moment", unterbrach sie der Amerikaner, "soll das heißen, du glaubst, dieser Pfeil sollte Kai damit infizieren? Wie kommst du überhaupt darauf?!"
 

"Sieh dir das Symbol auf der Spitze an. Und dann das hier...es sieht aus wie eine Viole, die vorhin beim Aufschlag zerbrochen ist"
 

"Und jetzt?"

Die Stimme des Amerikaners barg eine große Ratlosigkeit, die Kai nur noch mehr aufbrachte. Biomechanisches Virus? Voltaires Labor? Und Alex schien nicht nur zu wissen, wovon Mina da eigentlich redete - er glaubte es ihr sogar noch!

Voltaire...steckte er hinter der Entführung? Und hinter dem Attentat? Attentat...man hatte ein Attentat auf ihn verübt, und möglicherweise steckte sein eigener Großvater dahinter...

Wieder flimmerten die Bilder seines Alptraums auf.

Zusammen mit der schmerzenden Wunde in seinem Rücken war die Grenze seiner Belastbarkeit eindeutig überschritten. Die Stimmen der anderen entfernten sich. Um ihn herum wurde es dunkel.
 

"Jetzt mach bloß nicht schlapp!"
 

"Du musst das hier unbedingt schlucken. Das ist ein Medikament dagegen. Na los!"
 

"Wie bist du denn da dran gekommen?"
 

"Erzähl ich dir später. Hilf mir erstmal, damit Kai das Zeug auch schluckt. Sonst war’s das mit ihm."
 

"Hast du gehört, Kai? Los doch!"
 

Unermüdlich redeten beide auf ihn ein, bis er sich schließlich außer Stande fühlte, sich ihren Anweisungen weiter zu widersetzen. Man öffnete gewaltsam seinen Mund und stopfte zwei oder drei kleine Pillen hinein. Mit letzter Kraft würgte er sie hinunter. Dann klinkte sich sein Bewusstsein endgültig aus.
 


 

___________
 


 

Nur langsam kehrten seine Sinne wieder zurück.

Er lag auf der Seite, und es war kalt. Kälter als sonst. Er fror.

Seine Haltung war unbequem.

Vorsichtig streckte er seine Beine aus. Das sofortige Meckern seiner Schulter erinnerte ihn an die Verletzung in seinem Rücken.
 

"Du bist endlich aufgewacht..."
 

Mina? Wieso ausgerechnet sie? Die anderen hatten ihn doch hoffentlich nicht mit ihr alleine gelassen...oder doch?
 

"Ruh dich aus. Du hast viel Blut verloren."
 

"Das kommt davon, wenn man mich aussaugt...", flüsterte er benommen.
 

"Immer noch zum Scherzen aufgelegt? ...versuch aber möglichst bald was zu essen, damit zu wieder zu Kräften kommst. Wir können dich nicht den ganzen Berg rauf und runter tragen."
 

"Wie spät ist es?"
 

"Nachts. Du liegst im Zelt...in meinem Overall. Deinen flicke ich gerade wieder zusammen."
 

Na toll. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihm dieses Wissen vorenthalten. Sie hatten ihn ausgezogen und dann ausgerechnet in Minas Overall gesteckt. Ging es nicht gleich noch demütigender?

Hoffentlich hatte sich die Transsylvanierin in dem zerschnittenen Ding eine ordentliche Blasenentzündung oder wenigstens eine Erkältung eingefangen.
 

"Eigentlich wollte Alex ja mit dir tauschen, aber deiner hat ihm beim besten Willen nicht gepasst. Du bist so zierlich, dass uns nichts anderes übrig blieb."
 

"Zierlich?! Du spinnst ja."
 

"Pssst. Nicht so laut. Du weckst noch die anderen."

Sie lachte dabei. Sie fand das ganze auch noch belustigend...elendes Miststück. Hoffentlich hatte sie ihn nicht auf noch den ganzen Tag durch die Gegend geschleppt, sondern das Alex oder Brian überlassen.
 

"Versuch zu schlafen. Morgen reisen wir weiter. Oder willst du umkehren?"
 

"Sagt die richtige. Du schläfst ja selbst nicht. Und mein Overall ist längst fertig...lass uns bloß wieder tauschen."

Gerade noch rechtzeitig unterdrückte der den Impuls, sich aufzurichten und danach zu greifen. Seine Schulter tat auch jetzt schon weh genug.
 

"Ich bin nicht giftig. Wir haben nur die Overalls getauscht und nicht die Iso-Suits.", schnaubte sie beleidigt, "Und außerdem wasche ich mich trotz der Kälte noch regelmäßig, im Gegensatz zu dir."
 

Iso-Suit? Wer hatte sich denn diesen beschissenen Namen ausgedacht?

Kai verzog belustigt das Gesicht und ignorierte ihre Anspielung auf das morgendliche Ereignis, kurz nachdem er von seinem Alptraum wach geworden war.

"Wenn du schon wach bist", sagte er stattdessen, "kannst du mir bei der Gelegenheit auch gleich erzählen, was es mit diesem Pfeil auf sich hatte."
 

Sie sah ihn verwundert an, legte dann den reparierten Overall zur Seite und kroch etwas näher auf ihn zu. Hinter ihr kam nun ihr Schlafsack zum Vorschein. Hatte sie etwa vor, die ganze Nacht über bei ihm zu bleiben? So viel also zum Thema Privatsphäre...
 

"Zieh den Overall runter und dreh dich auf den Bauch", sagte sie, "ich muss noch die Rückennaht deines Iso-Suit schließen. Von mir aus beantworte ich dir dabei auch die eine oder andere Frage..."
 

Widerwillig drehte sich der Halbrusse auf den Rücken. Den heftigen Schmerz in seinem rechten Arm versuchte er so gut es ging zu verbergen.

"Sei bloß vorsichtig. Wenn du mich piekst,..."

"Dann was?", fragte die junge Frau aufmüpfig.

So ein Mist. Ausgerechnet jetzt gingen ihm die Drohungen aus...

Schweigend lauschte er ihren Erzählungen. Teils missmutig, teils erregt, fand er mehr und mehr Gefallen daran, wenn ihre geschickten Hände wie zufällig seine nackte Rückenfalte berührte, wo sie die Naht noch nicht geschlossen hatte. Der hauchzarte Kontakt ihrer Haut jagte wieder den kribbeligen Schauer von Gänsehaut durch seine Glieder; das Gefühl ihres ruhigen Atems in seinem Nacken brachte sein Herz zum rasen. Ohne das er so recht begriff, was das eigentlich zu bedeuten hatte. Er mochte sie ja nicht mal wirklich.

Sicher nur eine Laune seines verwirrten Unterbewusstseins.

Und dennoch irgendwie schön...

Mit der Zeit wurde er ruhig und entspannt und ließ sich fallen. Er war ohnehin viel zu müde, um weiter über alles Mögliche nachzudenken. Stattdessen lauschte er den klaren, kühlen Worten, die ihm die Bedeutung jenes Pfeils vermittelten.
 

Nach und nach setzte sich das Puzzle zusammen.
 

In der Nacht, in der die vier in Voltaires Labor eingebrochen und wichtige Daten, dessen genauere Bedeutung er selbst längst wieder vergessen hatte, entwendet hatten, hatte Mina zufällig noch etwas anderes entdeckt. Eben jenes biomechanische Virus, von dem sie vorhin sprach. Sie erzählte ihm nun von den wenigen Informationen, die sie neben dem "Bauplan" hatte bergen können. Sie berichtete von dem großen Rätselraten, zu dem sich die ganze Sache entwickelte. Von Alex' beachtlichem medizinischen Fachwissen. Und von dem Moment, als klar wurde, dass Menschenleben auf dem Spiel standen.
 

Und nachdem Kai die Welt um sich herum ein kleines bisschen besser zu verstehen begann, blieben ihm an diesem Abend nur noch zwei Fragen unbeantwortet:
 

Wie Mina zu dem Medikament kam und ob es wirklich Zufall war, dass sie ihm immer wieder das Leben rettete.

Unsanftes Erwachen

Hallo liebe neuen und alten Leser,
 

ich freue mich, erstmals seit einer halben Ewigkeit ein neues Kapitel hochzuladen. Versprechen kann ich nichts, aber da ich im Moment etwas Zeit habe, hoffe ich, regelmäßig weitere Kapitel fertig zu stellen.

Ich muss mich entschuldigen, dass dieses hier so kurz ist, Das nächste wird wohl wieder länger. Auf jeden fall wird es bald wieder richtig spannend *grins* ohh, wenn ihr wüsstet, was unseren Protagonisten bevorsteht, ihr würdet mich lünchen! Aber da ihr es noch nicht wisst, könnt ihr ja in der Zwischenzeit die älteren Kapitel durchstöbern, um das ganze noch ein wenig aufzufrischen. Ist ja nun schon ne etwas ältere Fanfic *erste graue Haare und fältchen find*.
 

Ist ja gut, ich hör schon auf zu labern. Viel spaß beim Lesen. Über nen kleinen Kommentar würde ich mich riesig freuen. Und nicht vergessen, die neuen Characterbilder zu begutachten ;-)
 

Liebe Grüße

-pale- aka Lilienkind
 

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Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember
 

Es dauerte lange bis Kai begriff, dass er wach war. Sein Körper fühlte sich sonderbar taub an und sein Kopf dröhnte.
 

Draußen war es hell. Das konnte er sagen, ohne die Augenlider zu öffnen. Es musste bereits später Vormittag sein. Wieso hatte ihn niemand geweckt? Sie sollten doch längst unterwegs sein. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Ehe er an seine lädierter Schulter denken konnte, folgte er dem Reflex, aufzustehen. Er konnte es nicht und realisierte, dass er getragen wurde.

