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Endstation sozial, U-bahn

Autor:  -Broeckchen-
Mein neuer, relativ glorreicher Plan hat gerade erst nähere Formen angenommen. Nunja... so glorreich ist er nun auch wieder nicht. Stattdessen verbunden mit viel Anstrengung.

Ich tappe frustriert in den U-Bahnhof hinunter. Fast gehe ich an ihr vorbei. Der Mensch in mir, der gerade verärgert ist über die beiden Taxiunternehmen, die beide nicht können, die Bahntafel, die genau meinen Zug nicht anzeigt, mich selbst, das Universum, das Leben und Alles, dieser Mensch will einfach weitergehen, nach Hause, um sich ins Bett zu legen und jeden Moment Schlaf zu nutzen der mir noch bleibt.
Aber ich bleibe stehen.
Erst bin ich unschlüssig, schaue sie an wie ein verlorenes Kind auf dem Weihnachtsmarkt. Um uns herum strömen Menschen beschäftigt zum Bahnsteig und von dort fort, während sie an die Wand gelehnt auf dem Boden sitzt, einen kleinen schwarzen Hund auf dem Schoß, der die Welt nicht versteht, und den blonden Schopf und die Schultern gesenkt, als könne sie sie nicht mehr tragen. Regelmäßig zuckt ihr Oberkörper leicht, wenn ein Schluchzen sie schüttelt. Der Hund, wohl ein Spitzmischling, schaut sie lieb und traurig an, aber sie ist allein. Manchmal werfen die Leute ihr Kleingeld in den Becher.

Geh weiter!, zischt es in mir, aber ich setze mich stattdessen neben sie.
"Ist alles in Ordnung?", frage ich vorsichtig. Sie sieht auf und mich an. Ihre Augen haben den Blick eines geprügelten Tieres und ihre Wangen sind rotgeweint, die Tränen hängen zum Teil noch zwischen ihren Wimpern. Sie sieht nicht aus wie die ausgemergelten Straßenkinder, ihr Blick ist nicht so leer und emotionslos, sondern ganz im Hier und Jetzt.
Neben ihrer einen Augenbraue prangt eine Wunde, deren Schorf noch rot ist.
"Wohl eher nicht", komme ich ihr sanft zuvor. "Was ist passiert?" Ihre Kleidung ist nicht abgetragener als meine und sowohl sie als auch der Hund sehen ansatzweise gepflegt aus, auch wenn ihre langen Fingernägel dreckig sind, sie zittert, als sie ihre Antwort hervorwürgt: "I-ch bin... einfach grad überfordert", sagt sie und mit einem Schwall neuer Tränen bricht ihre Geschichte aus ihr hervor.
Ab Mittwoch bekommt sie eine Wohnstätte. Sie wechselt vom Waisenhaus dahin, und bekommt diese Möglichkeit, weil sie volljährig wird. Der Gedanke an ihren baldigen Geburtstag lässt kurz etwas Vorfreude in ihren Augen aufschimmern. Aber die Übergangswohngelegenheit hätte sie nur ohne ihren Hund wahrnehmen können. Sie beginnt bei diesem Teil wie ein kleines Kind zu weinen. "Ich kann sie doch nicht weggeben!", schluchzt sie. "Ich kenne niemanden, der sie nimmt, und ich kann sie doch keinem Fremden geben!" Der Hund schaut sie an, als wolle er sich entschuldigen. Er trägt ein kleines Deckchen um den Leib. Zusammenhanglos, es kostet mich viel Konzentration, um es zu verstehen, erzählt mir das Mädchen davon, wie sie bei einer Frau in deren Pension nun putzt, für etwas Warmes Essen und dafür, dort tagsüber im Warmen zu sein. Aber ihr Geld reicht nicht mehr für die Nächte bis Mittwoch, und die Nächte-
"Sind kalt", schließe ich, als ihr die Stimme versagt. Sie nickt mutlos. Einen Moment schweigen wir, während sie den Hund der wohl im Bahnhof herumlaufen will, wieder sanft auf ihre Beine zieht und ängstlich streichelt. Ich kann ihren Magen geradezu knurren hören, aber der Hund wirkt satt.
"Ich rufe mal jemanden an", sage ich tröstlich, doch mich dafür trifft mich ein Blick voller Panik, der noch im selben Moment bricht. "N-ein... i-ch will nicht wieder zu Fremden!", sagt sie. Wieder erinnert sie mich an ein kleines Kind - das Dinge erlebt hat, die Kinder nicht erleben sollten. Sie bekommt die Worte kaum hervor. "Ich bin ein paarmal mit jemandem mitgegangen... und... und..." Ihre Hände schließen sich fester um den Hund, während die Tränen wieder fließen. Mein Blick wandert zu der Wunde neben ihrer Augenbraue.