Sein Kopf hing über jemandes Schulter. Seine Kapuze war ihm so tief ins ohnehin mit Schal und Skibrille bedeckte Gesicht gezogen worden, dass er den kalten Wind kaum spürte. Hatte er vielleicht sogar nachgelassen?
 

Der junge Mann versuchte sich zu orientieren. Es gelang ihm zu seiner Beunruhigung nur unter großer Anstrengung, den Kopf zu heben und ein wenig zur Seite zu schielen. Aber da war niemand.

Er ließ den Blick nach unten wandern, um zu sehen, wohin das Sicherungsseil führte. Es fehlte.

Er registrierte einen dürftigen Adrenalinanstieg. Zu mehr war sein Körper offenbar nicht mehr imstande. Eigentlich hatte er in solchen Momenten einen regelrechten Rausch verspürt, auf dessen fast kräftige Wirkung er sich fest eingestellt hatte.
 

Eine Sekunde lang dachte Kai darüber nach, ob dies ein weiteres Alarmsignal war, oder ob sein Körper zu Recht so handelte und er bloß noch ein wenig schlaftrunken war.
 

„Endlich. Du bist aufgewacht.“, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Er wollte antworten, doch sein Hals war unangenehm trocken.
 

Es war Mina, die ihn trug.

Wo waren sie? Wo waren die anderen? Was in Gottes Namen war hier los? Tausend Fragen schossen ihm zu schnell in den Kopf, als dass er sie mit seiner ohnehin rauen Kehle hätte aussprechen können. Ihm wurde heiß und er begann zugleich frösteln.
 

Einige Momente – er konnte im Nachhinein nicht sagen, wie viele Minuten es letztendlich waren – fragte er sich vehement, was mit seinem Körper nicht stimmte, ihn so taub und schwerfällig machte. Doch dann riss ihn etwas aus den Gedanken. Sie hatten angehalten. Langsam sank er in eine Schneewehe. Sein Rücken protestierte. Und obwohl er die ganze Zeit über getragen worden war, verspürte er das sonderbare Bedürfnis, wie wild nach Luft zu ringen.
 

Vor ihm kniete Mina, die in ihrem übergroßen Rucksack nach etwas suchte. Sie musste ihn über der Brust getragen haben, und Kai auf dem Rücken.

Endlich holte sie hervor, wonach sie gesucht hatte. Eine Thermosflasche. Etwas zu trinken, dachte Kai und streckte seine Hand danach aus. Jedenfalls versuchte er es, denn genau genommen bewegten sich nur seine Finger. Doch damit war der Überraschungen noch nicht genug: Er konnte sehen, wie Mina die Flasche öffnete und sie ausleerte.
 

„Bist du völlig verrückt geworden?!“, hätte er am liebsten geschrien, doch dann bemerkte er, dass kein einziger Tropfen aus dem so schwer wirkenden Behältnis herausfloss.
 

„Gefroren“, sagte die junge Frau knapp.
 

‚Es verdursten mehr Menschen in Eiswüsten als in Sandwüsten‘, schoss es ihm durch den Kopf. Und erstmals stimmte ihn diese uralte Weisheit bedenklich, obwohl er die sibirische Tundra kannte wie ein zweites Zuhause.

Er war so durstig…
 

„Hier“
 

Kein Wasser, sondern ein Pillendöschen wurde ihm vor sie Nase gehalten. „Es ist wieder Zeit.“

Reaktionslos starrte er erst es und dann die ihm gegenübersitzende Frau an. „Bitte.“, sagte sie nach einer Weile.

Er hätte sie genommen, aber seine Kehle war so trocken, dass er sich sicher war, das Medikament würde stecken bleiben.

„Mina, bitte, haben wir wirklich nichts zu trinken mehr?“, wollte er sagen. Doch alles, was er hervor brachte, war ein staubiges, kratziges „...durstig…“
 

Sie schien verstanden zu haben, denn sie nickte, doch dann öffnete sie ihren Overall und fasste hinein. Zügig holte sie einen Flachmann hervor und zog den Reißverschluss wieder zu.
 

Alkohol? Sie nahm Alkohol mit hier her? Hoffentlich war er wenigstens stark.
 

Er setzte das Gefäß an seine Lippen – und um ein Haar alles ausgespien. Der Inhalt war kein Alkohol, sondern gewöhnliches, körperwarmes Wasser. (Un)glücklicherweise war er einfach zu durstig, und so trank er hastig einige Schluck. Dann nahm er das Medikament ein.
 

Mina ergriff den inzwischen kalt gewordenen Flachmann und füllte ihn mit Schnee auf, bevor sie ihn wieder an ihrem Körper verstaute. Offenbar war dies die einzige Möglichkeit, sie beide vor dem Verdursten zu bewahren.

Sie beide? Mina hatte doch gar nichts getrunken…
 

„Kai, was ich dir jetzt sage, ist sehr wichtig. Du musst mir unbedingt genauestens zuhören. Hörst du mir zu?“
 

Er nickte und versuchte sich zu konzentrieren. Was er nun hörte, erschreckte ihn.
 

„Boris ist hier.
 

Er scheint eine kleine Armee zu kommandieren. Ich habe ihn gesehen, als man den Pfeil auf dich abgeschossen hat. Nach dem Attentat sind wir geflüchtet, jedenfalls haben wir es versucht, aber seine Männer haben unser Versteck gefunden und uns angegriffen. Ich weiß nicht wieso, aber Boris versucht offenbar, dich umzubringen.“
 

„Was ist mit Alex und Brian?“
 

Mina schüttelte den Kopf. „Sie haben sie mitgenommen.“
 

„Wir müssen zurück und sie befreien!“
 

„Wir zwei? Oder besser Ein Einhalb? Du kannst ja noch nicht mal laufen und willst es mit einer ganzen Armee aufnehmen?“
 

„Wir können sie nicht einfach sich selbst überlassen!“
 

„Das tun wir nicht, aber erst mal muss ich dich in ein Krankenhaus bringen. Du brauchst medizinische Versorgung und ich muss dringend telefonieren.“, sie hielt kurz inne und wirkte etwas verzweifelt, „ Allerdings habe ich die Orientierung verloren. Das heißt, du musst navigieren. Schaffst du das?“
 

„Unsere Fußstapfen hat der Wind längst verweht und das Basislager ist vermutlich längst entdeckt. Wir müssen irgendwo eine Siedlung finden.“, entgegnete Kai, doch er nickte selbstsicher.
 

Sie setzten sich in Bewegung.

Noch immer wollte sein Körper ihm nicht gehorchen, doch zumindest sein Geist funktionierte inzwischen wieder. Aber da war so ein Brennen ihn ihm, das seit dem Eindringen des Pfeils langsam, kaum spürbar vor sich hin keimte und sich inzwischen nicht mehr ignorieren ließ. Das Medikament schien es in Schach zu halten, doch es war noch nicht besiegt…
 

Die Sonne ging bereits unter, als sie das nächste Mal anhielten. In wenigen Minuten würde es dunkel sein. Den ganzen Tag über hatte es unaufhörlich geschneit. Es war mühsam, sich bei starkem Wind und der schlechten Sicht einen Orientierungspunkt zu finden. Ein wenig froh war Kai schon über die Tatsache, dass er nicht selbst laufen musste. Doch wie lange würde Mina durchhalten?

Mit unaufhaltsamer Beharrlichkeit hatte sie sich durch den Schnee gekämpft. Immer geradeaus, die Steilwand des Berges entlang und dabei langsam an Höhenmetern verlierend. Zielstrebig – ohne jegliches Ziel. Ihre Beine mussten schmerzen.
 

Sie fanden eine kleine Felsspalte, die genug Schutz bot. So hofften sie jedenfalls, denn obgleich das Wetter trotz des strammen Windes und des Schnees noch im normalen Bereich lag, so konnte Kai bereits den aufkommenden Sturm erahnen.
 

Mina setzte ihn ab und begann das Zelt aufzubauen. Misstrauisch starrte der junge Mann hinaus ins dumpfe Weiß. Das monotone Heulen des Windes verschluckte alle Geräusche. Längst waren ihre Spuren verwischt. Ein Sturm würde es unmöglich machen, nach ihnen zu suchen. Geräte mit komplizierter Technik waren in der Todeszone nutzlos. Sie waren vorerst sicher. Doch er traute dem Frieden nicht.
 

Er musste an Alex und Brian denken, die sie zurückgelassen hatten. Sie waren in Boris‘ Gewalt, und da er bereits versucht hatte, ihn umzubringen, lag die Frage nahe, ob er die beiden am Leben lassen würde.
 

War möglicherweise Boris derjenige gewesen, der für das Attentat vor einem Jahr verantwortlich war? Er erinnerte sich an das Fahrzeug, das uhrplötzlich auf ihn zuschoss. An Mina, die ihn beiseite stieß. An das knacken ihrer Schulter, als sie sich selbige wieder einrenkte.
 

Kai verzog das Gesicht und warf einen Blick auf das Zelt. Es war das kleine Notzelt. Offenbar hatten sie die großen ebenfalls zurücklassen müssen. Es musste ein hektischer Aufbruch gewesen sein. Wie konnte er so etwas verschlafen?
 

Das Brennen in seinem Inneren wurde wieder stärker. Ihm wurde heiß und kalt zugleich, er begann zu frieren und im selben Moment traten Schweißperlen auf seine Stirn. War es Zeit für seine Medizin? Die Wunde in seinem Rücken pulsierte schmerzhaft. Was würde er nur für ein Schmerzmittel geben…

Was, wenn die Erinnerungen an Talas Tod zurückkehrten? Viel fehlte doch gar nicht. Er saß fest, mitten in Sibirien. Überall lag Schnee, und ein Pfeil hatte sich tief in seinen Rücken gebohrt. Die Wunde schmerzte und er spürte diese sonderbare Hitze…Ihm war so schwindelig…
 

„Kai?“
 

Jemand berührte seine Stirn. Die Hand fühlte sich kalt an.
 

„Kai? Deine Medizin“
 

Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder, in der Hoffnung klarer zu sehen. Es half nicht sonderlich viel.
 

Mina reichte ihm eine weitere Dosis, die ohne zu zögern einnahm. Hoffentlich linderten diese unscheinbaren Pillen seine Symptome. Vielleicht, so dachte er und musste unter der grotesken Vorstellung schmunzeln, unterdrückten sie sogar seine Flashbacks…
 

Er hoffte es.

Hitze und Kälte

Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember
 

Unerbittlich rüttelte der Wind an den Streben des kleinen Zeltes. Draußen tobte der Schneesturm wie ein gewaltiges Seeungeheuer, das den Todesberg in die Tiefe hinab zu zerren drohte.

Jedoch war es nicht der Lärm, sondern sein eigener Körper, der ihn aufweckte.

Kein wirklicher Schmerz, sondern ein starkes Unwohlsein hatte sich ihm aufgezwängt. Vorsichtig öffnete der junge Mann eines seiner Augen. Mina, die neben ihm lag, war wach und schaute ihn prüfend an.
 

„Ist es schon wieder Zeit?“, murmelte er und schielte auf die kleine batteriebetriebene Lampe, die das Zelt in etwa so gut ausleuchtete wie ein halb erloschenes Teelicht.
 

In Minas Augen lag ein roter Glanz.
 

Er war immer da. Eigentlich. Doch er hatte nie bemerkt, wie sehr er im Dunkeln zu leuchten schien. Vielleicht war es auch nur die kleine Lampe, die ihn verstärkte.
 

„Nein“, sagte sie ruhig und setzte sich auf. Sie schien zu frieren, denn sie bewegte sich sehr hastig.

In der Tat war es wirklich kalt geworden. Er bemerkte, dass er zitterte und versuchte dies zu unterdrücken. Seine Schulter schmerzte. Der ganze Arm kribbelte und tat weh.
 

Etwas rutschte über seine Stirn und sank vor seiner Nase auf dem Kopfkissen zusammen. Vorsichtig und doch zielsicher griff Mina danach und hob es auf. Ihre Augen mussten außergewöhnlich sensibel sein, denn sie berührte nicht einmal sein Gesicht.
 

„Kai, du hast hohes Fieber“, sagte sie.
 

Das Ding, das auf seiner Stirn geklebt hatte, so begriff er, musste ein Lappen oder ein Tuch sein. In der Dunkelheit erkannte er ein flaches Behältnis. Eine kleine Schüssel oder vielleicht einen Teller. Jedoch vernahm er kein Plätschern, als die junge Frau den Lappen einzutauchen schien. Die Schale war mit Schnee gefüllt, denn Wasser wäre längst gefroren.
 

Wieso legte sie ihm einen schneepanierten Lappen auf die Stirn, wenn es so kalt war? Sie bräuchte doch nur für ein paar Minuten den Schlafsack zu öffnen…

Sein Schlafsack war offen. Ehrlich gesagt war er sogar aufgeklappt. Sein Overall fehlte, und der Iso-Suit war an den Beinen nach oben geschoben. Sie hatte ihm Wadenwickel gemacht, die sie nun zu wechseln begann. Die Socken hatte sie ihm gelassen, damit ihm die Zehen nicht abfrohren.
 

Sie musste übertreiben. So schlimm konnte es nicht sein!

Hoffte er jedenfalls. Doch war ihm nicht bekannt, dass Mina in dieser Hinsicht einen Hang zum Überreagieren hatte. Also verkniff er sich seinen aufkeimenden Protest und ließ sie gewähren.

Woher hatte sie bloß den Stoff dafür? Bei dem Material handelte es sich nicht um Handtücher. Konnte es gar nicht, denn sie befanden sich auf dem Schlitten, den sie mit dem ganzen anderen Equipment hatten zurücklassen müssen.

Die Textur des Materials kam ihm sonderbar vertraut vor. Hatte er diesen Stoff nicht überall auf seiner Haut? Es fühlte sich genauso an wie sein Iso-Suit, nur dass es nicht seiner sein konnte, denn den trug er. Er konnte sogar die geflickte Rückennaht spüren.
 

„Mina“, sagte er ohne groß darüber nachzudenken, in welch unangenehme Situation es sie beide brächte, „bist du etwa nackt?“
 

Sie hielt kurz inne. Wirkte ein wenig beschämt. Ertappt. Doch dann fuhr sie fort, wickelte die Tücher um seine Beine und legte den Schneegetränkten Lappen auf seine Stirn. Er fiel herunter.
 

„Kai, hör auf damit. Bitte.“
 

„Womit?“
 

„Mich anzustarren“
 

Erst jetzt realisierte er, dass er seinen Kopf noch immer zur Seite gedreht hatte. Seine Augen hatten sich zwar an die Dunkelheit gewöhnt, dich er konnte nicht mehr erkennen als ein paar schemenhafte Umrisse und ihre funkelnden Augen. Ernst sah sie ihn an. Sie musste jämmerlich frieren, doch sie zitterte nicht.
 

„Es…ich…“
 

Er richtete den Blick gegen die Zeltdecke und ließ sie den Lappen auf seiner Stirn platzieren. Damit war er ohnehin zum stillhalten gezwungen.
 

„Ich weiß, du kannst mich nicht sehen“, sagte sie kurz darauf zu seiner Verwunderung, „aber es macht mich nervös.“
 

Zügig kroch sie zurück in den mittlerweile erkalteten Schlafsack. Erst jetzt begann sie zu zittern, und das deutlich hörbar. Sie riskierte ernsthafte Erfrierungen. So etwas hatte der junge Mann schon mehr als einmal bei allzu achtlosen ‚Idioten‘ gesehen, die mal mit, mal ohne ihn durch die Tundra gezogen waren. Ein paar von ihnen waren gar komplett als Tiefkühlmensch geendet.

Dass er nicht viel für die junge Frau übrig hatte, war eine Sache, aber er wollte nicht, dass ihr die Zehen oder die Nase oder gar ein ganzer Fuß abfroren.
 

„Tut mir leid“, sagte er ohne den Blick von der Decke zu lösen.
 

„I…“
 

Ehe sie antworten konnte, begriff sie, dass Kai ihren Schlafsack öffnete. Vorsichtig, aber ohne Zeit zu verlieren, kroch er hinein, schloss ihn bis zur Hälfte und griff nach seinem eigenen Schlafsack. Eilig zerrte er ihn heran, drehte ihn um und breitete ihn über dem anderen aus wie eine Decke. Dann ließ er seine Hand darunter gleiten und schloss die Öffnung bis über ihre Köpfe hinweg.
 

Verblüfft, sehr, sehr erstaunt über diese Geste, hielt sie in ihrer Bewegung inne und verabschiedete sich von der Idee, ihn wegzustoßen oder ihn zumindest aufzufordern, zu gehen. Im ersten Moment hatte sie befürchtet, er würde ihr auf andere Weise zu nahe treten, doch das tat er nicht.
 

Vorsichtig legte er seinen Arm um ihre Taille. Er schien genauestens darauf zu achten, dies weder zu hoch noch zu tief zu tun oder sie sonst auf irgendeine Weise unsittlich zu berühren. Sie konnte ihn atmen hören. Zwar nur sehr leise, doch ganz konnte er nicht verbergen, wie ungeheuer seine Schulter in diesem Moment schmerzte. Genauso wie sie selbst nicht verbergen konnte, wie unfassbar kalt ihr in diesem Augenblick war. Sie konnte ihr Zittern nicht länger kontrollieren.

Unerwartet heftig begann ihr Körper zu beben, was selbst Kai ein wenig verunsicherte. Erst zögernd, dann aber bestimmend, festigte er den Griff um ihre Körpermitte und zog ihren frierenden Leib zu sich. Die Schmerzen in seinem Arm konnten ihm jetzt völlig egal sein.

Unweigerlich lagen ihre Gesichter nun vor einander. Kai konnte nichts sehen als den roten Schimmer, der in Minas Augen lag. Und als die Batterien der kleinen Lampe zusehends schwächer wurden, verblasste für seine Netzhaut auch er. Nun war er vollkommen blind. Alles was er wahrnehmen konnte war ihr Atem auf seiner Wange, von den Schmerzen mal abgesehen.

Immer wieder schloss er seine Augen, musste sie jedoch kurz darauf wie aus einem Impuls heraus öffnen, nur um sich zu vergewissern, dass er wirklich nichts sehen konnte und sie letztendlich von neuem zu schließen.
 

Sie war sich im Klaren über seine Nachtblindheit, wie sie doch alle Menschen befiel, war es erst dunkel. Als die einzige Lichtquelle versiegte, war nunmehr auch ihre Sicht eingeschränkt. Trotzdem erkannte sie noch immer deutlich seine Gesichtszüge, seinen rastlosen Blick. Wie er unbeholfen durch sie hindurch starrte, seine Augen schloss, und wie sie ihm einige Minuten später wieder aufgingen. Ihr war, als würden sie sie durchleuchten. Sie durchströmen und sie innerlich aufwärmten, wie es äußerlich sein Atem und seine Haut tat.

Der Lappen war inzwischen von seiner Stirn verschollen, und die Wadenwickel erwärmten sich angesichts seiner erhöhten Körpertemperatur relativ schnell. Bald musste sie ihn dazu bringen, etwas zu trinken. Sehnlichst hoffte sie, seine Temperatur würde nicht weiter ansteigen. Er durfte auf keinen Fall sterben. Und schon gar nicht unter solchen Umständen…
 

„Mina?“
 

Sie zuckte leicht zusammen und wünschte, es würde durch ihr Zittern kaschiert.
 