Etwas in mir sagt mir, dass ich weggehen sollte. Es spricht von Lug und Betrug überall, von guter Schauspielkunst, davon, dass ich selbst bedürftig bin. Aber ich habe Eltern, die mich lieben, und ein Dach über dem Kopf. In meinem Magen liegt ein warmes Mittagessen begraben. Und vor meinem inneren Auge sehe ich mich selbst mit fünfzehn, sehe mich an einem Bahnsteig weinen weil ich meinen Handschuh nicht mehr finden kann.
Du darfst nicht jedem vertrauen. Viele Menschen sind böse. Böse genug, um Theater zu spielen. Und gut darin.
Und manche Menschen brauchen Hilfe. Manche Menschen brauchen jemanden, der stehen bleibt und zuhört und - hilft.
Ich schaue sie an, während sie nichts mehr sagt, nur weint und weint. Wie stehen die Chancen, dass das Krokodilstränen sind? 21 Euro kostet es bis Mittwoch, durch das Putzen. 3 hat sie.
Ich greife nach meiner Geldbörse und greife den Zwanziger heraus, der gar nicht für hilflose Bahnsteigmädchen gedacht war. Er war für die Fahrt zur Arbeit gedacht, für den Nachhauseweg, dafür, meinen geregelten Alltag zu sichern. Als ich ihr dia Banknote hinhalte, komme ich mir irgendwie ungeschickt vor.
"Hier", sage ich. "Dann bleibt auch noch was fürs Essen"
Sie schaut mich an, als würde ich gleich etwas Unaussprechliches von ihr für den Schein verlangen. Dann greift sie schnell danach und drückt ihn mit so etwas wie einem Lächeln an sich. Ich kann in ihren Augen lesen, was ihr durch den Kopf geht.
Gleich wird es nicht mehr kalt sein. Bald ist es warm.
Ich lächle.
Du bist nicht allein.
"Ich hab noch so indisches Brot vom Mittag über", füge ich hinzu und packe die Batooras aus, die vom Valentinstagsdinner übrig sind. Als ich die Alufolie zurück schlage, nimmt sie einen tiefen Atemzug durch die Nase, als habe sich ihr Magen schon daran gewöhnt, nur von Düften zu leben.
"Danke! Das ist toll!", sagt sie und diesmal klingt ihre Stimme trotz Ersticktheit glücklich, wenn auch ein wenig fassungslos. Der Hund schnuppert neugierig am Brot, aber sie stupst ihn sanft weg und lacht. "Nein, Süße, das ist mal nicht für dich. Das ist ganz für mich allein", sagt sie. Seit wie lange trifft das das erste Mal auf etwas zu?
"Danke!", wendet sie sich noch einmal an mich. "Ich - danke!"
"Gerngeschehen. Manchmal... braucht man eben jemanden", meine ich fast schon etwas verlegen, obwohl in mir jemand wütend mit dem Fuß aufstampft. Da geht es hin, mein verdientes Geld, und ich bekomme nichts dafür außer einem Dankeschön. Da geht es hin, mein verdientes Geld, und schenkt jemandem ein Stück Glauben an die Welt zurück. Das, oder es hilft einem Betrüger.
"Pass bitte auf dich auf", gebe ich noch beim Aufstehen von mir, während sie schon, ungesund hustend, ihre wenigen Sachen zusammenrafft. Sie hat es offenbar tatsächlich eilig aus der Kälte zu kommen. "Ja!", gibt sie von sich und strahlt mich verheult an.
Ihr Blick sagt auch Danke. Ich muss an die dunkelblauen Handschuhe denken, die mir die Frau vom Bahnsteig damals geschenkt hat. Ich lächle. "Gute Nacht!", wünsche ich ihr, dann wende ich mich ab, während sie mir noch etwas Ähnliches zum Abschied nachruft.

Als ich vor der U-Bahn stehe, geht mein Blick durch alles und jeden hindurch.
Es gibt viele schlechte Menschen auf dieser Welt.
Vielleicht war sie einer davon.
Vielleicht war sie aber auch keiner davon - im Gegensatz zu denen, mit denen sie mitgegangen ist (sie wollte doch nur nicht mehr frieren...).
Vielleicht war sie wie ich damals am Bahnsteig. Sie fror, sie war allein, sie war misstrauisch.
Ich weiß einfach, ich habe damals jemanden gebraucht. Vielleicht war sie ein schlechter Mensch... aber vielleicht auch nicht. Ich kann ohne zwanzig Euro leben. Aber sie vielleicht nicht. Nur vielleicht - dieses Risiko lohnt es sich, einzugehen.
Bitte versprich mir, dass du etwas aus dir machst., denke ich, als die Bahn einfährt. Bitte versprich mir, dass du nie gedankenlos und dumm wirst. Bitte versprich mir, dass ich dir Hoffnung gegeben habe, und ein bisschen Leben. Bitte bewahr es auf, wie ich.
Für das nächste Mädchen, das an einem Bahnsteig weint.


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