„Bist du wach? Ich kann nichts mehr sehen…“
 

Sie antwortete nicht. Stattdessen ließ das Zittern ein wenig nach und ihr Atem folgte regelmäßigeren Zügen. Sie musste eingeschlafen sein. Ob er wach bleiben und auf sie aufpassen sollte?

Einige wenige Minuten bloß kämpfte er gegen die aufkeimende Müdigkeit an, bevor sie ihn überwältigte. Dann schlief er ein. Ohne die Augen noch eines letzten Kontrollblickes wegen zu öffnen.
 

Erleichtert atmete Mina auf und bemühte sich, möglichst ruhig zu liegen um ihn nicht wieder aufzuwecken.
 

________
 

Der nächste Morgen kam viel zu früh.
 

Als Kai aufgewacht war, hatte den Eindruck gehabt, nicht mehr als eine halbe Stunde geschlafen zu haben. Er hatte sich müde und krank gefühlt und wäre am liebsten einfach liegen geblieben. Er erinnerte sich an den Pulsierenden Schmerz in seinem Rücken. An ein seltsames, allmählich abklingendes Brennen in seinem Inneren. An das dafür stärker werdende Dröhnen in seinem Kopf. Seine Glieder waren starr und schwer wie Blei gewesen.

Doch das war jetzt anders, beinahe als hätten ihn diese Dinge ihn nie beeinträchtigt und als seien sie ihm folglich unbekannt.
 

Denn im Augenblick ging es ihm gut.

Erstmals seit langer Zeit, wahrscheinlich seit Jahren, fühlte er sich frei und gesund. Um ihn herum war es weder kalt, noch schmerzte sein Körper, noch hatte er Ängste und Sorgen. Nichts davon war da. Nichts.

Er schien auf einem großen weichen Bett zu liegen. Zu seiner Linken befand sich ein großes Fenster, das weit geöffnet war und die Mittagssonne hereinließ. Von draußen strömten Vogelgesang und Duft von Blumen und Olivenbäumen herein. Es waren weitläufige hügelige Felder und viele Bäume zusehen. Ein paar Kinder spielten draußen auf der gepflasterten Straße.
 

Der junge Mann beschloss spazieren zu gehen. Er schlurfte über den mit Natursteinfliesen ausgelegten Boden, streifte ein paar Kleider über und schlüpfte in seine Sandalen. Dann trat er nach draußen und fühlte sofort, wie die warmen Sonnenstrahlen seinen Körper einhüllten.
 

Er war in der Toskana.
 

Es musste gerade Zeit für die Mittagspause sein, denn die Straßen waren fast völlig leer. Die Kinder, die bis eben hier gespielt hatten, liefen nun nach Hause. Es war Zeit fürs Mittagessen.
 

Aus den Fenstern der Häuser strömten die verschiedensten und köstlichsten Aromen mediterraner Küche. Hier roch es nach Pasta, dort nach einem reichhaltigen Eintopf. Anderswo gab es Meeresfrüchte, nebenan duftete es nach Gemüsepfanne.
 

Wie er so durch die verwinkelten Gassen schlenderte und da und dort in die Schaufenster der geschlossenen Läden lugte, bemerkte er plötzlich Schritte hinter sich. Jemand war ihm heimlich gefolgt, und er konnte nicht sagen, ob schon für eine ganze Weile oder erst seit kurzem.Verwundert blieb er stehen und drehte sich um.

Hinter ihm stand ein Kind. Ein kleines Mädchen mit sehr langen Zöpfen und einem luftigen Kleid war ihm aus unerfindlichen Gründen hinterhergelaufen und blieb nun stehen. Kritisch beäugte sie den jungen Mann, bevor sie den Kopf schief legte und ihn mit quäkender Stimme etwas fragte.
 

Sie schien keinerlei Angst vor ihm zu haben, im Gegenteil: Es war, als ob die Kleine sehr genau wusste, wen sie vor sich hatte. Und nicht etwa, als ob sie ihn aus dem Fernsehn wiedererkannte, nein, sie schien ihn persönlich zu kennen - schon sehr lange.
 

„Na los“, quengelte sie und zupfte an seinem Hosenbein. Sie wollte, dass er ihr den richtigen Weg zeigte. Dabei schien es doch so offensichtlich zu sein, wo lang sie gehen musste, um ans Ziel zu kommen. Sie schien diesen Ort zu kennen. Wieso bloß bestand sie darauf, dass er sie führte?

„Au!“, schimpfte der junge Mann, als sie ihn unsanft von hinten anschob und ihm kurz darauf einen schwachen Tritt gegen die Ferse versetzte.
 

„Kai, wo lang soll ich gehen?!“, fragte sie ungeduldig, grabschte nach seiner Hand und zog ihn vorwärts wie einen störrischen Esel, „Na mach schon. Du musst mir den Weg zeigen!“
 

Warum musste ihn nur immer irgendwer stören, wenn er sich gerade entspannen wollte? So süß die Kleine in ihrer Hartnäckigkeit auch war, allmählich begann sie wirklich zu nerven.

„Aua!“

Sie zog und zerrte mit ihrem ganzen Gewicht an zwei Fingern seiner Hand. Stolpernd machte er einen Schritt nach vorne, um die Gelenke zu entlasten und nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Zufrieden sah ihn das kleine Geschöpf an und nickte. „Na also, es geht doch.“ Dann begann sie von neuem an seiner Hand zu ziehen. So lange, bis der junge Mann – wenn auch nur sehr widerwillig – zustimmte und sie langsam durch die Gassen zu führen begann.
 

„Kai, du musst mir den Weg zeigen!“, wiederholte sie.
 

„Ja, ja, ist ja gut. Ich hab’s verstanden.“
 

„Na los, nicht einschlafen! In welche Richtung müssen wir jetzt?“
 


 


 

Nicht, dass das Gehen ihr inzwischen keine Mühe bereitet hätte, doch ihr größtes Problem war, den jungen Mann wach zu halten. Das Fieber hatte ihn über Nacht sehr geschwächt, und seine Temperatur war gestiegen. Nur selten hatte er klare Momente. Er schien zu halluzinieren, und wenn er überhaupt etwas sagte, dann oft nur wirres Zeug. Ihm etwas zu trinken zu verabreichen, war unmöglich geworden.
 

Eisig und erbarmungslos wehte Mina der Wind ins Gesicht, bahnte sich unaufhaltsam seinen Weg ins Innere des Overalls, der nunmehr ihren einzigen Schutz vor der Kälte darstellte.

Ihre Füße waren wund und schmerzten. Jeder Muskel war müde. Seit langem hatte sie weder getrunken noch gegessen, um die wenigen verbleibenden Ressourcen Kai zur Verfügung stellen zu können. Geschlafen hatte sie keine fünf Minuten. Sie hätte es vermutlich ohnehin nicht gekonnt, doch sie war wach geblieben um direkt nach Abklingen des Sturms aufbrechen zu können, und nicht zuletzt, damit sie beide die Nacht überlebten. Mehrmals hatte sie den Schlafsack öffnen müssen, um Kai abzukühlen. Ständig hatte sie ihn überwacht, doch es half nichts. Es ging ihm zusehends schlechter. Die Symptome wiesen auf eine Blutvergiftung hin.
 

In der Nacht hatte es so viel geschneit, dass ohne Schneeschuhe überhaupt kein Vorankommen mehr möglich gewesen war. Zwar hatte sie welche, jedoch waren sie nicht sonderlich groß, und da sie Kai und den Rucksack tragen musste, sank sie immer wieder Knietief ein. Den Fuß zu befreien kostete enorme Kraft. Manchmal verlor sie den Schneeschuh und musste, um ihn wieder anzuziehen, ihre Fracht abladen, nur um sie von neuem zu stemmen, war ihr Schuhwerk erst wieder intakt.
 

Bevor sie aufgebrochen waren, wollte Kai in einem scheinbar klaren Moment eine Siedlung am Horizont erkannt zu haben. Sie selbst hatte trotz ihrer sehr guten Augen beim besten Willen nichts sehen können, und obgleich er vermutlich halluzinierte, vertraute er seiner Richtungsangabe. Sie vermochte nicht einmal zu sagen, ob sie sich inzwischen verirrt hatten oder sich nur im Kreis bewegten, doch war dies ihre einzige Chance, also lief sie einfach weiter.

Autsch

Bitte Lesen - könnte wichtig sein =)
 

Hi alle zusammen.

Nachdem hier alle so brav eure Kommentare geschrieben habt, und dann noch so hübsche und lange, hab ich mich schön brav vor die Tastatur gesetzt und n neues Kapitelchen geschrieben.

Nicht erschrecken. Ist etwas melodramatisch und düster. Ich hatte das Glück, echt verdammt mies drauf zu sein und deshalb ist es -glaub it/hoffe ich- auch besonders gelungen. Jedenfalls hatte ich gedacht, mir fällt nur Mist ein, aber es ist doch sehr viel Inhalt zusammengekommen *freu*
 

Warnung: Diese....Kreatur ist nicht beta-gelesen und enthält mit Sicherheit dutzende Flüchtigkeitsfehler. Wenn ihr sie findet, seht sie als Ostereier an. Wenn ihr wollt, könnt ihr mir die Passagen melden und mir helfen, es ein wenig anschaulicher zu Gestalten. Ich mag den Mist nich nichmal durchkauen, weil ich a eh nicht alles finde und b es mir gerade wieder besser geht und ich nicht nochmal so tief runtergezogen werden mag. Jedenfalls nicht mehr heute Nacht.
 

Genug Geschwafel. Viel spaß mit dem Deck =)
 

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Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember
 

Er war sich nicht sicher, ob es ein dumpfer Schlag, ein Aufprall nach einem Sturz aus großer Höhe, ein Erdbeben oder bloß ein lautes Geräusch war. Was auch immer er gerade verspürt hatte, es schien ihn geweckt zu haben. Dabei konnte er sich gar nicht daran erinnern, geschlafen zu haben. Er dachte angestrengt nach, was soeben passiert sein könne.
 

Er entsann sich an eine gepflasterte Straße.

Wohin hatte sie geführt?

War es wichtig gewesen?
 

Ihm war heiß und schwindelig.
 

Langsam öffnete er seine Augen und versuchte den Kopf zu heben. Er lag auf dem Bauch. Auf irgendetwas.
 

Vor ihm bewegten sich mehrere Silhouetten. Kamen sie auf ihn zu? Es war unmöglich zu sagen. Sie waren zu verschwommen. Auch konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob er Stimmen vernahm, oder Musik, oder nur das heulen des Windes.
 

Wind.
 

War er nicht erst kürzlich in der Tundra gewesen?
 

Überall lag Schnee. Er konnte sich noch genauestens daran erinnern. Als sei es gestern gewesen. Oder doch nur ein seltsamer Traum. Er wusste es nicht.

Die Silhouetten wuchsen. Kamen sie näher? Waren es Menschen?
 

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Es war Nacht geworden. Wind und Schnee hatten nachgelassen. Vom lauten Heulen des Sturms war nicht mehr viel übrig.
 

Den ganzen Tag, ohne eine einzige Unterbrechung, war sie gelaufen. Ein paar Mal hatte sie noch versucht, Kai etwas Wasser zu verabreichen, doch er lief vielmehr Gefahr, daran zu ertrinken, als dass es irgendetwas genützt hätte.
 

Auf ihre Fragen antwortete er nicht mehr. Überhaupt reagierte er nicht mehr. Auf gar nichts.
 

Der Tod, so kam es ihr in den Sinn, hatte viele Gesichter. Ihr wurde mehr und mehr bewusst, was das eigentlich bedeutete. Immer wieder zählte sie sie auf. Rauf und runter. Vielleicht um festzustellen, ob neue hinzugekommen waren. Vielleicht, um bei Verstand zu bleiben. Vielleicht, um bei Bewusstsein zu bleiben.

Erfrieren, verdursten, ersticken, ertrinken, Fiebertod, septischer Schock, Organversagen, Entkräftung, Verhungern, Tod durch Sturz, durch eine Verletzung, sei es ein Knochenbruch, ein Messerstich, ein Schuss oder ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand. Tod durch Verbrennung, Folter, Stromschläge.
 

Unerbittlich setzte sie einen Fuß vor den anderen.

Wenn sie stehen blieb, holten die Gesichter sie ein. Sie beide. Ihn und sie.

Hätte sie nur die Wahl gehabt. Die Möglichkeit zu verhandeln. Jedem einzelnen Tod wäre sie in die Arme gelaufen, wenn nur er hätte weiterleben dürfen.
 

Ihr Körper schmerzte. Die Kehle war trocken und wund vom Röcheln nach Luft. Ihre Nase spürte sie schon nicht mehr. Genauso wenig ihre Beine. Sie konnte nicht sagen, ob sie taubgefrohren oder gar dabei waren, abzusterben. Vor einigen Stunden hatte sie gespürt, wie die Geschwüre und Blasen an Solen, Zehen und Fersen alle nach einander aufplatzten und ihren Inhalt, sei es Blut oder Wasser oder beides gewesen, ins Innere ihrer Stiefel flossen, die Haut weiter aufquollen ließen und den weiteren Wundrieb nur noch beschleunigten. Sie erinnerte sich an unbeschreibliche Schmerzen an ihren Füßen. Doch wirklich gespürt hatte sie ihn nicht.
 

Seit mehr als 48 Stunden hatte sie weder gegessen noch getrunken. Ihr Magen hatte nicht mehr aufhören wollen zu knurren, während das dröhnende Hämmern in ihrem Haupt, das bis in den Nacken und die Augenhöhlen ausstrahlte, immer stärker wurde.

Nun schwiegen sie beide.
 

Das Brennen in ihrem Innern hatte sie alle zum Stillschweigen gezwungen.
 

Es widerstrebte ihr, die Warnsignale ihres Körpers nicht ernst zu nehmen. Jedenfalls nicht in dieser Größenordnung.

Außer sie hatte keine Wahl.
 

Stets hatte sie versucht, normal zu sein und mit normalen Mitteln auszukommen. Sich nicht dessen zu bemächtigen, das allen anderen verwehrt blieb. Sie wollte dieses Privileg nicht. Hatte es nie gewollt. Doch sie musste es akzeptieren. Um seinetwillen.
 

Sie erinnerte sich an den, der es ihr vermacht hatte. Den, der davon besessen war, sie als Waffe einzusetzen. Den, der letztendlich daran scheiterte und sie letztendlich als missglücktes Experiment zu den Akten legte. ‚Wertlos‘

An ihre Eltern, die sie verkauft hatten. Verraten hatten. Sie ausgeliefert hatten. Als nichts als eine Investition gesehen hatten, und sie nicht mehr wollten, nachdem auch sie von ihrer Wertlosigkeit überzeugt waren.

Sie erinnerte sich an seine Eltern. Ihre Sanftmut. Ihre Gutmütigkeit. Die schwere Bürde, die sie ihr auferlegten. Das Versprechen. Das Versprechen, welches zugleich Leben und Tod bedeutete.

Tod ihres früheren Lebens. Tod ihrer Eigenständigkeit. Tod ihrer Hoffnungen, Ziele, Wünsche, Träume, Individualität. Ihr Tod.

Und doch bedeutete dieses Versprechen Leben. Sie würde am Leben bleiben. Sie würde um ihr Überleben kämpfen. Kämpfen wollen. Denn sie hatte eine Aufgabe. Sie hielt sie am Leben. Sie gab ihr einen Sinn. Sie nahm den Platz der Dinge ein, die sie verloren hatte – durch das, was sie in diese Situation brachte, durch ihre Eltern und letztlich durch das Versprechen selbst.
 

Leben bedeutete auch, damit zu leben. Mit dem Brennen in ihrem Innern. Mit ihrer Andersartigkeit. Mit ihrer Einsamkeit.

Was anders war, wurde schon immer ausgegrenzt oder bekämpft. Es machte den Menschen Angst. Sie machte ihnen Angst. Denn sie war es, die anders war. Die unheimlich war. Und selbst wenn sie anfangs keine Gefahr darstellte, sie lernte schnell, ihr Privileg zu nutzen und jene zu strafen, die sie straften – ohne Grund. Die sie misshandelten – ohne Grund. Die wegschauten – ohne Grund. Doch als sie sich wehrte, sahen sie hin. Und schlugen zurück.
 

Ihr Leben lang hatte sie es verflucht. Nie hatte sie ein wirkliches Leben ohne es kennen lernen dürfen. Und doch wusste sie, war sie überzeugt, dass es eines gab und dass es auch ihr zustünde. Der Gedanke an dieses üblicherweise ausgeblendete Wissen ließ sie jedes Mal erzürnen. Fachte das Brennen in ihrem Herzen an. Brachte ihre Augen zum Glühen.
 

Doch dies war es nicht, das sie am Leben hielt.

So sehr sie die Fantasie an ein solches normales, gleichwertiges Leben mochte, sie wusste genau: Nur in ihrer Fantasie konnte sie danach greifen. Streckte sie ihre Hand in der Realität aus, zersprang es wie unter Spannung stehendes Glas.

Dies war nicht für sie vorgesehen. Es war nicht ihr leben. Nicht ihr Schicksal. Es sollte niemals ihre Welt sein.
 

Was sie wirklich vorantrieb, war etwas völlig anderes.
 

Es war das Versprechen, jenes sie voranpeitschte. Stärker war als der Wind. Stärker war als die Schwerkraft. Als alle physischen Schmerzen. Als jegliche Form von Abneigung. Stärker als all die Gefühle, die Kai mit seiner Respektlosigkeit und mangelnden Anerkennung, mit seinen Intrigen und seiner Selbstsucht verletzt hatte. Stärker als jeglicher Hass und Zorn, den er dafür verdient hätte. Er konnte sie noch so oft verraten. Sie würde ihn bis ans Ende der Welt tragen. Auf den Stümpfen ihrer verfaulten Füße, wenn es sein musste.
 

¬________
 

Er fühlte, wie er getragen wurde. Hatte man ihn aufgehoben?
 

Der Schmerz in seinem Rücken hatte nachgelassen. Ebenso das Brennen in seinem Innern. Nur sein Arm schmerzte.
 

Seine Umgebung veränderte sich. Immer deutlicher, so glaubte er, konnte er Stimmen um sich herum vernehmen. Vielleicht befand er sich in einem Gebäude. Es war plötzlich so hell geworden.

Immer unsanfter wurde er bewegt. Man zerrte und zog an ihm.

Plötzlich spürte er etwas in seinem Rücken. Eine Fläche. Hatte man ihn hingelegt? Etwas auf ihn gelegt? Lag er in einer Hängematte? Auf einem Floß? Einer Streckbank? Ständig verlagerte sich die Schwerkraft. Ein paarmal hatte er das Gefühl, herunterrutschen oder gar fallen zu müssen, doch er blieb haften.
 

Eine Hülle wurde von ihm abgezogen. Wurde er entkleidet? Welche Kleider trug er? Hatte er überhaupt welche bei sich?
 

Jemand fasste ihm ins Gesicht. Öffnete seinen Mund. Spreizte seine Lider. Blendete ihm. Dann steckte man ihm etwas ins Ohr.

Man stach ihn in den Arm. Hantierte lange an der Stelle herum.

Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, doch sein Körper rührte sich nicht.
 

________
 

Immer stärker wurde das Brennen. Und immer schwerer war es zu kontrollieren.

Es schaltete den Schmerz aus. Es betäubte das Gefühl von Hunger und Kälte. Es schärfte ihre Sicht, ihre Konzentration.

Es sprengte die physischen Fesseln.

Es ermöglichte die unmöglichen hundert Prozent.

Mehr.
 

Es ermöglichte ihrem ausgelaugten Körper, Kai und den schweren Rucksack kilometerweit zu Tragen. Es ermöglichte ihr, selbst bei dieser Dunkelheit klar zu sehen. Es ermöglichte ihrem Körper, ohne Nahrung und Schlaf auszukommen. Doch es übernahm die Kontrolle.

Es hatte sie bereits übernommen.

Unterband sie es, fiel sie um.

Ihr Körper war nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft zu stehen geschweige denn weiterzulaufen. Vermutlich würde sie innerhalb weniger Minuten sterben.

Er war zu schwach.

Sie selbst wurde schwächer. Bald würde sie endgültig die Kontrolle verlieren. Unter allen Umständen musste sie vorher stehen bleiben.
 

Immer stärker wurde das Brennen. Sie konnte den Boden unter ihren Füßen nicht mehr spüren. Die Last auf ihren Schultern wurde schwerelos. Deutlich fühlte sie, wie ihre Muskeln arbeiteten. Wie eine feuersgleiche Hitze sie durchströmte. Wie sie pulsierten. Wie sie wuchsen. Wie sie den Overall dehnten und die ersten Nähte sprengten.

Immer schneller wurden ihre Schritte. Immer größer und weiter. Sie begann zu rennen. Zu sprinten. Zu rasen. Ihr Puls jagte. In den Synapsen ihres Gehirns tobten Stürme.

Der Geschmack von blankem Eisen verriet ihr, dass ihre Eckzähne sich durchs Zahnfleisch schnitten. Auch sie wuchsen. Ihre Fingernägel folgten ihrem Beispiel.

Es tat nicht weh.
 

Endlich.

Vor ihr tauchten die ersten Lichter auf. Im Dickicht eines kleinen Tannenhains vergraben befand sich eine kleine Siedlung. Sie hatte sie gefunden. Kai hatte sich nicht geirrt.

Licht brannte. Die Häuser waren bewohnt. Ob es hier so etwas wie eine Arztpraxis gab? Jedenfalls kein Krankenhaus. Aber vielleicht, nur vielleicht, konnten sie wenigstens Kai retten.
 

Sie begann langsamer zu laufen und holte tief Luft. Dann rief sie so laut sie konnte. Irgendetwas. Doch es war laut. Lauter als ein Mensch rufen konnte. So laut, dass Schnee von den Tannen regnete und in dicken pulvrigen Lawinen auf den Boden klatschte.

Sie verstummte.

Dann holte sie erneut Luft. Rief so laut, dass sich ihre Stimme überschlug. Als sie inne hielt, spuckte sie Blut.
 

Flammen schossen in ihrem Inneren empor. Ihr Körper brannte innerlich bis in die kleinste Zelle. Ihre Fingerkuppen, selbst ihre Haarspitzen, alles loderte. Das Feuer durchströmte sie, als hätte es das Blut und sämtliches Gewebe entfernt.

Es war so weit.

Jetzt musste sie aufhören.
 

Mit einem kläglichen kratzigen Schrei befehligte sie alle Kraft zum Stillstehen und zur Rückkehr in ihr Innerstes. Binnen Sekunden empfand sie nichts als einen einzigen fürchterlichen Schmerz. Kein Zentrum, kein Pulsieren, kein Stechen, kein Ziehen, keine Quelle, kein Ausstrahlen. Nur ein einziger unbeschreiblicher Schmerz, der sie ganz und gar ausstopfte. Er überlagerte den Hunger, die Kälte, die Erschöpfung, selbst ihre Sinne. Sie Verlor die Orientierung. Wie ein Sandsack kippte sie nach vorne und landete auf dem viel zu schweren Rucksack. Kais Gewicht drückte auf sie. Doch sie spürte auch jetzt nichts davon. Alles wurde von dem einzigen großen Schmerz verschluckt.
 

Als endlich eine Tür aufgestoßen wurde und eine oder mehrere Personen sie entdeckten, wusste sie: Kai war in Sicherheit. Sie verlor das Bewusstsein.

Dampf

Sibirien, Todesberg, Mitte Dezember
 

Er lag.
 

Dies war das erste, was er mit Bestimmtheit sagen konnte. Viel sagte dieser Zustand allerdings nicht aus, und mehr konnte er für den Augenblick nicht sagen.
 

Unmöglich konnte er beurteilen, wie lange er im Halbsein des Dämmerschlafes gewesen war. Er hatte mehrere Personen in seiner Umgebung wahrnehmen können, vermochte jedoch nicht zu sagen, um wie viele es sich handelte und ob er sie kannte.

Sein Körper fühlte sich dumpf und taub an, aber es ging ihm ein wenig besser. Zumindest konnte er wieder klar denken.
 

Zögernd öffnete er ein Auge.
 

Er befand sich in einem Gebäude mit niedriger Decke. Die Wände sahen schäbig aus, aber es war nicht dreckig. Unter sich fühlte er eine durchgelegene Matratze, über sich eine kratzige Steppdecke. Vorsichtig schlug er sie zurück. Sein Körper war in Kleider gehüllt, die ihm nicht gehörten und ihm viel zu groß waren. Sie rochen seltsam.

Langsam setzte er sich auf.

Sein Arm quittierte dies natürlich mit heftigen Schmerzen, während sich sein Rücken überraschenderweise nur wenig dazu äußerte.

Offenbar hatte die Verletzung durch den Pfeil allmählich zu heilen begonnen, sofern man in so kurzer Zeit schon davon sprechen konnte. Doch der Schmerz in seinem Arm wollte gar nicht mehr nachlassen. Etwas Anderes musste ihn verursachen.

Ob es mit Minas sonderbarem Medikament zusammenhing? Oder mit dem seltsamen Gefühl, dass er seit dem Attentat gehabt hatte?

Er horchte in sich hinein.

Kein Brennen. Nur er selbst.

Bevor er über die Details seines Innenlebens nachdenken konnte, begann er heftig darüber nachzudenken, wo zum Donnerwetter nochmal die junge Frau abgeblieben war. Angestrengt versuchte er die Geschehnisse der letzten Tage zu rekonstruieren. Es gelang ihm mit mäßigem Erfolg. Nur schwer konnte er die seltsamen Traumbilder von denen der Realität auseinanderhalten. Beides kam ihm gleichermaßen unwirklich und doch real vor.

Was war nur los mit ihm?
 

Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Im Nachhinein konnte er nicht sagen, was er zuerst feststellte: Dass diese unachtsame Bewegung ihm urplötzlich höllische Schmerzen bereitete, oder, dass seine Hand dick verbunden war.

Nach kurzem Zusammenzucken nahm er einen tiefen Atemzug und konzentrierte sich wieder auf seine Überlegungen. Nicht zuletzt, um sich von dem seinen gesamten Arm durchziehenden Stechen abzulenken.
 

Sie musste ihn hierher gebracht haben, auch wenn er sich keinen Reim darauf machen konnte, wie in aller Welt sie das geschafft haben sollte. Trotz allem war dies die plausibelste Erklärung. Doch wo war sie jetzt? Ob er nach ihr rufen sollte? Oder war sie..
 

Er vernahm wie jemand die Tür öffnete und fuhr zusammen. Obgleich er nicht nackt war, fühlte er sich ein wenig so. Es war ihm unangenehm, fremde Kleider zu tragen.
 

Eine kurz geratene, dafür umso stämmigere Frau betrat den Raum. Sie hatte dicke Pausbacken und dünnes, zu einem Knoten zusammengebundenes Haar. Als sie Kai sah, spiegelte ihr Gesicht eine Mischung aus Überraschung und Zufriedenheit wider. Sie neigte sich zur offenen Tür und rief etwas in einer fremden Sprache. Es dauerte einen Moment, ehe Kai begriff, dass es sich um Russisch handelte. Nicht zuletzt deshalb, da sie einen sehr seltsamen Dialekt sprach und ein wenig lispelte.
 

Stark verzerrt und gedämpft durch die engen Wohnräume hörte der er die Stimme einer anderen Person, eines Mannes. Er konnte nur vermuten, dass es sich um denselben Dialekt handelte.
 

Erwartungsvoll sah Kai die rundliche Frau an, ließ sich seine Verunsicherung jedoch nicht anmerken. Natürlich fragte er sich, was man hier mit ihm vor hatte; was man mit ihm bereits gemacht hatte – und vor allem, wer von den beiden ihn umgezogen hatte. Beide Varianten bereiteten ihm Übelkeit. Sie lächelte ihn an, verließ jedoch unmittelbar danach den Raum.

Einen Moment später kehrte sie mit einem dampfenden Teller Suppe zurück.

Zögernd und vor allem Wortlos nahm der junge Mann an, und begann zu essen, obwohl er keinen großen Appetit verspürte. Das Gericht bestand aus verschiedenen Wurzelgemüsen und einer Kohlsorte, die in einer wässrigen aber kräftig gewürzten Brühe gekocht worden waren. Fleisch war nicht zu entdecken, aber das hätte ihn in einer Gegend wie dieser ohnehin überrascht.
 

Allzu weit weg vom Todesberg konnten sie nicht entfernt sein. Und selbst wenn, hier gab es Meilenweit absolut nichts, von diesem Haus hier vielleicht mal abgesehen.
 

Nach einigen Minuten bemerkte er, dass die stämmige Frau ihn beim Essen beobachtete. Er blickte auf und beäugte lange kritisch. Dabei sah er stets boshaft aus, und er wusste das, doch die gedrungene Gestalt ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie verstärkte ihr Lächeln und legte den Kopf schief.
 

Eigentlich hatte Kai keine sonderlich große Lust, seine russische Herkunft und seine damit verbundenen Sprachkenntnisse preiszugeben, denn er befürchtete, dass diese rundliche Gestalt eine Quatschtante der übelsten Sorte war. Doch er fragte sich ernsthaft, wo Mina abgeblieben war. Falls sie wach war, konnte sie sich ja schlecht mitteilen. Er würde den Dolmetscher spielen müssen – dieser Gedanke ließ ihn nochmals heftig daran zweifeln, ob er wirklich den Mund aufmachen sollte. Doch seine Neugierde (das Wort Sorge wollte er nicht benutzen) siegte.
 

Entschieden schluckte Kai noch einmal und fragte dann nach seiner Begleiterin.

Als ihm dann aber ein herzliches „Daaaaaa! Mina!“ entgegen euphorisierte, war er selbst ein wenig überrascht. Die Dicke kannte ihren Namen. Also war Mina entweder wach, oder sie trug ein Namensschild. Und das wäre ihm wirklich neu gewesen. Vermutlich sprach Mina kein einziges Wort russisch, aber sie war sicherlich nicht zu dumm, um sich trotzdem vorzustellen.
 

Der folgende Monolog der kurz geratenen Frau bestätigte seine Vermutung:

Offenbar war Mina wohlauf, und nicht nur das, sie war bereits auf den Beinen. Sie war nach draußen in den kleinen hölzernen Waschraum gegangen, um dort den Holzofen anzufeuern und Wasser zu erhitzen.

Auch er hatte eine gründliche Wäsche dringend nötig. Er gestand es sich nicht gerne ein, aber er müffelte.
 

Die Frau entschuldigte sich um verließ den Raum. Vorsichtig schloss sie die Tür. Ihre Schritte entfernten sich.

Erleichtert atmete Kai auf. Er war allein.

Mit wenig Begeisterung sah er den halbleeren Suppenteller auf seinem Schoß an. Vermutlich war es für diese Region ein wirklich gutes Essen, doch er verspürte keinen Appetit mehr.

Erbarmungslos mit sich selbst, zwang er sich jedoch angesichts seiner beziehungsweise ihrer beider Situation, das Gericht vollständig aufzuessen. Es kostete ihn viel Überwindung, doch er leerte den Teller restlos.
 

Dann sah er sich um.

Der Raum besaß ein kleines Fenster, von dem aus man jedoch nicht mehr als ein paar Nadelbäume, zwei oder drei kleine Hütten und jede Menge Schnee sehen konnte.

Innerhalb des Raumes standen ein wuchtiger Schrank und ein schäbiger alter Tisch. Als Kai die Füße auf den Boden stellte, knarzten Bett und Dielen. Langsam stand er auf, bereit, sich wieder auf die Matratze sinken zu lassen, sobald ihm schwindelig werden oder seine Beine nachgeben würden. Doch nichts davon geschah. Offenbar ging es ihm wirklich besser.

Wie lange er wohl geschlafen hatte?
 

Behutsam, da der Untergrund unerträglich laut und verräterisch knarrte, schlich er hinüber zum Tisch und stellte den Suppenteller ab und begann nach seinen Kleidern zu suchen. Zudem hielt er Ausschau nach einem Kalender oder einer Uhr, oder zumindest nach irgendeinem Anhaltspunkt, denn er hatte sämtliche zeitliche Orientierung verloren.
 

Doch er fand nichts davon und setzte sich zurück aufs Bett. Offenbar gerade rechtzeitig, denn es näherten sich Schritte. Es waren die stummeligen Beinchen der dicken Frau (sie kam dem Klischee einer Babuschka erstaunlich nahe), die sich mehr oder minder zügig der Tür näherten und sie öffneten. Sie blickte erst ihn an, dann den leeren Teller, und bat sofort noch mehr Suppe an. Dankend lehnte Kai ab. Sein Bauch war bis zum bersten gefüllt, und im Übrigen schmeckte das Gericht alles andere als gut. Stattdessen erkundigte er sich, ob er den Waschraum nutzen dürfe und was mit seinen Kleidern geschehen war. Auf Frage Nummer zwei erhielt er nichts, was man als sonderlich konkrete Antwort verbuchen konnte. Vielleicht verstand er auch einfach ihren seltsamen Dialekt nicht. Doch zumindest sei der Waschraum inzwischen verfügbar. Die eigenartige Gestalt watschelte hinaus, lies diesmal die Türe offen und kehrte nur einen Moment später mit Handtüchern und schlichter Kernseife zurück. Viel mehr als das hätte Kai ohnehin nicht erwartet. Trotzdem fragte er sich, wie seine Haut und besonders sein Haar wohl damit fertig werden würden.
 

Zügig stapfte er durch den Schnee zur nahe am Haus gelegenen Baracke. Offenbar sollte sie eine Banja, eine russische Sauna, konnte man dies hier definitiv nicht bezeichnen, denn dazu war die Räumlichkeit einfach zu schlicht. Andererseits war es bei einer solchen permanenten Kälte schlichtweg die beste bis vielleicht einzige Möglichkeit, sich zu waschen.

Aus dem Schornstein und den Fugen zwischen den dicken Brettern stiegen Rauch- und Dampfschwaden. Sie musste wohltemperiert sein.

Eilig betrat er den winzigen Vorraum und zog die Tür hinter sich zu. Bereits hier herrschten tropische Temperaturen und hohe Luftfeuchtigkeit.

Er deponierte Handtücher und Seife auf einer kleinen Ablage und begann sich zu entkleiden. Tief atmete er den heißen Dampf ein. Es war nicht zu stark geheizt worden, doch bereits die vergleichsweise niedrige Hitze ließ seine Haut brennen.

Jetzt wusste er, wie sich wohl das Gemüse in seiner Suppe gefühlt haben musste.

Eilig streifte er die fremden Kleider ab, griff nach Handtüchern und Seifen und betrat den Hauptraum. Eine dichte Dampfwolke waberte ihm entgegen und er bemühte sich, die Tür schnell wieder zu schließen, damit keine Wärme entwich.

Dann blieb ihm fast das Herz stehen vor Schreck.

Unmittelbar vor ihm hockte eine Gestalt auf dem Boden und übergoss sich mit heißem Wasser, das zunächst große Pfützen bildete und dann durch die Ritzen im Holzboden abfloss.

Die winzigen Fenster ließen nur wenig Licht hinein und die Tür des kleinen Holzofens war geschlossen. Erst allmählich erkannte er Mina, die vermutlich einfach nur etwas länger gebraucht hatte. Vermutlich typisch Frau.

Er sollte gehen, ehe sie ihn bemerkte. Dann musste er eben noch etwas warten. Die Dicke war offenbar ganz schön falsch informiert gewesen, oder sie hatte es drauf angelegt, ihn in dieses Fettnäpfen treten zu lassen.

Augenblicklich machte Kai auf dem Absatz kehrt und war gerade dabei die Tür zu öffnen, als er hinter sich ihre Stimme hörte.
 

„Ist schon gut“, sagte sie, „bleib nur. Ehrlich gesagt möchte ich dich darum bitten. Mir ist ein wenig schwindelig.“
 

Zögerlich schloss er die Tür und sah über seine Schulter. Mina saß mit dem Rücken zu ihm, machte keinerlei Anstalten, sich umzudrehen oder ihn anzusehen. Sie sah auf sehr ungesunde Weise knochig und hager aus, sofern er das bei all dem Dampf und dem schwachen Licht sehen konnte.
 

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde keine Anstalten machen, mit dir zu schlafen“, sagte sie emotionslos.

Sie klang entkräftet.
 

Behutsam schloss er die Tür, er wusste selbst nicht warum, legte das Handtuch beiseite und gesellte sich zu ihr.

Der dampfgefüllte Hauptraum maß nicht viel mehr als zwei mal zwei Meter. Außerdem nahm der große Holzofen einen gewissen Raum ein. Daneben befanden sich ein großer Wassertank und ein Kessel zum Aufheizen. Die heiße Luft brannte ein wenig auf der Haut und in den Atemwegen.
 

Allzu wenig wich ihre äußere Erscheinung von ihrer Stimme ab. Nur langsam und mit kleinen Schritten, hauptsächlich um auf dem nassen Boden nicht auszurutschen, näherte er sich ihr und nahm hinter ihrem Rücken Platz.

Erst nach einigen Augenblicken merkte Kai, dass er sie anstarrte und auf irgendeine Art von Reaktion gewartet hatte. Die Erkenntnis über seine Torheit ließ ihn den Kopf schütteln. Protestartig griff er nach dem kleinen Holzbottich, der neben den beiden stand, und füllte ihn mit heißem Wasser. Es dampfte richtig, also goss er vorsichtshalber noch etwas kaltes hinzu, bevor er den gesamten Inhalt über sein Haupt schüttete. Dann suchte er das Stück Seife.
 

„Warte“, hörte er Minas Stimme und zuckte ein wenig zusammen, als etwas seinen Arm berührte. Er drehte sich um und sah in das sehr, sehr blasse Gesicht der jungen Frau. Sie bemühte sich um ein Lächeln und stupste nochmals seinen Arm an. Er sah an ihr herunter und errötete, da er nun ihre Brust sehen konnte. Entschieden zwang er seine Augen, weiter bis zur Hand zu wandern, die ihm ein Plastikgefäß entgegenstreckte.
 

„Es ist zwar Frauenshampoo, aber immer noch besser als Kernseife“, sagte sie unbekümmert, ohne ihrer Nacktheit oder dem Rotschimmer um seiner Nase Beachtung zu schenken. Der junge Mann schluckte, ließ sich von ihrer Seriosität ein wenig anstecken und nahm das ihm Dargebotene dankbar an.

Eifrig begann er sich erst das Haar und dann den Rest seines Körpers zu waschen, um den Gestank nach Schweiß und zu lang getragener Kleidung loszuwerden. Nicht einmal der schien Mina beeindruckt zu haben. Dabei war ihre Nase doch sonst so sensibel. Sie war vermutlich einfach sehr müde.

Allmählich vertrieb das Shampoo den unangenehmen Geruch. Es duftete wirklich angenehm, nicht nur für Frauenshampoo, und es löste die Knoten in seinem etwas filzig gewordenen Haar.
 

Rücken an Rücken saßen sie bei einander. Niemand sah über seine Schulter hinüber zum Anderen. Minutenlang viel kein einziges Wort.
 

Das Knistern des Feuers im Ofen was leiser geworden. Allmählich hatte sich die brennende Hitze in angenehme Wärme verwandelt. In schweren Tropfen ran das Wasser an den kleinen Fenstern herab.
 

Vorsichtig kroch Mina hinüber zur Ofenklappe, um das Feuer ein wenig zu schüren. Ehe sie sie erreichen konnte, hielt Kai ihren Arm fest und sah sie aus den Augenwinkeln an. Der Ausdruck von Verwunderung wich nur allzu bald einem müden aber ehrlichen Lächeln.
 

„Ist es dir zu warm? Ist gut, ich lass es einfach ausgehen“, sagte sie leise und kroch ein Stück vom Ofen weg. Doch als sie an ihrer Hand zog, ließ Kai sie nicht los.

„Ach Kai, was soll das denn…?“, fragte sie eher gelassen als ernst und legte den Kopf schief.
 

„Mina, ich würde gerne...“, begann er, hielt jedoch inne und begann auf andere Weise. „Wir haben gerade ein wenig Zeit für uns, und wir wissen nicht für wie lange und ob es danach noch ein weiteres Mal gibt.“
 

Der jungen Frau entfloh ein leiser Ausdruck von Verwunderung. Wollte er jetzt doch mit ihr schlafen? Oder war er gerade wirklich sentimental? Vielleicht sogar beides? Sie beschloss abzuwarten, rechnete jedoch im Grunde mit allem und erklärte sich in Gedanken bereits einverstanden mit was auch immer er wollte.
 

„Ich glaube, du bist mir nach allem was passiert ist eine Erklärung schuldig.“, sagte er. Weder hatte er ihren Unterarm losgelassen, noch waren seine Augen ein einziges Mal von ihr abgewichen. „Bitte“, sagte er – nicht zuletzt Mina hatte erhebliche Zweifel, dass diese fünf Buchstaben in seinem Wortschatz überhaupt vorkamen, doch er sagte sie tatsächlich. „Bitte beantworte mit endlich meine Fragen und hör auf mich mit diesem stupiden Rätselraten zu quälen.“
 

Fragen?

Nun gut, in einigen – vielleicht in vielen Dingen – hatte sie ihn im Unklaren gelassen. Es stimmte. Doch hatte sie inzwischen sehr daran gezweifelt, dass sie ihn wirklich interessierten. Nicht zuletzt deshalb, weil er sie nie danach gefragt hatte. Überhaupt wechselten sie seit jeher kaum ein Wort mit einander. Es verwunderte sie schon ein wenig, dass er dieses offenbar doch für ihn wichtige Thema mit sich herumschleppte, ohne es anzusprechen. Aber vielleicht war das einfach seine Natur.
 

„Ist gut“, sagte die junge Frau, verwandelte ihr Knien in ein Sitzen und lauschte.
 

„Fangen wir damit an“

Kai hatte sich bemüht, diese Worte trotz der unglücklichen Formulierung nicht allzu barsch klingen zu lassen. Es war ihm seiner Meinung nach zwar gründlich misslungen, doch schien Mina ihm dies nicht übel zu nehmen.
 

„Darf ich meinen Arm denn danach wieder haben?“, schmunzelte sie und hoffte ein letztes Mal darauf, dass Kai seinen Griff endlich löste. Er lockerte ihn nun deutlich und blickte auf die zerstochene Innenseite, behielt ihn jedoch immer noch in seiner Gewalt.

„Ja, der Arm…“, sagte die junge Frau sarkastisch und blickte auf die mit blauen Flecken, Narben und Einstichen übersäte Haut, „so schön, wie er mal war, wird er wohl nicht mehr werden. Ich habe für ein größeres Projekt Geld gebraucht, und da ich keines hatte, hab ich eben Versuchskaninchen gespielt.“
 

„Hör auf damit und rede endlich Klartext“, entgegnete Kai ihr. Es hatte ihn durchaus Überwindung gekostet, sie in dieser etwas zweideutigen Atmosphäre gewissermaßen dominierend anzufassen und sie dann auch noch auf Dinge anzusprechen, die ihn schon so lange beschäftigten. Er war es leid, Spielchen zu spielen. Er wollte Antworten.
 

„Ist gut.“, erwiderte ihm sein Gegenüber ernst und unbeirrt, „Nur wo fange ich am besten an?“ Diese Frage war durchaus ernst gemeint, obgleich Kai sie beim besten Willen nie hätte beantworten können. Es war schwer, zu differenzieren, was er wissen sollte und was nicht. Sollte sie in ihrer Kindheit beginnen? Bei dem Versprechen? Zu früh. Zu riskant. Viel zu fragil. Nein. Sie holte tief Luft, verdrängte den Gedanken daran und versuchte nicht zu sehr in die Tiefe zu gehen.

„Das hier ist, weil ich ein Medikament herstellen lassen musste. Ich wusste, dass man versuchen würde, dich mit dem Virus zu infizieren. Es hätte dich entweder getötet oder dir die Sinne geraubt, und das wollte ich nicht.“
 

„Okay. Und jetzt nochmal ganz langsam und von vorne“



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Kommentare zu dieser Fanfic (49)
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Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-17T18:23:00+00:00 17.05.2011 20:23
meine vermutung über die herstellung des medikaments waren richtig *freu* wenigstens etwas was ich durchblicke!! ich freu mich schon auf das nöchste in dem wohl entlich mal ein paar fragen beantwortet werden!!
tu mir nur einen gefallen beil cih mit schreiben!! BITTE!! (ich denke das wort aht jeder im wortschatzt^^)
Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-17T18:00:59+00:00 17.05.2011 20:00
Hey!!

Mano was ist sie den jz nun für ein *monster*? ich hab da soe eine vermutung bin gespant was dabei reus kommt ^^

den text am anfang über Minas lebensantrieb fand ich ein bischen lang allerdings muss ich dich dabei für deine ausgesprochen gute wortwahl loben!! =)

Wenn ich deine Kapitel lese fühle ich ich immer so als hätte ich das grade alles selber mitgemacht. dementsprechend bin ch gerade wie gerädert XD
Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-17T17:30:59+00:00 17.05.2011 19:30
woha! also dein schreib stil ist einfach klass! ich fülle mich immer so als wär ich selbst der crakter, dabei verliere ich abern die die gesamte handlung aus den augen!
Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-17T17:12:32+00:00 17.05.2011 19:12
hallöchen!!
hir bin ich wieder ^^ also kais zustand is ja mal crass und wir bitte schaft es mina da durch die gend zu laufen mit Kai auf dem rücken mal abgesehen davon dass es gerade schneit wie soll man in so einer gegend auch nur annähernd zivilisation finden. (tiroler berge sind sehr einsahm und bei schnee unberechen bar!)

Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-17T16:58:26+00:00 17.05.2011 18:58
ja ich muss frm wölfchen recht geben! alle abgemeldet ..ZZZZ also wirklich!!!

mina wirt mir immer mehr ein rätsel und Kai tut mir einfach nur leid T.T
die tapleten hat sie sich ja selber erforst darum braucht sie ja auch das geld von dieser expetition. allerdings ist das frag würdig ob die dinger wirklich was nützen!
allso ich kann net aufhören!!=)
Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-17T16:40:43+00:00 17.05.2011 18:40
got sei dank, ein trau! *über die stirn wisch*

du machst es echt spannend oder?? erste vermutung schneeball aber nach dem was er hat halozienirt er oder aber irgen was pasirt da!!

^^ glg Kya
Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-17T11:46:51+00:00 17.05.2011 13:46
ich verste mina immer noch nicht du machst das so wahnsinig spannend! =)

und bitte sag mir das kai im nächsten kapittel wieder auf wacht und fest stelt dass er treumt!!! bitte...

Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-17T11:28:52+00:00 17.05.2011 13:28
Kai hat doch Susaku nicht wirklich vergessen!! also bitte mach dass er das teil mit hat!!
Brain ist definitif nicht für solche actionen geignet eher für die wüste =) ich find das toll dass er nicht mit schnee schuhen laufen kann ^^

Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-15T19:13:35+00:00 15.05.2011 21:13
es is klasse aber du hast mich verwirt. ter Titel Kopfchos triffts ja voll in seinen weiber geschichten blick ich grad nichtmehr durch wie war das jz mit ihm und Mina??

ich sollte so spät vieleicht nicht mehr lesen aber ich kann nicht aufhören!!
Von:  kylara_hiku_Lamore
2011-05-15T18:54:48+00:00 15.05.2011 20:54
ach herrje die Demo´s ich habe mir eigendlich erwartet da Kai das mit Tala so bescheftigt dass er die anderen jung vielciht mag aber dengste! tja falsch gelegen...

und weiter gets ^^


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